Erbarmungslos

Thriller

Heidrun Bücker


ISBN: 978-3-96152-155-5
1. Auflage 2018, Oldenburg (Deutschland)
© 2018 Schardt Verlag, Oldenburg

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Titelbild: Teka77 / photocase.de
Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Kapitel 1

 

9 Jahre zuvor – Wildpark Frankenhof, Reken

 

Jana Derlang packte die Tasche, die sie für den Ausflug mit Tochter und Enkel zum Wildpark Frankenhof brauchte. Oscars erste Ferien. Drei Wochen kindergartenfrei. Noch wusste der Dreijährige das nicht zu schätzen, in einigen Jahren schon, wenn es sechs Wochen lang Schulferien gab. Mit Tante Kathie und Oma Jana sollte es heute zu den Tieren gehen. Besser fand Oscar aber die großen Spielplätze mit den riesigen Rutschen, den Klettergerüsten und natürlich die Pommes, die es zu Mittag geben würde. Da wurde sogar der Streichelzoo zur Nebensache. Die Ziegen gefielen ihm nicht, die Rehe waren auch zu groß ... Der Kleine beobachtete sie lieber aus sicherer Entfernung.

Mit Tante Kathies Pick-up ging es gleich los.

Oscar kletterte auf seinen Sitz. Als Jana ihm helfen wollte, kam nur ein: „Oma, das kann ich alleine, ich bin schon ein großer Junge.“

„Aber sicher“, Jana versuchte ernst zu bleiben, „das weiß ich doch.“ Vorsichtshalber hatte sie den Buggy eingepackt. Wenn Oscar lieber laufen wollte, so hatte das zusammenfaltbare Ding doch den Vorteil, als Gepäcktransportmittel für Jacken und Getränke zu dienen.

Wie sie ihren Enkel kannte, wollte er zuerst geschoben werden. Kurz vor zehn ging es los. Die Autofahrt dauerte eine halbe Stunde. Sie hatten Glück. So früh, knapp dreißig Minuten nach Öffnung der Tore, fanden sie einen fast leeren Parkplatz vor und konnten beinahe direkt vor dem Eingang parken.

Einige wenige Autos standen bereits dort. Mit Kindersitzen auf der Rückbank – ein untrügliches Zeichen für Familien.

Merkwürdigerweise sah sie auch einen VW-Bulli, neueres Modell, an dem die Seiten- und Rückfenster mit schwarzer Folie abgeklebt waren. Ein dickes Vorhängeschloss war an der rückwärtigen Klappe des Lieferwagens zusätzlich angebracht. Das irritierte Jana. Sie meinte, ein dumpfes Pochen, Jammern oder Weinen aus dem Innern zu hören. Vermutlich ein Hund, den man zurückgelassen hatte. Sie fand es deprimierend, wenn Kinder nicht hinausschauen konnten wie bei diesem Auto. Getönte Scheiben waren gerade noch akzeptabel, alles andere nicht.

Nachdem sie den Buggy aufgeklappt, die Getränke, die Tasche mit den Keksen und den drei Milchbrötchen im Netz verstaut hatte, ging es los. Wie erwartet wollte Oscar zunächst von Oma geschoben werden.

Vorsorglich hatte Jana eine Schmerztablette geschluckt, damit der Rücken sie nicht zu sehr plagte. Diese Pillen wirkten Wunder.

 

Eine halbe Stunde früher

 

Lisa Stark gähnte. Vielleicht hätte sie doch nicht die Nacht durchfeiern sollen. Die Achtzehnjährige stieg aus dem Wagen ihrer Eltern. Pünktlich zur Eröffnung des Wildparks um zehn Uhr wurde sie mit ihrem kleinen Sohn vor dem Eingang abgesetzt. In der vergangenen Nacht hatten sich die Großeltern mal wieder bereit erklärt auf Matthias, ihren dreijährigen Enkel, aufzupassen. Lisa wollte eigentlich für ihren Schulabschluss lernen, überlegte es sich aber anders, nachdem sie ihren Sohn abgeliefert hatte.

Als sie mit vierzehn schwanger wurde, überredeten ihre Eltern sie, das Kind nicht abtreiben zu lassen und sagten ihr Unterstützung zu. Nun bestanden sie darauf, dass ihre Tochter den Schulabschluss nachholte. Lisa fand das ätzend.

Warum eigentlich? Die Unterstützung des Sozialamtes und die monatliche Zuwendung ihrer Eltern reichten für eine kleine Wohnung. Das Leben fand sie zurzeit recht angenehm, da sie jederzeit Matthias bei Oma und Opa abliefern konnte.

Heute bestanden ihre Eltern darauf, dass sie den Tag mit ihrem Sohn verbrachte.

Natürlich ahnten sie nicht, dass sie nachts gefeiert hatte. Ihre Mutter musste versucht haben, sie telefonisch zu erreichen. Aber bei dem Lärm in der Diskothek hatte Lisa das Klingeln überhört. Ihrer Mutter erzählte sie etwas von Übermüdung, sie sei eingeschlafen, das eifrige Lernen war anstrengend ... Sogar fünfzig Euro steckte ihre Mutter ihr zu.

Lustlos betrat Lisa den Park, schob genervt den Sportbuggy durch die Absperrung und sah sich um. Oh Gott, dachte sie, was soll ich hier bloß den ganzen Tag machen?

Zügig folgte sie den Hinweisschildern und lief zum großen Spielplatz, hob Matthias aus dem Buggy und setzte ihn in den Sand.

„Da, geh spielen und lass mich endlich in Ruhe, verdammt noch mal.“ Freundliche Worte hatte Matthias von seiner Mutter noch nie gehört. Nur bei Oma fühlte er sich wohl.

Lisa warf einen letzten Blick auf Matthias, der im Sandkasten spielte. Sie war müde, der Alkohol rächte sich. Ihr war übel, und beinahe bereute sie, nicht doch gelernt zu haben. Aber die Fete mit guten Freunden in der Diskothek war toll gewesen, und sie hatte einen netten Jungen kennengelernt. Hans. Er war drei Jahre älter als sie, besaß eine abgeschlossene Ausbildung, wie er ihr erzählte, sah gut aus und himmelte sie an. Seine Telefonnummer hatte Lisa schon. Einer Verabredung stand nichts mehr im Wege. Den Trick mit dem Lernen würde sie sicherlich noch einige Male anwenden. Glücklicherweise ahnte Hans nichts von ihrem Sohn.

