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ANTONIO MUÑOZ MOLINA wurde 1956 im andalusischen Úbeda geboren. Sein belletristisches Werk ist vielfach preisgekrönt; so wurde er beispielsweise gleich zwei Mal mit dem spanischen Staatspreis für Literatur ausgezeichnet. 1995 wurde er in die Königlich Spanische Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen. Muñoz Molina lebt derzeit in Madrid und New York City, wo er bis 2006 das Instituto Cervantes leitete.

Die Augen eines Mörders in der Presse:

Eine Kriminalgeschichte, so gut »dass die Unterscheidung zwischen Thriller und Literatur ausnahmsweise hinfällig wird.«

Frankfurter Allgemeine Zeitung

»Muñoz Molina ist mit Die Augen eines Mörders ein großartiger, vielschichtiger Roman gelungen, der über eine Krimihandlung hinaus Zeitgeschichte und Politik in Literatur fasst.«

Süddeutsche Zeitung

»Die Augen eines Mörders hat alles, was ein guter Krimi braucht.«

Financial Times Deutschland

Außerdem von Antonio Muñoz Molina lieferbar:
Die Nacht der Erinnerungen
Der polnische Reiter

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Antonio Muñoz Molina

Die Augen
eines Mörders

Roman

Aus dem Spanischen
von Willi Zurbrüggen

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Die spanische Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel
»Plenilunio« bei Alfaguara, Santillana, S.A.



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hier unter Lizenz benutzt.


Copyright © der Originalausgabe 1995 by Antonio Muñoz Molina

All Rights Reserved

Alle Rechte an der Übertragung ins Deutsche bei Rowohlt Verlag GmbH,

Reinbek bei Hamburg

Umschlag: Bürosüd nach einem Entwurf von Semper Smile

Umschlagmotiv: © Plainpicture/Scanpix

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24304-3
V001

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Für Elvira,
die so sehr auf dieses Buch gewartet hat.

1

Tag und Nacht lief er durch die Stadt, auf der Suche nach einem Blick. Nur für diese Aufgabe lebte er, und auch wenn er versuchte, andere Dinge zu tun, oder vorgab, sie zu tun, spähte er unablässig umher, schaute den Leuten in die Augen, schaute in die Gesichter von Unbekannten, der Kellner in den Bars und der Verkäufer in den Läden, erforschte die Gesichter und die Blicke auf den Fotos der Verbrecherkartei. Der Inspektor suchte den Blick eines Menschen, der etwas zu Ungeheuerliches gesehen hatte, als dass es vom Vergessen gemildert oder ausgelöscht werden könnte; er suchte ein Paar Augen, in denen eine Spur des Verbrechens zurückgeblieben war, Pupillen, in die er nur flüchtig zu sehen bräuchte, um die Schuld in ihnen zu erkennen, so wie Ärzte die Anzeichen einer Krankheit allein dadurch entdecken, dass sie mit einem Lämpchen in die Pupillen hineinleuchten. »Suche seine Augen«, hatte Pater Orduña zu ihm gesagt und ihn dabei so durchdringend angesehen, dass dem Inspektor ein Schauer über den Rücken gelaufen war, wie damals, als er in dem Wohnheim erschienen war und diese kurzsichtigen, müden, prophetischen Äuglein ihn gleich wieder erkannt hatten, so blitzartig, wie er, der Inspektor, nun das gesuchte Individuum erkennen sollte oder wie Pater Orduña vor langer Zeit die Einsamkeit, den Groll, die Scham und den Hunger in ihm erkannt hatte, sogar den Hass, seinen Hass auf das Internat und alles, was sich darin befand, und auch auf die Welt draußen.

Wahrscheinlich wäre es der Blick eines Unbekannten, doch der Inspektor war sich sicher, dass er ihn unfehlbar und ohne Zögern identifizieren würde, sobald seine Augen ihm begegneten, und sei es nur ein einziges Mal, von fern, von der anderen Straßenseite her, durch das Fenster einer Bar. Bei seiner Suche kam ihm der glückliche Umstand zugute, dass auch er zum großen Teil noch ein Unbekannter war in der Stadt, da er erst vor wenigen Monaten, Anfang des Sommers, ganz überraschend dorthin versetzt worden war, als er schon gar nicht mehr daran glaubte, dass seinem Antrag stattgegeben werde, zumindest nicht vor der neuen Ausschreibung im nächsten Jahr. Wenn man so lange auf etwas wartet, ist es manchmal besser, es tritt gar nicht ein: Der Inspektor zeigte seiner Frau die Nachricht, auf die sie seit Jahren gewartet hatte, doch sie ließ keinerlei Freude erkennen, nicht einmal Erleichterung, nickte nur, immer noch ungekämmt, abwesend, als sei sie eben erst aufgestanden, obwohl es drei Uhr nachmittags war, und er steckte das amtliche Schreiben wieder in den Umschlag, legte es auf eine Kommode, stand einen Moment lang mit gesenktem Kopf da, als erinnere er sich nicht mehr, wohin er gehen wollte, und knetete seine Hände.

