Holly Bourne

Spinster Girls

Was ist schon normal?

Roman

Aus dem Englischen von Nina Frey

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Holly Bourne

© Jonny Donovan

Holly Bourne, geboren 1986 in England, hat erfolgreich als Journalistin gearbeitet, bevor sie das Schreiben von Jugendbüchern zu ihrem Beruf machte. Mit den Wünschen und Sehnsüchten von Jugendlichen kennt sie sich gut aus, da sie auf einer Ratgeber-Webseite viele Jahre lang Beziehungstipps an junge Leute von 1625 Jahren gab.

 

 

Nina Frey, geboren in Heidelberg, studierte Anglistik und Germanistik in Hamburg. Sie arbeitete lange im Kunsthandel in Hamburg, London und Berlin. Heute lebt sie als freie Übersetzerin in Wien.

Über das Buch

ALLES, WAS EVIE WILL, IST NORMAL ZU SEIN.

Und sie ist schon ziemlich nah dran, findet sie. Denn immerhin wurde die Dosis ihrer Medikamente reduziert, sie geht wieder zur Schule, auf Partys und hat sogar ein Date. Letzteres entpuppt sich zwar als absolutes Desaster, dafür aber lernt sie währenddessen Amber und Lottie kennen, mit denen sie den Spinster Club gründet. Regelmäßig diskutieren die drei Mädchen dort über Rollenzwänge, Gender-Fragen und die süßen, aber total idiotischen Typen aus der Schule. Doch schafft Evie es auch, mit ihren neuen Freundinnen über ihre Krankheit zu sprechen?

 

EIN SPINSTER GIRL SEIN HEISST:
1. Sich für niemanden zu ändern, besonders nicht für einen Jungen!
2. Immer (laut) seine Meinung zu sagen, auch wenn sie nicht jedem passt!
3. Sich um seine Freundinnen zu kümmern und sie durch alle Hochs und Tiefs zu begleiten!

Impressum

Diese Übersetzung wurde mit einem Übersetzerstipendium der Stadt Wien gefördert.

 

 

 

Deutsche Erstausgabe

© 2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2015 Holly Bourne

Titel der englischen Originalausgabe: ›Am I normal yet?‹

2015 erschienen bei Usborne Publishing Ltd. London

© für die deutschsprachige Ausgabe:

2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: dtv / Katharina Netolitzky

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43481-2 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71797-7

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423434812

Fußnoten

[1]

Jupp, ich hab noch nicht mal deinen Namen geändert. Tut mir kein bisschen leid.





Für meine Eltern (wieder mal),
die mich stark gemacht haben.

GENESUNGSTAGEBUCH

Normalwerdetagebuch

Datum: 18. September

 

Medikation: 20 mg Fluoxetin Runter von 40 mg – Yaaaay!

 

Gedanken/Empfindungen: Bin ich schon normal?

 

Hausaufgaben:

Evies Hausaufgaben:

  • Sicherstellen, dass keiner auf der neuen Schule auch nur irgendwas davon erfährt

  • Ein neues normales Leben anfangen und nachholen, was du die letzten drei Jahre verpasst hast.

Normal heißt mit 16:

  • College

  • Freunde (die einen nicht sitzen lassen, weil man zu sehr nervt)

  • Einen Freund? Wenigstens den ersten Kuss?

  • Partys? Spaß?

Eins

Alles begann mit einer Party.

Wir reden hier nicht einfach von irgendeiner Party. Wir reden hier von meinem ersten Date. Also meinem allerersten Date überhaupt. In meinem ganzen Leben. Weil ich jetzt endlich, nach all dem Mist, den ich durchgemacht hatte, dafür bereit war.

Sein Name war Ethan und er stand auf die Smashing Pumpkins (was auch immer das sein soll) und hatte es bereits geschafft, sich einen richtigen Dreitagebart zu züchten. Und er fand mich gut genug, um mich nach Soziologie zu fragen, ob wir zusammen weggehen wollten. Und lustig war er. Und er hatte so richtig winzige, aber hübsche dunkle Augen, wie ein Frettchen oder so. Aber ein sexy Frettchen. Und er spielte Schlagzeug und Geige. Beides! Obwohl das ja zwei völlig unterschiedliche Instrumente sind. Und, und …

… und, Himmelherrgott, was zum TEUFEL sollte ich bloß anziehen?

Schön, dann stresste ich eben rum deshalb. Und steigerte mich rein. Reinsteigerungsstress hoch tausend. Auf erbärmlichste Weise. Aber für mich war das eben eine Riesensache. Endlich würde ich einmal was NORMALES tun. Und wahrscheinlich würde ich das auch gerade eben noch hinkriegen. Und ich wusste durchaus, was ich anziehen würde. Vor meinem geistigen Auge hatte ich bereits jede mögliche Kleidungskombi der Welt abgespult und mich schließlich für enge Jeans, ein schwarzes Oberteil und eine rote Halskette entschieden, also das, was mir als das ungefährlichste Outfit der Menschheitsgeschichte erschien.

Ich würde wieder normal sein. Und ich würde mich ganz vorsichtig hineinwagen, Schritt für Schritt.

Das Outfit

Jeans = Cool, genau wie alle anderen, und »Ich steig bestimmt nicht gleich mit dir ins Bett, also schlag dir das gleich mal aus dem Kopf, Freundchen«.

Schwarzes Oberteil = Macht schlank – ja, ich weiß … tja, war eben meine erste Verabredung und von den Medikamenten war ich ein bisschen … aufgedunsen.

Rote Kette = Ich kann durchaus sexy sein, zum Beispiel wenn du brav gewesen bist, und dann in sechs Monaten, wenn ich so weit bin und du mir gesagt hast, dass du mich liebst, und ein paar Kerzen angezündet hast und all das andere Zeugs gemacht hast, das im wahren Leben wahrscheinlich eh nicht vorkommt …

… Ach ja, und wenn du rundum tiefengereinigt worden bist und zehnmal auf Geschlechtskrankheiten untersucht.

Nettes – ungefährliches – Outfit. Zieh’s an, Evie. Zieh die verdammten Sachen halt einfach an. Also tat ich es.

*

Bevor ich jetzt erzähle, wie es gelaufen ist und wie damit etwas begonnen hat, wenn auch nichts mit mir und Ethan, da wollt ihr wahrscheinlich wissen, wie ich ihn kennengelernt habe, damit ihr emotional mitgehen könnt.

Ach Mist. Jetzt hab ich verraten, dass es nichts geworden ist mit Ethan und mir.

Egal. Welche große Liebesgeschichte hat schon einen Helden, der aussieht wie ein sexy Frettchen?

Evie und Ethan: Wie alles anfing

Neue Schule. Ich war nun auf dem College, wo mich nur eine Handvoll Leute als das Mädchen kannten, das »plötzlich irre« geworden war. Trotz meiner eher schmalen Sammlung an GCSEs, die ich überwiegend durch Privatunterricht erlangt hatte, durfte ich mich jetzt hier auf meine A-Levels vorbereiten, weil ich eigentlich ganz schlau bin, wenn ich nicht gerade in der Geschlossenen sitze.

Ethan fiel mir gleich in meiner allerersten Soziologiestunde auf. Hauptsächlich, weil er der einzige Junge dort war. Und weil er, wie bereits erwähnt, den Bonus der dreitagebärtigen Frettchensexyness hatte.

Er saß mir gegenüber und unsere Blicke trafen sich beinah auf Anhieb.