Da klingelte ihr Handy. „Lisa, kannst du dich noch an mich erinnern? Heute Nacht haben wir einige Male zusammen getanzt ...“

„Schön, dass du anrufst. Natürlich erinnere ich mich.“ Sie drehte dem Sandkasten den Rücken zu.

„Hast du Lust, heute Nachmittag mit mir ein Eis zu essen? Wir könnten uns in Dorsten in der Eisdiele am Marktplatz treffen. Wie wäre es um sechs? Oder ist das zu früh?“

„Nein“, Lisa zögerte gekonnt, „das müsste auch bei mir klappen, wenn ich mich beeile. Falls ich mich verspäte, rufe ich dich an.“

Nun musste sie nur noch Matthias loswerden. Lisa gähnte. Ihre Augen fielen beinahe zu.

 

Eine halbe Stunde später

 

Oscar zog es magisch zu den Meerschweinchen. Die Tiere waren hungrig. So früh am Morgen hatten Besucher sie noch nicht gefüttert. Das Wetter war warm, und es versprach ein angenehmer Tag zu werden. Die Tabletten wirkten schon, und Jana konnte sich schmerzfrei bewegen. Natürlich sagte sie niemandem, dass sie diese starken Schmerzmittel hin und wieder einnahm.

Oscar wollte von den Meerschweinchen nicht weg und opferte sogar etwas von dem Wildfutter, dass er am Eingang bekommen hatte. Tante Kathie stand mit ihrem Neffen am Gitter des Geheges und half beim Füttern.

Jana sah sich um, stützte sich auf den Buggy und hielt Ausschau nach einer Bank. Dabei bemerkte sie zwei Männer, die an der schräg gegenüberliegenden Umzäunung standen. Beide trugen blaue Arbeitshosen. Der größere der beiden, er mochte Anfang bis Mitte zwanzig sein, hielt sich ein Handy ans Ohr und sprach leise. Er sah gepflegt aus. Blonde Haare, ordentlich geschnitten, umrahmten sein Gesicht. Eine brennende Zigarette hing lässig im Mundwinkel und hüpfte auf und ab, während er sprach. Mit einem kurzen Blick auf Jana beendete er das Gespräch. Der andere drehte ihr den Rücken zu.

Jana überkam ein ungutes Gefühl. Die beiden Männer erweckten nicht den Eindruck, Handwerker zu sein. Auf den Arbeitshosen sah sie nicht einen Fleck.

Immer wieder schauten sie sich um und sprachen leise miteinander. Immer wieder ließen sie ihre Blicke schweifen. Suchten sie jemanden?

Der andere schien um die dreißig zu sein, war einen Kopf kleiner als sein Begleiter, dunkelhaarig und trug einen Bart. Er wirkte nervös, gestikulierte auffällig und wurde von dem Jüngeren nach einigen Sekunden weitergezogen. Von der Unterhaltung konnte sie nichts verstehen. Janas Instinkt sagte ihr, dass mit den beiden Männern etwas nicht stimmte. Sie wollte Kathie von ihren Beobachtungen erzählen, die aber war mit Oscar beschäftigt.

Jana warf einen Blick zurück zu den Männern. Das Handy des Jüngeren klingelte gerade. Er zog es aus seiner Tasche. Sie verstand nicht, was er sagte. Oscar lenkte sie ab, als er auf sie zu rannte und sich in den Buggy setzte.

„Weiter Oma, zu den Ponys.“

Kurze Zeit später hatte Jana die beiden merkwürdigen Männer beinahe vergessen. Sie wurde erst eine halbe Stunde später wieder daran erinnert, als sie sich auf eine Bank nahe dem Ponygehege ausruhten.

Die Kerle beunruhigten Jana. Der größere beobachtete den Spielplatz. Mittlerweile hatte sich der Park gefüllt. Immer mehr Kinder, Kinderwagen und Buggys waren unterwegs.

Oscar hatte die Riesenrutsche entdeckt und war nicht mehr zu halten.

Er sprang aus dem Buggy und rannte los, Tante Kathie hinter ihm her. Jana folgte den beiden langsamer.

„Rutschen, Tante Kathie, lass uns rutschen.“ Oscar wedelte begeistert mit den Ärmchen.

„Wir müssen erst die vielen Treppen hochsteigen“, erklärte sie Oscar.

Jana war über die Bänke froh und machte es sich bequem. Sie winkte ihnen zu und ließ ihre Blicke schweifen. In einiger Entfernung sah sie wieder die beiden Männer. Nun saßen sie auf einer der Bänke und schauten den Kindern an den Spielgeräten zu. Jana wurde unruhig, ihre Nackenhaare sträubten sich. Sie versuchte, sich ihre Gesichter einzuprägen.

Zwei Stunden liefen sie mittlerweile durch den Park. Jana verspürte Hunger. Sie winkte Kathie und Oscar zu sich, die gerade eine kleinere Rutsche herunterflitzten.

„Hunger? Wir könnten gleich Pommes essen.“ Dass es Jana auch nach einer Tasse Kaffee gelüstete, verschwieg sie.

„Wir können hier noch die Seile hochklettern“, schlug Kathie vor, „in einer Viertelstunde gehen wir hinüber zum Restaurant.“

„Siehst du die beiden Männer dort, in den Arbeitssachen?“ Jana hatte sie wiederentdeckt. „Die verhalten sich irgendwie merkwürdig.“

„Die machen sicherlich nur eine Pause und kontrollieren die Spielgeräte.“ Für Kathie war die Sache erledigt, sie lief Oscar hinterher, der versuchte, sich an der Strickleiter hochzuziehen.

Vielleicht sehe ich Gespenster, dachte Jana und ließ die Blicke schweifen.

Zwei kleine Mädchen krabbelten durch den Sand, um sie herum schwirrten einige Wespen. Eine junge Mutter versuchte, sie wegzuscheuchen. Für einige Sekunden war Jana abgelenkt. Eine junge Frau, die auf einer der Bänke saß, schien zu schlafen. Ein abgewetzter Sportbuggy stand neben ihr. Wo war das dazugehörige Kind? Zwei Mütter gingen auf die kleinen Mädchen zu, hoben sie hoch und gingen weg. Dann war der Sandkasten leer.

Als sie wieder zur Rutsche schaute, sah sie Oscar alleine heruntersausen. Kaum unten angelangt, rannte er wieder zu den Seilen, um hochzuklettern. Wo steckte Kathie? Warum ließ sie ihn alleine?

