Impressum
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel
»Ed’s Dead« bei Contraband, einem Imprint von Saraband, Schottland
© 2017 Russel D McLean
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Deutsche Erstausgabe
© 2018 der deutschsprachigen Ausgabe
Golkonda Verlag GmbH, München ∙ Berlin
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten.
Umschlaggestaltung: © s.BENeš [http://benswerk.wordpress.com]
Lektorat: Claudia Alt
Korrektorat: Anne-Marie Wachs
E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz
ISBN: 978-3-946503-47-7 (Buchausgabe)
ISBN: 978-3-946503-62-0 (E-Book)
Alle Rechte vorbehalten.
www.golkonda-verlag.de
Für Buchhändler überall.
Vor allem für die, die niemanden umgebracht haben.
Erster Teil: Die Leiche
1
Genau heute vor zwei Jahren ist meine Freundin verschwunden.
Nicht, dass jemand nachgeholfen hätte. Sie ist aus freien Stücken gegangen. Und wer könnte ihr das verübeln, nach allem, was passiert ist?
Die Zeitungen, die Blogger und die Fernsehsender behaupteten, sie hätte sich unter falschem Namen und mit einem Haufen Geld aus dem Staub gemacht. Das Geld stammte angeblich von ihrem Freund, einem Undercover-Bullen, der irgendwie illegal da drangekommen war.
Den einen Teil davon verstehe ich.
Den anderen nicht.
Aber was weiß ich schon?
Kat und ich, wir kannten uns, aber unterm Strich dann wohl doch nicht so gut. Wir trafen uns ab und zu mit ein paar gemeinsamen Freunden im Pub und ich war an dem Abend dabei, als sie ihren Freund kennenlernte – den, von dem sich dann herausstellte, dass er Undercover-Bulle war und es darauf abgesehen hatte, sich bei ihrer Familie einzuschleichen –, aber, ehrlich gesagt, weiß ich kaum was über sie, nur dass sie alle möglichen Sorten Weißwein mochte, außer Chardonnay. Das verband uns. Es gibt wackeligere Grundlagen für eine Freundschaft.
Oh, und sie hatte einen ziemlich guten Geschmack, was Männer anging. Jetzt mal abgesehen von dem Undercover-Typen, der total durchgedreht ist, ihre ganze Familie umgebracht hat und sich dann vom Acker machen wollte. Aber sonst hat er sie ziemlich gut behandelt. Außerdem waren sie nicht mehr zusammen, als er das getan hat. Er hatte sie schon abserviert, um näher an ihren Onkel heranzukommen, das eigentliche Ziel seines Einsatzes.
Manche Leute haben ein aufregendes Leben.
Ich wurschtle eher so vor mich hin.
Der Kerl da ist Reporter. Das sehe ich auf den ersten Blick. Der typische Gang und dann das Funkeln in seinen Augen, als er mich alleine am Tisch entdeckt. Verdammt – wusste er etwa, dass ich hier sein würde, oder hat er einfach nur Glück gehabt?
Wahrscheinlich wollte er bloß schnell einen Espresso trinken. Ich habe schon genug Probleme, ohne dass ich mir jedes Mal, wenn ich in ein Café gehe, einbilde, die Presse wäre mir auf den Fersen.
Ich versuche, ihn zu ignorieren. Starre stur geradeaus. Tue so, als würde ich auf jemanden warten. Aber er hat Blut gerochen. Und vielleicht sieht er die zweite Tasse nicht, oder er denkt, die hat jemand da stehen lassen. Er ist wie ein Wolf, der ein von der Herde verstoßenes Schaf entdeckt hat.
Ich sollte ihm sagen, dass er sich verpissen soll, bevor er auch nur den Mund aufmachen kann. Aber so bin ich nicht. Nie gewesen.
Gute, alte Jen. Das brave Mädchen. Immer höflich. Keine verborgene wilde Seite. Wozu sollte sie die auch brauchen?
Der Reporter sagt: »Sie kannten Kat Scobie.« Es könnte eine Frage sein, aber so, wie er es sagt, ist es eine Feststellung. Er braucht nicht zu fragen. Einer von der Sorte, die gerne nach Skandalen schnüffeln. Mittlerweile kenne ich so einige Typen von Reportern, ihre Einstellungen und Erwartungen.
Ein Fernseh-Interview. Ich dachte, das würde niemandem schaden. Ich dachte, ich könnte ein paar Missverständnisse aufklären.
Jetzt haben sie mich auf dem Kieker. Die Geschichte sollte längst Schnee von gestern sein, aber sie lassen einfach nicht locker. Vielleicht weil Kat jung und schön war und vermutlich die einzige Unschuldige in einer Familie von Kriminellen. Nach dem, was passiert ist, kann man sich das »mutmaßlich« wohl sparen.
Sie können sie nicht finden, und von denen, die direkt damit zu tun hatten, gibt keiner was preis. Also versuchen sie es bei Trotteln wie mir, die denken, sie tun was Gutes, wenn sie vor laufender Kamera sagen, was für ein nettes Mädchen Kat war.
Wenn ich gewusst hätte, was für einen Stress ich mir damit einhandele, hätte ich es nie getan.
Ich sehe aus dem Fenster. Leute gehen vorbei, die Schultern gegen den Regen hochgezogen. Ich halte nach Ed Ausschau. Hoffe, dass der Reporter kapiert, dass ich nicht alleine hier bin, und vor allem, dass ich nicht mit ihm reden will.
»Sie kannten sie, oder? Kat Scobie. Kommen Sie, ist doch kein Geheimnis. War ja schließlich im Fernsehen.« Ein leichter Hauch von Aggressivität. Nicht offensichtlich. Verborgen unter einem vorgeblich sachlichen Tonfall, als würde er lediglich Fakten aufzählen.
»Ja, ich kannte sie. Oberflächlich.« O Jen, was tust du? Warum redest du mit ihm? Steh auf und geh. Oder schick ihn in die Wüste. Lass dich nicht auf ein Gespräch ein. Das ist das Dämlichste, was du machen kannst.
»Aber Sie kannten sie?«
»Ich möchte in Ruhe meinen Kaffee trinken.« Bestimmtheit. Endlich. Wahrscheinlich ein bisschen zu spät.
