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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74093-279-4
Unschlüssig stand die Studentin da, den Blick zur Decke gerichtet. Sie hoffte, daß sich das Knarren nicht wiederholte, aber es kam doch dazu. Glynis schluckte aufgeregt. Hagelkörner schienen auf ihre Wirbelsäule zu rieseln. Langsam setzte sie sich in Bewegung, schritt den düsteren Gang entlang und blieb vor der Treppe stehen, die zum Speicher hinaufführte. Ihre Finger krampften sich um den Handlauf. Tu’s nicht! warnte sie eine Stimme. Geh da nicht hinauf! Es ist gefährlich! Doch sie setzte wie in Trance ihren Fuß auf die erste Stufe… zweite Stufe… dritte Stufe… Gespannt sah sie auf die geschlossene Holztür am Ende der Treppe. Was würde sie sehen, wenn sie die Tür öffnete? Welche Gefahr lauerte auf sie?
»Tot?« fragte Glynis Windom entsetzt.
Der Arzt, ein weißhaariger Mann mit randloser Brillle und trüben Augen, nickte bedauernd.
»Aber… aber wieso denn?« stammelte Glynis und fuhr sich mit zitternden Fingern durch das sandfarbene Haar. Ihre dunklen Samtaugen schwammen in Tränen. »Wie ist so etwas möglich, Dr. Poor?«
Eine Welt stürzte für die junge hübsche Frau ein. Tot! Tom Duggan ist tot! schrie es in ihr. Tom lebt nicht mehr! Ihr Geist revoltierte, lehnte sich gegen diese furchtbare Nachricht auf.
Sie hatte das Gefühl, die Seele würde aus ihrem Körper fließen und zu ihren Füßen im Boden versickern. Eine unendliche Leere breitete sich in ihr aus. Das Leben verlor auf einmal jeglichen Sinn für sie, hatte keinen Inhalt mehr.
Tot! Tom Duggan ist tot!
Das war eine schreckliche Katastrophe. Schlimmer und schmerzhafter hätte das Schicksal sie nicht treffen können.
Tom ist nicht mehr!
Es wollte ihr vor Schmerz das Herz zerreißen. Fassungslos starrte sie den Arzt an und wartete auf eine Erklärung, doch der alte Doktor hob nur die Schultern und sagte: »Es tut mir leid.«
»Mein Gott, das kann doch nicht alles sein, was Sie dazu zu sagen haben, Dr. Poor«, stieß Glynis erschüttert hervor.
Der Arzt seufzte schwer. »Manchmal kriegen wir unsere Grenzen aufgezeigt, Miß Windom. Damit wir niemals zu übermütig werden, gibt es für uns Menschen immer wieder einen Dämpfer, der uns niederdrückt, der uns klarmacht, daß wir nur ein winziges Rädchen in einem riesigen Gefüge sind – eigentlich machtlos, vor allem, wenn erst der Tod die Bühne unseres Lebens betritt.«
»Aber wieso so plötzlich, Dr.
Poor?«
»Wir wissen nicht, wann unsere Uhr abläuft, Miß Windom. Der eine ist früher dran, der andere später. Es ist falsch, zu glauben, daß wir das irgendwie beeinflussen können. Es ist uns auch vorausbestimmt, ob wir auf ein Medikament ansprechen oder nicht. Alles wurde dort oben für uns sorgfältig geplant.« Er wies zur Decke und meinte den Himmel. »Wir können es nur hinnehmen, wie es kommt.«
»Tom war fünfundzwanzig.«
»Da trifft es einen natürlich besonders hart. Bei alten Menschen muß man damit rechnen, daß ihr Lebenslicht eines Tages erlischt. Bei so jungen Menschen aber ist es ein Schock.«
»So jung… stirbt man doch nicht einfach…«
»Es können sogar Säuglinge sterben, Miß Windom.«
»Aber Tom war gesund, ein sportlicher junger Mann, stark, niemals krank. Sind Sie sicher, alles für ihn getan zu haben, Dr. Poor?«
»Ich kann verstehen, daß Sie jetzt irgend jemanden suchen, dem Sie die Schuld an dieser Katastrophe zuschieben können, doch glauben Sie mir, Miß Windom, niemand hat Schuld.«
»Ich… ich möchte zu ihm!« stieß die blonde Frau heiser hervor. Sie biß sich auf die Unterlippe, war blaß und spürte, wie sie wankte.
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das gestatten soll.«
»Ich muß zu ihm, ich muß ihn sehen, muß Abschied von ihm nehmen.«
»Ich befürchte, daß Sie den Schmerz nicht aushalten.«
»Besteht Hoffnung, daß ich auch sterbe, Dr. Poor?« fragte Glynis.
»Sagen Sie doch nicht so etwas Furchtbares, Miß Windom.«
»Es würde mir nichts ausmachen… Was habe ich denn noch, wofür es sich zu leben lohnt?«
»Wie können Sie nur so eine Frage stellen? Was ist mit Ihren Eltern? Sie lieben sie doch. Was ist mit Ihrem Bruder? Sind das nicht Menschen, für die es sich zu leben lohnt?«
»Ja, Doktor, ich liebe meine Eltern und meinen Bruder, aber sie können mir Tom nicht ersetzen.«
»Das Leben geht weiter«, versuchte der Arzt sie zu trösten. »Irgendwann werden Sie Tom Duggan wiederbegegnen. Es wird ein anderer Mann sein, aber Sie werden in ihm Ihren Tom erkennen. Die, die von uns gehen, sind nicht für immer für uns verloren. Sie nehmen eine andere Gestalt an und nehmen an unserem Leben wieder Anteil.«
»Das glaube ich nicht.« Glynis schüttelte heftig den Kopf.
»Es ist aber so.«
»Das behaupten Sie, ein Arzt? Hört für Sie ein Mensch mit dem Tod nicht zu existieren auf? Ihr Berufsstand kann mit dem Begriff Seele doch nichts anfangen. Man sieht sie nicht, sie ist kein Organ. Kein Serum kann sie beeinflussen, kein Chirurg kann an ihr herumschneiden.«
»Wir wissen dennoch, daß der Mensch eine Seele hat, Miß Windom.«
»Wo sitzt sie? In unserem Kopf, in der Brust oder im Herzen?«
»Die Seele ist überall. Unter unserer Haut, in unseren Knochen, in jeder einzelnen Haarspitze. Für mich ist die Seele das, was ich zum Beispiel von Ihnen sehe. Was ich anfassen kann, das ist der Mensch.«
Glynis strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und mit dem Handrücken wischte sie die heißen Tränen ab, die über ihre Wangen rannen. Sie verlangte noch einmal, Tom zu sehen, und Dr. Poor trat seufzend zur Seite.