Jana schaute sich suchend um. Oscar verschwand aus ihrem Blickfeld. Der Kinderlärm hatte zugenommen, Jana hörte es nicht. Sie hatte ein ungutes Gefühl. Mach dich nicht selbst verrückt, sie werden gleich wieder hier sein.

Auf einmal sah sie einen der beiden Männer, er hielt etwas unter dem Arm, das grün leuchtete. Wo steckte der zweite? Oscar trug ein grünes Shirt ... Ihre Gedanken überschlugen sich.

Jana dachte nicht mehr an den Buggy, nicht an die Taschen, sie dachte nur an Oscar und preschte los. Sie merkte nicht, dass sie ihre Brille verloren hatte, sie konzentrierte sich auf ihren Enkel und schrie laut nach Oscar. Einige Mütter wandten sich um, andere ignorierten sie. Der Mann drehte sich um, sah sie und rannte los. Mittlerweile war Jana sicher, dass er Oscar im Arm hielt. Kathie konnte sie nirgends sehen. Sie holte den Kerl ein und trat ihm von hinten in die Kniekehle. Er knickte ein. Jana versetzte ihm noch einen heftigen Tritt vors Bein, er sackte zusammen. Etwas knackte. Oscar war zu Boden gegangen, sagte aber nichts.

„Oscar!“ Sie beugte sich hinunter, hob Oscar hoch und strich dem Jungen über die Haare. „Oscar, alles ist gut, Oma ist bei dir.“

Der Mann versuchte stöhnend, sich aufzusetzen.

Ihr Enkel bewegte sich nicht. Schlief er? Warum? Verdammt, man hatte ihn betäubt. Sie hielt Oscar fest im Arm, holte noch mal wütend mit dem Fuß aus und traf den Magen des Entführers, der sich schreiend zurückfallen ließ.

„Du mieser Scheißkerl.“

Ein Mann hielt sie am Arm fest. Beinahe wäre ihr Oscar entglitten.

„Hören Sie auf, den Mann zu treten. Was fällt Ihnen ein!“ Ein Unbekannter versuchte, sie von dem Entführer wegzuziehen.

„Verdammt, die Furie hat mich getreten! Mein Bein, mein Magen“, schrie er, „haltet sie fest! Die will das Kind entführen.“

Jana wehrte die Hand ab, schlug um sich und trat einen Schritt zurück.

Eine Menschentraube hatte sich um sie herum gebildet, ein weiterer Mann wollte ihr Oscar aus dem Arm reißen.

 

*

 

Lisa wurde von dem lauten Geschrei einer Frau geweckt und öffnete langsam ihre Augen. Herrgott noch mal, dachte sie, kann man denn nirgends mal fünf Minuten die Augen zumachen und schlafen? Was für ein Lärm!

Sie sah in einiger Entfernung eine Frau, die krampfhaft ein Kind festhielt. Leute standen um sie herum. Vor ihr, in etwa fünf Meter Entfernung, lag ein jüngerer Mann in blauer Arbeitshose auf dem Boden und tobte. Lisa musste lachen, als sie hörte, was er sagte.

Hatte diese ältere Frau, diese Oma, es tatsächlich geschafft, einen wesentlich jüngeren Mann kampfunfähig zu schlagen? Sie hörte etwas von Entführung.

Nun endlich schaute sie sich um. Wo steckte Matthias?

Von der älteren Frau wurde sie wieder abgelenkt. Es war auch zu kurios. Nun rief sie nach ihrer Tochter? Was ging denn da vor sich? Stand die Alte etwa unter Drogen? Erst hieß es Entführung, dann war die Tochter verschwunden?

 

*

 

„Der wollte meinen Enkel entführen“, tobte Jana, „rufen Sie die Polizei. Da muss noch irgendwo einer herumlaufen. Die sind zu zweit.“ Sie wehrte sich gegen einige junge Männer, die versuchten, ihr Oscar wegzunehmen.

„Wo ist meine Tochter?“ Sie schaute sich um. „Kathie“, Jana brüllte so laut sie konnte, irgendwo musste sie doch sein. „Kathie!“

„Die Alte ist verrückt. Ich habe gar nichts getan. Der Junge lief hier alleine herum und hat nach seiner Mutter gerufen. Ich bin verletzt. Die Polizei sollte sich die Irre mal vorknöpfen.“

Im Augenwinkel bemerkte Jana eine Bewegung am Klettergerüst. Ohne Brille konnte sie nicht genau erkennen, wer auf sie zukam. Sie wollte Oscar nicht loslassen, um Kathie zu suchen.

„Kathie“, rief sie erneut. Ein Mann, der bislang nur in der Nähe gestanden hatte, steckte sein Handy weg und meinte zu ihr: „Geben Sie mir den Jungen, ich halte ihn solange fest, bis die Polizei die Lage geklärt hat.“

„Nein, niemals. Rufen Sie die Polizei und vor allem einen Krankenwagen, verdammt noch mal.“ Jana beobachtete die Person, die sich ihr näherte und atmete erleichtert auf, als sie ihre Tochter erkannte. „Wo warst du? Jemand hat versucht, Oscar zu verschleppen. Der Entführer liegt dort drüben, der Kerl in der Arbeitshose.“

„Mama“, Kathie wankte noch einen Schritt auf Jana zu, „Mama, ich glaube, ich bin verletzt“, flüsterte sie und sackte in die Knie.

Kathie konnte ihr nicht helfen, also musste sie abwarten, bis die Polizei kam.

 

*

 

Lisa verfolgte gebannt das Schauspiel. Wurde hier eine Theateraufführung geprobt? Oder noch besser: Lief irgendwo eine Kamera? Endlich lösten sich Lisas Blicke von der Menschenansammlung. Sie erinnerte sich an ihren Sohn. Wo mochte der nur stecken? Gerade saß er doch noch im Sandkasten. Sie schaute auf die Uhr. Oh Gott, sie hatte fast drei Stunden geschlafen.

Zeit, mit Matthias zu diesem blöden Restaurant zu gehen.

„Matthias, wo steckst du?“, rief sie wütend.

