Inhalt

  1. Cover
  2. Weitere Titel der Autorin
  3. The Lost Prophecy
  4. Über diese Folge
  5. Über die Autorin
  6. Titel
  7. Impressum
  8. Karte von Andurion
  9. Ignatia
  10. Ryell
  11. Vela
  12. Lorena
  13. Ryell
  14. Lorena
  15. Ignatia
  16. Ryell
  17. Vela
  18. Ignatia
  19. Tero
  20. Ryell
  21. Vela
  22. Lorena
  23. Ryell
  24. Vela
  25. Lorena
  26. Vela
  27. Tero
  28. Ignatia
  29. Vela
  30. Lorena
  31. Im nächsten Band

Weitere Titel der Autorin

Emba – Bittersüße Lüge

Emba – Magische Wahrheit

The Lost Prophecy – Vom Sturm erweckt

The Lost Prophecy

Die Zeit der Kriege in Andurion ist vorbei. Die Völker der vier Elemente Wasser, Feuer, Erde und Luft leben seit Tausenden von Jahren in Frieden – ein jedes für sich. Kaum jemand kann sich daran erinnern, dass es ein fünftes Volk gab – vom Element des Lebens.

Doch eine alte Prophezeiung kündigt ein großes Unheil an – dieses wird in vier Wellen über Andurion hereinbrechen und nichts wird mehr sein wie zuvor. Nur ein Held, der alle fünf Elemente in sich vereint, kann die Welt noch retten …

Über diese Folge

Auf ihrer Reise in die Kristallwüste haben sich die Botschafter der vier Elemente noch mühsam zusammengerauft. Doch das endet schlagartig, als das Luftmädchen Vela die Kunde vom Angriff der Feuermenschen auf sie und ihren Begleiter verbreitet. Für Letitia, die Königin des Luftvolks, kann das nur eins bedeuten: Die Feuermenschen haben ihnen den Krieg erklärt.

Währenddessen versuchen die Wasserbotschafter Lorena und Waris, das Volk der Erde zu erreichen, um es vor der bedrohlichen Lage in Andurion zu warnen. Doch gerade an ihrem Ziel angekommen erschüttert ein gewaltiges Erdbeben die unterirdische Stadt, in der die Erdmenschen leben. Auch hier scheint sich wieder das Element gegen das eigene Volk zu richten.

Und während sich die Völker in den Kampf ums Überleben stürzen, bemerken sie nicht, dass die größte Gefahr vor den Toren Andurions lauert …

Über die Autorin

Carina Zacharias wurde 1993 in Aachen geboren. Sie erzählt und schreibt Geschichten seit ihrer frühesten Kindheit, und Autorin zu werden war schon immer ihr größter Traum. Mit einem Studium der Landschaftsökologie orientierte sie sich allerdings in Richtung ihrer zweiten großen Leidenschaft, dem Umweltschutz.

CARINA ZACHARIAS

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ZU STAUB ZERFALLEN

beBEYOND

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Ignatia

Brontos Atem ging keuchend und trieb ihm weißen Schaum vors Maul. Ignatia spürte das Brennen jedes Atemzugs, als ginge er durch ihre eigenen Lungen. Es schmerzte sie, den Nactarog so sehr an die Grenzen seiner Kräfte zu treiben. Doch sie hatte eine Botschaft für den König, die nicht warten konnte. Auch sie litt: Ihre Schenkel waren hart und verspannt von der Anstrengung des pausenlosen Reitens, ihre Finger bis zur Unbeweglichkeit um die Zügel verkrampft. Sie und ihr Reittier würden rasten können, sobald sie die Nachricht übermittelt hatte.

Die schwarze, verbrannte Erde ihres Heimatlandes flog unter den sechs Beinen des Nactarogs dahin, und die Hauptstadt Kantrasrast, mit der mächtigen Burg in ihrer Mitte, wuchs scheinbar mit jedem zurückgelegten Meter weiter in die Höhe. Ignatias Herz schlug schneller bei dem Anblick. Es war gut, wieder da zu sein.

Mit kaum gezügelter Geschwindigkeit preschte sie schließlich durch die Straßen, eine Schleppe aus erschrockenen und erbosten Ausrufen hinter sich herziehend, weil sich Fußgänger mit einem schnellen Satz vor den Pfoten des Nactarogs retten mussten. Erst vor den Toren von Glutfort machte sie Halt und schwang sich mit steifen Gliedern aus dem Sattel. Brontos Brust hob und senkte sich unter seinen schnaufenden Atemzügen.

»Das hast du gut gemacht, alter Freund.« Ignatia strich dem Nactarog liebevoll über das Maul. Dann wandte sie sich um und winkte einem der beiden Stallburschen, die bereits auf sie aufmerksam geworden waren. »Ich will, dass dieser Nactarog abgerieben wird, einen ganzen Sack voll bestem Hafer und den schönsten Fleck im Stall bekommt, den ihr finden könnt«, rief sie herrisch. Zu ihrer Erleichterung kamen die Gehilfen eilig angelaufen, ohne weitere Fragen zu stellen. Ihr Gesicht war in ihrer Abwesenheit anscheinend nicht vergessen worden.

