3Luc Boltanski
Arnaud Esquerre
Bereicherung
Eine Kritik der Ware
Aus dem Französischen von Christine Pries
Suhrkamp
11Für Dominique
Immer wenn sie etwas kaufen oder verkaufen, tauchen die sozialen Akteure in die Warenwelt ein, von der zu weiten Teilen und häufig mehr, als sie zuzugeben bereit sind, ihre Erfahrung dessen abhängt, was sie für die Realität halten. Waren sind zirkulierende Dinge, und was sie eint, ist der Vorgang, dass jedes Mal ein Preis für diese Dinge anfällt, wenn sie gegen Bargeld in andere Hände übergehen. Trotzdem bleiben diese Dinge weiter vielgestaltig, sodass die Warenwelt sich nicht als opake Totalität darstellt, was sie undurchschaubar machen würde, sondern als strukturiertes Ganzes. Die Bezugnahme auf solche Strukturen erlaubt die Identifizierung der getauschten Dinge. Und weil sie über ein stillschweigendes Verständnis dieser verinnerlichten Strukturen verfügen, können die sozialen Akteure sich in der Warenwelt orientieren, Handelsgeschäften nachgehen und vor allem Urteile über das Verhältnis zwischen den Dingen und ihrem Preis fällen.
Doch diese Strukturen und die Beziehungen, die sie zwischen den Dingen, ihrem Preis und dem ihnen zuerkannten Wert herstellen, beruhen auf einer räumlich verankerten Ausdifferenzierung und sind historisch bedingt. Sie verändern sich mit der Zeit ‒ je nachdem, wohin der Kapitalismus sich verlagert, unter dessen Joch der Handel mit Dingen in den meisten Gesellschaften der Gegenwart steht. Wenn man die Warenstrukturen, auf die sich der Handel im 21. Jahrhundert in einem Großteil Europas und womöglich der Welt stützt, mit den Strukturen im 19. Jahrhundert vergleichen möchte, geben Walter Benjamins diesbezügliche Analysen einen nachvollziehbaren Rahmen an die Hand: In »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts«[1] speisen sich seine 14Überlegungen zur Geschichte und seine Kritik an einer »verdinglichten Vorstellung von Kultur« aus einer Reflexion über die Ware im Zeitalter des triumphierenden Kapitalismus. Waren »manifestieren sich« in der »Unmittelbarkeit sinnlicher Präsenz« und untrennbar davon ‒ behauptet Benjamin ‒ »als Phantasmagorien«, in denen der »Flaneur« sich verliert, »der sein Asyl in der Menge sucht«. Benjamin hebt die seinerzeit radikal neuen Formen hervor, die die »Weltstadt« annimmt, die nicht nur die Finanzwelt, Luxusartikel und den »Geist der Mode« zusammenführt, sondern auch die durch Blanqui verkörperte revolutionäre Boheme sowie vor allem die Industrie und das Proletariat. In erster Linie interessiert Benjamin der Nachweis, inwiefern die Wesen ‒ Personen und Dinge, die sich auf dem selben Raum zusammendrängen ‒ einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit verkörpern ‒ einen Bruch, der durch die Entstehung des Industrie- und des Finanzkapitalismus gekennzeichnet ist und in den von Haussmann veranlassten Zerstörungen und der mit ihnen einhergehenden Neuordnung des städtischen Raums konkrete Gestalt annimmt. Das Zeitalter des »Fetisch Ware« meine, seine Legitimität aus einer futuristischen Inszenierung der Segnungen der »Technik« zu beziehen, und »der sture Fortschrittsglaube« mache den Historiker, der sich in den »Sieger« »einfühlt«, unweigerlich »zum Werkzeug der herrschenden Klasse«.[2]
Wenn man die Figur des Flaneurs ins Paris des 21. Jahrhunderts versetzt, findet sie sich nun aber in einer ganz anderen Realität wieder. Diese ist nicht weniger kapitalistisch als die, mit der es der Flaneur zu tun hatte, den Benjamin heraufbeschwört. Doch die »Luxusartikel« brüsten sich jetzt nicht mehr damit, »industriell« zu sein, im Gegenteil: Sie bemühen sich, ihre Wurzeln in einer Serienproduktion vergessen zu machen, welche sich um15so leichter unterschlagen lässt, als sie weitgehend in das Umland anderer, weit entfernter »Weltstädte« ausgelagert worden ist. Die kapitalistische Akkumulation setzt sich fort und wird sogar stärker, aber sie stützt sich auf neue ökonomische Instrumente und geht mit einer Diversifizierung der Warenwelt einher, die sich nach den Modalitäten richtet, wie der Wert der einzelnen Waren ermittelt bzw. zur Geltung gebracht wird.[3] Dieses Buch widmet sich der Beschreibung dieser Transformation, die in den Staaten besonders spürbar ist, die ‒ wie insbesondere Frankreich ‒ die Wiege der industriellen Leistungsfähigkeit Europas darstellten; es analysiert die Verteilung der Waren auf verschiedene Wertermittlungsformen.