Natürlich ignoriert er die Anspielung. Setzt sich mir gegenüber. Auf den Stuhl, auf dem keine fünf Minuten zuvor Ed gesessen hat. Der Kerl ist mager, mit schwarzen Haaren, die er mit Gel nach hinten gekämmt hat. Wahrscheinlich glaubt er, dass er damit cool wirkt, aber für mich sieht er eher aus wie ein Frauenschänder.
Ich versuche, mir meinen Abscheu nicht zu sehr anmerken zu lassen.
Er registriert die zweite Tasse vor ihm nicht.
Oder es ist ihm egal.
»Es ist jetzt fast zwei Jahre her, seit sie verschwunden ist. Haben Sie etwas von ihr gehört?«
»So nah waren wir uns nicht.«
»Keine Mail, keine SMS?«
»Wie ich schon sagte …« Mein Blick wandert zu etwas hinter seiner linken Schulter. Ich frage mich, ob es ihm auffällt.
»Das habe ich gehört, aber …« Er verstummt und blickt sich um.
Er bemerkt Ed und steht auf. Ed mustert erst ihn, dann mich, dann wieder den Reporter. »Wir zwei gehen jetzt mal vor die Tür«, sagt er.
Ed hält sich für taff. Eigentlich ist er ein Hungerhaken, aber mit den langen Haaren und den Klamotten weiß man nicht so genau. Er erinnert mich an die Bad Boys in den Hollywoodfilmen. In seiner Vorstellung ist er Johnny Depp. Manchmal rede ich mir ein, dass es stimmt.
Der Reporter sieht aus, als wüsste er nicht so recht, was er tun soll.
Ed ist klatschnass vom Regen. Seine schwarzen Locken kleben ihm am Kopf. Der Kerl würde sich in einen Taifun stellen, nur um eine rauchen zu können. Aber jetzt sieht er aus, als käme er direkt von den Dreharbeiten zu einem Horrorfilm, und dafür bin ich dankbar. Ein leicht eingeschüchtertes Gegenüber und er läuft zur Hochform auf.
»Wie heißen Sie?«
»Dan McCarthy, von der Evening News.«
»Okay, Dan«, sagt Ed. »Jetzt passen Sie mal auf …«
Ich schmunzele und trinke meinen Kaffee, während Ed Dan nach draußen führt. Ich schaue durchs Fenster zu. Nichts passiert. Niemand kassiert Prügel. Auf der Sauchiehall Street gehen die Leute vorbei, doch niemand beachtet die Auseinandersetzung, weil sie so leise abläuft. Die beiden stehen im Regen, Ed redet als Einziger, dann nickt er, als wäre alles geklärt, kommt wieder rein und setzt sich zu mir an den Tisch.
Ich schaue weiter aus dem Fenster.
Dan sieht mich an, doch als Ed sich zu ihm umdreht, schlägt er den Kragen hoch und verschwindet im Regen.
»Was hast du zu ihm gesagt?«
Ed grinst.
Eine von den Baristas geht an uns vorbei. Ein Mädchen um die zwanzig, das in allem gut aussehen würde, selbst in den Uniformen, die sie in solchen Cafés tragen müssen: formlose schwarze Hose, schlecht sitzendes Polohemd und diese albernen Caps, die aber wahrscheinlich immer noch besser sind als Haarnetze. Ed bemerkt sie. Hört auf, mich anzusehen.
Als wäre ich nicht mehr da.
Mittlerweile sollte ich mich eigentlich daran gewöhnt haben.
Innerhalb eines Fingerschnippens vom Ritter in schimmernder Rüstung zum Mistkerl.
Typisch Ed.
Ed tut so, als würden wir nach Hause fahren. Zu mir. Aber als wir im Taxi sitzen, nennt er dem Fahrer eine Adresse im East End – Bridgeton – und macht es sich neben mir bequem.
Ich sage nichts.
Natürlich nicht. Völlig zwecklos, mit Ed zu diskutieren, wenn er sich irgendwas in den Kopf gesetzt hat. Nicht dass er mich schlagen würde, wenn ich mich querstelle, er redet einen dann nur in Grund und Boden. Das ist seine Geheimwaffe. Als Verkäufer wäre er unschlagbar. Er hat das Talent, nahezu jedem nahezu alles aufzuquatschen.
Ich sage nahezu und das meine ich auch so. Der Dreier mit diesem Mädchen, das er letztes Jahr in einer Bar kennengelernt hat – Heidi hieß sie –, wird niemals stattfinden, ganz egal, was er mir erzählt und wie sehr er bettelt.
Der Fahrer zögert, als er die Adresse hört. »Sind Sie sicher?«
»Ja, bin ich. Hören Sie, ich gebe Ihnen was extra, wenn Sie da warten, okay? Ich muss bloß kurz …«
»Nee, lieber nicht.«
»Kommen Sie schon.«
»Ich hab keine Lust …«
»Nichts Illegales«, sagt Ed. »Ehrlich. Ich will nur einem Freund einen Gefallen tun und ihm was vorbeibringen.«
»So?«
»Ja, und anschließend fahren wir nach Partick, okay?«
»Partick?«
»Oben an der Hyndland Road«, sagt Ed, und jetzt knipst er seinen Charme ein. In seiner Stimme liegt etwas Samtiges, auf das man leicht reinfällt. Funktioniert nicht nur bei Frauen. Auch Männer glauben ihm meistens alles, was er sagt.
»Ich weiß nicht.«
»Leicht verdientes Geld für Sie«, sagt Ed.
»Und wenn irgendwas passiert?«, fragt der Fahrer.
»Ich kann auch ein anderes Taxi nehmen«, sagt Ed. »Ich bin nicht knauserig, was das Trinkgeld angeht.«
Darauf sagt der Fahrer nichts mehr. Ich höre ihn seufzen, aber er fährt los.
Ich sehe Ed an. Er erwidert den Blick und lächelt. Ein beruhigendes Lächeln, als wäre ich ein ängstliches Kind. Jetzt ist es zu spät, um zu protestieren. Ich will gar nicht wissen, warum wir ins East End fahren, aber ich gehe jede Wette ein, dass an diesem »Gefallen« etwas faul ist.