Ich schaute mich um, um rauszufinden, wen er da anstarrte. Hinter mir saß niemand.

»Hi, ich bin Ethan«, sagte er mit einem kleinen Winken.

Ich winkte etwas steif zurück. »Hi, ich bin Evelyn … Evie. Immer Evie.«

»Hast du schon mal Soziologie gehabt, Evie?«

Ich blickte runter auf mein nigelnagelneues Arbeitsbuch mit seinem völlig glatten Rücken.

»Äh, nein.«

»Ich auch nicht«, sagte er. »Soll aber total easy sein. Eine nachgeschmissene Eins, oder?« Er grinste mich breit an und in mir spielten sich seltsame Dinge ab. So heftig, dass ich mich hinsetzen musste – nur, dass ich schon saß und deshalb nur irgendwie verlegen auf dem Stuhl herumwackeln konnte, in Panik ausbrach und das mit einem Kichern zu überspielen versuchte. »Warum hast du’s gewählt?«, fragte er.

Eine Frage. Fragen beantworten kannst du, Evie. Also lächelte ich und sagte: »Ich dachte, es ist ungefährlicher als Psychologie.«

Ups. Nachdenken. Immer erst nachdenken, dann antworten.

Unter seinem wilden Haarschopf legte sich sein Gesicht in Falten. »Ungefährlicher?«, wiederholte er.

»Ach, du weißt schon«, versuchte ich zu erklären. »Ich … äh … also … Ich brauch echt keine zusätzlichen Anregungen.«

»Was für Anregungen?«

»Ich bin sehr leicht zu beeinflussen.«

»Sag schon, was für Anregungen?« Er reckte sich interessiert über den Tisch. Oder war er verwirrt?

Ich zuckte die Achseln und fummelte an meiner Tasche herum.

»Nun, in Psychologie lernt man genau, was im Hirn alles falsch laufen kann«, sagte ich.

»Und?«

Ich fummelte noch ein bisschen intensiver an der Tasche herum. »Na, dann lernt man noch viel mehr Sachen, vor denen man Angst haben muss, oder? Wie dieses – hast du schon mal was von Körperintegritätsidentitätsstörung gehört?«

»Körperintegridentiwas?«, fragte er und lächelte wieder dieses Lächeln.

»Integritätsidentitätsstörung. Da wacht man eines Tages auf und ist völlig davon überzeugt, dass man mit zwei Beinen ein Bein zu viel hat. Plötzlich hasst man sein überflüssiges Bein und möchte es sich unbedingt amputieren lassen. Es gibt tatsächlich Patienten, die tun so, als wären sie amputiert! Und die einzige Heilung besteht darin, sich illegal von einem speziellen Beinabhackarzt ein Bein abhacken zu lassen. Und eine BIID, so nennt man das, entwickelt man meist erst Anfang zwanzig. Wir könnten’s beide noch kriegen. Wir können es nicht wissen. Wir können nur hoffen, dass wir eine stabile emotionale Bindung zu unseren Gliedmaßen behalten. Deshalb vermut ich mal, Soziologie ist ungefährlicher.«

Ethan brach in lautes Gelächter aus, worauf alle anderen Mädchen in meiner neuen Klasse sich umdrehten und in unsere Richtung schauten.

»Ich glaube, Soziologie mit dir wird mir Spaß machen, Evie.« Er zwinkerte mir fast unmerklich zu und legte den Kopf forsch auf die Seite.

Mein Herz begann heftig zu pochen, aber nicht wie sonst wie ein Insekt in der Falle. Anders. Neu. Gut.

»Ähm … sehr freundlich.«

Die ganze restliche Stunde verbrachte Ethan damit, mich anzustarren.

So lernten wir uns kennen.

Ich blickte mein Spiegelbild an. Erst von ganz nah, mit an den Spiegel gedrückter Nase. Ich trat zurück und schaute noch mal hin. Dann schloss ich die Augen und schlug sie ganz plötzlich wieder auf, um mich mittels Überraschungseffekt in eine unvoreingenommene Einschätzung reinzutricksen.

So übel sah ich gar nicht aus.

An meinem Spiegelbild konnte man definitiv nicht ablesen, wie nervös ich war.

Mein Smartphone piepste und mein Herz veranstaltete ein kleines Erdbeben.

Hey, grad in den Zug gestiegen. Freu mich auf später. x

Er war unterwegs. Es passierte wirklich. Dann sah ich meine Handyuhr und brach in Panik aus. In sieben Minuten wäre ich zu spät dran. Ich warf alles in meine Tasche und rannte ins Bad, um Zähne zu putzen und Hände zu waschen.

Kaum war ich fertig, geschah es.

Unguter Gedanke

Hast du sie auch richtig gewaschen?

Ich wäre beinahe vornübergekippt. Es war, als hätte mir jemand eine Stricknadel in die Eingeweide gerammt.

Nein, nein, nein, nein, nein.

Und da war schon der nächste, der mitfeiern wollte.

Unguter Gedanke

Wasch sie gleich noch mal, nur zur Sicherheit.

Jetzt kippte ich wirklich vornüber, mein Körper faltete sich in sich zusammen und ich klammerte mich am Waschbeckenrand fest. Sarah hatte mich davor gewarnt, dass das passieren könnte. Dass die Gedanken wiederkehren könnten, wenn ich die Dosis reduzierte. Ich solle damit rechnen, hatte sie gesagt. Dass das aber in Ordnung sei, weil ich jetzt »Bewältigungsstrategien« hätte.

Meine Mutter klopfte an die Badezimmertür. Wahrscheinlich hatte sie wieder heimlich die Eieruhr gestellt – alles über fünf Minuten war ein Alarmsignal.

»Evie?«, rief sie.

»Ja, Mum«, rief ich zurück, immer noch in mich verknotet.

»Alles okay da drinnen? Wann musst du los zu deiner Party?«

Sie wusste nur von der Party. Sie wusste nicht, dass ich eine Verabredung hatte. Je weniger Mum wusste, desto besser. Meine kleine Schwester Rose war eingeweiht, hatte aber geschworen, nichts zu verraten.

»Alles gut. Bin gleich so weit.«

Ich hörte, wie ihre Schritte durch den Flur verhallten, und atmete langsam aus.

Logischer Gedanke

Alles okay, Evie. Du musst deine Hände nicht noch mal waschen. Du hast sie doch gerade erst gewaschen. Komm schon, auf geht’s.

Wie ein braver Soldat richtete ich mich auf und schloss ruhig die Badezimmertür auf. Aber erst, nachdem sich noch eine letzte technische Hirnstörung nach vorne gedrängelt hatte, um einen Abschiedsschuss abzufeuern.

Unguter Gedanke

Oh, oh, es geht wieder los.

Zwei

Nach einem jämmerlichen Dauernieselregensommer hatte sich der September bisher mustergültig aufgeführt. Die Lederjacke ließ ich mir auf dem Spaziergang zum Bahnhof über die Schulter baumeln. Es war mild und immer noch hell, Kinder sausten auf Rollerblades über die Gehwege, Eltern saßen mit Abendbieren im Vorgarten.

Ich war ein Nervenbündel.

Ich hatte ihn nicht ganz alleine abholen wollen. Aber Jane – die VERRÄTERIN – wurde mit dem Auto zur Party kutschiert, vom Freundinnendieb – pardon, ich meine Joel.