Ignatia übergab Brontos Zügel und wandte sich ab, um im Laufschritt durch das Tor, über eine kurze Zugbrücke und durch das Eingangsportal zu eilen. Sie hatte jedoch kaum den ersten Schritt getan, da begann sie sich bereits zu schämen.

Wie du dich aufführst. Dabei warst du vor wenigen Wochen nicht höhergestellt als diese beiden. Bauerntochter, die du bist. Tagein und tagaus hast du die Felder deines Vaters bestellt und nicht mehr besessen als das Essen auf deinem Teller und die Kleider, die du am Leibe trugst.

Und das Holzschwert, mit dessen Hilfe ihr Onkel ihr und ihren Brüdern das Kämpfen beibrachte. Dann hatte sie von dem Turnier gehört und sich gemeldet, trotz der Sorge ihrer Mutter, des Missfallens ihres Vaters, der die Ernte einbringen musste. Und sie hatte gewonnen.

Feuerbotschafterin. Das war sie jetzt.

Mit fliegenden Schritten erklomm Ignatia die vielen Stufen, die zum Thronsaal führten. Sie hoffte, den König dort anzutreffen. Vermutlich war ihre Ankunft bereits in aller Munde, verbreitete sich schneller als ein Lauffeuer, wurde durch die Gassen von Kantrasrast und die vielen Flure der schwarzen Königsburg getragen.

Ignatia sah ihre Vermutung bestätigt, als die Wachen vor dem Thronsaal ihr die großen Türen mit einem respektvollen Neigen des Kopfes öffneten, sodass sie eintreten konnte, ohne auch nur ihren Schritt zu verlangsamen.

»Ignatia Fackelschein.«

Die Stimme des Königs hallte laut durch den leeren Saal. Er saß am gegenüberliegenden Ende des großen Raumes auf einem massiven Steinthron. Prinz Tinnek links neben ihm machte den Eindruck, sich gerade erst auf seinem kleineren Thron niedergelassen zu haben. Mit nur schlecht verborgener Ungeduld richtete er seine dunkelroten Roben und strich sich mit der Hand durchs Haar. Der kleinste der drei Throne, zur Rechten des Königs, war verlassen. Seine Tochter war wohl mit ihrem Studium der Heilkunst beschäftigt.

»Majestät Funkenschlag.« Ignatias Stimme trug längst nicht so weit wie die des Königs. Jetzt, am Ziel ihrer Reise angekommen, holte sie auf einmal das ganze Maß ihrer Übermüdung und Erschöpfung ein. Die letzten Schritte durch den Thronsaal schienen ihr beschwerlicher als der tagelange Ritt durch Grasland und Vulkanwüste. Vor den Thronsesseln angekommen fiel sie ehrerbietig auf die Knie.

»Erhebt Euch, Botschafterin«, sagte der König voller Wärme.

Ignatia gehorchte und sah in sein lächelndes Gesicht.

»Es ist schön, Euch wohlbehalten bei uns zu wissen. Sicher habt Ihr viel zu berichten.«

Und ob.

Ignatia schluckte, doch es schien mehr Staub als Flüssigkeit in ihrer Kehle zu sein. »Mein König«, sagte sie heiser und voller Widerwillen, das gutmütige Lächeln des alten Mannes mit ihren Worten auslöschen zu müssen. »Es wird Krieg geben.«

»Krieg?«

Ignatias Kopf fuhr herum bei dem Ausruf des Prinzen. Sie war Tinnek Funkenschlag erst ein einziges Mal begegnet und das war auf der von Feuerschein erhellten Kampffläche der Arena von Kantrasrast gewesen. Damals war sie zu sehr von dem Rausch des Adrenalins eingenommen gewesen, dem Jubel der Massen und dem Wunsch zu siegen, als dass sie viel von ihm hätte wahrnehmen können. Nun schreckte sie beinahe zurück vor der kalten Abneigung in seinen Augen, war unsicher, wie sie den Ton seiner Stimme deuten sollte, in dem er das Wort wiederholt hatte: Krieg. Halb Frage, halb freudiger Aufschrei.

»Was soll das bedeuten?«, fragte der König ruhig, die Stirn in tiefe Falten gelegt.

Ignatia riss sich von den dunklen Augen des Prinzen los, die ihren Blick mit feindseligem Ausdruck festzuhalten schienen.

»Das Volk der Luft hat uns den Krieg erklärt«, antwortete sie mit so viel Fassung, wie sie aufbringen konnte. »Ein Angriff ihrer Armee ist so sicher wie das Aufgehen der Sonne im Osten.«

Der König richtete sich gerader auf. »Aber warum bloß?«

»Es …« Ignatias Blick flackerte zu Tinnek und wieder zurück zum König. »Es hat die Kunde gegeben, dass Boten der Luft von Menschen des Feuers angegriffen und tödlich verletzt wurden.«

»Sie haben unser Volk mit ihrer Seuche bedroht und alle unsere Warnungen ignoriert«, brauste der König auf. »Und das gibt der Königin der Luft Anlass, uns den Krieg zu erklären? Wer ist diese Frau überhaupt?«

Tinnek kam Ignatia mit einer Antwort zuvor: »Sollen sie doch! Unsere Streitmächte werden den ihren mehr als gewachsen sein. Wir werden ihnen entgegenziehen, sie auf halber Strecke überraschen …«

Ignatia erschauderte vor der auflodernden Begeisterung, die auf einmal Tinneks Augen zum Glänzen brachte. Mit Erleichterung sah sie, wie der König eine Hand hob, um seinem Sohn Einhalt zu gebieten.