Diese Seite von Ed kannte ich von Anfang an. Er macht öfter Dinge, ohne groß über die längerfristigen Folgen nachzudenken. »Leb im Augenblick«, sagt er jedes Mal, wenn irgendwer seine Entscheidungen infrage stellt. Er raucht gerne, und nicht nur Tabak. Manchmal wirft er am Anfang des Abends eine kleine Pille ein. Er hat versucht, mich auch dazu zu überreden, aber das einzige Mal, als ich Ecstasy genommen habe, war ich achtzehn und wollte unbedingt dazugehören und alles, was ich dazu sagen werde, ist: Nie wieder.
Vielleicht bringt es manchen Leuten ja was. Mir nicht.
Mir wird schon übel, wenn ich nur daran denke.
Der Fahrer gibt Gas, um möglichst schnell bei der Adresse zu sein, die Ed ihm genannt hat. Die Ecke, in der wir landen, fühlt sich verlassen an, selbst für eines der ärmeren Viertel des East End.
Abseits der Hauptstraßen mit den Billigshops und den Schnapsläden mit kugelsicheren Scheiben herrscht totale Ödnis. Einige von den Häusern sind groß, aber sie sehen aus, als hätten die Leute schon lange aufgehört, sich darum zu kümmern. Als wir bei der genannten Adresse ankommen, hält der Fahrer nur zögernd an.
Ed zieht einen Umschlag aus seiner Jacke. »Sei ein Schatz«, sagt er zu mir. »Klopf an die Tür, frag nach Chris und gib ihm das hier.«
Ich frage nicht mal »Warum ich?«, sondern werfe ihm nur einen Blick zu.
»Wenn ich selbst gehe, will Chris garantiert reden und der Kerl kann einem echt ein Ohr abquatschen, verstehst du?« Er sieht mich mit großen Augen an – ein Trick, der bei mir jedes Mal funktioniert. Ich stehe schon seit jeher auf haselnussbraune Augen und seine können sehr groß und ausdrucksvoll sein, wenn er will.
Ich seufze.
Er lächelt.
Ich nehme den Umschlag. »Damit hab ich was bei dir gut«, sage ich.
»Lieb dich«, sagt er reflexartig und gibt mir einen schnellen Kuss. Ich gebe mir Mühe, nicht darauf zu reagieren.
Ich sehe, wie der Fahrer uns im Rückspiegel beobachtet. Vielleicht überlegt er, ob er etwas sagen soll, beschließt dann aber, was zwischen zwei Leuten hinten in seinem Taxi abläuft, geht ihn nichts an. Jedenfalls solange dabei keiner verletzt wird. Und vielleicht nicht mal dann.
Es hat aufgehört zu regnen, aber der Wind heult mir um die Ohren, als ich aus dem Taxi steige. Blödsinnige Idee. Hätte einfach Nein sagen sollen. Aber jetzt ist es zu spät.
Ich höre förmlich, wie meine Freundin Caroline mir sagt, ich soll aufhören, den Fußabtreter zu spielen, und mich wehren. Aber ich gehöre nun mal zu denen, die es immer allen recht machen wollen. Ich will, dass alle glücklich sind. Vielleicht habe ich einen Hang zum Märtyrertum, aber was kann ich schon dagegen tun?
Nicht viel.
Gib einfach den Umschlag ab. Denk nicht darüber nach, was da drin ist. Bring’s hinter dich und dann geh zur Tagesordnung über.
Der Vorgarten ist zugewuchert. Die Überreste eines Plattenwegs führen zur Haustür, aber er ist halb verdeckt vom Unkraut, das zwischen den Ritzen hervorwächst. Unter meinen Füßen knirscht Glas, aber ich sehe nicht nach unten. Ich will nicht wissen, ob ich auf Flaschenscherben trete oder auf die Überreste von Spritzen.
Ich komme bei der Tür an. Keine Klingel. Ich muss klopfen. Das tue ich, so laut ich kann, und denke dabei, das ist jetzt wirklich das letzte Mal, dass ich für Ed den Lakai spiele. In jeder Beziehung gibt es Grenzen. Zumindest bei normalen Leuten.
So kann es nicht weitergehen.
Ich will schon seit einer Weile mit ihm reden, und jetzt ist es wirklich fällig. Wenn es nur sein Alphamännchen-Gehabe wäre, wie vorhin mit dem Reporter, oder die Angeberei und gelegentlich ein bisschen Flirten, dann könnte ich damit leben. Aber obendrein noch sein Egoismus und seine krummen Touren, das ist einfach zu viel.
Schluss mit dem Fußabtreter, Jen. Wehr dich.
Die Tür wird geöffnet. Vorsichtig. Ein Gesicht taucht auf. Nicht gerade einnehmend. Picklige, vernarbte Haut und eine dicke Brille, die mit Klebeband zusammengehalten wird. Der Typ könnte alles zwischen dreißig und fünfzig sein. Sein rechtes Auge zwinkert immer wieder, aber es ist eindeutig kein Flirtversuch, sondern eine unwillkürliche Bewegung. Vielleicht Nervosität.
»Ja?«, sagt er. »Was ist?«
»Bist du Chris?« Er nickt. »Ich heiße Jen … Ich bin eine Bekannte von Ed.«
»Oh. Ah. Ja.« Stottern? Macke? Oder zugedröhnt? Könnte alles davon sein.
Ich reiche ihm den Umschlag. »Das hier soll ich dir geben.«
Er späht an mir vorbei zum Taxi. »Ist Ed da?«
»Wir müssen weiter.«
»Keine Zeit für den kleinen Mann, was?«, sagt Chris und schüttelt den Kopf. »Hoffentlich ist alles da.« Er hält den Umschlag hoch. Ich kann mir schon denken, was drin ist.
»Ich geh dann mal.«
»Er hat nicht gesagt, ob er noch was bestellen will?«
»Nein.«
»Gut. Soll erst mal den Rest bezahlen.« Er starrt auf irgendwas, das anscheinend nur er sehen kann.
Ich weiche einen Schritt zurück.
