Für unsere Wunschkinder, die uns jeden Tag
an unsere Grenzen bringen und die uns helfen,
immer wieder über uns hinauszuwachsen.
Einleitung
Das Märchen vom tyrannischen Kind und vom durchsetzungsfähigen Erwachsenen
Die Wut der Kinder
Wutzwerge: Das Streben nach Autonomie beginnt
Das kindliche Gehirn tickt anders
Lernen, Gefühle auszuhalten
Lernen, sich in andere einzufühlen
»Nein« und »nicht« verstehen
Beißattacke
Die Wut der Eltern
Das innere Kind wacht auf
Wir unterstellen Absichten, die das Kind nicht hat
»Mein Kind rastet aus – und ich auch!«
»Ich habe Angst um mein Kind!«
»Am liebsten würde ich im Erdboden versinken«
Übersetzungshilfen für Eltern kleiner Wutwichtel
Dauerbrenner freche Antworten
Freches Grinsen heißt oft: Entschuldigung!
Ein Kessel voller Glück
Baustelle Kooperation
Trotzdem: Autonomie fördern
Den Kooperationswillen bestärken – wie geht das?
Marlene : Kooperation vorleben
Malik: Kooperation basiert auf Freiwilligkeit
Felix: Kindern Zeit lassen
Carlotta und Helene : Vertrauen
Klarheit zählt
Tipps und Tricks für einen entspannten Alltag
»Mein Kind weigert sich, Treppen zu steigen«
»Mein Kind will sich nicht anziehen«
»Dauernd fliegt das Essen auf den Boden«
»Mein Kind läuft ständig weg«
»Jeden Abend das Drama beim Schlafengehen«
»Trödelliese und Bummelhans«
»Neue Windel – geht gar nicht!«
Grenzen sparsam setzen: wie, wann und warum?
Schnelle Hilfen für akute Trotzanfälle
Deeskalation in drei Schritten
Wenn Beruhigen nicht mehr funktioniert
Stressregulation: Lernen, sich selbst zu beruhigen
Der Wahnsinn geht weiter …
Cover Wunschkind 2
Liebe Leserin und lieber Leser!
Über dieses Buch
Titel Wunschkind 2
Motto Wunschkind 2
Inhalt
Einleitung
Drahtseilakt Zahnlückenpubertät Drah
Drah
Impressum Wunschkind 2
Nachwort : Lob den Trotzphasen
Leserstimmen
Anmerkungen
Einleitung
Die Wut der Kinder
Die Wut der Eltern
Übersetzungshilfen für Eltern kleiner Wutwichtel
Trotzdem: Autonomie fördern
Tipps und Tricks für einen entspannten Alltag
Schnelle Hilfen für akute Trotzanfälle
Literatur
Die Autorinnen
www.gewuenschtestes-wunschkind.de
Register
»Oha, jetzt hat sie ihren Willen aber durchgesetzt!«, sagte ich augenzwinkernd zu meinem Vater. »Da hast du dich ganz schön unterbuttern lassen. Du machst ja jetzt genau das, was sie wollte!« Mein Vater sah mich völlig verständnislos an. Ich glaube, er zweifelte an meinem Verstand.
Wir waren gerade gemeinsam vom Wochenendeinkauf zurückgekommen und total erledigt. Am liebsten hätten wir uns sofort aufs Sofa verkrümelt, doch leider hatten wir die Butter für den Kuchen vergessen. Es stand eine große Geburtstagsfeier bevor und meine Mutter war in der Küche gerade dabei, den Teig zuzubereiten. Sie brauchte die Butter dringend, also musste noch mal einer los. »Könntest du vielleicht selbst gehen?«, fragte mein Vater meine Mutter, »ich bräuchte eine Pause, weil ich total erschöpft bin.« »Ich könnte schon, ja. Aber ich koche nebenbei ja auch noch. Es wäre mir lieber, wenn du gehen würdest. Bitte sei so lieb!« Seufzend zog sich mein Vater erneut die Schuhe an. Leise murmelte er in seinen Bart, dass er dieses Mal aber das Auto nehmen würde, weil er nicht schon wieder den ganzen weiten Weg laufen wolle. »Du wirst doch nicht für ein Stück Butter das Auto nehmen«, rief ihm meine Mutter entsetzt aus der Küche zu, »außerdem haben wir gerade so einen schönen Parkplatz direkt vor der Tür. Morgen müssen wir doch die Sachen für die Feier in den Kofferraum packen. Da sollte es am besten so nah wie möglich stehen.« »Stimmt«, stellte mein Vater fest, »das hatte ich gar nicht mehr im Kopf.« »Aber du könntest zu dem kleinen Laden an der Ecke gehen. Der ist zwar ein bisschen teurer, aber dann musst du nicht so weit laufen. Danach kannst du dich auf dem Sofa ausruhen, versprochen. Dann habe ich wirklich alles, was ich brauche.« Mein Vater überlegte kurz, ob der Vorschlag für ihn akzeptabel war, und entschied dann: »Gut, so mache ich es. Bis gleich!« Ich zog mir auch noch einmal meine Schuhe an, um meinen Vater zu begleiten. Während wir das Haus verließen, sagte ich zu ihm: »Oha, jetzt hat sie ihren Willen aber durchgesetzt! Da hast du dich ganz schön unterbuttern lassen. Du machst ja jetzt genau das, was sie wollte!« Er schaute mich sichtlich verwirrt an. »Wieso? Wir haben einfach geschaut, was für uns beide okay war. Wir haben einen Kompromiss geschlossen. So macht man das doch in einer Beziehung!«
Vermutlich fragen Sie sich jetzt, was diese Anekdote mit der Trotzphase zu tun hat. Vielleicht haben Sie beim Lesen sogar noch einmal kurz auf das Cover geschaut, um zu sehen, ob Sie das richtige Buch in der Hand halten? Doch, doch, das tun Sie! Diese Unterhaltung ist für mich deshalb berichtenswert, weil sie mich sehr stark an einen Dialog erinnerte, den ich erst vor Kurzem mit meinem zweijährigen Sohn geführt hatte, auch wenn er seine Argumente weniger eloquent vorgetragenen hatte.