Von daher ist unsere Arbeit in zwei Richtungen orientiert, die wir versuchen werden, miteinander zu verknüpfen. Die erste ist eher historischer Natur. Ihr Gegenstand ist ein ökonomischer Wandel, der ab dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts die Art und Weise zutiefst verändert hat, wie in jenen westeuropäischen Ländern Werte geschaffen wurden, die zum einen durch die Deindustrialisierung gekennzeichnet sind und zum anderen durch die zunehmende Ausbeutung von Ressourcen, die zwar nicht völlig neu sind, aber eine beispiellose Bedeutung gewonnen haben. Unserer Ansicht nach wird das Ausmaß dieses Wandels nur sichtbar, wenn man Gebiete miteinander in Verbindung bringt, die im Allgemeinen getrennt voneinander betrachtet werden, nämlich vor allem die Künste, und zwar besonders die bildenden Künste, die Kultur, den Antiquitätenhandel, die Gründung von Stiftungen und die Schaffung von Museen, die Luxusindustrie, die Patrimonialisierung und den Tourismus. Wir werden versuchen zu zeigen, dass man mit Hilfe der beständigen Interaktion zwischen diesen verschiedenen Gebieten die Art und Weise versteht, wie in jedem von ihnen Profit generiert wird, und unsere 16These lautet, dass sie alle auf der Ausbeutung einer einzigen Quelle beruhen, nämlich auf der Ausschlachtung der Vergangenheit.
Wir werden diese Art von Ökonomie »Bereicherungsökonomie« nennen. Dabei spielen wir mit der Mehrdeutigkeit des Ausdrucks »enrichissement«, den wir zum einen in dem Sinne verwenden, in dem man von der Anreicherung eines Metalls spricht, von der Bereicherung eines Lebens, dem Reicherwerden einer Kultur, der Veredelung eines Kleidungsstücks oder auch von der Bereicherung, die es darstellt, wenn eine Sammlung um eine Reihe von Objekten erweitert wird. Damit soll die Tatsache hervorgehoben werden, dass diese Ökonomie weniger auf der Produktion von neuen Dingen beruht, als vielmehr bereits vorhandene Dinge vor allem dadurch reicher zu machen versucht, dass sie sie mit Geschichten verknüpft. Zum anderen verweist der Ausdruck »Bereicherung« auf eine Besonderheit dieser Ökonomie, dass sie sich nämlich den Handel mit Dingen zunutze macht, die vornehmlich für Reiche bestimmt sind, die mit ihnen als zusätzliche Bereicherungsquelle Handel treiben. Unserem Eindruck nach ist die Beachtung dieser Bereicherungsökonomie und ihrer Auswirkungen erforderlich, um die Transformationen der französischen Gesellschaft der Gegenwart sowie bestimmte Spannungen zu erfassen, die ihr innewohnen.