»Sachte, Tinnek. Du bist wie immer zu heißblütig. Was ergibt es für einen Sinn, uns einem Kampf auf offener Fläche auszusetzen, wo wir bestens versorgt und geschützt hier in Glutfort ausharren und auf sie warten können?« Er lächelte mit einer Mischung aus Tadel und Wohlwollen, die Tinnek dazu brachte, voller Wut die Hände zu Fäusten zu ballen. »Du hast noch viel zu lernen, mein Sohn. Doch ich gebe dir in einem recht: Wir sind ihnen mit Sicherheit weitaus überlegen. Welche Waffen könnte das zarte Volk der Luft schon unseren Feuerkatapulten entgegensetzen? Ganz zu schweige davon, dass es gerade von einer rätselhaften Seuche dezimiert wurde.« Des Königs Lächeln änderte sich, wurde grimmig und entschlossen. Zum ersten Mal sah Ignatia eine Ähnlichkeit in den Zügen von Vater und Sohn. »Sollen sie ruhig kommen.«

Stille dehnte sich aus, in der sich die Gedanken in Ignatias übermüdetem Kopf überschlugen. Es gab noch so viel zu erklären, so viel, was sie berichten musste.

»Gebt Ihr mir nicht recht?« Unvermittelt richtete der König wieder das Wort an sie, und Ignatia war einen Moment lang zu überrumpelt, um zu wissen, worauf er anspielte. »Ihr habt das Volk der Luft kennengelernt, nicht wahr?«, fragte der König fordernd. »Was sagt Ihr, stellt es eine Bedrohung für uns dar?«

Ignatia widerstand dem Drang, zu Tinnek hinüberzusehen, dessen Blick sie zu durchbohren schien. Auch hielt sie sich mühsam davon ab, die Augen zusammenzukneifen, um die tanzenden dunklen Flecken am Rande ihres Sichtfeldes zu verscheuchen. »Mein König«, sagte sie schließlich, »was das angeht, habe ich gewissermaßen eine gute und eine schlechte Nachricht.«

»Nun, immer heraus damit«, polterte König Funkenschlag. »Zuerst die schlechte Nachricht, selbstredend.«

Ignatias Stimme war ton-, ihr Gesicht ausdruckslos. »Letitia, die Königin der Luftmenschen, hat Selenas Kräfte angenommen. Sie verfügt frei über das Element der Luft und wird nicht zögern, diese Macht gegen uns einzusetzen.«

Die Augen des Königs waren unentwegt auf die ihren gerichtet, während er sich weit vorbeugte und voll gespannter Erwartung mit leiser Stimme fragte: »Und die gute Nachricht?«

Ignatia erwiderte seinen Blick und antwortete mit fester Stimme: »Ich verfüge über Rotans Kräfte. Ich bin Herrin über das Feuer.«

Ryell

Es war das erste Mal, dass Ryell menschliche Leichen sah. Zwei junge Männer, auf dem Waldboden liegend, als wären sie an Ort und Stelle niedergeschossen worden. Bloß, dass da keine Wunden waren, kein Blut. Nur aschfahle Haut, farbloses Haar, vertrocknete Lippen und ein namenloser Schrecken in den gebrochenen Augen. Und natürlich drängte sich die Frage auf, ehe Ryell sie verscheuchen konnte: Sahen alle Toten so aus? So grau und ausgedörrt? Oder war es, weil dieses Ding sie umgebracht hatte, ihnen das Leben ausgesaugt hatte mit seinem Atem?

Ryell sah zu Monster auf. Ihr Atem ging schnell, als wäre sie es gewesen, die sie im Galopp durch den Wald getragen hatte, und nicht der Waldmuff. Die Leichen hatten ihrer kopflosen Flucht plötzlich Einhalt geboten, und ohne nachzudenken war Ryell von Monsters Rücken gerutscht, sobald er abrupt zum Stillstand gekommen war.

Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie schon rannten, ziellos durchs Gebüsch preschten, nur mit einem Ziel: möglichst weit weg von diesem Ungeheuer zu kommen, von dem Ryell nicht wusste, was es war oder woher es kam, nur, dass es das Grauenvollste war, das sie je in ihrem Leben gesehen hatte.

Nun war alles still um sie her. Bis auf Blätterrascheln und ein leises Knarren der Äste im Wind. Vielleicht waren sie in Sicherheit. Und doch – hatten das die beiden am Boden nicht auch gedacht?

»Von welchem Volk sind sie, was glaubst du?«, fragte Ryell.

Der Waldmuff machte ein unbestimmtes Geräusch und stieß Ryell voller Unruhe mit der Schnauze gegen die Schulter. Er wollte weiter.

»Kein Mensch des fünften Volks trägt solche Roben. Sie könnten Luft- oder Wassermenschen sein«, überlegte Ryell trotz Monsters Ungeduld laut weiter. »Was haben sie bloß hier gesucht?«

Monster stieß ein klägliches kleines Jaulen aus, das rein gar nicht zu seiner gewaltigen Größe passen mochte. Ryell schnürte es die Kehle zu, und sie umfing den großen Kopf des Waldmuffs mit beiden Armen. »Ist ja gut«, murmelte sie in eines seiner Schlappohren. »Es wird alles gut.« Auch wenn sie sich da längst nicht mehr sicher war.