Wir waren nach einem langen Tag im Kindergarten noch auf dem Spielplatz. Mein Vater war zu Besuch. Er ist ein großartiger, sehr engagierter und liebevoller Opa und sein Enkel himmelt ihn an. Ich wollte die Gelegenheit daher nutzen, um schnell in den fünf Minuten entfernten Laden zu huschen und Joghurt einzukaufen. Doch mein Sohn war damit nicht einverstanden:
Sohn, etwas aufgeregt: »Mit! Mit!«
Mama: »Du willst zum Einkaufen mitkommen?«
Sohn weinerlich: »Jaaaaa!«
Mama: »Och, nö, ich will doch nur schnell einen Joghurt kaufen. Das geht ratzfatz. Du könntest in der Zeit mit Opa im Sand buddeln.«
Sohn, noch aufgeregter: »Neiiiiin. Mit! Mit!«
Mama, seufzend: »O. k., aber dann setze ich dich in den Buggy. Das geht schneller als Laufen.«
Sohn, laut aufweinend: »Neiiiiin. Aaaarm!«
Mama, leicht genervt: »Ach, bitte, das ist so anstrengend für mich. Wie soll ich denn dann den Einkauf tragen?«
Sohn, laut weinend: »Ich! Wääääh.«
Mama, über das Geschrei hinweg: »Du willst den Einkauf tragen?«
Sohn, etwas leiser: »Jaaaaa!«
Mama, ergeben seufzend: »Also dann los, komm.«
Während ich meinen Sohn auf den Arm nahm, zwinkerte mir mein Vater freundlich zu: »Nun hat er gewonnen! Da hat er aber wirklich seinen Willen durchgesetzt …«
Eigentlich gibt es keinen großen Unterschied zwischen den beiden Gesprächen, außer vielleicht, dass mein kleiner Sohn die verbale Sprache bisher nur bruchstückhaft beherrscht und mir deshalb nicht ganz klarmachen konnte, warum es ihm so wichtig war, mit mir mitzukommen. Er war noch nicht in der Lage, seinen Wunsch so gut mit Argumenten zu untermauern wie meine Mutter in dem Gespräch mit meinem Vater. Aber im Grunde war seine Argumentation der der Erwachsenen sehr ähnlich. Sowohl mein Vater als auch ich gingen dann einen Kompromiss ein, um die Bedürfnisse aller zu berücksichtigen.
Der wirklich gravierende Unterschied zwischen den beiden Gesprächen ist unsere Sicht darauf: Bei einem Gespräch unter Erwachsenen empfinden wir es als normal und richtig, wenn die Wünsche beider Parteien berücksichtigt werden. Anders sieht es bei Gesprächen zwischen Eltern und ihren kleinen Kindern aus. Hier ist in unserer Gesellschaft die Ansicht weit verbreitet, dass kleine Kinder, die jammernd oder schreiend ihre Wünsche kundtun, andere wie kleine Könige manipulieren wollen, ihnen diese zu erfüllen. Erwachsene sollten dieses Verhalten der Kleinen daher niemals unterstützen, sondern stattdessen stets konsequent dagegenhalten.
Je vehementer unsere Kinder vermeintlich trotzen und vielleicht sogar anfangen, zu hauen, zu beißen oder zu spucken, weil sie mit Worten nicht weiterkommen, desto unsicherer werden wir. Ist es wirklich gut so, wie wir erziehen? Was, wenn aus unserem Kind doch ein kleiner Tyrann wird, so, wie es uns von allen Seiten prophezeit wird? Müssen wir nicht doch irgendwie Grenzen ziehen? Denn unsere Kinder müssen ja nicht nur innerhalb der Familie bestehen, sondern auch draußen in der Gesellschaft. Sie müssen sich im Kindergarten oder in der Schule in Gruppen einfügen können. Auch später im Job sollten sie nicht ständig anecken. In den Regalen der Buchhandlungen finden sich etliche Ratgeber, die im Hinblick auf solches Trotzverhalten die Rückkehr zur guten alten konsequenten Erziehung propagieren. Annette Kast-Zahn zum Beispiel rät unsicheren Eltern, ihr Kleinkind einfach immer wieder zum »Nachdenken« in sein Zimmer zu schicken, wenn es trotzt1. Auch Michael Winterhoff oder Bernhard Bueb2 betonen in ihren Büchern, wie wichtig es ist, den Kindern schon früh klarzumachen, dass sie sich den Erwachsenen unterzuordnen haben und ihr eigensinniges Verhalten nicht toleriert wird.
Müssen wir also, um unsere Kinder fit für die Zukunft zu machen, Abstand davon nehmen, sie bedürfnisorientiert zu erziehen? Wir behaupten: Nein! Wir wollen in unserem Buch mit den alten Mythen vom verzogenen Tyrannen aufräumen und Eltern und Großeltern darin bestärken, den in der Babyphase mittlerweile gängigen Ansatz der bedürfnisorientierten Erziehung auch nach dem ersten Geburtstag weiterzuführen. Wir möchten ihnen einen entspannten Weg durch die sogenannten Trotzphasen aufzeigen. Denn es ist vollkommen unnötig, mit dem eigenen Kleinkind ständig um jede Kleinigkeit zu streiten. Ja, es ist nicht einmal nötig, mit ihm zu schimpfen! Wir versprechen Ihnen, wenn Sie das Buch gelesen haben, werden Sie das nächste Mal, wenn Ihr Kleinkind laut kreischend vor dem Süßigkeitenregal an der Supermarktkasse zusammenbricht, mit Liebe und Verständnis reagieren können, statt wütend zu werden. Sie werden danebenstehen und denken: »Ich brauche gar nicht zu schimpfen!« Wenn es den halbvollen Teller Essen auf den Boden wirft, sich weigert, morgens die Schuhe anzuziehen, beißt, wenn es eigentlich kuscheln will, immer wieder an die Steckdose greift oder auf dem Spielplatz mit Sand um sich wirft: Sie werden wissen, warum es das tut und wie Sie es schaffen, es dazu zu bringen, es nicht mehr zu tun.