Die zweite Richtung, in die unsere Arbeit geht, ist eher analytischer Natur. Sie zielt darauf zu verstehen, wie ganz verschiedene Waren zu Transaktionen führen können, die in den Augen der entweder als Anbieter oder als Interessenten beteiligten Akteure zumeist völlig normal wirken und den vorher ausgebildeten Erwartungen mehr oder weniger entsprechen. Mit dem Ausdruck »Ware« bezeichnen wir alle Dinge, für die ein Preis anfällt, wenn sie den Besitzer wechseln. Denn wenn die Warenwelt nicht auf teilweise impliziten Organisationsmodi beruhen würde, bliebe unverständlich, wie die Akteure sich in Anbetracht ihrer sagenhaften Verschiedenheit in ihr orientieren sollen. Das kommerzielle Geschick der Akteure ist zwar ganz verschieden und vom Niveau ihrer kaufmännischen Sozialisierung abhängig. Doch ohne eine Minimalkompetenz würde ein Akteur sich schlicht und ein17fach verirren und wäre nicht in der Lage, sich einen Weg durch eine Welt zu bahnen, in der die Rolle und die Zahl der Markttransaktionen so sehr an Bedeutung gewonnen hat wie in den modernen Gesellschaften. In diesem Sinne werden wir von Warenstrukturen sprechen.
Wenn sie sich auf solche untergründigen Strukturen stützen, können die Akteure eine reflexive Haltung gegenüber dem Verhältnis jener beiden heterogenen Arten von Entitäten ‒ nämlich einerseits den Dingen und andererseits den Preisen ‒ einnehmen, aus denen die Ware als solche sich zusammensetzt, anstatt diese Verbindung bloß als Synthese zu rezipieren und ihre Auswirkungen passiv hinzunehmen. Doch wenn man verstehen möchte, wie das Verhältnis der Dinge zu ihren Preisen rational erfasst werden kann, müssen wir noch die Bezugnahme auf eine dritte Art von Entität berücksichtigen, für dessen Bezeichnung wir den Ausdruck übernehmen, den die Akteure selbst verwenden ‒ den ursprünglichen Ausdruck also, wenn man so will ‒, nämlich den vieldeutigen Ausdruck des Werts. Um das Verhältnis eines Dings zu seinem Preis reflexiv zu erfassen ‒ sei es um diesen Preis zu kritisieren oder um ihn zu rechtfertigen ‒, nimmt man nämlich im Allgemeinen auf das Wesen dieses Dings Bezug, das dessen eigentlicher »Wert« darstellt. Anstatt den Wert für eine substanzielle und zugleich mysteriöse Eigenschaft der Dinge zu halten ‒ eine Sichtweise, von der die klassische Ökonomie durchdrungen war und die sie überdauert hat ‒, werden wir den Wert eher als Instrument zur Rechtfertigung oder Kritik des Preises von Dingen behandeln. Die Strukturen, die wir versuchen werden freizulegen, teilen die Warenwelt auf, indem sie die Gesamtheit der Handelsartikel auf verschiedene Weisen verteilen, ihren Preis zu rechtfertigen (oder zu kritisieren), das heißt auf verschiedene Weisen der Wertermittlung. Wie wir sehen werden, bestehen die verschiedenen Weisen, den Wert von Dingen zu ermitteln, aus einem Spiel mit Differenzen, das auf den Positionswechsel elementarer Oppositionen zurückgeht, sodass es sich in Form einer Transformationsgruppe beschreiben lässt. Auf diese Weise kann man die Homogenität der Warenwelt (die alle Dinge enthält, für die ein Preis 18anfällt, wenn sie in andere Hände übergehen) entsprechend der Art und Weise, wie dieser Preis gerechtfertigt wird, mit der Verschiedenheit der Objekte, aus denen sie besteht, in Einklang bringen.