»Du brauchst mich jetzt nicht ernsthaft, um dein Date abzuholen«, hatte Jane gesagt, ekelhaft süßlich. »Ist das nicht ein bisschen … unreif?«

Ich persönlich fand es weitaus unreifer, sich sein naturblondes Haar rabenschwarz zu färben, nur um gegen seine völlig harmlosen Eltern zu rebellieren – wie Jane es getan hatte. Aber das sagte ich ihr nicht. Ich starrte nur meine Füße an, damit ich mir ihre gönnerhaft zusammengepressten Kajalaugen nicht geben musste.

»Ich dachte nur, vielleicht ist es cool, wenn wir alle zusammen da aufschlagen?«, entgegnete ich. »Du und Joel. Ethan und ich. So als Gruppe, weißt du?«

»Süße, der will mit dir allein dorthin. Vertrau mir.«

Früher hab ich Jane vertraut …

Ich hab meinem Urteil getraut.

Ich hab meinen Gedanken getraut.

Die Dinge ändern sich.

Und heute fuhren die Dinge Karussell.

Was, wenn Ethan nicht auftauchte? Was, wenn das hier der schlimmste Abend der Weltgeschichte wurde? Was, wenn er merkte, dass ich spinne, und das Interesse verlor? Was, wenn ich nie jemanden finden würde, der es mit mir aushält? Ja, stimmt schon, mir ging’s wieder besser, aber trotzdem war ich immer noch … ich.

Mir fiel ein, was Sarah mir zum Thema Dates erzählt hatte.

Sarah zum Thema Dates

»Ich hab ein Date«, sagte ich zu ihr.

Ich saß auf meinem Lieblingssessel in ihrem Büro und zwirbelte die langen Ohren eines Plüschhasen zusammen, sodass er im Kreis herumwirbelte. Sarah machte auch Familientherapie, weshalb es hier immer tonnenweise Zeug zum Dranrumspielen gab, wenn sie mir unangenehme Sachen sagte.

Therapeuten überraschen ist ein Ding der Unmöglichkeit – seit zwei Jahren war ich jetzt bei ihr und das hatte ich früh gelernt. Trotzdem richtete sich Sarah in ihrem Ledersessel auf.

»Ein Date?«, fragte sie mit völlig neutraler, therapiemäßiger Stimme.

»Dieses Wochenende. Ich nehm ihn mit zu einer Party.« Das Häschen drehte sich immer schneller und ich musste einfach lächeln. »Wahrscheinlich kein richtig datiges Date. Also, keine Kerzen oder Rosenblätter oder so was.«

»Mit wem ist denn dieses Date?«

Sarah machte sich Notizen auf ihrem großen DIN-A4-Klemmhefter, wie immer, wenn ich etwas Interessantes von mir gab. Es kam mir schon wie eine Leistung vor, wenn ich sie dazu brachte, ihren Bic-Kuli rauszuholen.

»Ethan aus meinem Soziologiekurs.«

»Gut, und wie ist Ethan so?«

Mein Bauch fing an zu sprudeln und mein Lächeln verteilte sich margarinegleich übers ganze Gesicht.

»Er ist Schlagzeuger. Und er glaubt, vielleicht ist er Marxist. Und er findet mich lustig. Gestern hat er doch echt gesagt: ›Evie, du bist so lustig.‹ Und …«

Sarah fiel mir ins Wort. Mit ihrer Standardfrage.

»Und wie fühlst du dich dabei, Evelyn?«

Ich seufzte und dachte einen Moment darüber nach.

»Es fühlt sich gut an.«

Der Bic-Kuli setzte sich wieder in Bewegung.

»Warum fühlst du dich dadurch gut?«

Ich versenkte das Häschen in der Spielzeugtonne und kippte im Sessel nach hinten beim Versuch, eine Antwort zu finden. »Ich hätte nie gedacht, dass mich mal ein Typ gut finden würde … glaub ich. Wegen dem Ganzen hier oben …« Ich tippte mir ans Hirn. »Und außerdem wär es schon schön, einen Freund zu haben … wie alle anderen …« Mein Satz blieb in der Luft hängen.

Sarah kniff die Augen zusammen und ich hielt mich bereit. Zwei Jahre hatten mich gelehrt: Je schmaler das Auge, desto unverblümter die Frage.

»Schön vielleicht, aber glaubst du, dass es momentan das Gesündeste für dich wäre?«

Ich stand auf, sofort auf hundertachtzig.

»Hey! Warum kann ich nicht einmal eine einzige normale Sache haben? Schauen Sie doch mal, wie viel besser es mir geht. Meine Medikamente werden abgesetzt. Ich geh jeden Tag in die Schule. Meine Noten sind gut. Letzte Woche hab ich sogar meine Hand in den Mülleimer gehalten, schon vergessen?«

Ich ließ mich wieder in meinen Sessel zurückplumpsen, in der völligen Gewissheit, dass mein dramatischer Ausbruch einfach verpuffen würde. Und natürlich: Sie blieb völlig gelassen.

»Etwas Normales zu wollen, ist völlig normal, Evie. Ich verweigere dir das ja gar nicht und ich sage auch nicht, dass du das nicht tun kannst oder solltest …«

»Sie könnten mich ja eh nicht dran hindern, ich bin ein freier Mensch.«

Schweigen, um mein Ins-Wort-Fallen zu bestrafen.

»Ich sage nur eins, Evie: Du machst das hervorragend. Das hast du selbst gesagt. Aber …« Sie tippte mit ihrem Kuli auf dem Klemmbrett herum und rollte ihre Zunge in der Wange. »Aber … Beziehungen bedeuten Chaos. Besonders Beziehungen mit Jungs im Teenageralter. Sie können dazu führen, dass man viel zu viel über sich nachdenkt und viel zu viel Selbstanalyse betreibt und unglücklich mit sich ist. Und sie können dazu führen, dass selbst das ›normalste‹« – sie machte Luftanführungszeichen – »Mädchen sich fühlt, als würde es durchdrehen.«

Ich dachte einen Moment lang nach. »Dann sagen Sie also, Ethan wird mich vermurksen?«

»Nein. Ich sage, dass Jungen und Mädchen sich in Beziehungen gegenseitig vermurksen. Ich will nur sicher sein, dass du stark genug bist, um mit diesem Murks zurechtzukommen, neben all dem, was sonst noch läuft.«

Ich faltete die Arme vor der Brust.

»Und ich geh trotzdem auf dieses Date.«

Zu Fuß zum Bahnhof zu gehen dauerte eine Weile. Die Sonne ging langsam unter und tauchte den Himmel in lila Tinte. Dort, wo ich wohne, gibt es viel Himmel. Die meisten Häuser stehen einzeln auf großen Gartengrundstücken. Im Stadtzentrum gibt es einen Starbucks und einen Pizza Express, ein paar Kneipen und das übliche Programm, aber es ist und bleibt bloß eine Insel des Umtriebs in der endlosen Speckgürtelsee.

Ethan hatte mir noch eine Nachricht geschickt, um mir zu sagen, wann sein Zug ankommen sollte. Er wohnte ein paar Käffer weiter. Die Zugfahrt dauerte genau 19 Minuten.

Unguter Gedanke

Was, wenn er sich im Zug an einer Haltestange festhält?

Was, wenn jemand mit dem Norovirus in die Hände geniest hat und sich vorher an genau derselben Stelle wie Ethan festgehalten hat?

Was, wenn Ethan dann meine Hand hält?

Ich kam völlig grundlos ins Straucheln, fast hätte es mich voll hingelegt. Diese Verabredung blies tatsächlich jede Menge frischen Murks in mein Hirn. Aber, wie üblich bei meinem Hirn: »Normaler« Murks war es nie.