Um unsere Behauptungen wissenschaftlich zu untermauern, haben wir viele Bücher gewälzt und Aufsätze und Statistiken durchforstet. Wir haben die neuesten Informationen aus den Bereichen der Psychologie, der Neurologie und der Bindungsforschung zusammengetragen und lassen in unserem Buch etliche Experten auf diesen Gebieten zu Wort kommen. Sie alle sind sich einig, dass eine wie von Kast-Zahn oder Winterhoff favorisierte Erziehung, die auf Lob für gutes und negative Konsequenzen für schlechtes Verhalten basiert, zwar durchaus funktioniert, aber häufig mit einem Verlust der Beziehungsqualität innerhalb der Familie und möglichen psychologischen Nachwirkungen verbunden ist. Wer dieses Risiko vermeiden will, muss auf der Erziehungsebene umdenken.
Um zu zeigen, wie das geht, werden wir zunächst auf die neurobiologischen Grundlagen bei Kleinkindern eingehen. Wir werden einen kurzen Blick auf die Arbeitsweise des Gehirns werfen und erklären, warum Kinder gar nicht anders können als wegen eines zerbrochenen Kekses völlig auszurasten, bei einem Wutanfall zuzuhauen oder doch den Mülleimer auszuräumen, obwohl die Eltern gerade eben darum baten, dies nicht zu tun. Auch wenn die wissenschaftlichen Basisinformationen zur Entwicklung des kindlichen Gehirns auf den ersten Blick etwas theoretisch klingen, ist es wichtig, die Arbeitsweise des Gehirns zu kennen, um das Verhalten unserer Kinder überhaupt verstehen zu können. Dieses Kapitel wird ein echter Augenöffner sein, versprochen!
Nachdem wir uns gemeinsam durch den Theorieteil durchgearbeitet haben, erklären wir, warum Eltern das Trotzverhalten ihrer Kinder so unfassbar schnell so unfassbar hoch auf die Palme bringt. Anhand von typischen Situationen, in denen Eltern wütend auf ihren Nachwuchs werden, zeigen wir, welche Einflüsse ihre eigene Kindheit auf ihr Verhalten hat und warum es ihnen oft so schwerfällt, sich zu beherrschen. Dieser Teil ist uns besonders wichtig, denn die Wut der Eltern trägt mindestens ebenso zu den klassischen Trotzmomenten bei wie die noch fehlenden neurologischen Voraussetzungen der Kinder. Man könnte sogar behaupten, dass viele Streitsituationen im Alltag nur deshalb entstehen, weil die Eltern trotzig sind. Dass bisher kein Ratgeber zum Trotzalter diese Wut der Erwachsenen thematisiert, ist unseres Erachtens Ausdruck für den oben im Beispiel schon erwähnten Blickwinkel der Gesellschaft auf Kinder. Diese müssen sich ändern, sich anpassen und erzogen werden, wohingegen Erwachsene per se im Recht sind und deshalb nicht an sich arbeiten brauchen. Mit unserem Buch wollen wir diesen Blickwinkel erweitern. Wir wollen aufzeigen, dass eine harmonische Beziehung nur dann entsteht, wenn alle Beteiligten unabhängig von ihrem Alter gleich viel geben und nehmen.
Zu guter Letzt überlegen wir, welche Grenzen wirklich sinnvoll sind, wie man ein Kind liebevoll bei einem Wutanfall begleitet und wann es wichtig ist, als Elternteil auf einer Grenze oder Regel zu bestehen, um das Gehirn des Kindes sukzessive zu befähigen, nicht nur eigene Interessen zu verfolgen, sondern auch die Bedürfnisse anderer Menschen wahrzunehmen und darauf einzugehen.
Im Praxisteil beschreiben wir dann die am häufigsten vorkommenden unkooperativen Verhaltensweisen von Kindern und geben Ihnen selbst erprobte Tipps an die Hand, um solche Momente schon im Vorhinein zu umgehen, sie entspannt zu überstehen, dem Kind möglichst gelassen nachzugeben oder es dazu zu bringen, Ihrem Wunsch zu folgen.
Bei alldem greifen wir nicht nur auf unsere eigenen Erfahrungen, Erlebnisse und Überlegungen zurück, sondern auch auf die vielen Beiträge aus unserem Blog »Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn«, der diesem Buch den Titel gegeben hat. Seit mehr als 3,5 Jahren sind wir mit vielen Lesern und Leserinnen in Verbindung (200.000 sind es aktuell pro Monat), die unser Leben jeden Tag mit vielen großen und kleinen Sorgen, Anekdoten und Geschichten, berührenden und nachdenklich machenden Beobachtungen und Erlebnissen aus ihren Familien bereichern. Die Namen in unseren Beispielen haben wir geändert und Begebnisse auch mal zusammengefasst, um unsere Thesen zu untermauern. Auf das die Lesbarkeit erschwerende »der Leser/die Leserin« verzichten wir zugunsten des Leseflusses.
Danken möchten wir an dieser Stelle den Ärztinnen und Blog-Leserinnen Nina Angenendt, Jördis Graf und Ricarda Wullenkord, die uns im Hinblick auf die Passagen über das kindliche Gehirn und die psychologischen Hintergründe der Elternwut beraten haben, sowie unserer Freundin Laetizia, die diesem Buch wertvolle Impulse gegeben hat.
Wir, das sind Katja und Danielle, deren Leben täglich bereichert – na ja, manchmal auch ganz schön verkompliziert – wird durch insgesamt fünf Kinder im besten Trotzalter zwischen zwei und sieben Jahren. Wir sind dankbar für den ständigen Kontakt, den wir mit anderen Eltern durch unseren Blog haben, und für unsere gegenseitige Verbindung, die über die Jahre im fast täglichen Kontakt und nun auch durch das gemeinsame Schreiben unseres ersten Buches zu einem stabilen, bereichernden Faktor in unser beider Leben geworden ist.
Und an diesem Punkt sind wir auch wieder zurück bei unserem Eingangsbeispiel: Mein kleiner Sohn hat mir beim Einkauf tatsächlich tatkräftig geholfen. Nachdem ich ihn zum Laden getragen hatte, ihm also sein Bedürfnis erfüllt hatte, war er auch bereit, mein Bedürfnis anzuerkennen. Er ließ sich von meinem Arm heruntergleiten und lief im Laden ruhig neben mir her. Er half mir, den Joghurt in unseren Wagen zu packen, hob ihn dann mühevoll auf das Kassenband hinauf und sortierte die Becher schließlich in unseren Einkaufsbeutel. Diesen trug er dann, wie angekündigt, ganz allein und sichtlich stolz zum Spielplatz zurück. Und obwohl mein ursprünglicher Plan gewesen war, den Einkauf alleine zu machen, um Zeit zu sparen, war diese halbe Stunde mit ihm vor allem eines: ausgesprochen schön.
