und andere Geschichten
von
Roswitha Springschitz
© 2017 Roswitha Springschitz
Autorin: Roswitha Springschitz
Verlag: myMorawa von Morawa Lesezirkel GmbH
ISBN: 978-3-99057-686-1 (Paperback)
ISBN: 978-3-99057-687-8 (Hardcover)
ISBN:978-3-99057-688-5 (e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.
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„Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben
Und in die Welt wird zurückbegeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit wieder gatten,
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort“
(Novalis)
Es geht, in diesen Geschichten, um Liebe. Um die Liebe von Männern und die Liebe von Frauen, unterschiedlich und gleich.
Um das, was Liebe ermöglicht und was sie verhindert: sichtbar an Herz und Herzlosigkeit, an Gedanken und Gedankenlosigkeit, an Rücksicht und Rücksichtslosigkeit.
Und es geht um das Leben – hier vor allem um das glückliche oder unglückliche Zusammenleben innerhalb einer Gemeinschaft oder Familie.
Um das Leben als ein Unterwegssein in Zeit und Raum. Größtenteils geht es in diesen unterschiedlichen, in den letzten Jahren entstandenen Geschichten um die Problematiken von Menschen unserer westlichen Wohlstandsgesellschaft: um deren Denk- und Lebensmuster, ihre spezifischen Stärken und Schwächen, ihre Selbstwerdungen und Entwicklungen.
Um die Triebfeder der Sehnsucht, diesen inneren Ruf, manchmal lauter, manchmal im Getöse des Alltäglichen untergegangen.
Österreich, August 2017
Anmerkung: Die – aufgrund der Titel - alphabetische Reihung der Geschichten wurde gewählt, um durch das Zufallsprinzip eine bunte Mischung entstehen zu lassen.
Zu ungewöhnlicher Stunde betrat Herr Rüdiger sein Büro – und stolperte über einen dicken Ordner, der offenbar vom Tisch seiner Mitarbeiterin gerutscht war: Es war fünf Minuten nach Mitternacht und er war auf dem Heimweg noch schnell hierher gefahren; hatte das Bedürfnis ein wenig Abstand zu gewinnen, von der leidenschaftlichen Umarmung mit seiner Geliebten. Das war immer wieder das Schwierigste: heimzukommen, zu seiner Frau Bettina und den beiden Kindern, nachdem er mit Dora...nein, jetzt nicht mehr nachdenken über Dora...irgendwann würde er sich ihrer entledigen - oder sie würde tun, was zu tun war und endlich einsehen, dass er sich nie öffentlich zu ihr bekennen würde. Bettina war eine gute Hausfrau und Mutter, auf sie war Verlass: das Haus immer sauber und gepflegt, sie selbst auch durchaus appetitlich, was sie allerdings viel kostete, an Selbstkasteiungen, da sie so leicht zunahm und so gerne aß, im Grunde immer und ständig essen wollte...
Hermann Rüdiger setzte sich an seinen Schreibtisch und studierte den Terminkalender: Am Montagnachmittag hatte er einen äußerst unangenehmen Termin vor sich: eine Überprüfung seiner Akten. Er hatte, für diesen Termin, schon etliche Vorbereitungen getroffen und seinen Mitarbeitern Susanne und Peter aufgetragen, ihm dabei behilflich zu sein und diverse Ordner durchzusehen. Seinen Teil dieser Arbeit musste er nun auch noch erledigen: Am besten wird sein, ich nehme die Ordner gleich mit nach Hause, über‘s Wochenende, überlegte er und öffnete den Aktenschrank, um diese zu entnehmen, da fiel ihm ein, dass ja alle zu bearbeitenden Ordner bereits auf einem kleinen Tischchen zwischen Susannes und seinem Schreibtisch gestapelt waren: links die bereits bearbeiteten, rechts die zu überprüfenden. Ein Ordner - an dem Susanne wohl zuletzt gearbeitet hatte -lag zudem auf ihrem Schreibtisch. Hermann Rüdiger trat an Susannes Schreibtisch, um nachzusehen, um welchen es sich handelte, da fiel sein Blick auf das Foto von Susannes Kindern, das auf ihrem Schreibtisch stand: Susanne, zwei Jahre älter als er selbst, hatte vier, teilweise schon erwachsene Kinder: zwei Töchter und zwei Söhne. Neuerdings stand nun dieses Foto auf ihrem Schreibtisch: seit sie geschieden war.