»Nett, dich kennenzulernen«, sagt Chris. Dann schwenkt er plötzlich seinen Arm und zaubert etwas aus dem Nichts hervor. Sein kleiner Zaubertrick. Es ist eine Visitenkarte. Er hält sie mir hin. Ich nehme sie, obwohl ich sie gar nicht will, aber ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. »Falls du mal irgendwas brauchst.«
»Danke«, sage ich, weil mir nichts Besseres einfällt, und stecke die Karte in meine Jeanstasche.
»Schönen Abend noch.«
Ich nicke und sehe zu, dass ich wieder zum Taxi komme.
»Ich mein’s ernst«, ruft er mir hinterher. »Keine Fragen. Kein Kommentar. Nur Service.«
Ich möchte lieber nicht darüber nachdenken, was für eine Art Service er meint. Ich will nur noch zurück ins Taxi und nach Hause.
Mit Ed reden.
Diesen Scheiß ein für alle Mal beenden.
2
Während der Rückfahrt sitze ich so weit von Ed weg, dass noch jemand zwischen uns passen würde. Er scheint es nicht zu merken und streckt immer wieder den Arm aus, um mit seinen langen Gitarristenfingern mein Bein zu berühren. Wahrscheinlich macht ihn meine sparsame Miene noch zusätzlich an.
Der Taxifahrer beobachtet uns im Rückspiegel. Nicht unbedingt so, als würde er auf eine heiße Nummer hoffen. Eher so, als ob er darauf wartet, dass es knallt.
Und das sollte es auch. Ich habe Ed etwas zu sagen. Etwas, das ich ihm schon eine ganze Weile sagen will. Der Abend heute ist eine Bestätigung für alles, für meine Gefühle, für das, was er mir antut.
Trotzdem mache ich wieder dieselben Fehler.
Wir sind kaum durch die Haustür, da begrapscht er mich schon. Mir ist nicht danach, ich denke immer noch an die Barista, an das, was in dem Umschlag war, was es mit diesem Chris auf sich hat. Während ich meine Wohnungstür im zweiten Stock aufschließe, überlege ich, ob ich ihm sagen soll, er schläft besser in seiner eigenen Bude. Und ich denke darüber nach, hier und jetzt mit ihm Schluss zu machen. Es ist mir egal, dass er im Café für mich eingetreten ist. Das hatte mehr mit seinem Ego zu tun als mit mir, eine Chance, den dicken Max zu markieren. Auf so was steht er, das törnt ihn an, deshalb ist er jetzt auch scharf (und natürlich wegen der Barista).
Ich versuche ihn abzuschütteln, aber er lässt nicht locker, und als wir im Flur sind, ist es passiert – mein Körper hintergeht mich, ignoriert alle vernünftigen Einwände meines Gehirns.
Es ist elektrisierend.
War es schon immer. Am Anfang dachte ich, es wäre Schicksal oder so. Wir waren zwei Objekte, die dazu bestimmt waren zusammenzustoßen. Trotz allem, was mich an ihm gestört hat, verlor ich die Kontrolle, sobald er mich berührte.
Wenn der Rausch vorbei ist, denke ich meistens, was für ein Fehler es war, ihn in mein Bett zu lassen. Und erst recht anderswohin.
Wir taumeln ins Wohnzimmer, er zieht meinen Slip runter und macht seine Hose auf, und wir tun es da, noch halb angezogen. Wie immer sieht er dabei nicht mich an, sondern irgendeinen Punkt ein paar Zentimeter neben meinem Kopf, als hätte er dort irgendwas gesehen, oder als würde er überhaupt nicht an mich denken.
Und ich weiß, dass er an die Kellnerin denkt und dass ich ihn ohrfeigen und ihn aus mir rausschmeißen sollte, aber, o Mann, das fühlt sich so elektrisierend an …
Er rollt sich von mir runter und ich ringe nach Luft.
»Du nimmst doch noch die Pille, oder?«
Ich nicke stumm. Ich weiß, dass er Kondome dabei hat, und ich weiß, dass ich Kondome in der Nachttischschublade habe, aber wenn er das mit mir macht, gehorcht mir mein Verstand nicht mehr. Das ist wohl mein Zugeständnis ans Risiko. Und es ist ein ziemlich großes.
»Wer war das?«, frage ich.
»Wen meinst du?«
»Den Typen, dem ich den Umschlag gegeben habe. Chris.«
Sogar im Dunkeln weiß ich, dass er grinst, auf diese Weise, die verrät, dass er mich für schwer von Begriff hält. Naiv wäre die nettere Formulierung. »Er ist einfach … Chris.«
»Ein Dealer?«
»Ja und nein. Wenn du irgendwas brauchst, gehst du zu Chris.«
»Drogen? Frauen? Waffen?«
»Ja, ja, und … gut möglich. Er ist einfach einer von diesen Typen, die jemanden kennen, der jemanden kennt. Aber er ist in Ordnung. Ich meine, du hast ihm schließlich nur einen Umschlag gegeben. Darauf steht nicht die Todesstrafe.«
»Und du hast es nicht selbst getan, weil …?«
»Wie ich schon sagte, weil er mich sonst zugequatscht hätte. Ehrlich.«
Ich richte meine Kleider, gehe ins Bad und schließe die Tür ab. Ich stehe eine Weile im Dunkeln da, bevor ich am Band der Neonröhre ziehe und mich im Spiegel betrachte.
»Verdammt, Jen«, murmele ich leise. Und im Gegensatz zu Ed sehe ich mir direkt in die Augen. »So viel zum Thema Schlussmachen.«
Ich wache nicht vom Wecker auf. Sondern von etwas, das sich an mich drückt, an meinen Po, sich daran reibt. Etwas Hartes. Und leider Vertrautes. Ein Arm schlängelt sich von meinem Bauch hoch zu meinen Brüsten.
Aber das Elektrisierende ist vorbei. Die ganze Energie, die mich gestern Abend dazu gebracht hat zu vergessen, warum ich so sauer auf ihn war, hat sich aufgelöst. Vielleicht war es nur das Adrenalin, der Kick, zu wissen, dass an der Sache mit dem Umschlag irgendwas faul war. Eine Mischung aus Sex und Verbotenem, Trieb und Gefahr.