Sie ließ Monsters Kopf los und kniete sich hin, um die Augen der Toten zu schließen. Sie schauderte vor der Berührung, doch es erfüllte sie mit ungemeiner Erleichterung, als ihre leblosen Augen nicht mehr in die Baumkronen starrten.

»Jetzt sieht es beinahe aus, als würden sie schlafen«, sagte Ryell leise. Dabei wusste sie noch im selben Moment, was für eine Lüge sie da erzählte.

Ein plötzliches Zwitschern direkt neben ihrem Ohr ließ Ryell vor Schreck zusammenfahren. Sie hatte das Rotkehlchen nicht herbeifliegen sehen. Nun landete es furchtlos auf ihrer Schulter und zwitscherte aufgeregt in einem fort. Ryell hörte aufmerksam zu, dabei Monsters Blick festhaltend, der die Sprache der Rotkehlchen zwar nicht verstand, aber auf ihre Reaktion wartete.

»Der Marderjunge«, stieß Ryell schließlich atemlos hervor, als das Rotkehlchen davon flatterte. »Es führt uns zu ihm. Er muss etwas wissen. Ihm nach!«

Schon hatte sie sich an Monsters langen Zotteln hochgezogen und auf seinen Rücken geschwungen. Ergeben setzte sich der Waldmuff in Bewegung, auch wenn Ryell spürte, dass ein Teil von ihm gerne so viel Strecke wie möglich zwischen sie und diesen seltsamen Jungen und seine Freundin gebracht hätte.

Sie brauchten nicht weit zu laufen. Schon nach kurzer Zeit drang ein bitterliches Weinen durch den Wald, sodass sie ihren kleinen gefiederten Führer kaum mehr brauchten. Der Junge saß zusammengekrümmt auf einem umgefallenen Baumstamm, den Oberkörper so weit vorgebeugt, dass der Kopf zwischen den Knien hing, die schmächtigen Schultern geschüttelt von lauten Schluchzern. Er musste sie kommen gehört haben, doch machte er keine Anstalten zu fliehen. Diesmal nicht. Unschlüssig hielt Monster vor ihm inne und Ryell rutsche abermals von seinem Rücken, um auf eigenen Füßen zu stehen.

»Geht weg.«

Es war mehr ein Schniefen als ein Schreien, und er sah nicht dabei auf.

Ryell machte einen zögerlichen Schritt auf ihn zu und suchte in ihrem Gedächtnis nach dem Namen, den das Mädchen verwendet hatte, um ihn anzusprechen. »Mirus?«

Der Klang seines Namens schien ihn aufzuschrecken. Mit einem Ruck richtete er den Oberkörper auf und starrte sie an. Sein Gesicht war von Tränen und Rotz verklebt wie das eines Kleinkindes. »Was wollt ihr von mir?«, schrie er verzweifelt. »Lasst mich in Frieden!«

»Wir wollen dir ja nichts tun«, beschwichtigte Ryell. Hilfe suchend sah sie sich nach Monster um, doch der wackelte nur ratlos mit den Ohren. Das Rotkehlchen saß über ihm im Geäst.

Ryell verschränkte unsicher die Arme vor der Brust und suchte nach den richtigen Worten. »Wo … ähm … Wo ist Rinka?«

Kaum war die Frage draußen, da wusste sie auch schon, dass sie genau das Falsche gesagt hatte.

»Was glaubst du denn?«, heulte Mirus, und seine dünnen Hände griffen voll hilfloser Verzweiflung in seine blassen Haare. »Sie ist tot!«

Ryell schauderte. Plötzlich fühlte sie sich wieder zurückversetzt in den Moment, als das Ungetüm durchs Unterholz gebrochen war. Erinnerte sich an sein saugendes Atemholen …

Gehetzt sah Ryell sich um und spürte ihren Herzschlag bis in die Kehle. Doch da waren nur Monster, das Rotkehlchen, der Junge, der Wald. Sie zwang sich zur Ruhe.

»Hat dieses … Wesen sie umgebracht?«, fragte sie leise.

Der Junge schluchzte nur, jedoch leiser und kraftloser als zuvor. »Wir nennen sie Unwesen«, jammerte er. »Wesen – das kommt von sein, verstehst du? Diese Dinger sind aber nicht. Es ist kein Leben in ihnen. Deshalb müssen sie anderen Lebewesen das Leben nehmen, um zu überdauern. Immer und immer wieder …« Seine Stimme verlor sich in haltlosen Schluchzern, und er vergrub das Gesicht in den Händen.

Es kostete Ryell all ihre Kraft, das Grauen zu unterdrücken, das Besitz von ihr ergreifen wollte, und einen kühlen Kopf zu bewahren. »In Ordnung, nennen wir sie also Unwesen«, stimmte sie zu. »Hör zu, Mirus, wenn du etwas über diese Unwesen weißt, dann musst du es uns sagen. Wo kommen sie her, wo kommt ihr auf einmal her, was geschieht in Andurion? Wenn du irgendetwas darüber weißt, dann – bitte – rede mit uns.«

Sie hielt inne, frustriert davon, dass Mirus noch immer das Gesicht in den Händen verbarg und kein Anzeichen gab, sie gehört zu haben. Doch immerhin hatte er aufgehört zu weinen und erzitterte nur noch hin und wieder unter lautlosen Schluchzern. »Wir sind nicht deine Feinde«, fügte sie behutsam hinzu.