Die Frau griff nach dem Türknauf. Er war kalt, und diese Kälte floß in ihren Arm. War es die Kälte des Todes, die sie spürte? Ein eisiger Schauer durchlief sie.
Beinahe hätte sie die Willenskraft nicht aufgebracht, den Knauf zu drehen. Sie hatte Angst vor dem, was sie sehen würde, wenn die Tür zur Seite schwang.
Aber sie mußte von Tom Abschied nehmen, auch wenn es ihr dabei das Herz abdrückte. Tom… Zum letztenmal würde sie ihn sehen, dann nie mehr wieder. Sie glaubte nicht, was Dr. Poor gesagt hatte. Sie wußte es besser als der Arzt, daß Tom für sie verloren war. Kein anderer Mann konnte jemals seinen Platz einnehmen. Die Lücke, die Toms Hinscheiden gerissen hatte, würde sich niemals schließen. Niemals!
Ich bleibe dir treu, Tom! dachte Glynis. Uber den Tod hinaus halte ich dir die Treue. Du warst ein so wunderbarer Mensch, wie es ihn auf dieser großen Welt kein zweites Mal gibt. Ich möchte mich nicht mit weniger begnügen. Du bist unersetzlich, Tom Duggan.
Sie drehte endlich den Knauf, die Tür bewegte sich langsam zur Seite und gab den Blick auf ein großes Bett frei. Tom lag darin. Er schien friedlich zu schlummern.
Nur blaß war er, so furchtbar blaß.
Glynis trat ein. Toms Eltern knieten zu beiden Seiten des Bettes und beteten. Mrs. Duggan schluchzte ab und zu verzweifelt. Glynis ging zu ihr. Jeder Schritt fiel ihr unsagbar schwer.
Sie konnte den Blick nicht von Toms blassem Gesicht wenden. Dieses traurige Bild würde sich für alle Zeiten in ihr Gedächtnis einprägen, das spürte sie.
Wann immer sie in Zukunft an Tom Duggan denken würde, würde nicht der lebende Tom, sondern der tote vor ihrem geistigen Auge erscheinen. Sie trat neben Mrs. Duggan. Ihre Knie zitterten, und sie befürchtete, ohnmächtig zu werden.
Toms Mutter bemerkte, daß jemand neben ihr stand. Sie ließ die gefalteten Hände sinken und wandte langsam den Kopf. Mit rotgeweinten Augen sah sie Glynis an. Ihr Gesicht wurde hart, Haß loderte in ihrem Blick.
»Du wagst es, dieses Zimmer zu betreten?«
»Aber Mrs. Duggan, Tom und ich waren…«
»Du hast die Unverfrorenheit, nach allem, was geschehen ist, hierher zu kommen?«
»Als ich hörte, daß es schlecht um Tom steht…«
»Geh! Geh, Glynis Windom! Und laß dich in diesem Haus nie wieder blicken!«
»Ich verstehe nicht, warum Sie so häßlich zu mir sind, Mrs. Duggan.«
»Das verstehst du nicht? Du, die schuld ist am Tod meines einzigen Kindes, verstehst nicht, daß ich dich hasse?«
Glynis zuckte zusammen, als habe die Frau sie geschlagen. Was für eine Ungeheuerlichkeit hatte Mrs. Duggan soeben gesagt? War der Geist dieser Frau denn verwirrt?
Ich? Ich, die Tom mit jeder Faser meines Herzens liebte, soll schuld an seinem tragischen Tod sein? dachte Glynis entsetzt. Die Frau ist nicht bei Sinnen. Der Schmerz hat sie durcheinandergebracht.
»Sie wissen nicht, was Sie reden, Mrs. Duggan«, sagte Glynis erschüttert.
»Er hat sich zu Tode gekränkt – wegen eines Mädchens, das es nicht wert war«, behauptete die Frau anklagend. »Du hast seine Liebe nicht ernst genommen!«
»Das können Sie doch gar nicht wissen, Mrs. Duggan.«
,Denkst du, eine Mutter merkt nicht, wenn ihr Kind leidet? Obwohl Tom dich abgöttisch liebte, hast du ihn verlassen.«
»Das stirnmt nicht, Mrs. Duggan! Das ist nicht wahr! Sie wissen, daß es genau umgekehrt war! Tom verließ mich!«
»Es war grausam, was du getan hast, Glynis Windom. Es hat uns gezeigt, daß du kein Herz hast. Tom zerbrach an deiner Gefühlskälte. Gramgeplagt legte er sich in dieses Bett, verlor jede Freude am Leben und hatte nur noch den Wunsch zu sterben.«
Glynis wußte sich nicht zu helfen. Diese Frau tat ihr so schrecklich unrecht, und Glynis konnte nichts weiter tun, als die Hände vors Gesicht zu schlagen, zu weinen und zu sagen: »Es stimmt nicht, was Sie sagen, Mrs. Duggan. Es stimmt ja alles gar nicht.«
So erwachte Glynis. Weinend, verzweifelt, in Tränen aufgelöst.
Verwirrt setzte sie sich in ihrem Bett auf. Ihre Nerven vibrierten noch. Der Traum war so realistisch gewesen, daß sie geglaubt hatte, alles wirklich zu erleben.
Eine unendliche Erleichterung erfaßte sie, als ihr klar wurde, daß sie sich in ihrem Zimmer befand und nicht im Haus der Duggans. Ein riesiger Stein fiel ihr von der Brust, als sie begriff, daß nur ein schlimmer Alptraum sie gequält hatte.
Immer noch schluchzend, wischte sie sich die Tränen ab und flüsterte: »Es ist alles in Ordnung. Sei unbesorgt. Nichts ist geschehen.«
Langsam sank sie auf die Kissen zurück und schlief wieder ein, und sie hatte das Glück, daß sich der Alptraum nicht fortsetzte.