Aber jetzt, am Morgen, ist alles anders. Vielleicht liegt es am Licht, das sich durchs Fenster hereinschleicht, oder an dem Traum, den ich hatte, wie er die Kellnerin in seiner Küche von hinten vögelt, mich dabei die ganze Zeit ansieht und mir zuzwinkert, als wäre es das Normalste von der Welt, und nicht versteht, wieso ich mich so aufrege.
Das Mädchen hat natürlich gegrinst und mich auch angesehen, als wäre das alles wahnsinnig witzig und ich die Einzige, die es nicht kapiert.
Schwesternschaft.
Solidarität.
Tja, wenn es um Ed geht, ist damit Schluss. Das sollte ich eigentlich wissen. Ich bin ziemlich sicher, dass ich ganz am Anfang die Andere war.
Ich schiebe ihn weg.
»Ich hab keine Lust.«
»Du hast immer Lust.«
Er gibt nicht auf. Seine Finger spielen auf mir, als wäre ich eine seiner kostbaren Gitarren. Aber meine Saiten geraten nicht ins Schwingen.
Ich stehe auf.
Scheiß drauf.
»Ich hab keine Lust.«
»Okay«, sagt er. »Schon gut.« Er steht auch auf. Stellt sich mit seinem Ständer völlig schamlos vor mich und spielt scheinbar geistesabwesend an sich herum. »Bist du sicher, dass ich dich nicht …«
»Geh einfach«, sage ich. Nicht ganz die Ansprache, die ich halten wollte, aber immerhin besser als sonst.
Er zuckt die Achseln, als wollte er sagen, selbst schuld, und verschwindet im Bad.
Ich ziehe mir was an, während er duscht – lieber Gott, hoffentlich ist das alles, was er macht –, und gehe in die Küche. Schiebe zwei Brotscheiben in den Toaster. Sehe auf die Uhr. Noch ungefähr zwei Stunden, bis ich los muss. Das sollte reichen.
Ich streiche gerade Butter auf den Toast, als er aus dem Bad kommt. Ich spüre seine Pose, bevor ich mich auch nur umdrehe. Ich tue so, als würde ich ihn gar nicht bemerken, aber wenn Ed auf die Art in einen Raum kommt, will er, dass man ihn fragt, warum.
»Ich finde, du solltest jetzt gehen«, sage ich.
»Okay«, sagt er. Obwohl er nicht mal angezogen ist. Hat sich nur eins von meinen Handtüchern um die Hüften geschlungen. In seinen Haaren glänzt noch das Wasser, und ein paar Tropfen fallen herunter. »Ich hab ja gekriegt, was ich wollte.«
Ich drehe mich um.
»Was?«
»Na ja, ein Mann hat seine Bedürfnisse.«
»Ich glaub’s nicht! In meiner Dusche?«
Er zuckt die Achseln.
»Ist nicht meine Schuld. Ich hab versucht, nicht dran zu denken, aber dann hab ich die Tasche gesehen. Die da drinnen an der Türklinke hängt.«
»Welche Tasche?«
»Die mit dem Mädchen drauf.«
Ich brauche einen Moment, bis ich kapiere, wovon er redet. Die Stofftasche, die ich mir in Venedig gekauft habe. Mit dem Bild darauf. Eine Frau, die lässig auf der Piazza sitzt: lange Beine, dunkle Sonnenbrille, blonde Haare, rote Lippen.
Aber stilisiert. Kunst. Nichts, wobei irgendwer auf die Idee käme … Ich meine … Nee, oder?
Er grinst. Anzüglich. Provozierend. Wie er es immer tut.
Aber jetzt zum letzten Mal.
Ich schleudere ihm den gebutterten Toast an den Kopf. Ein Teller oder Becher wäre besser gewesen, aber ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken. Den Toast hatte ich sowieso schon in der Hand.
Er wartet einen Moment, dann wischt er sich die Butter von der Stirn. »Ich geh dann wohl besser.«
»Ja«, sage ich, so ruhig ich kann. »Und komm nicht wieder.«
Wieder ein Lächeln. Eins, das sagt, o doch, er kommt wieder, ich kann ja nicht ewig sauer auf ihn sein.
»Ich mein’s ernst.«
Er sagt nichts, geht rüber ins Schlafzimmer.
Ich warte in der Küche. Grolle eine Weile still vor mich hin und beschließe dann, dass ich irgendwas tun muss, also hebe ich den Toast auf und werfe ihn in den Müll. Denke darüber nach, die Tasche gleich hinterherzuwerfen. So schön ich sie finde, ich glaube, ich kann sie nie wieder ansehen, ohne an ihn zu denken.
Als er aus dem Schlafzimmer kommt, zieht er den Reißverschluss seiner Jeans hoch und zwinkert mir zu.
Sobald er gegangen ist, schließe ich die Tür hinter ihm ab.
Dann gehe ich ins Bad.
Das Wort »Erleichterung« ist gar kein Ausdruck, als ich sehe, dass die Tasche unversehrt an der Türklinke hängt. Trotz all seiner Macken habe ich nicht geglaubt, dass er Spuren seiner Selbstbefriedigung hinterlassen würde. Aber auch wenn die Frau auf der Tasche unbesudelt ist – allein die Tatsache, dass er mich so geringschätzt, dass er zu der stilisierten Abbildung einer Frau auf einer Stofftasche wichst, sagt alles über ihn.
Ed.
Mannomann.
Aus irgendeinem Grund denke ich an den Reporter. Daran, wie die beiden draußen auf dem Gehweg standen. Dann denke ich, wovor verstecke ich mich eigentlich? Wenn der Trottel mir Geld dafür geben will, dass ich über eine Frau rede, die ich kaum kannte, dann soll er doch.
Außerdem muntert mich ein bisschen Extrakohle bestimmt auf.
3
»Eine Katastrophe, der Typ«, sagt Caroline, während sie ihren Spind abschließt.
Ich sitze am Tisch, trinke einen Kaffee und habe ihr gerade mitgeteilt, dass ich mit Ed Schluss gemacht habe. Das mit der Tasche habe ich ihr natürlich nicht erzählt.
Ich kann ihr nur zustimmen.