Mit einem Ruck nahm Mirus die Hände herunter und sprach so plötzlich und heftig, dass Ryell unwillkürlich einen erschrockenen Schritt nach hinten machte: »Was weißt du denn schon? Ihr seid nicht meine Feinde? Ha! Und was, wenn ich euer Feind bin?«

Ryell runzelte die Stirn und hörte Monster hinter sich drohend grollen. »Was willst du damit sagen?«

Mirus wischte sich mit dem zerfransten Ärmel seines grauen Oberteils über das Gesicht. Seine Stimme war noch immer belegt, doch schwang nun ein trotziger und überheblicher Unterton mit. »Ob ich etwas über sie weiß? Ja, tue ich, aber ich wünschte, es wäre nicht so. Sie kommen von da, wo auch ich herkomme. Wo mein Volk sein Dasein gefristet hat, seitdem es aus Andurion vertrieben wurde. Von außerhalb, wie du so schön sagtest.«

Ryell schluckte. Etwas im Blick des Jungen ließ sie auf einmal wünschen, sie hätte nie danach gefragt. Doch er schien sich gerade erst in Fahrt zu reden.

»Ihr habt keine Vorstellung davon, was es heißt, dort draußen zu leben. Ihr, die ihr in diesem Wald lebt voller Pflanzen und Tiere und Luft und saftiger Erde und wärmenden Sonnenstrahlen. Ihr habt keine Vorstellung davon, was es heißt, in einem Land ohne Elemente zu leben.«

Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen, und Ryell musste zugeben, dass er Recht hatte. »Dann erzähle uns davon«, bat sie. »Wie ist es?«

Der Junge musterte sie misstrauisch. Seine Iris war von einem so wässrigen Blau, dass sie beinahe farblos wirkte – so wie alles an ihm. Schließlich schien er zu entscheiden, dass Ryell ihn nicht verhöhnte, sondern eine ehrliche Antwort wollte. »Da, wo ich herkomme«, sagte er, »gibt es keinen Boden und keinen Himmel. Alles ist ein einziges graues Medium. Du bewegst dich durch es hindurch. Du atmest es ein. Du isst es. Du trinkst es. Du baust daraus dein Haus. Du webst deine Kleider daraus. Und du lebst in ständiger Angst, dass eines der Unwesen kommt und dir das Leben aussaugt.« Wieder hielt er inne, und Ryell ertappte sich dabei, wie sie ihn fassungslos anstarrte.

»So kann man doch nicht leben.«

Er nickte matt mit dem Kopf. »Seitdem ich die Grenze zu Andurion überschritten und das erste Mal frische Luft geatmet habe, den Regen auf der Haut gespürt, frische Waldbeeren gekostet habe, denke ich das auch.«

Ryell tauschte einen Blick mit Monster und als sie wieder zurück zu Mirus sah und merkte, wie er zusammengesunken auf dem Baumstamm kauerte, erfasste sie eine Welle von Mitgefühl und Euphorie. »Es ist gut, dass ihr zurückkommt!«, sagte sie mit plötzlicher Heftigkeit. »Ihr gehört nach Andurion, nicht weniger als wir. Dann könnte unser Volk endlich wieder vereint sein.«

Im ersten Moment dachte sie, er hätte wieder angefangen zu weinen. Erst nach einer Weile begriff Ryell, dass Mirus leise lachte. Er hob den Kopf und sah sie voller Boshaftigkeit an. »Wir werden wiederkommen, oh ja. Ob ihr es wollt oder nicht. Doch wir brauchen eure Zustimmung nicht. Wir werden uns holen, was uns zusteht.«

Ryell war wie vor den Kopf gestoßen. »Was euch zusteht?«

»Andurion!«, rief Mirus und sprang auf die Füße. »Wir werden Rache nehmen, endlich! Und glaubt ja nicht, dass wir es nicht könnten. Dass wir nicht stark genug wären. Drakor hat unsere Macht bereits unter Beweis gestellt, hat gewagt, was nie ein Mensch vor ihm wagte. Er hat die Luft-Fenari umgebracht. Ja, da staunst du, nicht wahr? Von wegen unsterblich. Niemand kann gegen Drakor bestehen! Er wird unser Volk zurück nach Andurion führen, uns unsere Heimat wiedergeben und Vergeltung üben für das, was uns angetan wurde.«

Ryells Gedanken überschlugen sich. Er hat die Luft-Fenari umgebracht. Sie hatte diesen Namen schon einmal gehört: Drakor. Soraya hatte ihn erwähnt …

Mirus lächelte ein kleines, gehässiges Lächeln, als würde er ihr die unausgesprochene Frage ansehen. »Er ist der Sohn von Kallas, dem Fenari des Lebens, so wie die Königin der Luftmenschen eine Tochter der Luft-Fenari ist. Ja, ich weiß von Letitia, Drakor hat uns von ihr erzählt. Doch anders als sie hat er nicht nur die Langlebigkeit, sondern auch die Macht seines Vaters geerbt. Er ist Herr über das Leben. Und damit auch über den Tod.«

Konnte das wirklich wahr sein? »Er hat Selena umgebracht?!« Ryells Stimme überschlug sich.