Was mit derartiger Verspätung eintritt, ist genauso, als trete es gar nicht ein, sogar schlimmer noch, denn die Erfüllung zur falschen Zeit von etwas, das man so sehnlich erwünscht, ist am Ende nur Sarkasmus. Dabei hatte er sich lange geweigert, seine Versetzung zu beantragen, hatte seine Frau zum Teil belogen, hatte ihr erzählt, er habe seinen Antrag eingereicht, aber die Frist sei schon verstrichen; Ausflüchte, um ihr nicht eingestehen zu müssen, dass Angst und Gefahr ihm weniger ausmachten als die mutmaßliche Schande, die Illoyalität gegenüber den Kameraden, den ermordeten Freunden, den nach einem Bombenanschlag Verstümmelten oder für immer Gelähmten. Diese Dinge machten ihm etwas aus, ihr nicht: Sie wartete, wartete von morgens bis abends, manchmal die ganze Nacht lang, wartete neben dem Telefon oder vor dem laufenden Fernseher oder am Fenster, durch die Jalousie auf die Straße starrend, bei dem geringsten Geräusch aufschreckend, dem Kreischen einer Klingel oder der Fehlzündung eines Autos, beim Aufheulen der Alarmanlage irgendeines Geschäfts in der Nachbarschaft. Sie hatte Stunde um Stunde, Tag um Tag gewartet, jahrelang, so viele Jahre, dass es jetzt zu viele geworden waren, dass sie nicht mehr fragte, ihn nicht mehr drängte, kein Gespräch beim Essen mehr begann, das irgendwann mit der Frage nach seiner Versetzung enden würde. Und als die Nachricht endlich kam (die in Wirklichkeit ein Befehl war und vielleicht sogar ein Wink, sich pensionieren zu lassen), hatte sie schon lange aufgehört zu fragen, nicht nur nach der Versetzung, sondern überhaupt, und wenn der Inspektor erst spät nach Hause kam, ohne sie vorher angerufen zu haben, wartete sie nicht mehr im Nachthemd auf ihn, um ihm Vorwürfe zu machen oder in Tränen auszubrechen. Er kam in die Wohnung und stellte mit unendlicher Erleichterung fest, dass alle Lichter erloschen waren, zog seine Schuhe aus, legte das Pistolenhalfter ab, tastete sich in das nur vom Licht der Straßenlaternen schwach erhellte Schlafzimmer, zog sich geräuschlos aus, hörte ihren Atem in der allein von den roten Ziffern des Radioweckers beleuchteten Dunkelheit, glitt mit einem Brummschädel von Whisky und Zigaretten unter die Bettdecke, schloss die Augen, suchte ihren Körper, den er schon lange nicht mehr begehrte, und stellte fest, dass sie nicht schlief, und dann tat er, als schlafe er sofort ein, feige sich drückend vor möglichen Fragen, die genauso regelmäßig kamen wie die Tränen und das Jammern darüber, warum er sie in diese feindselige Gegend habe bringen müssen, so fern ihrer Heimat, und warum er sie nie mehr anfasse.