Wenn aus Babys Kleinkinder werden, stellen diese irgendwann fest, dass ihre Wünsche und Vorlieben nicht immer mit denen ihrer Mitmenschen übereinstimmen und ihnen deshalb nicht mehr unbedingt erfüllt werden. Sie werden in ihrem noch jungen Leben zunehmend mit den Gefühlen der Wut, der Trauer, der Enttäuschung und auch der Angst konfrontiert. Oft sind ihre Eltern überrascht, dass das vermeintliche Trotzen schon so früh beginnt. Eigentlich haben wir nämlich im Hinterkopf, dass die Autonomiephase mit etwa zwei Jahren beginnt. Viele Eltern bemerken jedoch schon ab dem 11. Lebensmonat, spätestens nach dem ersten Geburtstag, dass ihre Kinder plötzlich wegen Kleinigkeiten aufbrausen und wütend werden. Julia, 29, erzählt:
Beispiel
Ich gerate mit meinem Sohn Paul (1) in letzter Zeit immer wieder in klassische Trotzsituationen. Gestern zum Beispiel durfte er einen kleinen Schokoriegel essen. Er liebt Schokolade. Kaum war er damit fertig, stand er jammernd vor unserem Schrank und wollte noch einen. Als ich ihm ganz freundlich sagte, dass er jetzt keine Schokolade mehr bekommt, verdichtete sich dieses Jammern erst zu einem lauten Nörgeln, dann warf er sich schreiend auf den Boden und weinte. Ich wollte sein Trotzen erst ignorieren, aber dann wurde er immer lauter. Er strampelte mit den Beinen und warf seine Arme hin und her. Er steigerte sich richtig in seine Wut hinein. Irgendwann wurde mir das unheimlich. Ich hatte das Gefühl, dass das jetzt kein Schauspiel mehr war, sondern er wirklich in seiner Wut gefangen war, und bekam richtig Angst, dass er sich »wegschreit«. Ich versuchte ihn anzusprechen, um ihm ruhig zu erklären, warum ich ihm keine Schokolade mehr geben wollte, aber er schien mich gar nicht zu hören. Um ihn herum war eine richtige Nebelwand. Ich versuchte, ihn auf den Arm zu nehmen. Oft geht das nicht, dann wird er eher noch wütender und haut nach mir. Aber gestern ließ er es zu. Ich nahm ihn auf den Arm und drückte ihn sanft an mich. Ich merkte gleich, dass es besser wurde. Nicht unbedingt leiser – er schrie immer noch wie am Spieß, aber immerhin kuschelte er sich dabei an mich und zuckte nicht mehr so wild mit den Armen und Beinen. Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte dann auch das Weinen auf.
Solche Situationen kennt sicherlich jeder Elternteil eines Kindes im Alter zwischen einem und vier Jahren. Oft sind es nur Kleinigkeiten, die die Kinder sofort in riesige Wut versetzen. Vielleicht wollen sie noch nicht vom Spielplatz weggehen, wenn wir Eltern das wollen, oder sie ärgern sich darüber, dass wir ihnen den blauen und nicht den roten Becher zum Frühstück hingestellt haben. Die Wucht und das zeitliche Ausmaß des Wutanfalls, der auf solche Konflikte folgt, lässt uns Erwachsene oft ratlos und frustriert zurück. Warum ist es für unsere Kinder nur so verdammt schwer, sich zusammenzureißen?
Um verständlich erklären zu können, warum Kinder wie Paul in unserem Beispiel oft selbst wegen Nichtigkeiten von ihren Gefühlen so übermannt werden, müssen wir zunächst einmal auf den Aufbau des menschlichen Gehirns und die Aufgaben der einzelnen Teile zu sprechen kommen.
Unser Gehirn lässt sich grob in zwei Teile unterteilen, das emotionale Gehirn und das kognitive Gehirn.3 Neurologen differenzieren natürlich noch sehr viel mehr Teile, aber deren Details sind hier nicht von Belang – für unsere Erklärung reicht eine grobe Unterteilung. Stellen wir uns nun vor, wir sehen aus dem Augenwinkel einen Schatten von hinten auf uns zurennen. Unser emotionales Gehirn, auch limbisches System genannt, bringt uns wegen dieses Schattens dazu, sofort erschreckt zur Seite zu springen. Erst eine Sekunde später hat unser kognitives Gehirn, der Neokortex, seine Analyse der über die Augen aufgenommenen Informationen über diesen Schatten abgeschlossen, und wir stellen erleichtert fest, dass es nur ein harmloser Hund ist, der übermütig eine Taube aufgescheucht hat. An diesem Beispiel kann man die Arbeit unserer »beiden Gehirne« wunderbar erkennen: Das eine lässt uns unwillkürlich und schnell reagieren, wenn wir vermeintlich in Gefahr sind, das andere analysiert rational und ermöglicht uns, bewusste Entscheidungen zu treffen. Diese Aufgabenverteilung ist das grundlegende Problem bei Kindern in der Autonomiephase.