Keine Spur von ihm. Lisa wurde sauer. Warum hatte ihre Mutter sie gezwungen, heute hierher zu fahren? Warum stand sie immer wieder so unter Druck? Sie fluchte. Sie würde zu spät zu ihrem Treffen mit Hans kommen, wenn sie Matthias suchen musste. Das Date wollte sie auf keinen Fall versäumen. Lisa stampfte zornig auf. So weit kann er nicht gelaufen sein, dachte sie. Hatte sie wirklich so lange geschlafen? Unmöglich. Vermutlich war ihre Uhr kaputt.

 

*

 

Wenn sie doch wenigstens ihre Brille hätte. In der Ferne hörte Jana das Martinshorn. Die Personen um sich herum sah sie nur verschwommen.

„Kümmern Sie sich um meine Tochter, sie ist verletzt. Verdammt, kapieren Sie alle denn nicht, dass mein Enkel entführt werden sollte, von dem Mann, der dort liegt?“

Eine Frau kam auf sie zu.

„Ist das Ihre Brille?“ Jana nahm sie und setzte sie auf. Gott sei Dank, dachte sie erleichtert. Der Mann, den sie niedergestreckt hatte, lag immer noch auf dem Boden. Sein Bein war gebrochen, sonst wäre er schon weggerannt. Sie wusste, dass sie treffsicher zutreten konnte. Hoch lebe das Judotraining aus der Jugendzeit.

Zwei Polizisten schlenderten gelangweilt herbei. Der Kerl auf dem Boden fing nun an, laut zu stöhnen.

„Dieses Weibsbild hat mich zusammengeschlagen, mir in den Magen getreten und das Bein gebrochen. Halten Sie sie fest, sie will das Kind entführen, das sie auf dem Arm festhält.“

„Der Kerl lügt, kümmern Sie sich um meine Tochter, sie ist verletzt.“ Jana sah, dass die Frau, die ihr zuvor die Brille gebracht hatte, bei Kathie stand und ihr half, sich aufzusetzen.

Einer der Polizisten kam auf sie zu.

„Ich werde mich um den Jungen kümmern, geben Sie ihn mir.“

„Nein“, rigoros hielt Jana das Kind fest, „er wurde betäubt, wenn er aufwacht und weder mich noch seine Tante sieht, fängt er an zu schreien. Kümmern Sie sich doch endlich um den Kidnapper. Er war nicht alleine. Sein Komplize muss noch irgendwo herumlaufen. Nicht dass noch ein anderes Kind entführt wird, während der hier alle mit seinem Geschrei ablenkt.“

Der andere Polizist flüsterte seinem Kollegen etwas ins Ohr.

„Hier stimmt etwas nicht. Kein entführtes Kind. Gott sei Dank. Das hätte Arbeit und Papierkram für uns bedeutet. Die Alte“, er deutete auf Jana, „ist offensichtlich verwirrt.“ Der andere nickte nachdenklich.

„Aber warum hat sie den jungen Mann geschlagen und zu Fall gebracht? Warum hält sie den Jungen so fest umklammert?“

„Drogen?“ Der andere zuckte mit den Achseln.

Kathie kam einige Schritte näher. Jana sah Blut. Seitlich über dem Ohr war eine Wunde. Aus dem Augenwinkel beobachtete Jana die junge Frau, die sich suchend umschaute. Sie war endlich aufgewacht.

Als sich der Krankenwagen näherte, atmete Jana erleichtert auf.

Einer der Polizisten hielt Jana am Arm. In diesem Augenblick bewegte sich Oscar und versuchte, die Augen zu öffnen. Der Dreijährige schrak zurück und fing an zu weinen. Er jammerte nach seiner Mama, presste sich aber doch fest an Jana, die es schaffte, Oscar beruhigende Worte zuzuflüstern.

Der Polizist ging sofort dazwischen. „Hiergeblieben, sonst lege ich dir Handschellen an!“

Jana wehrte den Polizisten ab und stolperte einige Schritte weg.

„Du kommst jetzt erst mal mit!“ Der Beamte raunzte Jana unfreundlich an. „Die Situation hier bedarf einer Klärung auf der Wache.“ Dann besann er sich, zu viele Ohren hörten mit. „Wie heißt du, wo sind deine Papiere?“

„Seit wann sind wir per Du?“ Jana hatte Mühe, sich zu beherrschen. „Was ist mit meiner Tochter?“

„Jetzt reicht’s“, meinte der Beamte, riss Jana Oscar aus dem Arm, reichte den Kleinen an seinen Kollegen weiter und drehte ihr den Arm auf den Rücken. Zeitgleich klickten die Handschellen.

Oscar schrie entsetzt: „Oma, Oma!“

„Was soll das?“, schimpfte Jana, „kümmern Sie sich doch endlich um den Entführer und seinen Helfer, verdammt noch mal“, gegen zwei Polizisten kam sie nicht an, „geben Sie mir meinen Enkel wieder, ich will sofort mit meiner Tochter sprechen. Kapieren Sie nicht, was hier gerade passiert ist?“

„Oh doch, Sie haben gerade den jungen Mann dort drüben krankenhausreif geschlagen. Das nennt man schwere Körperverletzung. Zeugen gibt es genug.“

„Das darf doch nicht wahr sein“, Jana stöhnte, ihr war es nicht möglich, mit Kathie zu sprechen. Die wurde vor dem Krankenwagen verarztet. Zwei Sanitäter kümmerten sich um den Entführer und legten ihn gerade behutsam auf die Trage.

„Wo ist Oscar? Oscar!“ Jana konnte ihren Enkel nirgends sehen.

Der Griff des Beamten wurde brutaler, mit einem Boxhieb zwischen die Rippen versuchte er, sie ruhigzustellen. Jana blieb kurzfristig die Luft weg, und sie stolperte zu Boden. Der jüngere Polizist zerrte sie mit einem Ruck wieder hoch und verpasste ihr einen Kinnhaken. Jana wankte und versuchte, nicht ohnmächtig zusammenzubrechen. Der Kiefer schmerzte, und sie spuckte Blut.

„Sie sind vorläufig festgenommen!“

 

*

 

Lisa Stark vergaß, weiter nach Matthias zu suchen. Urplötzlich hatte sie eine Idee, einen Einfall, zu dem sie sich beglückwünschte und der all ihre Probleme mit einem Mal lösen würde. Sie sah, wie die Polizisten die Großmutter auf die Rückbank des Streifenwagens verfrachteten und wie der Krankenwagen mit dem verletzten Mann wegfuhr. Mein Gott, waren die brutal zu der Frau! Sie musste diese Chance nutzen, jetzt oder nie, wenn sie nun zögerte, wäre ihr Leben für alle Zeit versaut. Sie grinste hinterlistig.