Der Junge zuckte zurück, als hätte etwas in ihrem Blick ihm plötzlich Angst gemacht. Sein großspuriges Gehabe kam augenblicklich ins Wanken. »Ich habe schon viel zu viel erzählt.« Er sah sich um, als suchte er nach einem Fluchtweg.

Doch Monster war zu schnell für ihn. Mit einem Knurren, das selbst Ryell eine Gänsehaut über die Arme schickte, sprang er auf Mirus zu und baute sich über ihm auf. Der sah zu dem Waldmuff hoch und zog den Kopf so weit zwischen die Schultern, als wolle er sich in eine Schildkröte verwandeln, anstatt in einen Marder.

»Oh nein, ich glaube nicht«, sagte Ryell und nun war es an ihr, mit Genugtuung zu lächeln. »Wir haben gerade erst angefangen, uns zu unterhalten. Ich habe noch einige Fragen an dich. Und du wirst sie schön beantworten, eine nach der anderen. Unterwegs.«

»Unterwegs?«, fragte Mirus kleinlaut, die Augen nicht von Monsters drohend über ihm erhobener Schnauze abwendend. Es war noch nicht lange her, da hatte er in seiner Mardergestalt zwischen Monsters Zähnen gehangen. Zwar würde der Waldmuff nie auch nur einer Fliege etwas zuleide tun, aber das brauchte Mirus ja nicht zu wissen.

»Unterwegs zur Versammlung«, bestätigte Ryell und sah zu dem Rotkehlchen hoch, das nach wie vor auf dem Ast einer Rotbuche saß und die Vorgänge unter sich aufmerksam beobachtete. »Wir werden eine Versammlung des fünften Volks einberufen. Und damit meine ich den Teil des fünften Volks von innerhalb. Ich glaube, du hast uns noch viel Interessantes zu sagen. Und das sollten mehr Leute erfahren.«

Das Rotkehlchen piepte einmal laut zum Zeichen, dass es verstanden hatte. Dann flog es los, um die Kunde von einer Versammlung des fünften Volks zu verbreiten.

Ryell sah ihm nach und strich sich dann das verknotete Haar aus dem Gesicht. »So«, sagte sie in ironisch-nettem Plauderton. »Dann fangen wir mal an.«

Vela

Sie musste bis weit vor die Stadt fliegen, um ein ruhiges Fleckchen zu finden. Levenyos war selbst in dieser späten Nachtstunde noch von rastlosem Treiben erfüllt, das Barackenfeld ihrer ehemals imposanten Hauptstadt summte geradezu von tausend flüsternden Stimmen. Hier jedoch, wo der Blick weit über das umliegende Weideland ging und die Luft nur vom Schein der Monde und dem Plätschern eines kleinen Bachlaufs erfüllt war, konnte Vela in der Stille endlich ihre eigenen Gedanken hören. Sie hoffte inständig, dass sie hier niemand der Königsgarde suchen würde.

Mit einem Seufzen ließ sie sich am Ufer des Bachs nieder und verschränkte die Beine in der hellblauen Kriegeruniform zu einem Schneidersitz.

Kaum zu glauben, dass ihr Volk erst in der vergangenen Nacht noch getanzt und gesungen hatte. Nun dachte niemand mehr ans Feiern, die ganze Stadt war von Kriegsvorbereitungen eingenommen. Und Vela wusste, dass es schon am nächsten Tag in keinem Ort des Luftreiches anders sein würde. Sie war höchstpersönlich dabei gewesen, als die Königin den Befehl zum Versenden der Seidentauben gegeben hatte. So wie sie bei jeder Entscheidung der Königin während der letzten vierundzwanzig Stunden hautnah dabei gewesen war. Letitia hatte sich nicht nur in den Kopf gesetzt, dass Vela das fähigste und vertrauenswürdigste Mitglied der Kriegerlehrlinge war. Sie schien außerdem der festen Überzeugung zu sein, Vela sei aufgrund ihres Botenflugs die Expertin für die Menschen des Feuers. Den ganzen Tag und die halbe Nacht lang hatte sie Vela in ihrem Beratungszelt vor den obersten Generälen ihrer Garde mit Fragen bombardiert. Was für Waffen nutzten sie? Wie war ihre Hauptstadt aufgebaut? Wie würden sie sich verteidigen?

Vela mochte noch so oft beteuern bei ihrem misslungenen Besuch nicht genug Einblick in das Leben der Feuermenschen erhalten zu haben, um sichere Auskünfte geben zu können, ihre Worte stießen bei Letitia nur auf taube Ohren. So saugte sie sich Antworten aus den Fingern, die die Königin begierig aufnahm und augenblicklich in ihre Angriffsstrategie umzusetzen versuchte.