Das limbische System gehört geschichtlich zum älteren Teil unseres Gehirns und setzt sich aus verschiedenen Hirnarealen zusammen. Es ist im Gegensatz zum Neokortex eher rudimentär aufgebaut, das heißt, seine Nervenzellen reagieren direkt auf die Reize aus der Umwelt. Durch seine einfache Struktur verläuft die Informationsverarbeitung darin in Windeseile – ununterbrochen nehmen wir unbewusst Informationen aus der Umwelt auf, und das limbische System wägt in Bruchteilen von Sekunden ab, ob unser Überleben in irgendeiner Weise gefährdet ist. Dieser Teil unseres Gehirns verbindet uns mit unserem animalischen Ursprung. Wie Tiere reagieren wir mit seiner Hilfe instinktiv. Im Internet kann man beispielsweise viele »lustige« Videos von Menschen finden, die heimlich eine grüne Gurke hinter ihre Katze legen und dann amüsiert beobachten, wie das Tier erschreckt in die Luft springt und wegrennt, weil es die »Gefahr« aus den Augenwinkeln gesehen hat. Ganz klar, das limbische System der Katze hat die Gurke mit einer Schlange verwechselt und das Tier damit in Alarmbereitschaft versetzt. Eine der Hauptaufgaben des limbischen Systems ist die Verarbeitung von Emotionen, weshalb es auch »emotionales Gehirn« genannt wird. Im Laufe des Heranwachsens erlebt ein Mensch verschiedene Situationen und Emotionen, die die dafür zuständigen Bereiche im limbischen System aktivieren. Emotion und Situation werden dort gemeinsam gespeichert. Erlebt ein Kind zum Beispiel immer wieder Angst einflößende Situationen mit Hunden, speichert sich das entsprechend in seinem emotionalen Gehirn ab und es wird vermutlich sein Leben lang bei einer Begegnung mit einem Hund ängstlich reagieren. Wächst es dagegen mit einem zahmen, äußerst liebenswürdigen Hund auf, speichert es diese positiven Gefühle gemeinsam mit dem Bild des Hundes ab. Auch körperliche Reaktionen und Funktionen werden vom limbischen System gesteuert: Erröten, Herzschlag, Atmung, Gleichgewicht, Körpertemperatur und Schlaf. So ist es nicht verwunderlich, dass jemand, dem Hunde suspekt sind, unwillkürlich zu schwitzen anfängt, wenn ein großes Exemplar auf ihn zugelaufen kommt, und dass er vielleicht sogar abends nicht gut einschlafen kann, weil er immer wieder an diese Begegnung denken muss.
Der jüngere Teil des menschlichen Gehirns ist der Neokortex (»neues Gehirn«), der der »grauen Masse« im Kopf ihr charakteristisch gefaltetes Aussehen gibt. Er umschließt das limbische System, also unser emotionales Gehirn, von außen wie eine Schutzhülle. Der Neokortex wird auch das kognitive Gehirn genannt, denn er arbeitet äußerst rational und präzise. Er ist dafür zuständig, dass der Mensch logisch und analytisch denkt und die Vor- und Nachteile einer Situation abwägt. Das kognitive Gehirn hilft Kindern, beim Sprechen das richtige Wort auszuwählen, sich beim Gummibärchenaufteilen für den größeren Anteil zu entscheiden und die Unterhose vor der Jeans anzuziehen und nicht anders herum. Es sorgt auch dafür, in einer bedrohlich erscheinenden Situation nach dem ersten Schreck Ruhe zu bewahren. Anders als die Katze, die vor der Gurke wegläuft, können wir Menschen unsere animalischen Impulse beherrschen, wenn das kognitive Gehirn den Auslöser als ungefährlich eingestuft hat.
Ganz besonders wichtig und hoch entwickelt ist der Bereich des kognitiven Gehirns, der im Stirnbereich oberhalb der Augenhöhlen angesiedelt ist – der präfrontale Kortex. Von diesem wird in unserem Buch immer wieder die Rede sein, weil er die Funktionen des Körpers steuert, die uns Menschen ausmachen: Mit seiner Hilfe können wir aggressive Impulse beherrschen, uns für eine längere Zeit auf eine bestimmte Sache konzentrieren, die Zukunft planen sowie moralische und empathische Entscheidungen treffen.
Interessanterweise kann unser emotionales Gehirn das kognitive quasi abschalten. Die Wissenschaft ist sich einig, dass das aus evolutionärer Sicht sinnvoll war. Ein Mensch, der beim Beerensammeln nicht bemerkte, dass sich von hinten ein gefährliches Tier anschlich, war bald ein toter Mensch. Das emotionale Gehirn ist daher ständig auf der Hut. Es überwacht seine Umwelt und löst sofort Alarm aus, wenn etwas seltsam erscheint. Alle Gedanken des Beerensammlers an die Nahrungssuche wären augenblicklich vom emotionalen Gehirn blockiert worden. Gespräche zwischen den Mitgliedern der Gruppe würden stoppen, ja es ist sogar so, dass in diesem Moment Gedanken oder Worte gar nicht mehr verfolgt werden könnten. Selbst wenn ein Mensch weitersprechen wollte, er könnte sich nicht dazu zwingen. Stattdessen würden sich die Beerenpflücker instinktiv umdrehen und sofort nach ihren Waffen greifen, um den Angriff des Tieres abzuwehren. Auch in der heutigen Zeit ist diese Gabe äußerst wichtig. Wir mögen abgelenkt von unseren Smartphones durch die Gegend laufen, aber sobald uns Gefahr droht, weil vielleicht ein Fahrradfahrer auf dem Gehweg auf uns zukommt oder ein lauter Knall vor uns zu hören ist, schauen wir instinktiv hoch und reagieren, ohne zu überlegen. Auch hier hat das emotionale Gehirn die Tätigkeit des kognitiven Gehirns sofort unterbrochen.
Nähmen – sehr vereinfacht dargestellt – die Gefühle bei einem Erwachsenen überhand, zum Beispiel wegen einer Angststörung, übernähme das emotionale Gehirn sogar über längere Zeit die Führung über das kognitive Gehirn. Das Ergebnis wäre, dass dieser Mensch sich nur schwer auf längerfristige Ziele konzentrieren und zum Beispiel keine Pläne verfolgen könnte, da der präfrontale Kortex in seiner analytischen Funktion eingeschränkt ist. Dieser Mensch würde in Stresssituationen möglicherweise aggressiver und ungehaltener reagieren, als das bei einer gesunden Balance zwischen den Gehirnteilen der Fall wäre. Vielleicht erinnert das ein wenig an Kleinkinder? Impulsives Hauen, emotionale Reaktionen, kurze Konzentrationsspannen und kaum Zukunftsplanungen – haben diese typischen Eigenschaften unserer »Trotzköpfchen« etwa mit ihrem Gehirn zu tun? Ja, das haben sie, sagt die Forschung. Und zwar in einem sehr viel stärkeren Maß, als die Verfechter der Tyrannen- und anderer Theorien es für möglich halten.