„Hallo“, rief sie und eilte auf den Polizeiwagen zu. Der Beifahrer sah sie fragend an. „Ich suche meinen Sohn.“ Sie japste, sie weinte, sie wirkte niedergeschlagen. „Er war gerade noch da und spielte im Sandkasten. Ich habe nur Sekunden weggeschaut, um eine ... Wasserflasche hervorzuholen. Als ich wieder hochsah, war er weg. Ich bin sofort losgerannt, weil ich dachte, er wäre zu den Ponys gelaufen, aber da war er nicht, nur diese Frau dort, die jetzt bei Ihnen auf der Rückbank sitzt. Sie rannte zum Ausgang. Ich habe ihr hinterhergerufen, ob sie einen kleinen Jungen gesehen hätte, aber sie reagierte gar nicht. Ich bin zurück zum Spielplatz gegangen. Dann kam die Frau angerannt, attackierte den Mann, den Sie gerade im Krankenwagen abtransportiert haben, und riss ihm den kleinen Jungen aus dem Arm. Was geht hier vor?“

„Langsam, junge Frau“, der Polizist wirkte unsicher, „beruhigen Sie sich.“ Er griff zu seinem Handy und rief Verstärkung.

„Hier läuft eine größere Sache“, versuchte er eine Erklärung, „wir haben eine ältere Frau festgenommen. Scheinbar hat sie einen dreijährigen Jungen entführt. Die Mutter steht bei mir ... okay ... wir warten auf Verstärkung.“ Er wandte sich Lisa zu. „Erzählen sie mir genau, was passiert ist.“

Lisa beglückwünschte sich zu ihrer glanzvollen schauspielerischen Leistung. An Matthias dachte sie keine Sekunde.

 

Neun Jahre später – Essen

 

Allegra beobachtete, hinter einer hohen Hecke versteckt, das Haus. Es war eine Gegend, in der die Gutbetuchten wohnten, wie man unschwer erkennen konnte. Riesige Grundstücke, große, neue Autos, die Villen standen weit auseinander ...

Das Haus wirkte gemütlich – trotz der Größe. Die langgestreckte Auffahrt endete als Rondell vor der Haustür, rechts daneben waren drei Garagen, vermutlich mit einem direkten Zugang zur Küche. Zwei Kinderfahrräder lagen auf dem Rasen. Sie runzelte die Stirn. Zwei? Hier lebte doch nur ein Kind, wie sie wusste.

Die Haustür öffnete sich, sie zuckte zurück, versteckte sich tiefer im Gebüsch, holte eine alte Kamera hervor und drückte mehrfach auf den Auslöser. Sie hörte Kinderstimmen, eine Frau rief ihnen zu, mit den Rädern im Garten zu fahren und nicht auf der Straße.

„Ich mache euch das Garagentor auf, dann könnt ihr nach hinten radeln. Gleich gibt es Kakao.“

Die Kinder jubelten, mit lautem Getöse bewegten sie ihre Fahrräder durch die Garage in den Garten. Sofort schloss sich das Tor geräuschlos. Fernbedienung ...

Schnell kontrollierte Allegra die Fotos, dann fluchte sie. Die Bilder waren unscharf. Die Jungen sahen sich ähnlich. Sie musste es nochmals versuchen und hoffen, das richtige Kind zu erwischen. Sie hatte heute schon zu lange diesen Beobachtungsposten bezogen. Irgendwann würde sie jemand entdecken. In dieser Gegend passte man auf. Missmutig zog sie sich zurück. Die fünfhundert Meter bis zu ihrem verrosteten Fahrrad lief sie betont langsam. Immer wieder schweiften ihre Blicke unruhig nach oben zu den Laternenpfählen. Kameras? Sie war kein Profi, meinte aber, keine gesehen zu haben. Zweifel! In dieser Gegend keine Überwachung? Die Familien, die hier wohnten, würden doch sicherlich nicht auf diesen Luxus verzichten. Gut, dass sie sich eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte. Mit diesen Überlegungen erreichte sie ihr Fahrrad schneller, als sie dachte. Sie durchwühlte ihre Jackentasche und ihren Beutel, den sie über den Lenker geworfen hatte. Vielleicht fand sie doch noch einen Schokoladenriegel. Ihr Magen knurrte bedrohlich, da sie das letzte Mal vor zwei Tagen gegessen hatte.

Irgendwie musste sie sich Geld beschaffen, und da betteln für sie nicht in Frage kam, gab es nur eine Alternative. Mittlerweile beherrschte sie das Klauen schon recht gut. Was man nicht alles lernen konnte, wenn man keine andere Wahl hatte. Das erstaunte sie immer wieder. Wer hätte vor neun Jahren gedacht, dass gerade sie einmal auf Parkbänken hausen würde? Nun war sie mittlerweile neunundzwanzig, lebte auf der Straße, schlief im Gebüsch oder unter einer Brücke, je nachdem, was sich so ergab.

Nachdem sie mit ihrem eigentlich nicht mehr fahrbereiten Fahrrad, eine Errungenschaft von der Mülldeponie, bis in die Stadt zurückgeradelt war, schaute sie sich um. Irgendwo gab es sicherlich noch einen Supermarkt, der offen hatte, und sie konnte etwas Obst oder ein Brötchen stibitzen.

Niedergeschlagen lehnte sie ihren fahrbaren Untersatz an einen städtischen Blumenkübel, der nur dem Zweck diente, herumzustehen, da niemand für eine Bepflanzung sorgte. Sie setzte sich auf den Rand, hielt sich die Hände vors Gesicht und fing bitterlich an zu schluchzen.

Vom Schaufenster des Supermarktes aus wurde sie beobachtet. Die Verkäuferin der Backabteilung sah das junge Mädchen. Abgemagert, schmuddelig. Sie steckte in zerschlissenen Jeans, die schon lange nicht mehr gewaschen worden waren. Ein Pullover, viel zu groß, mit Löchern schlabberte um ihre dünne Gestalt. Die Frau hatte Mitleid. Ihr mütterlicher Instinkt war geweckt, und als sie auch noch sah, dass dieses Mädchen weinte, packte sie kurzentschlossen zwei Käsebrötchen und rief ihrer Kollegin zu, sie würde kurz verschwinden.