Normale Bedenken vor der ersten Verabredung (stell ich mir vor)

Wird es peinlich?

Wird er/sie mich gut finden?

Wie sehe ich aus?

Werde ich sie/ihn mögen?

Diese Punkte kreiselten alle schon den GANZEN TAG auf dem Neurosenkarussell in mir, aber dazu hatte ich auch noch dumme, dumme ungute Gedanken zu dummen, dummen Bakterien. Wie – verdammt noch mal – immer.

Um mich abzulenken, spulte ich noch mal im Kopf ab, wie es zu diesem ersten Date zwischen Ethan und mir gekommen war.

Wie es zum ersten Date zwischen Ethan und mir kam

Zur zweiten Soziologiestunde war er mit einem verdammt selbstzufriedenen Lächeln erschienen.

»Hey«, sagte ich schüchtern, als er sich mir gegenübersetzte.

»Alien-Hand-Syndrom«, entgegnete er mit selbstgewissem Nicken.

»Hä?«

»Was Neues, wovor du dich fürchten kannst. Alien-Hand-Syndrom.«

Er wusste noch, worüber wir gesprochen hatten! Und er hatte sogar eigenständig recherchiert! Ich grinste und legte den Kopf schief. »Ach ja? Und was soll das bitte sein?«

Moment mal – WAS ZUM TEUFEL IST DAS ALIEN HAND-SYNDROM? KANN ICH MIR DAS EINFANGEN?

»Was total Schräges.« Er fuchtelte wild mit seinen Händen herum. »Das ist eine neurologische Störung, bei der deine Hand so was wie ihr eigenes Gehirn entwickelt und von ganz alleine ständig irgendeinen Scheiß anstellt.« Er griff sich an den Hals und tat so, als würge er sich selbst.

»Was, macht sie etwa von alleine den Pfadfindergruß oder irgendwelche Tanzmoves und so weiter?«, fragte ich, um meine innere Drohkulisse zu verhüllen.

Unter meinem nervösen Lachen ließ er seine Hände vor meiner Nase herumtanzen. »Könnte sein. Aber eigentlich verpasst die Geisterhand Leuten wahllos Ohrfeigen oder schmeißt Zeug auf den Boden, manchmal versucht sie sogar, andere zu erwürgen. Hier, guck mal.«

Er zog sein Handy raus und rief ein YouTube-Video auf, nachdem er sich vergewissert hatte, dass unser Soziologielehrer immer noch nicht da war, und beugte sich dann ganz zu mir hinüber, damit wir es gemeinsam anschauen konnten. So nah war ich einem Jungengesicht noch nie gekommen und mir wurde ganz panisch zumute, auf gute Art. Ethan roch nach Feuerwerk, auf gute Art. Ich konnte mich kaum aufs Handvideo konzentrieren.

Ich richtete mich als Erste auf und zog mein Arbeitsbuch heraus. »Glaub ich nicht«, sagte ich. Weil ich es nicht glauben wollte.

»Im Ernst, das gibt’s wirklich.«

»Wo hast du das her?«

Ethan schob sein Handy zurück in die Hosentasche. »Ist normalerweise eine Nebenwirkung nach Operationen wegen Epilepsie.«

Ich stieß einen langen, aufrichtigen Seufzer der Erleichterung aus. »Ach, bestens. Über das Alter, in dem man Epilepsie entwickelt, bin ich schon hinaus.«

Ethan begann wieder zu lachen, genau als unser Lehrer eintrat und ihn zum Schweigen brachte.

Der Unterricht begann. Unser Lehrer schritt vor dem Whiteboard auf und ab und lieferte uns eine Einführung in den Marxismus und den Funktionalismus. Ethan trat mir unterm Tisch gegen das Bein. Ich sah hoch und er starrte mich eindringlich an, bevor er wieder hinter seinem Schopf in Deckung ging und über sein Grübchengesicht ein schmales Lächeln geisterte. Ich verkniff mir ein Grinsen und zahlte es ihm mit einem Rachekick heim. Als er aufblickte, hielt ich den Blickkontakt nur für eine Sekunde.

Bestes Spiel des Jahrtausends. Treten, starren. Treten, starren. Über meinen ganzen Körper hatte die Gänsehaut Habachtstellung angenommen, der Lehrervortrag war völlig ausgeblendet.

Die ganze Stunde über hatte ich keinen einzigen unguten Gedanken.

 

Zur nächsten Stunde war ich bereit für ihn.

»Capgras-Syndrom«, sagte ich, bevor er sich überhaupt hingesetzt hatte.

Er warf die Hände nach hinten. »Au Mann, ich hab auch eine. Ich will zuerst.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, meine zuerst.«

»Meinetwegen, meinetwegen. Was passiert beim Capgras-Syndrom?«, fragte er.

Ich schaltete die Expertenstimme ein. »Wenn man plötzlich glaubt, dass einem irgendein nahestehender Mensch, wie der Ehemann, die Schwester oder sonst wer, durch einen identischen Hochstapler ersetzt wurde, der einem das Leben kapern möchte.«

»Boaaah. Kann nicht sein!«

»Leider doch. Ziemlich krass, oder?«

»Wie ein böser Zwilling?«

»Kann man wohl sagen.«

»Wie unglaublich geil!«

»Wahrscheinlich …« Ich hatte das schon auf Google abgecheckt: Ich war nicht in der Hochrisikogruppe.

Ethan ließ die Tasche plumpsen und machte sich in seinem Stuhl lang.

»Pica«, sagte er.

»Was?«

»Pica. Eine Essstörung, bei der man leidenschaftlich gerne nicht essbare Gegenstände ohne jeden Nährwert verzehrt. Wie Steine und Laptops und so’n Zeug. Da ist man einfach zwanghaft hungrig. Ständig pendelt man ins Krankenhaus rein und wieder raus, weil man was gefuttert hat, das man nicht sollte.«

Gerade wollte ich den Mund öffnen, da hielt er mich auf.

»Keine Sorge. Dass du es kriegst, ist sehr unwahrscheinlich. Korreliert mit Autismus.«

Ich nickte freudig. »Danke schön.«

Wir lächelten uns zu, aber wieder einmal wurden wir von unserem Lehrer unterbrochen, der es doch tatsächlich wagte, uns unterrichten zu wollen.

 

Die nächsten paar Stunden präsentierten wir einander abwechselnd eine neue, frisch von uns recherchierte Störung nach der anderen. Bis Ethan eines Tages wirklich begierig darauf zu sein schien, etwas zu lernen. Ich sah ihm beim Blockbekritzeln zu, während wir in Marx’ große Erleuchtung eingeführt wurden, dass arme Leute von reichen Leuten nicht richtig behandelt werden. Ich versuchte mich ebenfalls am Konzentrieren und klappte meinen eigenen Block auf, um mitzuschreiben.

Jedenfalls bis sein Block über meinen Tisch rutschte.

GEHST DU MIT MIR AUS?

Mein Atem ließ mich im Stich und ich lächelte die ganze restliche Stunde hindurch. Ich schrieb nur ein Wort zurück:

Vielleicht …

Es klingelte und alle standen auf, um ihre Taschen wieder zu beladen. »Nun«, sagte er und pflanzte sich genau vor mir auf den Tisch. Er war so selbstbewusst. Das gefiel mir.