Indem wir unser Augenmerk auf die Dynamik des Kapitalismus richten, werden wir versuchen, die beiden Ansätze miteinander zu verknüpfen, die den historischen und den analytischen Leitfaden dieser Arbeit gebildet haben. Wir werden uns mit dem Kapitalismus eher im Hinblick auf den Handel als unter dem Aspekt des Wandels befassen, der die Produktion und folglich auch die Arbeit ergriffen hat und gemeinsam mit der steigenden Arbeitslosigkeit ab dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts im Zentrum der Arbeiten über den Kapitalismus stand. Von großem Nutzen war uns dabei die (Re-)Lektüre von Fernand Braudel, der in seinem Meisterwerk über den Kapitalismus die Ware und den Handel in den Mittelpunkt seiner Analysen gestellt hat, und außerdem die Lektüre der Arbeiten, die versucht haben, die Braudel'sche Perspektive bis in unsere Tage zu verlängern, vor allem die von Giovanni Arrighi. Die Warenstrukturen haben eben deshalb historischen Charakter, weil sie sich in die Dynamik des Kapitalismus und die Verknüpfung von Ordnung und Chaos einfügen, die deren Antriebskraft darstellt. Einerseits muss sich die kapitalistische Akkumulation auf gemeinsame Erwartungen und im Zusammenhang damit auf Marktstrukturen stützen können, die vor allem für die Begrenzung der Transaktionskosten sorgen. Doch andererseits gehört es zur Logik dieser Akkumulation, dass sie sich, um sich die Vermarktung neuer Objekte zunutze machen zu können, unaufhörlich verlagert und dadurch ihre eigenen Strukturen unterwandert.
Als die Aussichten, aus der Ausbeutung industrieller Arbeit Profit zu ziehen, sich zu verschlechtern begannen, musste der Kapitalismus, der zunächst vor allem von der industriellen Entwicklung abgehangen hatte, sich verlagern, um aus der Vermarktung anderer Objekte den größtmöglichen Nutzen zu ziehen. Auf diese Weise lässt sich ein Zusammenhang zwischen der Bildung der Warenstrukturen in ihrer heutigen Form und der Ent19stehung einer Bereicherungsökonomie herstellen. Das Vorhandensein einer solchen Vielzahl von isomorphen und zugleich ausdifferenzierten Wertermittlungsformen erlaubt es, dass ganz verschiedene Dinge in der Hoffnung in andere Hände übergehen können, dass sie jedes Mal zum höchstmöglichen Preis verkauft werden und so den größtmöglichen Profit generieren bzw. Verluste eindämmen. Wenn es nur eine einzige Weise gäbe, sich auf den Wert von Dingen zu beziehen, um deren Preis zu rechtfertigen, würde eine große Zahl von Objekten, die heute zu einem hohen Preis eingetauscht werden, eine Abwertung erfahren. Die Diversifizierung der Warenstrukturen geht mit einer parallel dazu verlaufenden Diversifizierung der Leerstellen[4] einher, die diese Waren füllen sollen. Auf diese Weise prägen die Warenstrukturen tendenziell sowohl bestimmte Dinge als auch die Leerstellen, die das Fehlen dieser Dinge hinterlässt, sodass sie an dem Punkt stehen, an dem objektive und subjektive Faktoren ununterscheidbar sind. Dadurch tragen sie zu weiten Teilen zur Prägung dessen bei, was man Realität nennt, insofern diese von etwas abhängt, was Wittgenstein Sprachspiele nennt ‒ Sprachspiele, die den Akteuren erlauben, sich Erfahrungen mit Hilfe reflexiver Operatoren zu eigen zu machen.
Bei der Durchführung dieser Arbeit mussten wir uns zwischen verschiedenen Fächern, verschiedenen Methoden und verschiedenen Forschungsgebieten hin und her bewegen. Diese Verlagerungen waren nicht geplant, sondern drängten sich sozusagen durch die Logik einer Untersuchung auf, deren Gegenstand insofern erst nach und nach deutlich wurde, als die Ergebnisse, die in unseren Augen eine Antwort auf die Fragen gaben, die wir 20uns gestellt hatten, neue Fragen aufwarfen, sodass wir uns zu neuen Untersuchungen veranlasst sahen.