*
»Guten Morgen, allseits«, sagte Glynis und setzte sich an den gedeckten Frühstückstisch. Sie griff nach ihrer bereitliegenden Stoffserviette und zog sie vorsichtig aus der Klammer.
»Du bist wie immer die letzte«, stellte Andrew, ihr Bruder, fest. Er hatte blondes, gewelltes Haar und ein feingeschnittenes, hübsches Gesicht.
»Laß sie doch«, wies ihn Deborah Windom, seine Mutter, zurecht. Ihr ging die Familie über alles. Es gab nichts Wichtigeres für sie. Wenn es Streit gab, schlichtete sie ihn, und jeder konnte mit seinen Sorgen zu ihr kommen, sie versuchte immer zu helfen. Ein guter Engel war sie, der an sich stets zuletzt dachte. Sie opferte sich gern für die Familie auf, das machte sie glücklich. Es gab keinen schöneren Lohn für sie, als wenn alle um sie herum fröhlich und zufrieden waren.
Dabei war sie keine allzu robuste Frau, und was sie manchmal leistete, überstieg fast ihre Kräfte, doch keiner hörte sie jemals klagen, und es war eigentlich selbstverständlich für alle, daß Mutter immer da war, wenn man sie brauchte, und daß man jegliche Art von Unterstützung von ihr erwarten konnte.
»Wir Frauen brauchen eben etwas länger, bis wir schön sind«, sagte Glynis und goß sich Tee ein.
»Hört, hört!« rief Andrew amüsiert aus. »Sie zählt sich schon zu den Frauen!«
»Natürlich.«
»Sie ist noch nicht trocken hinter den Ohren, aber schon eine Frau. Ich lach mich kaputt. Meine Schwester ist eine Frau, eine richtige Frau.«
»Anscheinend hast du heute wieder mal einen von deinen verrückten Tagen«, sagte Glynis ärgerlich.
»Scheint so – Frau.«
»Wirst du wohl aufhören, Glynis zu necken?« warf Deborah Windom barsch ein.
Andrew hob grinsend die Hände. »Schon gut, schon gut. Ma. Ich weiß ja, daß du immer Partei für sie ergreifst.«
»Das stimmt nicht, und das weißt du.«
»Ich möchte nur noch eines anbringen«, sagte der Sohn und lächelte spitzbübisch. »Wir Männer sind die Krone der Schöpfung. Wer schöner ist als wir, der ist geschminkt. Hab ich recht, Daddy?«
Harvey Windom legte die Zeitung weg, in der er kurz geblättert hatte. »Das ist vollkommen richtig, mein Junge«, sagte er und lächelte auch. Er war ein mittelgroßer, entschlossener Mann, der hin und wieder sehr energisch sein konnte. Ein zäher Mann, manchmal vielleicht ein wenig verschlossen. Er konnte nicht immer aus sich herausgehen, wollte seine Familie mit seinen Sorgen nicht belasten, ließ sie eigentlich kaum einmal daran teilnehmen.
Das hieß nun nicht, daß er kein Vertrauen zu seiner Familie hatte. Er stand nur auf dem Standpunkt, daß ein Mann, der von sich überzeugt war, sich selbst helfen mußte. Wer sich helfen ließ, war ein Schwächling, und es gab für Harvey Windom nichts Erniedrigenderes, als in den Augen seiner Familie als Schwächling dazustehen.
Sie mußten zu ihm aufblicken können, mußten auf ihn stolz sein können, er wollte ihnen ein leuchtendes Beispiel sein.
Ein Schwächling ist kein Vorbild.
Während des Frühstücks erzählte Glynis von dem furchtbaren Traum der sie gequält hatte.
»Sei unbesorgt, Schwesterherz«, sagte Andrew über den Frühstückstisch. »Es heißt doch, daß diejenigen, von denen man träumt, daß sie gestorben sind, besonders lang leben.«
»Das hoffe ich«, sagte Glynis leise. »Es tat mir sehr weh, daß Mrs. Duggan so häßlich zu mir war. Sie behauptete, ich wäre schuld an Toms Tod. Weil ich ihn verlassen hätte, wäre er aus Gram gestorben.«
»Ich möchte wissen, wer wen verlassen hat«, meinte ihr Bruder. »Tom ging doch nach Amerika, nicht du.«
»Tja, das ging leider nicht anders«, sagte Glynis und bestrich sich einen Toast mit Butter.
Andrew sah sie prüfend an. »Meinst du das im Ernst?«
»Aber ja.«
»Also, wenn ich an Toms Stelle gewesen wäre, hätte ich mich nicht von meinen Eltern nach New York schicken lassen.«
»Du weißt, daß das vor langem schon beschlossen wurde«, verteidigte Glynis ihren Freund. »Erst später lernte er mich kennen. Als Duggan hat man nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten.«
»Mir will es trotzdem nicht in den Kopf. Da behauptet er, dich über alles zu lieben, und dann läßt er dich sitzen.«
»Er hat mich nicht sitzenlassen!« erwiderte Glynis laut. »Tom hat mich gebeten, auf ihn zu warten, und das werde ich auch tun.«
»Du siehst keinen anderen Mann an, vergräbst dich zu Hause, gehst niemals aus.«
»Es ist kein Opfer für mich, aber das verstehst du nicht. Du warst ja noch nie richtig verliebt. Kannst du das überhaupt? Bist du fähig, richtig zu lieben?«
Andrew lachte. »Warum sollte ich dazu nicht fähig sein? Sich zu verlieben ist meines Erachtens keine besondere Glanzleistung. Es passiert einem ganz von selbst. Man braucht sich dazu nicht im geringsten anzustrengen.«
»Für eine wahre, tiefempfundene Liebe bist du viel zu nüchtern«, behauptete Glynis angriffslustig.
»Ich bin stolz auf meinen analytischen Verstand. Ich lasse mich nicht von Emotionen leiten, sondern gebrauche mein Gehirn. Deshalb werde ich eines Tages einer der besten Rechtsanwälte in dieser Stadt sein. Wenn nicht überhaupt der beste.«
»Manchmal ist dein übersteigertes Selbstgefühl direkt lächerlich«, sagte seine Schwester.