»Sei froh, dass du ihn los bist«, sagt sie. Dann schenkt sie sich auch einen Kaffee ein und setzt sich zu mir. Wir arbeiten beide die Schicht von halb elf bis sieben, was bedeutet, dass wir noch ein bisschen Zeit haben, bevor wir im Laden sein müssen.
»Und der Journalist?«
Ich schüttele den Kopf. »Eine Schnapsidee, oder?«
»Warte, bis du deine nächste Gehaltsabrechnung kriegst.« Sie grinst.
Ich sage nichts. Nein, es war eine Schnapsidee. Ich käme mir wie eine Betrügerin vor. Ich würde mir die ganze Zeit Gedanken darüber machen, was ich ihm erzählt habe. Und Sorgen, was passiert, wenn irgendwer, der für ihre Familie arbeitet, meine Worte aus dem Zusammenhang reißt.
Nein, ich halte mich besser aus alldem raus. Lebe weiter mein friedliches Leben.
»Und, hast du das Buch schon durch?«, frage ich.
Sie arbeitet sich seit fast vier Wochen durch ein Buch über die russische Geschichte. Lässt sich Zeit damit. Taucht richtig darin ein. Dazu noch der Kunstkurs. Sie hat ein ziemlich erfülltes Leben neben der Arbeit und ein Teil von mir ist ein bisschen neidisch.
Ich mache nicht viel, um mich weiterzubilden. Vor ein paar Jahren habe ich mal ein Seminar zum Korrekturlesen belegt, weil ich dachte, ich könnte vielleicht im Verlag arbeiten statt im Buchhandel, aber nach einer Weile wurde es mir zu langweilig und ich habe die Sache sausen lassen. Genauso mit meinem Roman. Genauso wie mit fast allem, was mich weitergebracht hätte.
Was sagt das über mich aus?
Das mit Ed habe ich jahrelang durchgehalten, aber alles, was gut für mich war, habe ich nach ein paar Monaten, manchmal sogar nach ein paar Tagen hingeschmissen.
»Noch nicht«, sagt sie lächelnd. »Ich bin eine ziemlich miese Buchhändlerin, was?«
Ich lächle ebenfalls. Sie ist eine unglaublich langsame Leserin, aber ihr Wissen macht das mehr als wett. Sie hat irgendwie ein Gespür für Bücher, selbst für die, die sie nicht gelesen hat. Einen sechsten Buchhändlersinn.
Ich sehe auf die Uhr. Seufze. Wir kommen eine Minute zu spät in den Verkaufsraum.
»Hör mal«, sagt Caroline. »Was hältst du davon, wenn wir heute nach Feierabend was trinken gehen und auf das Ende von Ed anstoßen? Oder nein, wir erwähnen den Kerl überhaupt nicht, okay?«
Ich nicke. »Okay.«
»Na, dann los«, sagt sie. »Verkaufen wir den Massen Literatur.«
Die Leute denken immer, wer Bücher verkauft, steht hinter einem Tresen, dekoriert das Schaufenster und plaudert mit alten Damen über das neueste Buch von Jeffrey Archer oder Dan Brown oder so. Sie denken, es ist ein leichter Job. Stressfrei. Etwas, das man als Hobby betreiben könnte.
Ich frage mich, ob das überhaupt irgendwann mal so war.
An den meisten Tagen hast du gut damit zu tun, die Kunden nicht zu erwürgen. Sie erwarten von dir, dass du alles weißt, selbst wenn sie das Buch, das sie suchen, nicht beschreiben können. Sie erwarten, dass du auf deinen beschränkten Regalmetern jedes lieferbare Buch bereithältst. Und keiner denkt daran, wie schwer Bücher sein können, wenn die Kartons zu vollgepackt sind. Der körperliche Aspekt wird – neben allem anderen – am meisten unterschätzt.
An diesem Tag verbringe ich den größten Teil meiner Schicht damit, eine Lieferung im Lager zu verbuchen und einzuräumen. Das mache ich gerne. Es ist geradezu hypnotisierend in seiner Gleichförmigkeit. Es lenkt mich ab. Außerdem hält es mich von den Leuten fern. Gerade heute würde ich dem Ersten, der mich nach dem »blauen Buch« fragt, »das ungefähr vor einem Jahr irgendwo im Schaufenster lag«, die Faust ins Gesicht rammen. Gott, ich klinge schon genau wie Ed.
Ich war nie ein gewalttätiger Mensch, aber während ich die Kartons in den Laden schleppe, um die Bücher einzusortieren, denke ich darüber nach, wie es wäre, Ed einen schönen altmodischen Faustschlag zu verpassen. Keine Ohrfeige. Nein, das wäre viel zu sanft. Einen richtig saftigen Schlag in die Fresse. Ihm vielleicht sogar die Nase brechen. Das täte gut, obwohl er die gebrochene Nase wahrscheinlich noch ausnutzen und vor solchen Schnepfen wie der kleinen Kellnerin einen auf verwegen und gefährlich machen würde.
Natürlich ist er auch ein bisschen gefährlich. Geht gar nicht anders, wenn man solche Freunde wie Chris hat. Das war ja einer der Gründe, warum ich damals überhaupt auf ihn abgefahren bin. Allerdings ist es bei ihm mehr Show als sonst was. Die Leute, die er kennt, sind mir nicht geheuer, aber Ed ist so was von harmlos, dass es im Grunde lachhaft ist.
Pech nur, dass er so verdammt gut reden kann.
»Jen?«
Wenn man an den Teufel denkt, schickt er seine Lakaien.
Ich stelle den Karton ab, den ich gerade in die Geschichtsabteilung bringen wollte. Hier, im hinteren Bereich des Erdgeschosses, sind wir ziemlich abseits von allen. Das gefällt mir gar nicht. Irgendwas an Big Dave macht mich nervös. Nicht nur die Art, wie er immer verstohlen in meinen Ausschnitt geiert, sondern dieses unbestimmte Gefühl, dass ein falsches Wort genügen würde und er würde jemandem den Hals umdrehen. Er ist echt massig. Er selbst würde sich wahrscheinlich als knuddelig bezeichnen, aber für die meisten anderen Leute wäre er schlicht fett.