Was die Fächer anbelangt, haben wir so einen Weg verfolgt, der uns von der Soziologie und Anthropologie zur gewinnbringenden Lektüre ganz verschiedener Schriften führte, die man der Geschichtswissenschaft ‒ ob es sich dabei nun um Kunstgeschichte, Technikgeschichte oder um Politik- und Sozialgeschichte handelt ‒, der politischen Philosophie und vor allem der Ökonomie zurechnen kann. In letzterem Fachgebiet, das auch nicht einheitlicher ist als die Soziologie und das von ganz verschiedenen Strömungen durchzogen wird ‒ unterschiedliche Schulen, die bekanntlich so weit gehen, das Label »Ökonomie« als solches in Frage zu stellen ‒, haben sich unsere Lektüren und Anleihen an einigen Stellen in Richtung der Arbeiten bewegt, die eher der neoklassischen Tradition zuzurechnen sind, und an anderen Stellen in Richtung der Arbeiten, die eher zu den Strömungen gehören, die man heterodox oder kritisch nennt. In Bezug auf die Belege, die sie anführen, und sogar in theoretischer Hinsicht liegen sie unserem Eindruck nach gar nicht so weit voneinander entfernt wie auf der Ebene der institutionellen Zugehörigkeiten und des Streits zwischen den Schulen. Unseres Erachtens hängt der eklatanteste Unterschied zwischen der »Orthodoxie« und der »Heterodoxie« vor allem mit dem Verhältnis zusammen, das diese verschiedenen Ökonomiestile zur Soziologie im eigentlichen Sinne unterhalten: Erstere versuchen, die Autonomie der Ökonomie zu verteidigen, die sich insbesondere an dem Stellenwert festmacht, der den aus irgendwelchen, auf die Mathematik zurückgehenden Sprachen übersetzten Modellrechnungen zukommt, während letztere nicht zögern, auch Daten zum Zuge kommen zu lassen, die aus den anderen Sozialwissenschaften stammen.
Unsere Hauptsorge bestand darin, uns von den oftmals schwierigen Beziehungen der Soziologie und Anthropologie zur Ökonomie freizumachen, die zahlreiche Soziologen und Anthropologen dazu verleiten, die Ökonomie entweder gar nicht zu beachten (als ob es symbolische Tauschbeziehungen gäbe, die von den 21Tauschbeziehungen von Gütern unabhängig wären) oder sich aus der Ökonomie stammende Modelle vorschnell zu eigen zu machen, um sie auf die eigenen Gegenstände anzuwenden und bei dieser Gelegenheit die diese Gegenstände betreffenden politisch-ökonomischen Entscheidungen zu rechtfertigen; oder aber ganz im Gegenteil eine kritische Einstellung zur Ökonomie im Allgemeinen zu entwickeln, als ob allein die Soziologie und die Anthropologie Zugang zu den wahren Beziehungen zwischen den Menschen hätten, die eine gewissermaßen für inhuman gehaltene ökonomische Wissenschaft nicht zu erfassen vermöge. In unserem Buch fehlt es keineswegs an Kritik, aber sie richtet sich gegen den Kapitalismus der Gegenwart und nicht gegen die Ökonomie als solche. Unsere Absicht bestand also darin, die Bemühungen der Forscher fortzusetzen ‒ von denen es in einer nicht allzu fernen Vergangenheit wahrscheinlich noch mehr gab als heute ‒, die sich gegen alle Formen von Fachorthodoxie für eine Vereinigung der Sozialwissenschaften eingesetzt haben. Derartige Bemühungen müssen unserer Meinung nach heute eine Überwindung der Spannung anstreben, die zwischen den eher aus dem Positivismus übernommenen (in der Ökonomie häufig vertretenen) Ansätzen auf der einen und den eher auf den Konstruktivismus zurückgehenden (in der Soziologie häufiger vertretenen) Ansätzen besteht. Wir haben versucht, mit Hilfe der Entwicklung eines pragmatischen Strukturalismus auf diesem Weg voranzukommen. Ein solcher Ansatz erlaubt die Verknüpfung von Sozialgeschichte mit einer Analyse der kognitiven Kompetenzen, welche die Akteure beim Handeln einsetzen.