»Damit kommt man auf jeden Fall weiter, als wenn man sein Licht ständig, wie du, unter den Scheffel stellt.«
»Na schön, du bist der Größte, und ich darf mich glücklich preisen, deine Schwester zu sein.«
Andrew lachte. »So ist es. Du hast es erfaßt.« Er blickte auf seine Uhr und sagte, er müsse zur Vorlesung.
Als er sich erhob, sagte sein Vater zu ihm: »Du weißt, daß für uns alle heute ein großer Tag ist.«
Andrew schmunzelte. »Wie könnte ich so ein einschneidendes Ereignis vergessen, Daddy?«
»Sechzehn Uhr.«
»Ich werde pünktlich sein».
Vor einem Monat hatte Harvey Windom ein Haus an der Londoner Peripherie entdeckt, das es ihm sogleich angetan hatte. Beinahe verliebt hatte er sich in dieses verträumte, etwas düstere Haus mit den vielen Türmchen und Erkern, der breiten Veranda und dem kleinen, etwas verwilderten Garten, der dazugehörte.
Hohe alte Bäume ragten davor auf und bildeten eine schattige Allee. An der Eingangstür hing ein Schild mit dem Vermerk Zu verkaufen: Darunter stand eine Telefonnummer, die Harvey Windom sofort anrief.
»Mein Name ist Windom. Ich interessiere mich für das Haus in der Mortimer Street.«
»Tatsächlich?« Es klang überrascht. »Nun . .. äh . .. Es ist ein sehr schönes Haus, nicht wahr, Mister Windom?«
Er bestätigte das und fragte nach dem Preis.
»Sie werden verstehen, daß ich Ihnen am Telefon darüber keine Auskunft geben kann, Mister Windom… äh... Sie könnten immerhin von der Konkurrenz sein, oder so… äh… ich schlage vor, Sie kommen in mein Büro, und da reden wir dann über alles.«
»Einverstanden. Wie ist Ihre Adresse?«
Der Makler nannte die Anschrift.
»Ich bin in zwanzig Minuten bei Ihnen«, sagte Harvey Windom und wollte auflegen.
»Mister Windom! Mister Windom!« rief der Mann am anderen Ende. »Tut mir leid, aber ich habe einen wichtigen Termin, den ich nicht verschieben kann. Ich stehe eigentlich nur noch mit einem Bein im Büro.«
»Na schön, wann haben Sie Zeit, Mister…?«
»Crane, Abel Crane, Sir… äh… wie wär’s mit heute nachmittag?«
»Ist mir auch recht.«
»Siebzehn Uhr?«
»Gut. Siebzehn Uhr.«
»Äh… das Haus ist wirklich wunderschön, Mister Windom. Sie werden es unbedingt haben wollen.«
Punkt siebzehn Uhr betrat Harvey Windom das kleine, unordentliche Maklerbüro. Abel Crane war ein dicker, fahriger, überfreundlicher Mann mit spiegelnder Glatze und dunklen Frettchenaugen.
»Mister Windom?«
»Ja«, antwortete er.
»Man könnte die Uhr nach Ihnen stellen.«
»Ich bin gewöhnt, pünktlich zu erscheinen.«
»Das ist lobenswert, sehr lobenswert.« Der Dicke lächelte. »Ich schaff’s leider nicht immer. Weiß der Kuckuck warum ich mit der Zeit immer auf Kriegsfuß stehe.«
»Können wir gehen?«
»Natürlich… äh… sofort, Mister Windom. Ich suche nur noch die Schlüssel zu dem Haus, das Sie sich ansehen wollen. Das verstehe ich nicht… äh… ich hatte sie doch vorhin in der Hand.«
Crane wühlte sich verlegen durch den Papierwust, der seinen Schreibtisch bedeckte.
»Sie müssen hier irgendwo sein«, sagte er verlegen. »Äh… wie schaffen es manche Leute, auf ihrem Schreibtisch immer peinliche Ordnung zu halten? Es ist mir ein Rätsel. Arbeiten die nicht? Ein… äh… wunderschönes Haus ist das, Mister Windom.«
»Das sagten Sie bereits am Telefon.«
»So? Naja, man kann es nicht oft genug sagen. Und der Preis, meine Güte, der Preis. Sie können das Haus für ein Butterbrot haben, Mister Windom. Ich übertreibe nicht. Für ein Butterbrot, wirklich. Ich schlage vor, Sie sehen sich das Objekt erst mal an.
Wenn ich Ihnen den Preis dann nenne, werden Sie denken, ich scherze… äh… ein Haus muß bewohnt sein. Es ist nicht gut, wenn es allzu lange… äh… leersteht. Da fängt es an, seltsam zu riechen, und man kann dabei fast zusehen, wie es verfällt. In ein Haus gehört… äh… Leben. Wir Menschen sind die Seelen der Häuser, ohne uns sind sie tot. Wo ist denn nur dieser verdammte Schlüsselbund… äh… verzeihen Sie, Mister Windom. Manchmal ist es zum Aus-der-Haut-Fahren. Ich täte gut daran, mir alles um den Hals zu hängen, damit ich's immer gleich finde.«
Neben dem Telefon, unter einem Rechnungsformular, entdeckte Abel Crane schließlieh die Schlüssel.
»Wenn ich sie nicht gesucht hätte, hätte ich sie auf Anhieb gefunden«, meinte der Makler. »Nun… äh… wir können gehen, Mister Windom. Ich hoffe, Sie nehmen mir diese kleine Verzögerung nicht übel. Der Mensch ist ein Wesen voller Unzulänglichkeiten. Wir haben alle unsere Fehler. Wer frei von Fehl, der werfe den ersten Stein… äh… wie weise, wie weise, nicht wahr? Wollen wir meinen Wagen nehmen? Oder fahren wir mit Ihrem? Oder mit zwei Autos?«
»Wir können meinen Wagen nehmen«, sagte Harvey Windom. Man brauchte gute Nerven, um den Makler zu ertragen.
Als er mit Abel Crane wenig später das Haus in der Mortirner Street betrat, nahm ihn das Gebäude auf eine unerklärliche Weise gefangen. Man sah es von außen nicht, aber die Räume waren groß und hoch. Alte Möbel standen darin. Einen Großteil davon würde Harvey Windom entfernen lassen, wenn er das Haus wirklich kaufte.