Bei der Geburt ist das Gehirn eines Kindes natürlich schon vollständig angelegt, aber es ist noch lange nicht ausgreift. Neugeborene wissen dennoch instinktiv, was sie brauchen – Nahrung, Nähe oder Schlaf. Und fordern die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse sehr kompetent und oft lautstark von ihren Bindungspersonen ein. Sie können aber noch nicht darüber nachdenken, was genau sie brauchen und was ihnen jetzt, in diesem Moment helfen würde. Diese Denkleistung muss zunächst von den Erwachsenen (oder auch von den schon älteren Geschwisterkindern) übernommen werden. Immer wenn eine Bindungsperson eine Aktion ausführt, die dem Baby ein wohliges Gefühl verschafft, feuern Neurone in seinem Gehirn und festigen den erlebten Kausalzusammenhang. Reagiert ein Neugeborenes also unwillkürlich auf das unangenehme Gefühl im Magen mit Schmatzen und dem Hin- und Herdrehen des Kopfs und die Mutter erkennt diese Signale als Hunger und stillt es sofort, dann ergibt sich für das Kind im Nachhinein der erste Sinnzusammenhang. Es erfährt, dass das unangenehme Gefühl durch die Milch weggeht – diese Information wird im Gehirn abgespeichert. Das schöne Gefühl, das vom Baby beim Trinken erlebt wird, durch die Nähe zur Bindungsperson, durch den Augenkontakt, das Lächeln, die Wärme der Milch und den süßen Geschmack, wird als Glücklichsein empfunden. Diese mit zunehmendem Gefühl der Sättigung positive emotionale Verknüpfung sorgt für eine zuverlässige Abspeicherung im Gehirn.
Die neuronalen Verbindungen im kognitiven Gehirn wachsen zwar rasant, dennoch dominiert bei Babys und Kleinkindern – anders als bei Erwachsenen oder älteren Kindern – das emotionale Gehirn noch stark. Es lässt sie intuitiv, unbewusst und spontan entscheiden und ist ein Experte für die Entschlüsselung menschlicher Mimik und Gestik. Aber es lässt Kleinkinder eben auch sehr emotional und weniger rational reagieren.
Um unsere Emotionen zügeln zu können, brauchen wir Menschen den präfrontalen Kortex. Er lässt uns vernünftig sein und ist eine wunderbare, äußerst wichtige Kontrollinstanz unseres Gehirns. Nur mit seiner Hilfe können wir beispielsweise den Impuls beherrschen, einfach zuzuhauen, wenn uns etwas ärgert. Nun ist gerade dieser Bereich bei Babys und Kleinkindern zunächst nur sehr rudimentär entwickelt. Seine neuronalen Bahnen sind zum Teil schon angelegt, müssen aber erst durch viele Übungen zum Funktionieren gebracht werden. Und das dauert – Schreck lass nach! – einige Jahre.
Hat ein Kleinkind ein Stresserlebnis, wenn zum Beispiel ein Erwachsener etwas verbietet, übernimmt das emotionale Gehirn die Führung und blockiert das vernünftige, geduldige Gehirn weitestgehend in seiner Funktion. Das Kind wird von seinen Emotionen überwältigt – es wütet. Es wirft sich auf den Boden, schreit, spuckt, haut, tritt und ist völlig außer sich. Paul aus unserem Beispiel war enttäuscht, dass er keinen zweiten Riegel Schokolade bekam. Diese Enttäuschung wollte er ausdrücken. Deshalb fing er an zu jammern. Möglichweise wollte er seine Mutter zunächst wirklich überreden, ihm doch noch ein wenig mehr Schokolade zu geben. Als die Mutter jedoch ihr Nein wiederholte, warf er sich auf den Boden und weinte laut. Dies geschah nicht aus Trotz, sondern weil dieses zweite Nein noch einmal stressauslösend wirkte. In diesem Moment wurde Paul von der Wucht seiner Gefühle übermannt, das emotionale Gehirn übernahm die Führung, und seine Stressregulation war völlig überfordert.
Wer ein Kind in diesem Zustand mit Worten erreichen möchte, hat schlechte Karten, da ja das kognitive Gehirn für die Sprache zuständig ist. In diesem Moment ist es, platt formuliert, gerade »außer Betrieb«. Das Kind kann also die Worte seiner Eltern gar nicht richtig verarbeiten, einfach, weil das emotionale Gehirn diese Funktion gerade blockiert. Kein Wunder, dass die üblichen Beruhigungsversuche von uns Eltern so desaströs fehlschlagen – unsere Kinder verstehen uns einfach nicht! Sie können uns nicht verstehen, weil auf das Areal für die Spracherkennung in dem Moment nicht zugegriffen werden kann. Pauls Mutter hatte das in der Situation ganz richtig erkannt, als sie den Eindruck hatte, es sei eine »Nebelwand um ihn herum« gewesen. Da sie nicht zu ihm durchdringen konnte, wählte sie instinktiv eine andere Methode, um ihn zu beruhigen, indem sie ihn in den Arm nahm. Durch den Körperkontakt zu seiner Bindungsperson schüttete sein Gehirn das stresshemmende Hormon Oxytocin aus, sodass Paul sich langsam beruhigen konnte.
Nicht immer ist Umarmen der beste Weg. Oft wollen Kleinkinder in wütenden Momenten keinen Körperkontakt. Doch wie kann man als Elternteil ein Kind dann beruhigen, das gerade nicht berührt werden möchte? Hier kommt die wirklich spektakuläre Fähigkeit des emotionalen Gehirns ins Spiel, die Familien in solchen Wutmomenten im wahrsten Sinne des Wortes viel Leid ersparen kann: Es kann nämlich nonverbale Kommunikation ganz wunderbar entschlüsseln. Mimik, Gestik, Tonfall, all das kommt im emotionalen Gehirn auch während eines Wutanfalls an! Heureka!4
Die Eltern können also versuchen, mithilfe ihrer Stimmlage, ihrer Mimik und ihrer Gestik das aufgebrachte Kleinkind zu erreichen. Sie können die Gefühle des Kindes ohne viele Worte spiegeln – das emotionale Gehirn wird diese Botschaft verstehen, sodass ins kindliche Bewusstsein gelangt, dass der Erwachsene sein Problem erkannt hat und an einer Lösung interessiert ist. Damit kann man dem Kind helfen, sich schneller zu beruhigen. Wir werden darauf im letzten Teil unseres Buches noch ausführlich eingehen.