Das kommt davon, wenn man den ganzen Tag auf dem Sofa hockt und Computerspiele spielt.
Ich habe keine Ahnung, wovon er eigentlich lebt. Irgendwie muss er sich seinen Lebensstil ja leisten können. Vielleicht hat er was geerbt. Oder er macht irgendwas mit Computern. Damit kennt er sich wirklich aus. Zumindest nehme ich das an, bei all dem Zeug, das in der Wohnung von ihm und Ed herumliegt – Drähte, Kabel, Kartons und so weiter.
»Hör mal, Dave«, sage ich, »wenn Ed dich hergeschickt hat …«
»Nö«, sagt er. »Wie kommst du darauf?«
Er weiß es noch nicht. Also kläre ich ihn auf. »Es ist aus«, sage ich. »Zwischen Ed und mir.«
»Oh«, sagt er. »Echt?«
»Ja.«
»Aber du hast immer noch seine Nummer, oder?«
»Du doch auch.«
»Aber er geht nicht dran.«
Weil er sich meinetwegen die Augen ausheult? Unwahrscheinlich.
»Ich weiß nicht, wo er ist«, sage ich. »Und es ist mir auch egal.«
»Schon gut«, sagt Dave. Er kommt näher. Will er mich womöglich umarmen? Um Himmels willen! »Ich glaub dir ja.«
Ich versuche, ruhig zu atmen, und trete einen Schritt zurück.
»Er ist ein Mistkerl«, sagt Dave. »Das weiß ich. Aber cool ist er auch, oder?« Ed hat immer behauptet, Dave würde für ihn schwärmen. Den Eindruck habe ich auch. Dave verehrt Ed wie eine Art Idol. Wahrscheinlich weil Ed die Frauen reihenweise zu Füßen fallen. Dave weiß nicht, wie er mit Frauen reden soll. Er stellt sich einfach so unglaublich ungeschickt an, dass man sich beim besten Willen nicht vorstellen kann, mit ihm ins Bett zu gehen.
»Ich weiß es wirklich nicht«, sage ich.
Dave nickt. »Okay, okay. Ich weiß, du hast jetzt anderes im Kopf, aber falls du ihn siehst, kannst du ihm sagen, dass er sich mal melden soll? Ich mache mir allmählich echt Sorgen.«
»In Ordnung«, sage ich. »Ich versuche, dran zu denken.«
Er grinst. »Danke«, sagt er. »Dann kommst du jetzt wohl nicht mehr so oft vorbei.«
»Sieht so aus.«
»Schade«, sagt er. »War nett, dich gekannt zu haben.«
»Gleichfalls«, sage ich und sehe rüber in den Laden, als hätte ich was Dringendes zu erledigen.
»Ich lass dich dann mal weiterarbeiten.«
Als er wieder im Laden verschwindet, frage ich mich, wieso ein Typ wie er mit jemandem wie Ed rumhängt. Und erst recht andersrum.
Ich glaube, ein paar Dinge an den Männern werde ich nie verstehen.
»Entschuldigen Sie?« Eine alte Frau holt mich aus meinen Gedanken. Sie wedelt mit einem Buch vor meinem Gesicht herum. Schwarzes Cover. Teaser: Was würden Sie tun, wenn …?
»Ja, bitte?«
»Ich möchte mich über dieses Buch beschweren.«
Mittlerweile müsste ich diese Leute auf hundert Meter erkennen können. Genau deshalb arbeite ich lieber im Lager. Ich bemühe mich, mir meinen Ärger nicht anmerken zu lassen, und lächle so freundlich wie möglich. »Was ist denn damit?«
»Haben Sie den ersten Satz gelesen? Ein Skandal!«
»Wie lautete er denn?«
Nach der Arbeit in der U-Bahn, auf dem Weg ins West End. Wir müssen uns beim Reden zueinander beugen, weil das Quietschen und Rattern der Waggons im Tunnel so laut ist.
»Was?«
»Der Satz, über den sie sich so aufgeregt hat.«
Ich sehe sie an. »Willst du das wirklich wissen?«
»Na klar.«
Ich hole tief Luft. Nicht unbedingt etwas, das ich laut rausposaunen möchte. Bei meinem Glück hält die Bahn wahrscheinlich genau in dem Moment an und dann hören mich alle.
Na gut, jetzt oder nie. »Ich lutschte zwölf Schwänze in Magaluf.«
Gott sei Dank scheint es niemand sonst gehört zu haben.
Caroline prustet los.
Ich lasse sie lachen.
Hinterher kann sie nicht aufhören zu grinsen. »Dass sie aber auch ausgerechnet das Buch genommen hat.«
»Hätte schlimmer sein können.«
»Echt?«
»Ich weiß nicht, ob du dich in der Belletristikecke umgeschaut hast. Ich glaube, Andy hat mal wieder auf eigene Faust bestellt. Da steht ein Buch mit dem Titel Swinger.«
»Nee, oder?«
»Doch. In Großbuchstaben, quer auf dem Cover.«
»Muss weiter hinten im Alphabet sein, wenn die Alte es nicht gesehen hat.«
»Vielleicht kommt sie morgen ja wieder.«
»Was für ein Glück, dass du frei hast.«
»Allerdings.«
»Dann lass uns so richtig einen heben, okay?«
Die Bahn rollt in Hillhead ein. Kommt ruckelnd zum Halten.
So richtig einen heben klingt gut. Ein Abend der Hemmungslosigkeit. Und der erste Abend seit Langem, an dem ich mich nicht fragen muss, was Ed wohl als Nächstes anstellt.
Alle Bedenken über Bord werfen.
Was soll denn schon groß passieren?
4
Ich bin irgendwo zwischen angeschickert und betrunken. Offenbar hat meine Stimmung Einfluss darauf, wie schnell der Prosecco wirkt. Als müsste er sich erst an dem ganzen angestauten Ärger vorbeischieben, bevor er irgendwas ausrichten kann. Normalerweise läge ich jetzt längst unter dem Tisch.
Liegt’s am Adrenalin?
Kann beim Extrem-Freund-Abschießen schon mal vorkommen.
Caroline sieht mich aufmunternd an. »Komm schon«, sagt sie. »Jetzt mach dich mal locker.« Dann wandert ihr Blick zur Seite und ich verrenke mir den Hals, um zu sehen, was sie abgelenkt hat.