Die Atmosphäre, die ihn überall anwehte, war unbeschreiblich, vielleicht sogar ein wenig unheimlich. Jedenfalls verstärkte sie den Wunsch in ihm um ein Vielfaches, dieses Gebäude zu besitzen.
»Nun… äh… was sagen Sie, Mister Windom?« fragte der Makler, nachdem sie den Rundgang beendet hatten. »Ist es nicht ein faszinierendes Haus?«
Harvey Windom setzte eine Pokermiene auf. Der Makler sollte nicht erkennen, wie sehr er das Haus haben wollte, denn das hätte im Preis seinen Niederschlag gefunden.
Das Haus, in dem Windom zur Zeit mit seiner Familie wohnte, war klein und eigentlich nicht mehr standesgemäß. Sie konnten sich etwas Besseres, Größeres leisten.
»Man mußte einiges investieren«, sagte Harvey Windom deshalb. »Neue Tapeten, neue Teppichböden, das Bad gehört komplett verfliest, und ich denke, daß man auch die Fensterrahmen streichen sollte.«
»Alle Räume sind möbliert… äh… das darf man nicht übersehen. Theoretisch könnten Sie morgen schon einziehen.«
»Wieviel soll das Haus nun kosten, Mister Crane?«
Der Makler nannte einen Preis, den Harvey Windom fast nicht glauben konnte. Crane lachte. »Nicht wahr… äh… jetzt sind Sie platt. Ein Butterbrot, hab ich’s nicht gesagt? Um diesen Preis kriegen Sie in ganz London kein so schönes, großes Haus… äh… das müssen Sie zugeben. Was immer Sie zu investieren gedenken, Mister Windom, Sie können hier trotzdem nur profitieren.«
Harvey Windom schmunzelte. »Mister Crane, wir beide sind nicht erst seit gestern auf der Welt. Das Leben hat uns gelehrt, daß einem nichts geschenkt wird.«
»Da haben Sie leider recht… äh… Mister Windom«, pflichtete ihm der Makler bei.
»Dieses Haus ist aber ein Geschenk«, meinte Harvey.
»Deshalb sollten Sie zugreifen.«
»Ich frage mich, wo der Haken ist.«
»Haken?« Abel Crane setzte eine Unschuldsmiene auf. Er legte seine Hände auf die Brust und beteuerte: »Es gibt keinen… äh… Haken, Mister Windom. Sie können mir vertrauen.«
Du wärst der erste Makler, dem man trauen darf, dachte Harvey Windom.
»Ich sagte es ja schon… äh. . . dieses Haus sollte endlich wieder bewohnt werden. Das ist der Grund, weshalb Sie es so günstig kaufen können. Wenn Sie sich nicht rasch zum Kauf entschließen, schnappt es Ihnen vielleicht schon morgen jemand weg. Es gibt auch noch andere Interessenten.«
Harvey Windom lachte. »Auf den Trick falle ich nicht rein, Mister Crane.«
»Ich bitte Sie, das ist doch kein Trick. Es gibt… äh interessanten.«
»Vielleicht, aber keiner will anbeißen, stimmt's? Irgend etwas verheimlichen Sie mir, Mister Crane. Sie sollten es mir sagen, bevor ich selbst draufkomme.«
Abel Crane spielte den Beleidigten. »Also, wenn Sie… äh… das Gefühl haben, daß ich Sie übers Ohr zu hauen versuche, dann lassen wir es eben.« Er wandte sich mit gekränkter Miene um und wollte das Haus verlassen.
»Augenblick«, sagte Harvey Windom. »Sie dürfen es mir, um Himmels willen, nicht übelnehmen, wenn ich vorsichtig bin. Mir gefällt dieses Haus ausnehmend gut, ich möchte es haben, der Preis ist äußerst attraktiv, aber ich kann mich noch nicht festlegen. Meine Familie ist es von mir nicht gewöhnt, daß ich sie vor vollendete Tatsachen stelle. Ich rnöchte sie mitentscheiden lassen.«
»Das verstehe ich«, sagte Crane, wieder versöhnt.
»Wie lange können Sie mir im Wort bleiben?«
»Achtundvierzig Stunden.«
»Das reicht. Wenn es geht, komme ich morgen mit der ganzen Familie in Ihr Büro. Sie brauchen nicht wieder mitzufahren. Ich hole mir die Schlüssel, zeige rneiner Frau und den Kindern das Haus, und wenn es ihnen ebenso zusagt wie mir, können wir das Geschäft gleich perfekt machen.«
Die Familie war hellauf begeistert. Vor allem Andrew war völlig hingerissen. »Hier bleibe ich!« rief er überschwenglich aus. »Von hier ziehe lch nie wieder weg.«
»Du wirst irgendwann den Wunsch haben, eine Familie zu gründen«, sagte Harvey Windom zu seinem Sohn.
»Ich werde mit ihr hier wohnen. Oder hast du etwas dagegen, Daddy?«
»Absolut nicht. Es ist Platz genug.«
Sie kauften das Haus, und Harvey Windom beauftragte einige Firmen rnit diversen Umbauarbeiten, die einen ganzen Monat in Anspruch nahmen. Nun waren diese Arbeiten abgeschlossen, und die Familie wollte sich ihr neues Heim heute um sechzehn Uhr ansehen.
»Ich werde pünktlich sein, Daddy«, versprach Andrew noch einmal. »Ich freue mich schon sehr auf mein neues Zuhause. Es ist ein Rahmen, der eines Windoms würdig ist.«
»Mein Gott, gibt der schon wieder an«, sagte Glynis und verdrehte die Augen.
»Ich habe mich übrigens in der Nachbarschaft umgehört«, sagte Andrew. »Ich glaube, jetzt weiß ich, warum das Haus so billig zu haben war.«
Alle blickten ihn überrascht und gespannt an.
»Heraus damit«, sagte Glynis neugierig.