„Endlich!“ hatten einige aus der Kollegenschaft diesen Schritt kommentiert, denn Susannes „Ex“ hatte ganz offen seine Polygamie ausgelebt und neben Susanne seit Jahren Zweit- und Drittfrauen gehabt. Aber als Susanne, bald nach der Scheidung, in der Öffentlichkeit glücklich mit ihrem attraktiven, etliche Jahre jüngeren Freund aufgetreten war, hatte es auch andere Stimmen gegeben:
„Wahrscheinlich hat sie den ja schon seit Langem!“ – „Sicher war sie eine untreue Ehefrau!“ – „Sie hat den armen Fritz (dies der Name des „Ex“) ja in die Arme der anderen Frauen getrieben!“ Hermann Rüdiger selbst beteiligte sich nicht an derartigen Klatschgesprächen, dachte sich vielmehr seinen Teil: Susanne war ihm, seit der Scheidung, nicht mehr sympathisch. Zerstört ihre Familie, beendet ihre Ehe und strahlt schon zwei Monate danach vor Liebesglück: da ist doch was faul! Dieser Gedanke hatte sich in seinem Kopf quasi festgesetzt. Zudem plagte ihn, seit Susannes Scheidung, immer wieder derselbe Alptraum: Er träumte, er komme von der Arbeit heim, in ein vollkommen leeres Haus: seine Frau Bettina habe ihn verlassen, mitsamt den Mädchen.Ich muss mit Dora Schluss machen!, dachte er dann, fühlte sich aber dazu nicht in der Lage: In seiner Haut brannte das Feuer, das ihn mit Dora verband. Gleichzeitig verhielt er sich aber nicht mehr liebevoll gegenüber seiner Geliebten: hielt sich nicht an Verabredungen, versetzte sie, „vergaß“, sie anzurufen: als würde er bewirken wollen, dass sie Schluss machte…
Hermann Rüdiger suchte im Stapel der noch zu bearbeitenden Ordner nach jenem vom vergangenen Jahr, da fiel ihm ein von Susanne geschriebenes Zettelchen in die Hände, auf dem sie vermerkt hatte: „Ordner von 2011 über‘s Wochenende zum Bearbeiten mitgenommen!“ Er hätte nun froh sein können, selbst weniger Arbeit zu haben, ärgerte sich plötzlich aber ganz furchtbar über Susanne. „Wer gibt der das Recht, Ordner ganz einfach nach Hause mitzunehmen?!“, sagte er laut und erbost. Ohne viel darüber nachzudenken, was er da tat, saß er plötzlich an seinem Schreibtisch und verfasste einen Beschwerdebrief über Susanne: „..Ihre Arbeitsmoral hat in der letzten Zeit beträchtlich abgenommen: Sie ist unzuverlässig und kommt ihrer Arbeit nicht mehr korrekt nach, worunter der ganze Betrieb sehr leidet...“ Während er dies schrieb, spürte er eine unermessliche Wut in sich aufsteigen: Er ertrug diese Frau einfach nicht mehr! Er ertrug ihre körperliche Anwesenheit nicht, ihren Blick, ihr Dasein! Er schickte das Schreiben an seinen Chef, mit dem Vermerk, es dringendst zu bearbeiten und schaltete den Computer aus. Dann fuhr er nach Hause, zu seiner Frau.