Wichtig ist uns an dieser Stelle, zu betonen, dass Pauls Mutter ihm half, indem sie sich ihm zuwandte. Nur mit ihr gelang es ihm, sich relativ zügig zu beruhigen. Im Alter zwischen einem und vier Jahren ist die Eigenregulation des kindlichen Gehirns in den meisten Stresssituationen noch vollkommen überfordert. Deshalb benötigen Kinder in diesem Alter zuverlässige Unterstützung von außen, um aus einem Wutanfall herauszufinden. Fremdregulation ist eine der wichtigsten Maßnahmen, um den Aufbau der Eigenregulation zu unterstützen.
Gerät das Gehirn in eine so emotionale Krise wie bei Paul, setzt normalerweise ein Prozess ein, der Stressregulation genannt wird. Ein Erwachsener würde nun bestimmte Strategien anwenden, um sich selbst effektiv zu beruhigen. Vielleicht würde er sich selbst gut zureden oder tief durchatmen. Kinder können dies jedoch noch nicht. Sie bringen zwar schon einen Grundstock an Fähigkeiten aus dem Mutterleib mit, um Gefühle zu regulieren, zu tolerieren und den dabei entstehenden Stress auszuhalten, der größte Teil der Stressregulationsstrategien wird jedoch erst im Laufe des Lebens entwickelt. Sie werden maßgeblich durch die Hilfe der Eltern oder anderer feinfühlig reagierender Personen erlernt.
Schon kleine Babys sind in der Lage, sich von unangenehmen Reizen wegzudrehen oder am Daumen zu nuckeln, um sich selbst zu beruhigen, wenn sie in leichten Stress geraten. Doch die meisten Situationen überfordern sie, weshalb sie dann anfangen zu weinen. Ihre Eltern müssen sie in solchen Situationen durch Körperkontakt, möglichst sogar Hautkontakt, fremdregulieren. Auch leichtes Wippen und freundliches Zureden können helfen, den Stress abzubauen. Gelingt es den Eltern nicht, ihr Baby zu verstehen und feinfühlig auf seine Bedürfnisse einzugehen, wird es heftiger weinen und zunehmend außer sich geraten. Kommt es dann noch immer nicht zu einer beruhigenden Reaktion vonseiten der Bindungsperson, beispielsweise weil diese beschlossen hat, das Weinen zu ignorieren, damit das Baby lernt, allein einzuschlafen, endet das letztlich in einem fast panischen Zustand, der das Regulationssystems des Säuglings überfordert. Der Stress löst eine Erregung des sympathischen Nervensystems aus, das für Kampf und Flucht verantwortlich ist. Das Baby hat aufgrund seiner körperlichen Unreife jedoch noch keine Möglichkeit, aus der Situation zu flüchten, sodass sein Gehirn in eine akute Krise gerät und eine Notfallreaktion veranlasst. Bindungsforscher Karl-Heinz Brisch beschreibt die Auswirkungen dieser Notfallreaktion. Das Baby wird »ganz plötzlich, von ›jetzt auf gleich‹ stumm werden und gleichsam ›einfrieren‹«. Man bezeichnet diesen Moment auch als »Abschalten«. Nach Brisch wird das Gehirn des Babys die Wahrnehmung von Schmerz, Angst oder Panik ausschalten. Die Kinder wirken dann nach außen gefasst, allenfalls vielleicht ein bisschen starr. Man merkt ihnen nicht an, dass sie Angst oder Schmerzen haben, doch innerlich bleibt der große Stress erhalten. Das kindliche Gehirn hat noch eine weitere Möglichkeit, mit übergroßem Stress umzugehen. Hierbei wird, so Brisch, »die große Erregung des sympathischen Nervensystems in ihr Gegenteil verkehrt«. Die Übererregung des Kampf- und Fluchtsystems wird umgeschaltet auf das parasympathische System, das für Entspannung und Schlaf verantwortlich ist. Das Baby wird also als Notfallreaktion auf den zu großen Stress einfach einschlafen.5 Die abgespalteten Gefühle (z. B. Angst und Hilflosigkeit) werden zusammen mit der Erinnerung an die erlebte Situation (das Alleinsein im Bett) im limbischen System gespeichert und können möglichweise später eine durch den zeitlichen Abstand nicht mehr erklärbare Abneigung gegen bzw. Überreaktion bei ähnlichen Situationen hervorrufen.
Zwischen dem 1. und dem 4. Geburtstag, also genau während der Autonomiephase, liegt der intensivste und wichtigste Abschnitt des Erlernens von Stressbewältigung. Um Bewältigungsstrategien zu entwickeln, müssen unsere Kinder zunächst einmal Situationen bewusst als stressauslösend erkennen. Für solche Gedankengänge muss das kognitive Gehirn weit genug gereift sein, und das Kind muss verschiedenste, auch Angst oder Wut auslösende, Situationen kennenlernen. Bei leichtem Stress schaffen sie es vielleicht schon, sich selbst durch Kuscheln mit dem Lieblingsteddy oder Weggehen vom Stressor zu entspannen. Auch lautes Schreien, Aufstampfen mit dem Fuß oder Zuhauen kann helfen, Stress abzubauen. Eltern, die in diesem Zeitabschnitt versuchen, ihr Kind von Gefahren, Verlusten oder Hindernissen fernzuhalten, damit es nicht traurig oder wütend werden muss, nehmen ihm möglicherweise schon früh die Chance, später mit starken Emotionen klarzukommen.
Andere Eltern lassen ihre Kinder in Stresssituationen allein wüten, weil sie glauben, dass ihre Kinder lernen müssten, selbst damit fertig zu werden. Das ist jedoch nicht der Fall – gerade in diesem Alter kann das Gehirn den Stress, der es zu sehr überwältigt, nur durch das Einschalten der Notfallreaktion beenden. Deshalb ist eine feinfühlige Unterstützung bei Wut und Stress immer noch so wichtig wie im Babyalter. Erst nach der Autonomiephase, also frühestens mit fünf Jahren, entwickeln Kinder andere Stressbewältigungsstrategien und sind dann nicht mehr so stark darauf angewiesen, von außen reguliert zu werden. Bis dahin ist es Aufgabe von uns Eltern, zwischen Überbehüten und Alleinlassen eine Balance zu finden.