»Die Nachbarn reden nicht gern darüber, aber ich bohrte so lange, bis ich es herausbekam.«
»Was?« wollte die Tochter wissen. »So rede doch schon.«
»Es ist angeblich ein verfluchtes Haus.«
Harvey Windom schüttelte den Kopf. »Das ist doch blanker Unsinn!«
»Bin ganz deiner Meinung, Daddy. Wir waren alle vier in dem Haus und waren davon sofort begeistert.« Andrew sah seine Schwester an. »Es war Liebe auf den ersten Blick bei mir. Du behauptest zwar, ich kann mich nicht verlieben
»Und so etwas will einmal der beste Rechtsanwalt von London werden. Ein Haus ist ein Haus – und ein Mensch ist ein Mensch. Das sind doch zwei verschiedene Paar Schuhe.«
»Was du nicht sagst, Schwesterlein.«
»Müßt ihr immer in diesem Ton miteinander reden?« warf Deborah Windom ein.
»Das Haus«, fuhr Andrew mit dumpfer Stimme fort, »soll jedem Unglück bringen, der darin wohnt.«
»Glaubt einer von euch diesen Humbug?« fragte Harvey Windom seine Familie.
»Nein«, erklärte der Sohn bestimmt.
»Nein«, sagte auch Glynis, aber nicht so bestimmt wie ihr Bruder.
»Natürlich nicht«, sagte Deborah Windom.
»Irgend jemand nannte es das Haus der vergessenen Seelen«, meinte Andrew. »Jene Menschen, die das Haus besessen haben und angeblich auf mysteriöse Weise ums Leben kamen, sollen sich noch in diesem Gebäude befinden. Selbstverständlich nicht körperlich. Nur ihre Seelen sollen da sein.«
»Diesen Blödsinn behaupten die Nachbarn?« fragte Harvey Windom.
»Nun, sie formulieren es nicht so klar, nicht so direkt. Jeder macht bloß so seine Andeutungen, schweift sofort wieder ab, weil es ihm nicht geheuer erscheint, darüber zu reden. Im Haus der vergessenen Seelen zu wohnen, können sie sich überhaupt nicht vorstellen.«
»Wir werden allen beweisen, daß an dieser dummen Geschichte kein Körnchen Wahrheit ist«, bemerkte Harvey Windom.
»Jetzt muß ich aber wirklich gehen, sonst komme ich noch zur Vorlesung zu spät«, sagte Andrew. »Wir Windoms sind Erfolgsmenschen. Die geborenen Sieger sind wir. Selbst wenn es einen solchen Fluch geben sollte, für uns hat er mit Sicherheit keine Gültigkeit.«
So war Andrew. Ehrgeizig. Von sich eingenommen. Unerschrocken.
»Welt, paß auf, ich komme!« Das schien er jeden Morgen aus dem Fenster zu rufen. Minderwertigkeitskomplexe waren ihm fremd. Er hatte eine leichte Auffassungsgabe, um die ihn Glynis manchmal beneidete. Auch sie studierte. Wirtschaftswissenschaft. Was sie sich hart erarbeiten mußte, fiel ihrem Bruder beinahe in den Schoß. Von frühester Jugend an wußte er schon, was er werden wollte, und dieses Ziel ließ er nicht aus den Augen. Alles andere reihte er in seinem Leben dahinter ein.
Er ging, und Glynis war ihrer Mutter beim Abräumen des Frühstücksgeschirrs behilflich. Die Küche war eng, sie behinderten einander.
»Das wird auch bald anders«, sagte Deborah Windom seufzend. »In unserem neuen Heim haben wir eine Küche, in der man sich bewegen kann. Dort brauche ich nicht mehr in den Mülleimer zu steigen, wenn noch jemand in die Küche kommt.«
Glynis lachte. »Bist du glücklich, Ma?«
»O ja, mein Kind, sehr. Und du?«
»Ja, ich auch.«
»Das klang aber nicht gerade sehr überzeugend«, sagte die Mutter. »Dich beschäftigt anscheinend immer noch dieser böse Traum.«
»Er war wirklich schrecklich. Ich kann nicht beschreiben, wie verzweifelt, wie unglücklich ich war. Tom lag so blaß in seinem Bett, und Mrs. Duggan war so garstig zu mir.«
»Mrs. Duggan würde dich nie wirklich so behandeln. Sie weiß, wie sehr Tom dich liebt. Schade, daß er nicht in London bleiben konnte. Vater und ich mögen ihn sehr.«
»Er wird zurückkommen… zu mir.«
»Aber sicher, mein Kind. Er ist ein wunderbarer, liebenswerter Mensch.
Und eine großartige Partie für meine Tochter.«
»Hör auf, Ma, ich will nicht, daß du so redest. Es klingt so schrecklich nüchtern, als wäre eine Verbindung mit Tom nur ein einmaliges Geschäft, das man sich unter keinen Umständen entgehen lassen darf. Ich liebe nicht das Geld, das er besitzt, nicht die Fabriken die er einmal übernehmen wird, sondern ihn, den Menschen. Ich würde ihn auch lieben, wenn er arm wie eine Kirchenmaus wäre.«
»So soll es auch sein. Aber wenn Tom Duggan schon mal Geld hat, sollte man das nicht als unangenehm empfinden.«
Als sie zusammen die Küche verließen, schickte sich Harvey Windom an, das Haus zu verlassen. Er war selbständiger Handelsvertreter und hatte in der Nähe ein kleines Büro gemietet.
Wenn sie in das Haus in der Mortimer Street umzogen, benötigte er das Büro nicht mehr, dann stand ihm ein geräumiges Arbeitszimmer zur Verfügung, von dem aus er einen Großteil seiner Geschäfte abwickeln konnte. Er würde dann nicht mehr täglich wegzugehen brauchen und seiner Familie auch dann zur Verfügung stehen, wenn er arbeitete.