»Habt Ihr das notiert?«, fragte sie immer wieder die oberen Heerführer und gab in einem fort Anweisungen wie: »Wir brauchen also feuerfeste Lederkleidung. Schlachtet so viele Gemmlahar wie möglich. Das Fleisch soll gepökelt werden, als Wegzehrung.« Oder: »Wir müssen einen weiten Bogen um diese Brandechsen-Löcher machen, schärft das den Soldaten ein!« Die Blicke, die sich die Männer und Frauen hinter ihrem Rücken zuwarfen, entgingen ihrer Majestät, Vela hingegen nicht. Erst recht nicht die grimmigen Seitenblicke, die für sie gedacht waren, als wäre sie persönlich schuld für diesen Krieg.

Doch niemand widersprach.

Erst als ihr Kopf wegsackte und sie mit einem Ruck wieder hochschreckte, wurde Vela klar, dass sie eingenickt war. Erschöpft rieb sie sich die Augen. Sie war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, ihr Bett in dem Mädchen-Schlafsaal der Kriegerschule aufzusuchen, und der Angst, auf dem Weg dorthin von jemandem aufgegriffen und zurück ins Zelt der Königin abkommandiert zu werden. Es war schwer genug gewesen, sich wegzustehlen.

Von irgendwo her rief ein Nachtvogel. Vela wollte ihm zuhören, erkennen, um welche Art es sich handelte, doch schon fielen ihr wieder die Augen zu. Es hatte keinen Zweck. Sie musste aufstehen oder sie würde an Ort und Stelle einschlafen. Widerwillig rappelte sie sich auf und machte sich auf den Weg in Richtung Stadt, diesmal zu Fuß, am Fluss entlang.

Das Ziehen in ihrer Brust, als wäre dort etwas mit einem langen Lasso gefangen worden und würde nun in weiter Ferne eingeholt werden, ließ sich nun nicht mehr länger ignorieren. Es war so viel in so kurzer Zeit passiert, dass Vela kaum Gelegenheit gehabt hatte, an Corin zu denken. Doch die Erinnerung an ihn war die ganze Zeit über da gewesen, neben ihr im Zelt der Königin, wie ein Geist, den nur sie sehen konnte. Sie hätte alles darum gegeben zu wissen, wie es ihm jetzt ging. Die Aussicht, ihn wiedersehen zu können war das einzig Positive, das sie diesen wahnsinnigen Angriffsplänen der Königin abgewinnen konnte. Es musste eine Möglichkeit geben, das Krankenzimmer in den Tiefen der schwarzen Stadt aufzuspüren, ohne gesehen zu werden. Sicher wäre er wieder kerngesund und würde ihr mit seinen albernen Witzen auf die Nerven gehen. Sie konnte sich in diesem Augenblick nichts Schöneres vorstellen.

»Vela? Vela Bachstelze!«

Vela rutschte das Herz in die Magengrube. Sie war so in Gedanken gewesen, dass ihr der dunkle Schemen entgangen war, der ihr am Bach entgegenkam. Doch als das Mondlicht auf das blasse Gesicht und die dunklen Haare fiel, erkannte sie, dass es niemand der Königsgarde war, der sie entdeckt hatte.

»Marcella.« Vela war zu erschöpft, um die Kraft aufzubringen, ihre matte Begrüßung erfreut klingen zu lassen.

»Bitte, nenn mich Lorena.«

Sie waren einen Schritt voneinander entfernt stehen geblieben. Lorena? Erst bei ihrer letzten Begegnung hatte die Botschafterin darum gebeten, sie Marcella zu nennen. Doch was wusste Vela schon von den Gebräuchen und Namensgebungen der Wassermenschen?

»Wie gut, dass ich dich treffe«, sagte die junge Frau voller Hast. »Niemand will uns helfen …«

Vela unterbrach müde: »Und ich will es vielleicht, kann es aber nicht. Entschuldige, ich brauche dringend etwas Schlaf.« Innerlich verfluchte Vela sich dafür, nicht daran gedacht zu haben, dass sie außerhalb der Stadt und an diesem Gewässer auf das Lager der Wasserbotschafter stoßen könnte. Vermutlich war es nicht weit entfernt im Gestrüpp am Ufer verborgen.

»Ich bitte dich!« Lorena trat ihr in den Weg, als Vela sich an ihr vorbeischieben wollte. Ihre großen grünen Augen sahen sie flehentlich an. »Wir wollen so bald wie möglich zu den Erdmenschen aufbrechen. Wir verstehen, dass ihr allen Proviant für eure Armee braucht. Aber wenn wir zwei oder drei Pferde bekommen könnten, würde das unsere Reise erheblich beschleunigen.«

Vela unterdrückte einen tiefen Seufzer. »Also gut. Ich werde sehen, was ich tun kann. Aber ich weiß, dass die Königin den Großteil der Streitmacht zu Pferde in Richtung des Feuerlandes schicken will. Und unsere Viehbestände sind ohnehin knapp seit dem Wirbelsturm.« Sie versuchte mit einem schwachen Schulterzucken ihr Bedauern und ihre geringe Hoffnung auf Erfolg auszudrücken. So leid es ihr tat, mehr konnte sie wahrlich nicht versprechen. Und in diesem Augenblick wollte sie nur noch schlafen.

»Danke.« Marcella – oder Lorena? – trat beiseite, und Vela ging an ihr vorbei, fest entschlossen, sich nicht länger von der Einkehr in ihr Bett abhalten zu lassen. Noch nie hatte sie sich so sehr nach der dünnen, kratzigen Strohmatratze in dem von Atem- und Schnarchgeräuschen erfüllten Schlafsaal gesehnt.