„Hallo, Kleines. Nicht erschrecken, ich tu dir nichts.“ Das Mädchen zuckte ängstlich zurück, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte. „Ruhig“, die leisen Worte wirkten, und die Verkäuferin setzte sich ebenfalls auf den Rand des Kübels, hielt aber Abstand, um das Mädchen nicht zu erschrecken. „Mein Name ist Elly, ich arbeite in der Bäckereiabteilung.“ Sie hielt ihr die Brötchen hin. „Du siehst aus, als ob du etwas zu essen vertragen könntest.“

Das Mädchen wirkte verunsichert, aber der Hunger ließ sie alle Vorsicht vergessen. Sie nahm das Brötchen und biss gierig hinein.

Elly hatte nun Gelegenheit, sich das Mädchen genauer anzuschauen und musste ihre erste Meinung revidieren. Kein Mädchen, nein, eine junge Frau saß neben ihr. Abgemagert wie sie war, machte sie einen jüngeren Eindruck, aber ihr verhärmtes Gesicht ließ sie womöglich älter erscheinen, als sie tatsächlich war.

„Wenn du möchtest, kannst du zum Abendessen kommen. Ich bin eine ganz passable Köchin. Es macht mehr Spaß, für zwei zu kochen.“

Irritiert schaute das Mädchen sie an. „Sie kennen mich doch gar nicht. Was, wenn das alles nur dazu dient, Sie auszurauben? Ich an Ihrer Stelle wäre vorsichtiger.“

Elly lachte laut auf. „Und wie hast du es geschafft, so schnell so dreckig und mager zu werden? Dann würde ich vorschlagen, das Schlankheitsmittel zu vermarkten. Hey, schling nicht so, das verträgt dein Magen nicht. Wann hast du das letzte Mal etwas Warmes gegessen?“

Das zweite Brötchen aß das Mädchen langsamer. „Ist schon lange her. Ich bin im Moment nicht in der Lage, mir Kaviar und Lachs zu gönnen.“

Humor hatte sie. Elly sah auf ihre Armbanduhr und stand auf.

„Ich habe Feierabend und bin in ein paar Minuten zurück. Warte hier auf mich. Ich ziehe mich kurz um und hole meine Tasche. Dann gehen wir zu mir. Es ist nicht weit“, ihre Worte wurden leiser, „ich habe auch eine Dusche.“

Das Mädchen wartete tatsächlich. Elly freute sich, war sich aber bewusst, dass sie noch nicht einmal ihren Namen kannte.

Wenige Minuten später standen sie vor Ellys Haus.

„Hier wohne ich, im Erdgeschoss. Diese Prachtvilla hat schon einige Jahre auf dem Buckel, genau wie ich. Mein Mann und ich haben das Haus vor über dreißig Jahren gebaut. Mittlerweile ist er verstorben, und die Kinder sind aus dem Haus. Ich brauche nicht mehr so viel Platz. Die obere Etage ist vermietet. Aber der junge Mann ist selten da.“

Sie gingen um das Haus herum.

„Ich benutze meist den Hintereingang durch die Küche. So habe ich weniger Kontakt mit Tim Leitner, meinem Untermieter. Das Fahrrad kannst du dort abstellen. Nimm deine Sachen mit hinein. Soll ich dir helfen?“

Das Mädchen machte den Eindruck, als würde es gleich zusammenbrechen. Elly bemerkte eine gewisse Unsicherheit in ihren Augen.

„Keine bange, hier bist du sicher.“ Sie ging zum Kühlschrank, betont langsam holte sie einen Topf Hühnersuppe hervor und stellte ihn auf den Herd. „Wenn ich geahnt hätte, dass ich heute nicht alleine esse, hätte ich mehr vorbereitet. Aber ich vermute, eine einfache Mahlzeit wird für deinen im Augenblick wenig beanspruchten Magen genau das Richtige sein. Setz dich. Wenn du möchtest, kannst du mir deinen Namen sagen, sonst nenne ich dich einfach Eva.“

Es kam keine Antwort, und Elly befürchtete, das Mädchen wäre auf dem Stuhl eingeschlafen.

„Sag Eva zu mir.“

„Gut, Eva, machen wir das so. Es dauert noch etwas, bis die Suppe warm ist. Ich zeige dir, wo du duschen kannst. Ich suche dir auch noch ein paar Sachen meiner Tochter heraus. Sie werden dir zwar zu groß sein, aber sie sind wenigstens sauber. Komm, dort ist das Bad.“

Wieder wartete Elly keine Antwort ab, sondern ging einfach vor. Eva zögerte, der Duft nach Suppe zog sie magisch zum Topf, aber Elly hatte recht. Nach den zwei Brötchen, die sie gierig verschlungen hatte, sollte sie ihrem Magen eine kurze Pause gönnen.

Müde schleppte sie sich zum Bad. Wohlige Wärme schlug ihr entgegen. Elly hatte einen kleinen Heizlüfter eingeschaltet.

„Damit du wieder warm wirst. Handtücher, Duschgel und Shampoo findest du auf dem Regal. Ich suche dir noch eine Zahnbürste raus, unbenutzt natürlich“, lächelte Elly und ließ ihren Gast allein zurück.

Eva stand einige Sekunden hilflos im Bad und schüttelte dann den Kopf. Sollte sie nach der langandauernden Pechsträhne endlich Glück haben?

Elly schien eine nette Frau zu sein, die sich nach Gesellschaft sehnte. Sogar das Erdgeschoss war groß genug, um darin eine vierköpfige Familie unterzubringen. Im Vorbeigehen konnte Eva einen Blick in zwei Räume werfen, die scheinbar nicht mehr benutzt wurden. Vermutlich die ehemaligen Kinderzimmer. Die Eingangstür, von der es ins Treppenhaus ging, hatte sie genauso lokalisiert wie die Küchentür. Notfalls müsste das Fenster als Fluchtmöglichkeit herhalten. Mach dich nicht verrückt, versuchte sie, sich selbst zu beruhigen. Elly scheint es ehrlich mit mir zu meinen, nicht wie ... Nein! Rigoros schüttelte sie den Kopf. Nicht immer das Schlechteste von den Menschen annehmen!

Sie riss sich zusammen. Langsam zog sie ihre Kleidung aus, drehte bedächtig den Wasserhahn auf, wartete, bis das Wasser warm wurde, und stellte sich unter die Dusche. Sie atmete tief durch. Wann hatte sie sich das letzte Mal gewaschen? Es war lange her.