Er küßte seine Frau auf den Mund, umarmte Glynis und fragte: »Hast du heute keine Vorlesung?«
»Nein, Daddy.«
»So gut geht’s einem auch nur, solange man bei seinen Eltern wohnt«, sagte er schmunzelnd. »Ich hole euch um fünfzehn Uhr dreißig ab. Seht zu, daß ihr fertig seid. Wir wollen sehen, welche Glanzleistung die Handwerker vollbracht haben.«
Er ging, und Deborah Windom sagte: »Er ist ein tüchtiger Mann. Ich bin wirklich sehr stolz auf ihn. Fünfundzwanzig Jahre bin ich nun schon mit ihm verheiratet, und ich liebe ihn noch genauso wie am ersten Tag unserer glücklichen Ehe. Es ist ein Wunder.«
»Das Wunder der Liebe«, erklärte die Tochter und dachte wehmütig an Tom Duggan, der im fernen New York lebte. Seine Eltern besaßen dort ebenfalls eine Fabrik. Zunächst war beschlossen gewesen, daß Tom für ein Jahr nach Amerika gehen sollte, um die amerikanischen Geschäftspraktiken an Ort und Stelle kennenzulernen. Doch kurz nach seinem Arbeitsantritt waren Schwierigkeiten aufgetreten, die Tom nun meistern mußte. Da sein Vater kränkelte, war er auf sich allein gestellt. Es war eine Feuerprobe für ihn, die er bestehen mußte. Wie lange es dauern würde, bis die Schwierigkeiten überwunden waren, ließ sich zur Zeit noch nicht absehen.
Vielleicht würde Glynis länger als ein Jahr auf Tom warten müssen.
Meine Liebe ist dafür stark genug, dachte sie manchmal. Aber wird auch Toms Liebe diese große Zeitspanne unbeschadet überstehen?
Wenn ihr solche Gedanken kamen, war sie immer ganz wütend auf sich. Wie konnte sie nur an Tom zweifeln?
Sie gehörte zu ihm – und er gehörte zu ihr. Da spielte Zeit doch keine Rolle. Sicher, es tat manchmal weh, und die Sehnsucht wollte Glynis manchmal verzehren. Doch sie sagte sich dann, daß eine große Liebe jedes Opfer wert war. Und sollte Tom die Schwierigkeiten erst in drei Jahren meistern, würde sie immer noch für ihn dasein, weil kein anderer Mann so gut zu ihr paßte wie er.
Das Telefon läutete.
Glynis wollte an den Apparat gehen. Vielleicht war es Phyllis, ihre Freundin, die anrief. Phyllis, die von Treue noch nie gehört hatte. Manchmal hatte sie gleich zwei Freunde zur selben Zeit. Mit dem einen traf sie sich am Vormittag, den andern sah sie am Nachmittag oder am Abend.
Sie behauptete: »Kein Mann ist es wert, daß man auf ihn wartet. Glaube mir, Glynis, ich habe meine Erfahrung mit Männern. Ich bin zwar noch jung, aber auf diesem Gebiet bereits eine erfahrene Expertin. Männer sind immer nur auf das eine aus. Manche verstehen es geschickt zu verbergen, andere lassen dich keinen Moment darüber im unklaren, was sie vorhaben.«
»Tom ist nicht so«, widersprach ihr Glynis jedesmal.
»Ja, ja, ich weiß, Tom trägt einen Heiligenschein. Aber ich würde nicht einmal für ihn die Hand ins Feuer legen. Männer sind schwach. Wenn die Versuchung groß genug ist, fallen sie garantiert um.«
»Tom nicht!« erklärte Glynis.
»Nein, Tom natürlich nicht. Er ist die große Ausnahme. Er flog sauber nach Amerika, und genauso rein wird er in ein paar Jahren wiederkommen, denn die Mädchen in New York sind so häßlich, daß ihm schon übel wird, wenn er sie nur ansieht.«
»Liebe Güte, was redest du nur für dummes Zeug daher? Warum sollten die Mädchen in New York denn anders aussehen als in London, Paris oder Rom?«
»Also wenn dort drüben auch so hübsche Käfer umherlaufen wie hier, kann ich mir nicht vorstellen, daß Tom… Es sei denn, er ist mit Blindheit geschlagen.«
Glynis ärgerte sich immer, wenn Phyllis so sprach, und sie traf sich deshalb auch nicht mehr so häufig mit ihr wie früher, was Phyllis jedoch nicht hinderte, häufig anzurufen. Die Freundin hatte eine dicke Haut. Es störte sie nicht, daß Glynis nicht mehr so viel Zeit für sie hatte. Sie merkte nicht, daß Glynis den Kontakt bewußt reduzierte. Sie rief trotzdem an, und manchmal konnte sie die Freundin sogar zu einem Kinobesuch überreden.
Als sich Glynis auf halbem Weg zum Apparat befand, sagte ihre Mutter: »Laß nur, ich geh schon ran.« Deborah Windom nahm den Hörer ab und meldete sich.
Am anderen Ende war Arnold Laven, ein Geschäftsfreund von Harvey Windom, und ein Freund der Familie, wie er sich selbst bezeichnete. Doch Deborah Windom sah in ihm keinen aufrichtigen Freund.
Vielleicht war sein Charakter noch nie ganz einwandfrei gewesen. Vielleicht hatte ihn aber auch das Geld erst verdorben. Er verdiente gut, sein Bankkonto konnte sich sehen lassen, und er vertrat die Ansicht, daß man mit Geld alles kaufen könne, auch Menschen.
Er hatte in den letzten Jahren viel Glück gehabt. Welches Geschäft er auch anfaßte, es warf einen beachtlichen Gewinn ab. Der Erfolg verwöhnte ihn, und es gab auch genug Frauen, die es ihm sehr leicht machten. Es waren auch verheiratete Frauen darunter.
Frauen von Männern, mit denen er Geschäfte machte. Manchmal machte er ein Geschäft davon abhängig, wie die Ehefrau des Geschäftspartners zu ihm war. Er ließ sich ieden Gefallen honorieren. Entweder mit Geld oder mit irgendeiner anderen Gegenleistung.
Zu so einem Mann paßte die Bezeichnung »Freund der Familie« nicht, das war Deborah Windoms Ansicht, und sie ließ es Arnold Laven manchmal spüren, daß sie ihm nicht rückhaltlos vertraute.
Das machte ihm jedoch nichts aus. Er vertrat die Ansicht, daß jede Frau herumzukriegen wäre, man müsse nur den richtigen Zeitpunkt erwischen. Das galt auch für Deborah. Als er das ihr gegenüber einmal erwähnt hatte, hätte sie ihm beinahe eine Ohrfeige gegeben.
»Ach, du bist es«, sagte sie jetzt.