Doch die Nacht hielt noch eine weitere Überraschung für sie bereit. Vela hatte gerade das Gelände der Kriegerschule erreicht oder zumindest den Platz und die Baracken, die nach dem Sturm zu dieser erklärt worden waren, als eine laute Stimme aus der Dunkelheit sie erneut aufschrecken ließ: »Na, wenn das nicht meine kleine Schwester ist!«

Vela sah auf, und ihr Herz machte einen Satz. »Calim!« Erst dann sah sie das Schwert, das er sich umgeschnallt hatte.

»Jetzt guck nicht so erschrocken, Schwesterchen. Hast du gedacht die Königin würde einen sportlichen und gut aussehenden jungen Kerl wie mich zu Hause lassen, während ihr im Feuerland den ganzen Spaß für euch habt?«

Es gefiel Vela nicht, wie er die Sache ins Lächerliche zog, doch sie musste zugeben, dass er Recht hatte. »Und Mama, Viana, die Kinder …?«

»Werden sicher Zuhause darauf warten, dass ich wiederkomme. Dass wir wiederkommen. Mach dir keine Sorgen, Vela. Ihnen wird hier nichts geschehen.« Er zwinkerte ihr unbekümmert zu.

Trotz seiner Größe und obwohl er mittlerweile verheiratet und Vater zweier kleiner Söhne war, schien Calim doch nie ganz erwachsen geworden zu sein. Vela sah ihren großen Bruder an und hatte auf einmal einen Kloß im Hals. »Du siehst Papa verdammt ähnlich, wenn du so guckst, weißt du?«

Ehe sie sich versah, hatte er sie auch schon so fest in den Arm genommen, dass sie still und heimlich ein paar Tränen in sein Hemd weinen konnte und er so tun konnte, als hätte er nichts gemerkt. Als sie sich wieder voneinander lösten, wischte Vela sich verstohlen über das Gesicht und er bedachte sie mit einem Blick, der sagte: Du musst nicht immer so stark tun, weißt du? Doch laut sagte er: »Man kriegt dich ja gar nicht mehr zu Gesicht! Ich habe gehört, du bist jetzt so etwas wie die erste Beraterin der Königin. Stimmt das? Ich muss es wissen, sonst könnte es peinlich werden, wenn ich vor meinen Freunden damit angebe.«

Vela musste gegen ihren Willen schmunzeln. »Ach, die Königin tut so, als wäre ich die Expertin in Sachen Feuermenschen. Dabei habe ich eigentlich überhaupt keine Ahnung.«

»Tja«, machte Calim. »Unter den Blinden ist der Einäugige König, würde ich sagen. Kopf hoch, kleine Schwester, du solltest lieber stolz auf dich sein. Und irgendwann, wenn wir alt und grau sind, werden wir unseren Enkelkindern von diesem Feldzug erzählen und bezüglich unserer Heldentaten maßlos übertreiben.« Er zwinkerte.

»Ich weiß ja nicht.« Vela schüttelte den Kopf, doch irgendwo tief in ihr drin taten Calims Worte ihr gut.

Ich hab dich lieb, großer Bruder.

Calim nickte ihr zum Abschied mit ironischer Nonchalance zu. »Gute Nacht, königliche Beraterin. Und falls Euch die Königin einmal eine Atempause lässt, schaut doch mal auf einen Tee vorbei.«

»Mache ich.« Vela lächelte. »Gute Nacht, Cal.«

Trotz ihrer Müdigkeit blieb Vela noch stehen und sah der Gestalt ihres Bruders nach, bis sie hinter dem Gebäude der Lehrling-Schlafsäle in der Dunkelheit verschwand.

Lorena

Sie war nicht die Einzige, die an diesem klaren Morgen die Überreste der Großstadt nach Brauchbarem durchstöberte. Wie Feldvögel auf einem frisch gesäten Acker pickten um Lorena herum Frauen und Kinder in den Ruinen der ehemaligen Wohnhäuser, ließen ihre Hände schnell in Schürzen und Beuteln verschwinden, wenn sie tatsächlich etwas entdeckten.

Neu war allerdings die Anwesenheit der Mitglieder der Königsgarde, die die Durchsuchung der Trümmer strengstens überwachten. Die Königin hatte angeordnet, dass jedes Stückchen Metall und jedes Fetzchen Leder, das zur Herstellung von Kleidung, Rüstung und Waffen verwendet werden konnte, augenblicklich an die Garde zu übergeben war. Die Schmieden liefen bereits auf Hochtouren und jeden Tag starben mehr Gemmlahar, die seltsam fedrigen Weidetiere der Luftmenschen, für feuerabweisende Schutzkleidung der Soldaten.

»Du dort vorne!« Die barsche Stimme eines der Gardemänner ließ Lorenas Herz vor Schreck Kapriolen schlagen. Doch sie war nicht gemeint. Der Mann trat an ein altes Mütterchen heran, hieß sie rüde ihren Beutel öffnen und wühlte mit kritischem Gesichtsausdruck darin herum. Das Klimpern und Scheppern klang in Lorenas Ohren ganz nach Geschirr und anderem Krimskrams. »In Ordnung«, beschied er dann. »Du kannst weitermachen.«