»Nun was?«

»Bist du am Wochenende irgendwo unterwegs?«, fragte er. »Ich mag dich, Evie, du bist auf entzückende und nette Weise durchgeknallt.«

Auf entzückende Weise durchgeknallt? Endlich hatte ich es auf der Verrücktheitsskala so weit nach unten geschafft!

Ich ging im Geiste meine Pläne durch. »Samstag geh ich auf eine Hausparty. Bei Anna, die ist bei mir im Kurs. Sie meinte, ihre Mum ist total locker und lässt sie öfter bei sich zu Hause feiern. Die erste Party ist dieses Wochenende.«

»Cool. Kann ich mit? Mit dir, mein ich?«

OGOTTOGOTTOGOTTOGOTTOGOOOOOTT!

»Klaro«, sagte ich und in meinem Blutkreislauf drehten Nervosität und Freude hoffnungslos durch.

»Super, wo findet’s denn statt?«

 

Ich erreichte den Bahnsteig zwei Minuten vor Zugeinfahrt und trommelte wartend mit dem Fuß. Ich erlaubte es mir, aufgeregt zu sein. Also, wirklich aufgeregt zu sein. Würde ich mich verlieben? War das hier der Anfang? Hatte ich es geschafft, bei meinem ersten Datingversuch einen netten, sexy Jungen an Land zu ziehen? War dies das Schicksal, das meinte, etwas gutmachen zu müssen für die letzten drei Scheißjahre?

Ja. Vielleicht. Nein, verdammt, ja doch.

Da kam der Zug. Da kam Ethan. Endlich lebte ich mein Leben, wie es sein sollte. Endlich würde auch ich mal Glück haben.

Die Zugtüren gingen auf … Ethan erschien mit einem Schwall aussteigender Passagiere … Er stolperte über die eigenen Füße und landete voll auf der Fresse. Eine leere Zweiliterflasche Cider rollte ihm aus der Hand.

»Kacke!«, brüllte er. Er versuchte, sich aufzurichten, fiel aber wieder hin, wälzte sich auf die Seite und lachte los.

Das hätte nicht passieren sollen.

Ich machte einen vorsichtigen Schritt auf ihn zu. Die Mitreisenden wichen uns aus und bedachten uns mit missbilligenden Blicken.

»Ethan?«

»BOAH, EVIE, ICH BRAUCH MAL EBEN DEINE HAND

Er langte nach meinem Arm und ich wuchtete ihn hoch – und geriet ins Taumeln, als er sich aufrichtete. Er stank total. Nach Cider. Und vielleicht ein bisschen nach Erbrochenem.

»Ethan … bist du blau?«

Er torkelte ein paar Schritte rückwärts, fing sich und schenkte mir eines dieser selbstzufriedenen Jungs-Grinsen.

»Keine Sorge, Schätzchen. Ist noch ’ne Menge für dich übrig.« Er fasste in seinen Rucksack und zog eine weitere Zweiliterflasche raus. Nur noch halb voll.

Mir schwante, dass Sarah vielleicht recht gehabt hatte.

Drei

Zur Party war es eigentlich nur ein kurzer Spaziergang, aber mit einem sternhagelvollen Ethan dauerte es wesentlich länger.

»Runter von der Straße«, sagte ich und lenkte ihn weg vom nahenden Verkehr. Er fasste mein Händchenhalten völlig falsch auf und drückte meine Hand fest. Seine fühlte sich warm und schwitzig an.

Ich versuchte, nicht an die Krankheitserreger zu denken. Erfolglos.

Er stolperte schon wieder über die eigenen Füße. »Hoppla, Mensch, du hast gute Reflexe.«

Sein schwerer Körper unter meinem Arm taumelte und schwankte; ich musste ihn quasi zur Party schleifen. Immer wieder hielt er an, um Cider nachzutanken. Die Hälfte davon rann ihm direkt auf das Smashing-Pumpkins-T-Shirt und ein wenig tropfte ihm auch seitlich den Mund runter. Durfte ich weglaufen? War das fair? Oder hatte ich gerade mein Gegenbild in punkto Seltsamkeit getroffen? War dies die Art von Verhalten, die die Liebesgötter als für mich ideal befunden hatten? Ich konnte ihn nicht einfach allein lassen; ich hatte mich in der Vergangenheit zweifellos weitaus seltsamer aufgeführt.

Ethan schleuderte die zweite leere Ciderflasche über einen Zaun, mitten in einen fremden Vorgarten.

»Geh und hol sie.«

»Okay.« Er erhob noch nicht mal Protest.

Wir bogen in Annas Straße ein.

»Gleich sind wir da …«, sagte ich, als ginge ich mit meinem Kind ins Disneyland.

Ethan sauste voran, drehte sich dann um und marschierte im Rückwärtsgang, um mich anzusehen. »Hey, weißte was?« Sein Grinsen war so breit, dass ich unwillkürlich auch ein bisschen lächeln musste. Diese Grübchenverräter!

»Was?«

Er blickte auf seine Hand und überdehnte dann seinen Mund zu einem Horrorschrei, während er tat, als würde er sich selbst erwürgen, wie in Soziologie. »GUCK, ES IST DAS ALIEN-HAND-SYNDROM, ICH HAB’S NICHT MEHR IM GRIFF

Gegen meinen Willen musste ich kichern.

»WAS WIRD SIE ALS NÄCHSTES TUN?« Er verpasste sich selbst eine Ohrfeige. »O nein, sie braucht Fleisch!« Und er griff nach vorn und langte mir an den Busen. Entgeistert starrte ich auf meine Brust.

»TUT TUT.« Ethan strahlte mich an. Ich schlug seine Hand weg.

»Hast du mir eben an die Titten gefasst?!«

Ethan grinste noch breiter, zu besoffen, um die Drohung in meiner Stimme wahrzunehmen.

»Das war doch nicht ich. DAS >WAR DIE GEISTERHAND

Warum? Warum passierte mir das gerade?

Ich schob mich an ihm vorbei und stürmte durch Annas Haustür mitten in die Party hinein. Ethan torkelte hinterher und brüllte: »WART DOCH, DER GEISTERHAND TUT’S LEID

 

Kaum trat ich ein, zersprengte Rockmusik mein Trommelfell. Eine Blockade aus Flurrumstehern hielt mich auf. Überall standen Grüppchen aus Collegefreunden, die die Treppe hinaufschäumten wie die Bläschen in einer explodierten Champagnerflasche. Der Bass feuerte mein Herz noch mehr an. Ich hielt Ausschau nach einem vertrauten Gesicht. Ethan holte mich ein.

»He, du bist einfach weggerannt.« Er schaute ganz verwirrt und niedlich drein. Ich taute ein wenig auf und ließ ihn wieder meine Hand nehmen.

»Aber keine Geisterhand mehr, klar?« Dass ich diesen Satz mal sagen würde …

»Klar.«

Wir schoben uns durch die Menge, grüßten nach links und rechts. Jane – DIE VERRÄTERIN – lag auf dem Wohnzimmersofa, operativ mit Joel verbunden. Irgendwie brachte sie es über sich, aufzustehen und uns beide begrüßungshalber zu umarmen.

»Evie, ihr habt’s doch noch geschafft!«

Ich erwiderte halbherzig ihre Umarmung und entwand mich. Ein frisches Piercing baumelte ihr gereizt aus der unteren Gesichtshälfte.

»Wow, Jane, du hast dir die Lippe piercen lassen.«

Und dir die Persönlichkeit von deinem Seelen aussaugenden Freund wegfressen lassen!

»Ja, voll«, sagte sie, ganz belegt und affig. »Hat wehgetan wie Sau, aber Joel sagt, er steht drauf.«

Ich sah Joel mit erhobenen Augenbrauen an.