Susanne wurde einen Monat später, ohne jegliche Vorankündigung, „aus gravierenden betriebsbedingten Gründen“ fristlos entlassen und Hermann Rüdiger lebte weiterhin sein Doppelleben zwischen Dora und Bettina.
Beruflich avancierte er.
Clarissa hatte nun endgültig genug. ,Aus!‘, dachte sie.
,Ich mach da nicht mehr mit! Ich hau ab! Ich will nicht mehr!‘
Jeden zweiten Samstag verbrachte Clarissa bei ihrem Vater Theo, das hatten die Eltern so vereinbart. Und jedes Mal blieb Clarissa von diesem Tag ein bitterer Nachgeschmack, so sehr sie sich immer darauf freute. Ihr Papa machte einfach alles für sie: kochte ihre Leibspeisen, verwöhnte sie nach Strich und Faden, alberte mit ihr herum… Aber dann kam immer der Moment, an dem die Stimmung kippte: wenn die Sprache auf Elvira, Clarissas Mutter kam – und garantiert gab es jedes Mal einen Anlass dazu.
„Von deiner Mutter hast du das nicht!“, sagte er an jenem Samstag, von dem hier die Rede ist und meinte Clarissas Sprachbegabung: Sie schrieb, ohne zu lernen, auf jede Englisch- und Französischschularbeit ein „Sehr gut“. „Warum nicht?“ , entgegnete Clarissa darauf, „Mama kann doch perfekt Englisch und ihr Französisch ist auch sehr gut!“ - „Weil sie drei Jahre lang im Ausland war – ist ja dann kein Kunststück!“, meinte Theo. „In der Schule jedenfalls war sie eine absolute Niete! Ist mit Ach und Weh bis in die achte Klasse gekommen! Ja, manche sollten besser nicht ins Gymnasium gehen...“ - „Willst du damit sagen, dass du meinst, Mama sei dumm?“ – „Genau!“, meinte nun ihr Vater grinsend, „Sie ist die dümmste Frau, die ich kenne! Dumm, aber raffiniert… – Willst du noch ein Eis? Ich habe deine Lieblingssorten gekauft? Oder sollen wir ins Kino?“
„Ich möchte lieber jetzt schon nach Hause! Ich hab noch Hausübungen zu machen!“, log Clarissa. „Mit deiner Mutter habe ich aber vereinbart, dass ich dich erst am Abend nach Hause bringe. Sie will sicher ganz gern ungestört sein, mit ihrem Herzallerliebsten! Der ist ja übrigens ein Vollkoffer, sagte der doch letztens zu mir...“ „Ich hab ganz vergessen, dass ich am Montag in Mathematik drankomme, zur Wiederholung. Du weißt ja, Mathematik ist nicht meine Stärke!“, log Clarissa weiter. ,Interessiert mich gar nicht, was du mit Mama ausgemacht hast!‘ ,dachte sie. ,Es ist mir einfach egal, was ihr euch meinetwegen ausmacht! Ich will jetzt sofort weg hier!‘ Sie nahm ihr Handy, wählte und sagte bestimmt ins Telefon: „Mama, ich komm jetzt schon nach Hause! Muss noch Mathe lernen.“ Dann ging sie ins Vorzimmer, um sich die Schuhe anzuziehen. „Warum nimmst du nie deine Schultasche mit zu mir? Ich könnte dir ja vielleicht helfen, in Mathematik!“, meinte Theo und seine Stimme klang nun traurig. Gerne hätte er Clarissa noch länger bei sich gehabt! Diese antwortete nicht und die beiden gingen schweigend zum Auto.
„Den neuen Film mit Johnny Depp würde ich gern mit dir anschauen! Wie wär’s, vielleicht nächste Woche?“, sagte Theo. Clarissa schwieg.