Elly hatte in der Zwischenzeit Zahnbürste, Fön und dicke Socken hervorgesucht. Leise schob sie die Badezimmertür auf und erstarrte, als sie Evas Rücken sah. Diese junge Frau war misshandelt worden. Dicke, wulstige Narben, die irgendwann verheilt waren, aber nie eine ordentliche, medizinische Versorgung erfahren hatten, zogen sich kreuz und quer über den Rücken. Schnell legte sie die Kleidungstücke auf den Waschbeckenrand und schloss die Tür hinter sich. Das Gesehene musste sie erst verdauen. War Eva einem brutalen Zuhälter entlaufen, oder steckte etwas anderes dahinter?

Ellys Überlegungen wurden unterbrochen, als sie ein Aufschluchzen aus dem Bad hörte. Unsicher, ob sie Eva trösten sollte, blieb sie einige Sekunden stehen. Dann ging sie in die Küche zurück, schaltete den Herd aus, was ihr einige Augenblicke Bedenkzeit gab, um sich dann doch um Eva zu kümmern.

Eva hörte nicht, dass jemand ins Bad kam. Sie lehnte mit geschlossenen Augen an der gefliesten Wand und ließ sich das heiße Wasser über den Kopf laufen.

„Eva“, beruhigend flüsterte Elly ihr die Worte zu, „es wird alles wieder gut. Nichts ist so schlimm, als dass man es nicht wieder reparieren könnte, was auch immer es ist.“ Sie drehte das Wasser ab und hielt ihr ein großes Badetuch hin. Eva reagierte immer noch nicht, aber das Weinen wurde leiser. Elly zog sie vorsichtig zu sich und wickelte sie in das Handtuch. „Wenn du möchtest, kannst du mir alles erzählen. Ich kann sehr gut zuhören, und ich kann schweigen wie ein Grab. Ich kann dir vielleicht auch helfen, wer weiß. Vieles ist nicht mehr so schlimm, wenn man darüber gesprochen hat.“

Eva klammerte sich an die ältere Frau, schaute sie mit rotverweinten Augen an und schüttelte den Kopf.

„Lass dir die Zeit, die du brauchst. Jetzt wird erst einmal gegessen. Die Hühnersuppe ist warm. Ich habe dir auch ein Bett im alten Kinderzimmer meiner Tochter fertiggemacht.“

Am nächsten Morgen rief Elly ihren Chef an und bat um einige Tage Urlaub. Sie bereitete Frühstück vor und wartete geduldig, bis Eva endlich aufgewacht war. Gemeinsam frühstückten sie, und nach der zweiten Schnitte Brot fing Eva endlich an, ihre Geschichte zu erzählen. Zunächst stockend, immer wieder zu Elly schauend, aus Angst, sie würde sie ungläubig und entsetzt rausschmeißen.

Elly war geschockt. Merkwürdigerweise glaubte sie Eva und zweifelte nicht an dem abstrusen Bericht, den sie hörte. Es verging eine Stunde, in der Elly nur zuhörte, bis sie endlich die erste Frage stellte.

 

Kapitel 2

 

Eine Woche später in Dorsten – Holsterhausen, Freiheitstraße

 

Es dämmerte bereits. Eine kleine Lampe brannte auf dem Beistelltisch neben dem Ohrensessel. Die alte Dame saß bewegungslos in ihrem Sessel und starrte aus dem Fenster. Graue Haare, hinten zu einem Knoten zusammengebunden, umrahmten ihr Gesicht. Immer wieder fielen ihr die Augen zu. Der Kopf lehnte seitlich an der hohen Rückenlehne. Nach einigen Minuten waren nur noch ihre gleichmäßigen Atemzüge zu hören. Nichts rührte sich in der Wohnung.

Da, ein Rascheln. Vorsichtig schien jemand die Wohnungstür zu öffnen. Die alte Frau hörte nichts. Ihre Brille war verrutscht. Ein Gehstock lehnte an der Seite des Sessels, den Griff umklammerte sie fest mit der Hand.

 

Die Geräusche in der Wohnung wurden lauter. Schubladen wurden herausgezogen, der Kleiderschrank durchwühlt, die Küchenschränke ausgeräumt. Geflüsterte Worte in einer fremden Sprache. Die Diebe gingen energischer ans Werk. Tassen flogen auf den Boden. Der erste Stuhl in der Küche zerbrach. Eine dritte Person, ganz in schwarz gekleidet, hatte bislang an der Wohnungstür gewartet. Nun warf sie einen Blick ins Wohnzimmer. Die alte Dame rührte sich immer noch nicht.

Ein freudiger, leiser Schrei. „Hab gefunden“, gebrochenes Deutsch, „großes Kiste mit viel Geld.“

Das junge Mädchen stürmte in den Flur, sie hatte zuvor das Schlafzimmer durchwühlt. „Alte müssen haben mehr. Wo Schmuck?“ Osteuropäischer Akzent.

„Sucht weiter“, kam es aus der Küche, „das nix alles gewesen sein.“ Ein lautes Fluchen folgte. „Falsches Information“, murmelte er, „nur Geld, nix Schmuck. Wir fragen altes Frau.“

„Du sie wecken?“

Der junge Mann nickte, zog eine Plastiktüte aus seiner Tasche, schlich sich von hinten an die alte Frau heran und stülpte ihr die Tüte über den Kopf.

Mit Gegenwehr hatte er nicht gerechnet. Die vermeintlich alte Frau sprang auf, riss sich die Plastiktüte vom Kopf, hob zeitgleich den Stock hoch und schlug zu. Gezielt traf sie die Schläfe des jungen Mannes, der ging zu Boden.

In der Zwischenzeit wimmelte es in der kleinen Wohnung von Leuten. Die Einbrecher waren so erstaunt über den Angriff, dass sie vergaßen, sich zu verteidigen. Die Gegner waren in der Überzahl. Ehe sie bewusst reagierten, waren ihre Hände auf dem Rücken mit Kabelbindern verschnürt.

Die vermeintlich alte Frau war Julia, und sie hielt dem Mädchen eine Waffe an die Schläfe. „So, meine Liebe, und nun wird geredet.“ Julia zog sich die Perücke vom Kopf, und eine fast durchsichtige Haut vom Gesicht. Sie wirkte nun gar nicht mehr alt und zerbrechlich. Dann deutete sie auf die Plastiktüte am Boden. „Ich hasse es, umgebracht zu werden. Also, wer steckt dahinter? Wer ist euer Boss? In dieser Gegend wurde mittlerweile in jede Wohnung eingebrochen.“ Sie wartete.