Nicht nur Verbote lassen unsere Kinder wütend werden. Manchmal sind es auch unterschiedliche Blickwinkel, die zu einem Konflikt zwischen Eltern und Kind führen. Steffen, 37, erzählt eine typische Situation:
Beispiel
Meine Tochter Mathilda (2) wollte mit mir raus in den Schnee. Ich wollte ihr schnell beim Anziehen helfen, damit wir vor allen anderen auf dem Rodelberg ankommen. Ich half ihr also, die Leggins und ihre Socken anzuziehen. Doch sie wurde wütend auf mich. Mathilda wollte die Socken auf eine ganz spezielle Art und Weise unter die Leggins gezogen bekommen, doch ich verstand einfach nicht, wie genau sie es haben wollte. Ich habe mich redlich bemüht. Doch mit jedem Mal, bei dem ich die Socken »falsch« angezogen habe, wurde Mathilda ungeduldiger und wütender. Nach dem fünften Mal warf sie sich vor Wut schreiend und weinend nach hinten. Da sie bei mir auf dem Schoß saß, traf sie dabei mit ihrem Kopf meine Nase. Nun habe ich vor Schmerz ebenfalls aufgeschrien und hatte Tränen in den Augen. Aus meiner Nase tropfte Blut. Doch statt mich zu trösten oder sich zu entschuldigen, kreischte mich Mathilda weiterhin an, ich solle die Socken richtig anziehen und zwar sofort! Ich war so wütend auf sie, dass auch ich anfing zu schreien. Verdammt, ich könne schließlich nicht hellsehen – sollte sie ihre Socken doch alleine anziehen! Habe sie denn nicht bemerkt, dass sie mir weh getan hat?
Da bemühen wir uns liebevoll, die Wünsche des Kindes ernst zu nehmen, und werden dann, wenn wir nicht schnell genug sind oder es nicht richtig machen, auch noch angemeckert. An diesem Punkt kann man schon einmal ins Zweifeln kommen, ob da nicht doch grundsätzlich etwas in der Erziehung falsch läuft. Nein, das tut es nicht, denn ein Verhalten wie das von Mathilda aus unserem Beispiel ist völlig altersadäquat. Sie ist einfach noch nicht in der Lage, die Situation aus den Augen ihres Vaters zu sehen oder sich in seinen Schmerz einfühlen, weil ihr aufgrund ihres Alters noch ein entscheidender Meilenstein der kognitiven Entwicklung fehlt: Sie kann noch keinen Perspektivwechsel einnehmen und verfügt somit noch nicht über ausreichend Empathievermögen.
Empathie bezeichnet die Fähigkeit, sich in die Gedanken und Gefühle einer anderen Person hineinzuversetzen und diese stellvertretend nachempfinden zu können. Menschen, die eine gut entwickelte Empathie besitzen, können auf angemessene Art und Weise auf die Bedürfnisse anderer reagieren. Das heißt, sie erkennen von selbst, dass es einem weinenden Menschen schlecht geht, und antworten darauf, indem sie ihn zum Beispiel streicheln, in den Arm nehmen oder bei Nasenbluten ein Taschentuch anbieten.
Doch um empathisch reagieren zu können, müssen bei einem Menschen bestimmte kognitive und emotionale Fähigkeiten entwickelt sein. Nach Feshbach6 ist es für die Empathieentwicklung unabdingbar, den emotionalen Zustand eines anderen Menschen bestimmen zu können. Das bedeutet, ein Kind muss in der Lage sein, Körper- und Gesichtsausdruck bei anderen zu erkennen, zu entschlüsseln und einem Gefühl zuzuordnen. Emotionale Zeichen wie Tränen für Traurigkeit oder zusammengezogene Augenbrauen für Wut helfen bei der Entschlüsselung. Kinder werden mit diesem Wissen jedoch nicht geboren – sie erlernen es durch Beobachtung und Erklärungen. Wichtig ist also, dass wir Eltern unsere Kinder immer wieder auf die Mimik und Gestik anderer Menschen aufmerksam machen und diese für sie entschlüsseln. Das kann mithilfe von Bilderbüchern geschehen, aber auch ganz nebenbei im Alltag. Auch wir Eltern sollten unsere eigenen Gefühle mit echter, unverfälschter Mimik und Gestik begleiten, also authentisch sein, sodass die Kinder keine falschen Informationen abspeichern. Ein Vater, der lächelt, obwohl er wütend ist, sendet ein falsches Signal aus.
Eine weitere wichtige Grundvoraussetzung für das Empathievermögen ist nach Feshbach die Fähigkeit, den Blickwinkel eines anderen Menschen einzunehmen (Perspektivwechsel). Das bedeutet, dass ein Kind kognitiv dazu in der Lage sein muss, zu erkennen, dass andere Menschen nicht immer über seinen eigenen Wissensstand verfügen. Ein Theaterstück, in dem sich das Krokodil vor dem Kasper hinter einem Busch versteckt hat, wird erst dann spannend, wenn das Kind versteht, dass der Kasper das Krokodil nicht sehen kann und gleich von ihm überrascht wird. Kann das Kind die Perspektive des Kaspers noch nicht einnehmen, wundert es sich, warum er sich erschreckt – das Krokodil war doch ganz offensichtlich die ganze Zeit hinter dem Busch. Der Perspektivwechsel ist ein kognitiver Meilenstein, dessen Erreichen nicht beeinflusst werden kann und der mit etwa vier Jahren – also gegen Ende der Autonomiephase – erreicht wird.7
Die dritte Voraussetzung für empathisches Verhalten ist laut Feshbach die Fähigkeit, emotional auf andere Menschen zu antworten. Sie ist zum Beispiel vorhanden, wenn ein Kind ein anderes weinendes Kind in den Arm nimmt, um es zu trösten. echter erlebt