Angekommen vor ihrem Wohnhaus verabschiedete sie sich von ihrem Vater mit einem Kuss, nahm ihren Rucksack und stieg schnell aus. „Warte!“, meinte er noch. „Ich trag dir den Rucksack hinauf!“ – „Nicht notwendig!“, entgegnete Clarissa. „Ist ja ohnehin kein Parkplatz frei.“ Sie überquerte die Straße und betrat das Wohnhaus. Gleich hinter der Tür blieb sie im Gang stehen und wartete. Einige Minuten später öffnete sie die Tür wieder, vergewisserte sich, dass Theo weggefahren war und verließ das Haus.
Sie ging zur U-Bahnstation und nahm einen Zug ins Stadtzentrum.
„Wo ist Clarissa? Warum bringst du sie nicht zur vereinbarten Zeit nach Haus?“ , sagte Elvira drei Stunden später am Telefon zu Theo.
„Ich hab‘ sie ja schon um 16 Uhr heimgefahren!“, entgegnete dieser. „Sie hatte doch mit dir telefoniert!“ „Nein, sie hat nicht mit mir telefoniert – o mein Gott!“ – Clarissas Mutter.
„Das gibt’s doch nicht!“ - Theo. „Ich hab sie kurz nach 16 Uhr vor dem Haus abgesetzt...“*
„Was sollen wir nun tun?“, schluchzte Elvira ins Telefon. Sie hatte tatsächlich „wir“ gesagt, das traf Theo mitten ins Herz. Er fühlte sich schuldig: Clarissa war ihrer beider Tochter, sie liebten sie beide und waren zu gleichen Teilen verantwortlich für sie. – Und er hatte sich Clarissa gegenüber immer abfällig über Elvira und deren Mann Franz geäußert: Seine Wut über Elvira: weil Clarissa bei ihr lebte und sie somit den Alltag mit ihrer Tochter teilte, während er nur Alimente zahlte und auf die Wochenenden mit seiner Tochter wartete, hatte er auch Clarissa gegenüber regelmäßig geäußert. Außerdem hatte Elvira ihr Leben neu gestaltet, sogar eine Ehe geschlossen, während er nichts Neues gewagt hatte; auch darum beneidete er sie… Sein Verhalten erkannte er nun als peinlich, dumm und unwürdig: Er, als Vater, war dazu da, seiner Tochter eine Stütze zu sein und sollte sie nicht mit seinem Seelenmüll belasten!
Elvira, am anderen Ende der Leitung, konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen, sodass schließlich Franz ihr offenbar das Handy aus der Hand nahm und das Gespräch mit Theo fortsetzte:
„Hab schon mitbekommen, worum’s geht, Theo!“, sagte er. „Komm am besten gleich zu uns, dann überlegen wir gemeinsam, was zu tun ist! In der Zwischenzeit rufen wir ein paar Freundinnen von Clarissa an!“
„Clarissa, bitte komm nach Hause!“, sagte Theo laut vor sich hin, während er im Auto dieselbe Strecke fuhr wie drei Stunden zuvor. „Bitte, komm nach Hause! Ich versprech‘ dir, ich mach‘ das wieder gut! Wirklich! Ich weiß, ich bin dir das schuldig! Es tut mir so leid... Clarissa, du hast eine wunderbare Mutter, die dich sehr lieb hat und Franz ist ein feiner Kerl! Ich bin zwar neidig, weil er jetzt mit dir zusammenlebt, aber so kann das eben kommen, wenn man, wie deine Mama und ich, die Sache vermurkst hat! Wir haben die Sache vermurkst und ich hab‘ immer weiter gemurkst… Du weißt, was ich meine...“
Fünf Minuten vor halb acht parkte er seinen Wagen vor dem Wohnhaus, in dem Elvira, Franz und Clarissa lebten, und läutete kurz darauf an der Wohnungstür.
„Gut, dass du da bist! Ich denke, es wird uns nichts anderes übrigbleiben als die Polizei zu verständigen, vielleicht warten wir aber noch ein wenig...“, sagte Franz , der die Tür geöffnet hatte.