»Du hast ja ’ne tolle Freundin«, sagte ich zu ihm.

»Ich weiß, die tollste überhaupt.« Er zerrte an Janes Bein, als wäre sie ein Hündchen, das an der kurzen Leine geführt werden muss.

»Aww, Joel«, gurrte sie.

Um mich von der aufwallenden Übelkeit abzulenken, deutete ich auf meine Begleitung. Und betete zum Himmel, er möge sich zusammenreißen.

»Hey Leute, das ist Ethan.«

Joel winkte, ohne sich die Mühe zu machen, mal aufzustehen und Hallo zu sagen. Joel machte sich mit dem allerwenigsten Mühe. »Wowww«, brüllte Ethan wie ein Verbindungsstudent auf einem Junggesellenabschied. »GEILE PARTY

Ich beugte mich zu Jane hinunter und brüllte ihr ins Ohr, um die Musik zu übertönen. »Jane. Er ist total betrunken.«

»Mir nicht entgangen.«

»Was soll ich tun?«

Ethan formte seine Hand zur Metalfaust und sprang auf der Stelle auf und ab. Alles starrte erstaunt.

Jane schaute drein, als wollte sie mir gerade einen Rat erteilen, da zog Joel sie schon wieder aufs Sofa und knutschte sie ab wie besessen. Ich stand einen Moment lang alleine da und überlegte, wie ich verfahren sollte. Abstand. Ich brauchte Abstand von der Situation.

»Ich geh mal in die Küche und organisier Alkohol«, brüllte ich in Ethans Richtung. Er hielt mitten im Headbang inne.

»Bringst du mir Cider mit?«, fragte er.

»Sicher, dass du nicht schon genug hattest?«

»Von Cider kann man nie genug haben.«

»Ich glaube, du bist der lebende Beweis dafür, dass es geht.«

»Was?«

»Ach, egal.«

Warum Jane eine Verräterin war

Jane und ich. Ich und Jane. Wir gegen den Rest der Welt, so war es immer gewesen. Zumindest wir gegen die gesamte Mittelstufe. In der Achten hatten wir uns kennengelernt und sofort eine identitätsstiftende Gemeinsamkeit gefunden: unsere Verachtung für alle anderen.

»Hi«, hatte sie gesagt, als sie sich neben mich setzte und ihre Tasche auf ganz offensichtliche »Mir doch egal«-Weise auf den Tisch plumpsen ließ. »Ich bin Jane. Ich bin neu. Ich hasse alle in diesem Raum.«

Ich sah mich nach der Meute der beliebten Mädchen um, die in der Ecke Gefiederpflege betrieben, nach den Jungen, die allesamt Furzgeräusche in ihrer Achselhöhle machten, nach den Streberinnen, die sich in der ersten Reihe die Hälse verrenkten.

»Ich bin Evelyn. Ich hasse auch alle.«

Sie warf mir ein verschlagenes Grinsen zu. »Super. Dann können wir Freundinnen sein.«

Eine solche Nähe hatte ich vorher nie gekannt. Wir verbrachten fast jede wache Sekunde des Tages miteinander. Wir gingen zur Schule, verbrachten unsere Mittagspausen zum Tratschen aneinandergeschmiegt und zeichneten bescheuerte Bilder von unseren Klassenkameraden mit unseren eigenen Geheimwitzen. Nach der Schule besuchten wir uns gegenseitig – sahen Filme, dachten uns alberne Tanzchoreografien aus, fütterten uns gegenseitig die gierigen Münder mit unseren tiefsten, dunkelsten Geheimnissen.

In der Neunten wurde ich krank.

Dann wurde es schlimmer

Dann wurde es schlimmer als schlimmer.

Jane war immer da.

Immer mit mir auf den Schultoiletten, wo sie mich beruhigte, mich tröstete, während ich mir die Hände so wund schrubbte, dass das Blut ins Waschbecken floss. Immer nach der Schule vor meiner Tür, an schlechten Tagen, wenn selbst der Gedanke an einen Schritt vor die Tür undenkbar war – mit meinen Hausaufgaben unterm Arm und dem neuesten Klatsch. Immer an den Wochenenden, wenn ich nichts tun und nirgendwohin gehen konnte, weil alles so schrecklich war. Sie drängte mich nie. Sie beurteilte mich nie. Sie beklagte sich nie. Sie ließ mich einfach auf ihrem Wohnzimmersofa liegen, während sie Klarinette spielte.

Als es besser wurde mit mir, war das Band zwischen uns stark wie nie zuvor. Sie stellte sich vor mich, wenn die Leute mich eine Spinnerin nannten. Es hatte ihr nichts ausgemacht, als ich in letzter Sekunde Panik kriegte und es nicht zum Prom schaffte und wir stattdessen Carrie schauten. An unserem letzten Tag auf der Gesamtschule sprangen wir auf und ab und umarmten uns vor dem Tor.

»Wir sind hier weg, Evie, wir gehen hier tatsächlich weg«, sagte sie. »Auf dem College wird alles ganz anders und großartig und gigantisch. Da können wir von vorn anfangen.«

»Da bin ich dann nicht mehr ›das Mädchen, das völlig krank im Schädel geworden ist‹.«

Ihr Lächeln wurde breiter.

»Und ich bin dann nicht mehr ›die Freundin von der Irren‹.«

Den ganzen Sommer über waren wir euphorisch – planten unser neues Leben, unser zukünftiges Glück mit der Entschlossenheit einer übereifrigen Braut.

Jane begegnete Joel schon am ersten College-Tag.

Am Ende des Tages kam sie zu mir gerannt – mit knallrotem Gesicht und vom Winde verwehten Haar. »Herrgott, Evie, in meinem Philosophiekurs sitzt ein ganz unglaublicher Typ. Er heißt Joel.«

Ich kicherte und sagte mit Gorillastimme: »Ich Joel, du Jane.«

Sie lachte nicht.

»Das ist mein Ernst. Ich schwör dir, der hat mich die erste Hälfte durch nonstop angestarrt. Und dann sind wir zusammen als Team eingeteilt worden, um so eine Frage zu beantworten, und, o Evie, er ist so tiefsinnig. Er KAPIERT Aristoteles und so. Und er ist Leadgitarrist in einer Band. Und Tattoos hat er, weißt du, aber so richtig gute …«

Sie redete weiter ohne Punkt und Komma, während ich das seltsame Gefühl analysierte, das sich währenddessen in meinem Bauch bildete. Ein seltsames Ziehen und Schwappen, ein Schwall grüner …

… Eifersucht.

Ich wollte mich für Jane freuen. Sie verdiente es, glücklich zu sein. Sie verdiente ein »gut gemacht« dafür, dass sie so lange alles richtig gemacht hatte. Ich untermalte ihr Geschwärme mit den angemessenen Geräuschen. Ich ließ mir nicht anmerken, wie sehr mir nach Heulen zumute war, als sie zwei Tage später verkündete, er wolle sich mit ihr treffen. Ich half ihr, ein Outfit auszusuchen, das nichts im Entferntesten mit dem zu tun hatte, was sie früher getragen hatte. Im Ernst: Doc Martens. Das Mädchen, das schon quasiprofessionell Klarinette spielte und das Album mit den größten Disney-Hits besaß.