Was die Untersuchungsmethoden betrifft, sind wir höchst eklektisch vorgegangen, wie Rosinenpicker, wenn man so sagen kann. Auch wenn wir hin und wieder Beispiele angeführt haben, die aus anderen Ländern stammen, um zu zeigen, dass wir von einem Prozess sprechen, der sich ausbreiten könnte, haben wir uns auf den Fall Frankreich konzentriert, das wahrscheinlich zu den Ländern gehört, in denen die Transformationen, die wir versucht haben herauszuarbeiten, am deutlichsten hervortreten. Wir sind das verfügbare statistische Material kreuz und quer durchge22gangen; haben zahlreiche formelle und informelle Interviews entweder mit Informanten geführt, die über institutionelle Autorität verfügen, oder mit sogenannten »gewöhnlichen« Akteuren, wie zum Beispiel Künstlern oder auch Sammlern verschiedener Dinge, die von zeitgenössischen Kunstwerken bis zu Wappen von Fußballclubs reichen; wir haben das ergiebige Datenmaterial durchgesehen, das zu kommerziellen Zwecken oder zur Selbstdarstellung erhoben wurde und das teilweise in Papierform vorlag und teilweise im Internet eingesehen werden kann; haben Lehrbücher für Luxus-, Tourismus-, Kunst- und Kulturmarketing analysiert; Orte ethnographisch erfasst, an denen die Bildung einer Bereicherungsökonomie sich »lebensnah« erfassen ließ (wie im Aubrac oder in Arles).
Die folgenden Seiten sind also das Ergebnis einer Art von Handwerk, das früher in den Sozialwissenschaften und in der Sozialanthropologie gängig bzw. in der Geschichtswissenschaft noch gängiger war als in der Soziologie, heute aber eher in Verruf geraten ist, obwohl es große Vorteile in Bezug auf die Freiheit und vor allem die Flexibilität bei der Ausführung eines Projekts aufweist, das, weil es keinerlei Verpflichtung gegenüber Finanzierungsinstanzen eingehen musste, je nach erzieltem Resultat ständig neu definiert und neu ausgerichtet werden kann. Es gerät zu oft in Vergessenheit, dass man, wenn man sich darauf beschränkt, auf der Grundlage einer großen Menge von Daten (big data) zu arbeiten, einen sozial bereits konstruierten Gegenstand vorfindet und es einem verwehrt ist, die Reflexivität der Akteure und den sozialen Wandel mit einzubeziehen, die noch nicht Gegenstand einer taxonomischen Erhebung und einer technischen sowie institutionellen Aufzeichnung waren.
Unsere Materialerfassung war umso umständlicher, weil das, was sich nach und nach als unser Untersuchungsfeld herausstellte, also zum einen die Bildung einer Bereicherungsökonomie und zum anderen der gegenwärtige Zustand der Warenstrukturen und der Kompetenzen, die es den Akteuren ermöglichen, sich zu orientieren, bisher in keinem der beiden Fälle zu Konstruktionen geführt hat, die eine Gesamterfassung noch dazu statistischer Art 23erlauben würden. Es gibt keine Rechen- oder Verwaltungszentren, die Daten über all die Gebiete sammeln, bündeln und aufbereiten, die unserer Ansicht nach berücksichtigt werden müssten, um die in unseren Augen so ungemein wichtigen Merkmale der gegenwärtigen sozioökonomischen Entwicklung zu erfassen. Wir haben uns also auf einer großen Zahl von Gebieten hin und her bewegen müssen: von der Gegenwartskunst zur Luxusindustrie, vom Kulturerbe[5] zum Tourismus usw. Die Untersuchung aller dieser Gebiete sollte vertieft werden, das ganze Buch kann als Einladung gelesen werden, ein neues Forschungsfeld zu bearbeiten. Von daher hoffen wir, dass andere diese Aufgabe wieder aufgreifen, die in der Lage sind, die Ergebnisse zu vervollständigen und die hier vorgelegten Hypothesen weiterzuentwickeln.
Teil I