Hätte ich mir denken können. Der Kellner. Zurückgegeltes Haar und babyblaue Augen. Ungefähr neunzehn oder zwanzig. Caroline und ich sind Anfang dreißig, aber das hindert sie nicht daran, ihn zu beäugen. Und ich muss zugeben, ich habe auch nichts gegen einen netten Anblick.
Aber dann denke ich an Ed und seine Schwäche für jüngere Frauen.
Noch einen Prosecco. Ich kippe das Glas runter, das ich mir gerade eingeschenkt habe. Aber keine Wirkung. Morgen früh werde ich es bereuen.
Lebe im Augenblick.
Bedauere nichts.
»Du solltest ihn nach seiner Nummer fragen«, sage ich.
»Nein, du solltest ihn fragen«, sagt sie. »Um dir Ed aus den Knochen zu vögeln.«
Ich lächle und nicke, aber das ist nicht so mein Ding. Es geht nicht um Sex. Aber ich weiß nicht, ob ich Caroline das erklären kann. »Wenn’s dir nichts ausmacht, würde ich mir Ed lieber aus den Knochen saufen.«
Sie erwidert nichts darauf und wir prosten uns zu.
Dann reden wir weiter, aber nicht mehr über Männer, sondern über die Arbeit und über Bücher. »Schreibst du eigentlich irgendwann deinen Roman?«, fragt sie.
Ich zucke die Achseln.
»Solltest du aber.«
»Ach, ich …« Der Satz endet, bevor ich ihm eine Chance gebe anzufangen. Was bereits erklärt, warum ich den Roman nie fertig gekriegt habe.
»Was hindert dich daran?«
Mir fällt keine Antwort darauf ein. Ich hatte immer vor zu schreiben. Habe mir sogar mal einen Agenten genommen, nachdem ich ein paar Kurzgeschichten in Zeitschriften und auf Websites untergebracht und ein Exposé zu meinem Großen Roman verfasst hatte. Aber daraus wurde nichts, weil ich nicht weiterkam. Trotz meiner detaillierten Pläne und Notizen und Zusammenfassungen war nach dem dritten Kapitel Schluss.
Fünftausend Wörter.
Toller Roman.
Woraufhin mir besagter Agent natürlich freundlich mitteilte, dass sich unsere Wege trennen würden. Ich habe nie jemandem davon erzählt und wenn mich jetzt jemand danach fragt, eiere ich irgendwie herum. Scham und Verlegenheit: zwei Eigenschaften, mit denen sich vermutlich alle Schotten herumschlagen.
Ich sehe Caroline an und vielleicht bin ich betrunken genug, um ihr zu antworten, doch in dem Moment kommt der Kellner wieder vorbei und meine Hand schießt nach oben, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. »Noch eine Flasche bitte!«
Die Welt dreht sich zu schnell.
Morgen früh wird mir das leidtun, aber jetzt laufe ich wie auf Proseccoperlen, fast als würde ich schweben.
Die Nacht hat eine unerwartete Leichtigkeit.
Ich weiß auch, warum. Weil Ed weg ist. Endgültig.
Selbst wenn er zurückgekrochen kommt – und das wird er garantiert –, weiß ich, dass ich nicht noch mal weich werde. Scheiß auf seine Spielchen. Seinen ganzen … Mist.
In einem Anfall von Übermut werfe ich mitten auf einer langen Straße voller alter Häuser, in denen hauptsächlich Rentner und Leute mittleren Alters wohnen, mit einer Handvoll Studenten hier und da, die Hände in die Luft und schreie: »Fick dich, Ed!« Meine Stimme hallt zwischen den Häusern wider.
Irgendwo geht das Licht an.
Ich kichere wie ein ungezogenes Kind und renne dann die Straße hinunter, bevor irgendwer rauskommen und mich zurechtweisen kann.
Manche Frauen hätten um diese Zeit Angst, alleine nach Hause zu gehen. Ich bin, was das angeht, immer pragmatisch gewesen. Halte dich an gut beleuchtete Straßen und Orte, die du kennst. Trag vernünftige Schuhe. Und mach das nur, wenn du betrunken genug bist, um dich sicher zu fühlen, aber nicht so betrunken, dass du einem Kerl nicht noch in die Eier treten könntest.
Caroline hält mich für verrückt. Vielleicht hat sie recht. Aber da ist dieser Gedanke, dass man nicht klein beigeben darf. Die Angst gibt solchen Typen Macht.
Ich bin nur zehn Minuten von meiner Wohnung entfernt, und ich kenne diesen Teil der Stadt in- und auswendig. Im East End oder in der South Side würde ich es mir vielleicht zweimal überlegen, aber hier im gepflegten West End kenne ich die Statistiken. Natürlich passieren hier auch schlimme Sachen, aber mein Dad hat immer gesagt: Manchmal kannst du so vorsichtig sein, wie du willst, und du kriegst trotzdem was ab.
So ist nun mal das Leben.
Wie fast immer begegne ich auch an diesem Abend auf dem Heimweg niemandem, außer ein paar Leuten, die draußen vor dem Quarter Gill stehen, nicht weit von meiner Wohnung entfernt. Sie rauchen und interessieren sich mehr für ihre Gespräche als für mich. Nur ein Typ mit ganz kurzen weißen Haaren und einer feinen Narbe unter dem einen Augen sieht zu mir herüber und verzieht seine Lippen zu einem Lächeln, das er wohl für freundlich hält. Ich wende den Blick ab und gehe schneller.
Bin ich paranoid?
Wohl nicht mehr als sonst.
Als ich in meine Straße einbiege, drehe ich mich um. Doch da ist niemand.
Absolut niemand.
Schön. Soll mir recht sein.
Ich hole tief Luft und gehe auf meine Haustür zu. Ich brauche zwei Anläufe, um den Schlüssel ins Schloss zu kriegen, aber dann bin ich drinnen. Ich trotte die Treppe hinauf und bereite mich auf den Kampf mit dem Schloss meiner Wohnungstür vor.
Doch dazu kommt es nicht.
Die Tür ist bereits offen.