Im Austausch dafür hatte ich die vergangenen drei Wochen nur verpasste Anrufe bekommen. Ich bekam Nachrichten wie »Joel bringt mich heute Morgen, sorry« und ging oft allein zur Schule. Jede Pause verbrachte sie auf der Rasenfläche, auf Joels Schoß, mit ihrer Zunge in Joels Mund. Ich saß etwas abseits, hielt mühsam ein Gespräch mit Joels Freunden am Laufen und sah zu, wie meine Freundin sich in einem Tempo verliebte, das ich nie für möglich gehalten hätte.

Ihre hübschen Vintage-Kleider verwandelten sich in Band-T-Shirts mit zerschlissenen Jeansminis und Chucks. Ihr wunderschönes blondes Haar wurde über Nacht rabenschwarz, und sie fragte mich noch nicht mal, ob ich ihr beim Färben helfen würde. Um ihre Augen krustete der Eyeliner. Sie verehrte Bands, die sich anhörten wie kopulierende Bären vor der Geräuschkulisse des gesamten Erdballs.

Sie hatte Joel nicht nur ihr Herz, sondern ihre gesamte Persönlichkeit geschenkt, ihre ganze … Janehaftigkeit. So rasch, so bereitwillig. So dringend musste es ihr gewesen sein, von mir wegzukommen. Ich musste ihr so derart auf den Geist gegangen sein, dass sie bereit war, ihre Identität zu wandeln, nur um mir zu entkommen.

Womit ich nicht umgehen konnte, war nicht, dass sie mich als Freundin absägte – obwohl das wehtat wie der Stich einer afrikanischen Killerbiene –, sondern der Ausverkauf all dessen, was man ist und was einem wichtig ist, nur weil es einem Jungen so gefällt. In meinen Augen wurde man dadurch zum Verräter an der gesamten Mädchenheit – an einem selbst. Aber vielleicht war ich auch nur einsam … oder eifersüchtig. Oder beides.

 

Die Küche quoll über vor Alkohol. Stapelweise Bierdosen, halb leere Weinflaschen und ein paar Eigenmarken-Schnäpse beherrschten die schwarze Laminatküchenzeile. Joels bester Freund Guy goss gerade ein Bier in einen roten Plastikbecher.

»Alles klar, Evie?«, nickte er, schwer konzentriert darauf, den Schaum richtig hinzukriegen. Wir waren zu einer krampfigen Freundschaft genötigt worden, seit sein bester Kumpel und meine beste Freundin die Verkörperung jugendlichen Liebesglücks geworden waren.

»Alles klar. Irgendwie. Der Typ, mit dem ich hier bin, ist echt hackedicht.«

Guy blickte von seinem Bier auf. »Du hast wen mitgebracht?«

Ich stupste absichtlich gegen sein Bier, das ihm prompt über die Hand schäumte.

»Kling gefälligst nicht so überrascht.«

Guy lächelte und wischte sich die Hände an der Jeans ab. Er war das einzig halbwegs Erträgliche an Janes Transformation zum Hohlbrot. Er und Joel spielten in derselben Drecksband, doch Guy war trotzdem in Ordnung. Lustig, auf Zack und nicht zu sehr von sich eingenommen. Und wahrscheinlich auch ganz attraktiv, wenn man auf wirres Haar, zerfetzte Jeans und so steht.

Schade, dass er so ein Kiffschädel war.

»Also, von welchem Grad von besoffen sprechen wir hier?«, fragte er.

Ich schüttete mir etwas Rotwein in eine Tasse und nippte vorsichtig daran. »Gerade ist er am Headbangen. Und tanzt gleichzeitig Pogo – was ich bisher nicht für möglich gehalten habe.«

»Mit dem Typen bist du hier?« Guys dichte Augenbrauen schalteten auf Sarkasmus.

Ich lachte. »Hast du ihn gesehen?«

»Ja. Mann, der ist so richtig breit.«

»Auf dem Weg hierher hat er so getan, als hätte er das Alien-Hand-Syndrom, damit er mir an die Titten langen konnte.«

Sofort bereute ich meine Worte, weil Jungs einem beim Wort »Titten« sofort auf die Titten schauen. Was genau das war, was Guy tat. Völlig ungeniert. Er grinste wieder verdorben und nahm einen Schluck Bier. »Kann ich ihm nicht verdenken.«

»Hey!«

»Ich sag’s ja nur.«

»Spar’s dir.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust.

Das dumpfe Wummern der Musik brachte sämtliche Gläser im Schrank zum Klirren. Einen Moment lang standen wir nur kichernd beisammen, bevor Guy seinen Becher in einem Zug halb leerte. »Also magst du diesen Kerl?«

Ich zuckte die Achseln. »Klar … irgendwie schon. Er hat gemeint, er mag die Smashing Pumpkins, und ich hab dann gegoogelt, was das sein soll.«

»O Gott. Machen Mädchen so was wirklich?«

»Was? Ist doch nur einmal googeln! Du würdest also nichts googeln, wenn dir ein Mädchen gefällt?«

Guy blickte an sich herunter und reckte seine Brust. »Ich bin perfekt, ich weiß alles.«

Oben rutschte sein T-Shirt hoch und entblößte seinen mittelbeeindruckenden Bizeps. Dabei fiel mir eine verschorfte Stelle auf.

»Wart mal. Hast du ein neues Tattoo?« Ich beugte mich vor, um es in Augenschein zu nehmen, und er schob mit selbstzufriedener Miene den Ärmel hoch.

»Letzte Woche stechen lassen. Grade in der Überkrustungsphase.«

Ich rümpfte die Nase. »Entzückend.«

Er fuhr das verzwirbelte schwarze Muster mit dem Finger nach. Es war immer noch rot umrandet, prall und gereizt an den Stellen, wo die Tätowiernadel seine Haut durchbohrt hatte.

»Ein Tribal, ganz altes Stammesmuster«, sagte er stolz.

Ich verdrehte die Augen. »Hör ich zum tausendsten Mal. Und was genau heißt es?«

»Du weißt schon. Dass man zum Stamm gehört.«

Ich sah ihn aus dem Augenwinkel an. »Aber zu welchem Stamm?«

»Na, du weißt schon, dem Stamm halt.« Seine Stimme klang ganz leicht ungeduldig.

»›Dem Stamm‹ ist doch Blödsinn«, erklärte ich ihm. »Es gibt nicht diesen einzigen großen ›Stamm‹. Welcher Stamm soll das sein? Wo lebt er? Wie heißt der Stamm? Was soll das Tattoo bedeuten?«

»Fick dich.« Er leerte sein Bier und knallte den Becher auf die Arbeitsfläche.

»Wie sagt man das in der Sprache deines Stammes?«

Widerwillig brach Guy in Lachen aus. »Wenigstens hab ich keinen unreifen Alkoholiker angeschleppt.«

Just bei diesen Worten trat Lottie – eine alte Grundschulfreundin – mit einem weiteren Mädchen in die Küche. Lottie und ich waren mal enge Freundinnen gewesen, aber sie war ein Genie und hatte für die Jahre auf der Gesamtschule ein Stipendium für eine hiesige Privatschule bekommen, weshalb wir uns aus den Augen verloren hatten. Jetzt war sie auf meinem College und ich hatte sie ein paarmal gesehen, wie sie sich mit ihrer langen dunklen Mähne einen Weg durch den Gang geschaffen hatte.

»O Gott, Evie, hast du den besoffenen Typen mitgebracht?«, unterbrach Lottie, ohne sich mit einem Gruß aufzuhalten.