Die Bande schwieg.

„Gut, dann eben auf die schmerzvolle Tour. Wer nicht redet, ist überflüssig.“ Julia spannte den Hahn.

Entsetzt wich das Mädchen zurück. „Das du nicht darfst“, ihre Augen wurden größer, „Polizei nur verhaften, nicht machen Schmerzen und tun weh!“

Julia lachte hämisch auf. „Wer sagt denn, dass ich von der Polizei bin?“

„Stimmt, ist sie nicht.“ Doro war dazugekommen, ebenfalls mit einer Waffe in der Hand. „Sie hat schon mehrere Menschen auf dem Gewissen. Wer nicht nach ihrer Pfeife tanzt, wird erschossen.“

„Doro“, ermahnte Julia, „musst du denn immer alles sofort ausplaudern? Du bist doch genauso gewissenlos wie ich.“

„Stimmt, hätte ich fast vergessen.“ Die Freundlichkeit verschwand aus den Augen der beiden Frauen. „Wir werden sie mitnehmen.“

Einer der Männer sagte zu seinen Kolleginnen: „Auf den Überwachungskameras haben wir einen Wagen ausgemacht, der zu dieser Bande gehören müsste. Vermutlich der Anführer. Nick kümmert sich schon darum. Sobald wir ihn festgesetzt haben, rufe ich Sam an.“

„Letzte Chance. Wir haben deinen Boss. Gleich kommt die Polizei. Also, du kannst deine Situation nur verbessern, indem du anfängst zu singen, Mädchen.“

Die drehte sich weg und ignorierte Julia.

„Dann eben nicht.“

In der Ferne hörten sie das Martinshorn.

Doro kontrollierte nochmals die Kabelbinder und setzte die drei Einbrecher nebeneinander auf den Boden. Nick schleppte in diesem Augenblick einen weiteren Mann gut verschnürt herein und warf ihn unsanft neben seine Komplizen.

„Fertig. Lass uns von hier verschwinden. Sam müsste gleich hier sein.“

Die vier verschwanden durch die Hintertür und erreichten ihren Wagen, den sie vorsorglich auf dem Edeka-Parkplatz in der Nähe abgestellt hatten.

Nick schickte eine Nachricht an Sam, damit sie wusste, wo sie suchen musste. Ein schlichtes „Danke“ folgte.

 

*

 

Samantha Engel, Kriminalhauptkommissarin beim LKA hatte ihre Freunde um Hilfe gebeten. Die Mitarbeiterzahl in ihrer Dienststelle war äußerst knapp bemessen. Diese Einbrüche bei älteren, meist alleinstehenden Menschen waren ihr ein Dorn im Auge. Leider fehlten ihr Leute, um den Einbrechern eine Falle zu stellen.

Dank der jahrelangen Freundschaft zur Clique, den ehemaligen Mitarbeitern der Staatsanwaltschaft, riskierte sie einen Anruf nach Abu Dhabi. Dort waren sie untergetaucht, die acht Mitglieder der einstigen Eliteeinheit, die leider erst feststellten, dass sie ausgenutzt wurden, als es für sie fast zu spät war. Ihre Aufgabe bestand früher einmal darin, Verbrecher mit nicht ganz legalen Mitteln und fingierten Beweisen dingfest zu machen.

Um ihren ehemaligen Boss zu überführen, der in seine eigene Tasche wirtschaftete, taten sie das, was sie zuvor auch gemacht hatten: Sie blufften, stellten dem ehemaligen Staatsanwalt Enders eine Falle, überführten ihn des Mordes und brachten ihn so hinter Gitter. Um Enders und seine Mitwisser des Mordes zu überführen, fälschten sie so geschickt die Beweise, dass selbst der beste Strafverteidiger es nicht schaffte, Enders und seine Mittäter vor der Haftstrafe zu bewahren. Einer von Enders᾿ Freunden ließ ihn später im Gefängnis umbringen, aus Angst, sein einstmals bester Freund könnte plaudern.

Die ganze Sache hatte nur einen Nachteil: Zwei Mitglieder der ehemaligen Clique, wie sie sich selbst nannten, galten nun als tot.

Dank dem vermögenden Holländer Wilhelm de Winter, zudem Julia Adoptivvater, und dessen guten Kontakten zum Königshaus in Abu Dhabi, fanden sie direkt auf dem Areal des Königspalastes eine luxuriöse Bleibe. Julia und Doro sorgten als Bodyguards für die Sicherheit der Frauen des Kronprinzen, arbeiten zeitweise sogar für den Herrscher selbst und konnten dank ihrer Fähigkeiten, die Schwägerin des Königs aus den Fängen einer Terroristengruppe befreien. Sie waren ein eingespieltes, unschlagbares Team, gemeinsam eine tödliche Waffe. Ihre Ehemänner, Patrick und Nick, gehörten ebenfalls dieser Spezialeinheit an. Sie standen ihren Frauen in nichts nach. Das Viererteam konnte nicht offiziell zurück nach Deutschland einreisen, da sie befürchteten, sofort verhaftet zu werden. Mit ihren niederländischen Pässen, denn Julias Adoptivvater war Holländer, reisten sie stets über Amsterdam nach Europa ein.

Samantha Engel war ihnen auf die Spur gekommen. Sie alleine durchschaute die Clique und ihre Machenschaften – aber sie schwieg. Da niemand daran zweifelte, dass die Beweise gegen Enders und seine Mittäter, allesamt Mörder, echt waren, legte Samantha den Fall einfach zu den Akten. Den letzten Zweifel räumte sie aus, indem sie Julia in Abu Dhabi aufsuchte. Inmitten ihrer Freunde konnte Julia nichts passieren.

Samantha sicherte ihr in einem persönlichen Gespräch zu, dass sie sofort wieder nach Deutschland zurückkommen könnten, der Fall sei abgeschlossen, aber Julia zog es vor, in Abu Dhabi zu bleiben.

Brauchte Samantha Hilfe bei einem komplizierten Fall, bat sie Julia um Unterstützung. Denn diese außergewöhnliche Frau hatte außerdem noch eine besondere Gabe: Sie spürte die Toten, sie fühlte ihre Gegenwart und verstand die Hinweise, die sie ihr gaben. Mehr als einmal war es ihnen dadurch möglich gewesen, Mördern und anderen Verbrechern auf die Spur zu kommen.