Laven lachte. »Ein bißchen mehr Begeisterung, wenn ich bitten darf. Schließlich ist Arnold Laven nicht irgend jemand. Ich bin für deine Kinder immer noch Onkel Arnold. Sie sind zwar schon zu groß, daß ich sie noch auf meinen Knien schaukeln kann, aber Onkel Arnold bleibe ich. Darauf bestehe ich.«
Onkel Arnold, dachte Deborah Windom. Sie erinnerte sich an ein Fest im kleinen Rahmen, das hier vor etwa zwei Monaten stattgefunden hatte. Onkel Arnold war einer der Gäste gewesen, und er hatte sich gehörig danebenbenommen. Wenn Harvey davon gewußt hätte, hätte es keinen Onkel Arnold mehr gegeben. Harvey hätte ihm die Freundschaft entzogen.
Laven war schon angeheitert eingetroffen und hatte munter weitergetrunken. Es war unglaublich, was er vertrug. Während die andern sich unterhielten, stahl er sich heimlich zu Deborah in die Küche.
Sie war erschrocken herumgefahren. Er lachte. »Habe ich dich erschreckt?«
»Was willst du hier? Gehe zu den andern, Arnold. Ich habe zu tun. Mach mich bitte nicht nervös.«
Er hob die Augenbrauen. »Oho, das ist ein gutes Zeichen, wenn ich dich nervös mache.«
»So habe ich das nicht gemeint.«
Er grinste. »Weißt du, daß du besonders hübsch aussiehst, wenn du verlegen bist? Die roten Wangen stehen dir ausgezeichnet.«
»Laß mich bitte in Ruhe, Arnold. Geh wieder zu den andern. Die Küche ist nicht groß genug.«
»Es ist Platz für uns beide, Deborah.«
»Eben nicht.«
Er trat auf sie zu. »Du bist eine äußerst attraktive Frau, Deborah.«
»Und du bist betrunken.«
»Das stimmt, aber nicht so sehr, daß ich nicht mehr weiß, was ich will.«
»Such es dir woanders.«
»Ich bin Gast in diesem Haus.«
»Dann benimm dich dementsprechend!« fuhr ihn Deborah Windom gereizt an. »Oder trink nicht so viel, wenn du's nicht verträgst. Hast du noch nie von der sprichwörtlichen Gastfreundschaft der Araber gehört? Wenn du in das Haus eines Arabers kommst, stellt dir der Hausherr zum Zeichen seiner Freundschaft seine eigene Frau zur Verfügung.«
»Ein Glück, daß wir in England leben, und nun verschwinde, bevor ich mit dir die Geduld verliere.«
Er nahm sie bei der Taille und zog sie an sich. Sein Atem roch stark nach Alkohol. »Gib mir einen Kuß, dann gehe ich.«
»Du wirst die Küche ungeküßt verlassen!«
»Nun komm schon, ziere dich doch nicht so. Was ist denn schon dabei? Es macht Harvey bestimmt nichts aus, wenn du mich küßt.«
»Aber mir macht es etwas aus.«
»Einmal ist keinmal.«
»Jetzt reicht es!« schrie ihn Deborah Windom an, als er ihr den Kuß rauben wollte. Sie riß sich von ihm los, griff nach der Fleischgabel und richtete die beiden blinkenden Spitzen gegen seine Brust. Sie war so aufgeregt, daß sie kaum noch wußte, was sie tat. Vielleicht hätte sie Arnold sogar verletzt, wenn er versucht hätte, sie noch einmal zu ergreifen.
Er lachte. »Wunderbar, Deborah. Mir gefallen Frauen, die sich wehren. Das gibt der Sache einen besonderen Reiz.«
»Hinaus mit dir!« befahl sie.
»Na schön, ich weiche der Gewalt. Vielleicht habe ich ein andermal mehr Glück.«
»Vielleicht habe ich ein andermal das Tranchiermesser in der Hand.«
»Nun mal ehrlich, Deborah, hättest du mit der Fleischgabel wirklich zugestochen?«
»Kann sein.«
Er verließ die Küche, und Deborah spürte, wie sie innerlich vibrierte. Dieser unverschämte Kerl hatte sie so sehr durcheinandergebracht, daß sie sogar weinte.
Nach diesem Abend hatte Arnold Laven längere Zeit nichts von sich hören lassen. Deborah vermißte ihn nicht. Als er dann anrief und sie am Apparat war, kam kein Wort der Entschuldigung über seine Lippen. Er bereute nicht im geringsten, was er getan hatte. Im Gegenteil, er würde es bei der nächstbesten Gelegenheit wieder tun.
Wenn sie ihrem Mann davon erzählt hätte, hätte dieser ihm sein Haus verboten. Deborah schwieg nur deshalb, weil Harvey von einer Geschäftsbeziehung mit Arnold profitierte.
Sie wußte, daß Arnold fest damit rechnete, sie irgendwann einmal zu besitzen, doch dazu würde es nie kommen. Arnold war nicht häßlich, aber Deborah ekelte sich trotzdem vor ihm. Es war sein Charakter, den sie widerlich fand.
Diesen Mann hatte Deborah Windom jetzt am Telefon.
Onkel Arnold.
Den Freund der Familie!
»Wie geht es der Frau meines besten Freundes?« erkundigte sich der Mann.
»Großartig«, sagte Deborah Windom. Es klang beinahe trotzig.
Ihre Tochter verließ das Wohnzimmer, und das war Deborah recht. So konnte sie Arnold – wenn nötig – ein paar Grobheiten sagen, die niemand außer ihm hörte.
»Behandelt dich Harvey immer noch gut?«
»Er betet mich an.«
»Wenn er das einmal nicht mehr tut, weißt du, wohin du gehen kannst. Meine Tür steht immer für dich offen, Deborah.«
»Mach sie zu. Durchzug ist ungesund. In deinem Alter muß man schon ein bißchen vorsichtig sein.«
»In meinem Alter? Was willst du damit sagen? Meine Liebe, ich bin ein Mann in den allerbesten Jahren. Ich kann dir das jederzeit beweisen, du brauchst nur ein Wort zu sagen. Bist du mit deinem Mann zufrieden?«
»Sehr.«
»Siehst du, und ich bin um ein ganzes Jahr jünger als er.«