Ich umarmte sie und wich dann zurück, um eine homöopathische Dosis Wein zu trinken. »Was macht er denn jetzt schon wieder?«, fragte ich. Ich war erst fünf Minuten weg. In fünf Minuten konnte es mit Ethan doch kaum sehr viel weiter den Bach runtergegangen sein.

»Entspann dich, er, äh, tanzt nur sehr engagiert, mehr nicht.« Lottie begann, sich durch die Alkflaschen zu wühlen. »Oh, das ist übrigens Amber«, sagte sie und zeigte auf das Mädchen neben sich. »Wir haben zusammen Kunst. Amber, das ist Evie, wir waren zusammen in der Grundschule.«

Ich wandte mich in Grüßabsicht zu ihr, doch diese Amber haute mich beinahe um, derart … einschüchternd war sie. Sie musste über eins achtzig groß sein, mit langem rotem Haar. Sie sah absolut umwerfend aus und hatte trotzdem fest die Arme um sich geschlungen, als müsse sie sich alles und jeden vom Leib halten.

»Hey«, sagte ich lächelnd.

»Hi«, entgegnete sie.

»Booooaah.« Guy starrte zu Ambers Gesicht empor. Sie überragte ihn um mindestens zehn Zentimeter. »Du bist echt mal … riesig.«

Amber wickelte die Arme noch fester um sich. »Nein, bin ich nicht.« Ihre Stimme passte überhaupt nicht zu ihrer Körpersprache. Sie war fest und herrisch. »Du bist ganz einfach ein Zwerg.«

Sofort beschloss ich, sie zu mögen, obwohl Guy aussah wie vom Donner gerührt. Er war ein bisschen kurz geraten, der Gute.

»Mach dir um den keine Gedanken«, sagte ich, weil ich unbedingt ankommen wollte bei ihr. »Er hat sich nur gerade ein totales Rätsel auf den Leib tätowieren lassen, für den Rest seines Lebens. In ›Stammessprache‹.« Ich deutete auf sein Tattoo.

Amber lachte, während Guy erbost auf seiner Lippe kaute.

»Scheißegal, ich geh jetzt eine rauchen.« Er griff sich noch ein Bier und räumte die Küche.

»Männer«, seufzte Amber.

Ich seufzte zurück.

»Wem sagst du das.«

Vier

Ich hatte es nicht eilig, zu meinem betrunkenen Begleiter zurückzukehren. Ich plauderte mit Lottie und Amber und ließ mir viel Zeit beim Einschenken des Apfelsafts, den ich im Kühlschrank entdeckt hatte, in der Hoffnung, dass Ethan ihn in seinem Vollrausch für Cider halten würde.

Zwei Gläser schwingend ging ich ins knallvolle Wohnzimmer, wo ich ihn zurückgelassen hatte.

Ethan war nicht mehr da.

Der Platz, den er sich mit seinem Tanz erkämpft hatte, war jetzt von den Teilnehmern eines Trinkspiels in Beschlag genommen worden. Joel und Jane lagen halb dahingesunken auf dem Sofa, wo sie sich schamlos aneinander erfreuten. Ich kämpfte mich um den jubelnden Zirkel von Saufbolden herum und prüfte die verschatteten Gesichter auf Ethanähnlichkeit.

»Jane?«, fragte ich ihren Hinterkopf.

Keine Antwort. Nur Schmatzgeräusche.

»Jane?«

Sie entwirrte ihre Zunge aus der von Joel und beugte sich nach hinten. Dazu stellte ich mir das Geräusch einer Saugglocke vor, die aus der Toilette gerupft wird.

»Was denn?« Mit ihrer Genervtheit hielt sie nicht hinterm Berg.

»Hast du Ethan gesehen?«

»Wen? … Joel … lass das!«, kicherte sie. Er streichelte ihr die Oberschenkel.

»Ethan. Den ich mitgebracht habe.«

»Keine Ahnung. Vielleicht auf’m Klo?«

Ohne zu zögern, kehrte sie zu Joels Mund zurück. Seine Hände wanden sich um ihren Rücken, zogen sie auf ihn.

Ich verbiss mir meinen Ärger und versuchte rauszufinden, wo er stecken konnte. Jane hatte recht. Ich sollte es mal mit der Toilette probieren. Vielleicht erbrach er gerade den ganzen Cider. Ich manövrierte mich in den Flur, fragte jeden Einzelnen, ob sie einen sehr betrunkenen Jungen in einem Smashing-Pumpkins-T-Shirt gesehen hätten. Keiner hatte was Nützliches beizusteuern. Die Musik war lauter. Die Leute waren völlig hinüber. Die Party hob gerade richtig ab. Niemand scherte sich darum, dass mein allererstes Date ever gerade getürmt war. Ich fand die Erdgeschosstoilette und versuchte mein Glück. Abgeschlossen. Ich hämmerte gegen die Tür.

»Ethan? Bist du da drinnen?«

»Wer ist Ethan?«, rief eine Stimme zurück.

»Egal.«

Ich ging auf gleichem Weg zurück in die Küche und spähte hinein. Er war nicht da. Er war auch nicht im Esszimmer, wo gerade eine aufwendige Pokerpartie stattfand – mit Monopolygeld als Jetons. Ich sah, dass sich die Leute inzwischen sogar auf der Terrasse hinter dem Haus ausgebreitet hatten, und versuchte es dort. Als ich durch die Glastür schlüpfte, kam mir Guy in die Quere.

»Evie, wo gehst du denn hin?« In seinen Augen gab es nur noch einen winzigen Winzrest Weiß. Der Rest war rosarot. Seine Pupillen waren riesig.

»Hey, Süchtling. Ich hab mein Date verloren.«

»Jetzt schon geflüchtet?« Guy brach in hysterisches Gelächter aus, das einfach nicht mehr aufhörte. Ich schritt an ihm vorbei und ließ sein Schluckaufgewieher hinter mir. Verdammter Kiffschädel. Ich wickelte mich enger in meine Lederjacke, weil mir die jetzt kalte Luft entgegenwehte, und wartete ab, bis meine Augen sich ans Dunkel gewöhnt hatten. Eine Gruppe ließ eine zweifelhaft aussehende Zigarette kreisen und führte eine erregte Debatte über das Kinderfernsehen vergangener Tage. Hinter ihnen erspähte ich zwei Gestalten in einem efeuberankten Pavillon.

Lottie und Amber.

Ich grinste und ging auf sie zu, vorsichtig, um mir nicht im Kies den Knöchel zu verstauchen. »So sieht man sich wieder«, sagte ich und setzte mich neben sie auf die Bank.

»Hey«, sagte Lottie und rückte beiseite, um mir Platz zu machen. »Wo ist Ethan?«

Ich seufzte schwer. »Verschollen.«

»Im Ernst jetzt? Du findest ihn nicht?«

»Nö. Ich hab ihn bei Jane gelassen, als ich in die Küche bin, und als ich wiederkam, war er weg.«

Lottie verdrehte die Augen, schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie an. »Lass mich raten, sie war zu ausgelastet damit, ihre komplette Existenz auf dem Joel-Altar zu opfern, um sich noch nebenher um was anderes zu kümmern?«

Ich stieß ein Kichern aus und fühlte mich sofort schuldig, so fies gewesen zu sein. Lottie hatte noch nie ein Blatt vor den Mund genommen.

»Woher kennst du sie?«, fragte ich.

»Sie und Joel sind bei mir in Philosophie. Erst war sie total nett. Und dann, tja … dann war sie binnen einer Woche mit Joel zusammen. Woher kennst du sie?«