Der Inspektor, noch fremd in der Stadt, von den Kollegen im Präsidium noch mit einiger Bewunderung und einem gewissen Argwohn betrachtet, weil ihm aus dem Norden eine etwas undurchsichtige Legende von Mut und Entschlossenheit, aber auch sporadischer Unausgeglichenheit gefolgt war, ging durch die Straßen und suchte ein Gesicht, das er, da war er sich sicher, augenblicklich erkennen würde, nach einer Sekunde des Erstarrens vielleicht, wie wenn man sich selbst in einem Schaufenster sieht und nicht weiß, wen man vor sich hat, weil man nicht das Gesicht sieht, das man erwartet, wenn man in einen Spiegel schaut, sondern jenes, das die anderen sehen und welches das fremdeste von allen ist. Suche seine Augen, hatte Pater Orduña zu ihm gesagt, und er begab sich an diesem Abend auf die Suche nach Gesichtern und Blicken in der fast menschenleeren Stadt, in der Dunkelheit eines verfrühten Winters mit geschlossenen Türen und Fensterläden gegen die Kälte und gegen die Angst, denn seit dem Tod des Mädchens schien eine alte Furcht vor den Gefahren der Nacht wieder aufgelebt zu sein, die Straßen hatten sich schnell geleert, und die Dunkelheit schien dichter zu werden und die Lichter schwächer. Die Schritte eines jeden klangen wie die Schritte des Mannes, dessen Blick der Inspektor suchte; jede einsame Gestalt, der er begegnete, konnte dieselbe sein, die in der Nacht des Verbrechens ungesehen zum kleinen Parque de la Cava hinaufgegangen war, jemand, der sich harmlos zu geben suchte, als er wieder ins Licht zurückkehrte, der sich zweifellos den Schmutz von den Hosenbeinen klopfte und sich mit den Fingern durchs Haar fuhr, als er zwischen den verwahrlosten Hecken und den Bänken hervorkam, auf denen schon lange keine Liebespaare mehr saßen, und unter den Laternen davonging, die nie brannten, weil sie von den Horden junger Leute, die sich an Wochenenden im Park betranken, regelmäßig mit Steinen zerschmissen wurden. Er war wohl auf die Glasscherben der Lampenkugeln und Bierflaschen getreten, als er sich durch den Park entfernte und am Fuß des Erdwalls, im Mondlicht, den bleichen Fleck eines Gesichts mit aufgerissenen starren Augen hinter sich zurückließ. In diesem Moment geht jemand durch die Stadt und trägt die Erinnerung an jene Augen in sich, an den letzten Moment, in dem sie noch zu sehen vermochten, eine Sekunde bevor der Tod sie gläsern machte. Und wer diesen Todeskampf verursacht und verfolgt hat, kann nicht genauso dreinblicken wie jedes andere menschliche Wesen, in seinen Pupillen muss ein Abglanz sein, ein Rest oder ein Funken des Entsetzens, das in jenen Kinderaugen gestanden hat. Vierzig Jahre früher hatte Pater Orduña seinen Blick über die Reihen der mit niedergeschlagenen Augen auf Bestrafung wartenden Schüler gleiten lassen und mühelos den Blick des Schuldigen herausgefunden, und dann, nachdem er ihn entlarvt und vor den anderen bloßgestellt hatte, lächelnd gesagt: »Die Augen sind der Spiegel der Seele.«

Der Inspektor war sich jedoch sicher, dass es Menschen gab, die keine Seele hatten, und was er suchte, ohne genauer darüber nachzudenken, war ein Gesicht, in dem sich nichts widerspiegelte, ein ausdrucksloses Gesicht mit seelenlosen Augen, von denen er im Laufe seines Lebens einige, nicht sehr viele zum Glück, im Licht der Neonlampen auf der anderen Tischseite in den Vernehmungszimmern der Polizeireviere gesehen hatte, auf Fahndungsfotos auch, Gesichter von Verdächtigen und Überführten, die nicht Angst oder Abscheu in ihm wachriefen, sondern ein höchst unangenehmes Gefühl von Kälte. Tatsächlich, dachte er jetzt, hatte er nicht viele gekannt, kam es nicht so häufig vor, dass man, selbst als Polizist, einem Gesicht begegnet, in dem sich nicht der geringste Widerschein einer Seele fand, Augen, in denen sich nichts anderes ereignete als der Vorgang des Sehens.

»Aber das stimmt nicht«, hatte Pater Orduña zu ihm gesagt. »Es gibt keinen Menschen ohne Seele. Selbst den schlimmsten Mörder hat Gott nach seinem Ebenbild erschaffen.«

»Würden Sie ihn erkennen?«, fragte der Inspektor. »Wären Sie imstande, ihn in einer Reihe von Verdächtigen zu identifizieren, wie früher, wenn Sie uns in einer Reihe aufstellten, weil jemand Ihnen einen Streich gespielt hatte, und Sie jeden Einzeln anschauten und jedes Mal den Schuldigen fanden?«

»Christus brauchte Judas nur anzusehen, um zu wissen, dass er der Verräter war.«

»Jesus Christus hatte einen entscheidenden Vorteil; er war Gott, wie Sie sagen.«

»Judas hat er mit dem menschlichen Teil seines Wesens erkannt«, sagte Pater Orduña mit ernster Miene. »Mit der menschlichen Furcht vor Marter und Tod.«

Er suchte nach einem Paar Augen, nach einem Gesicht, das der Spiegel einer in die Enge getriebenen Seele war, ein leerer Spiegel, der nichts reflektierte, weder Reue noch Mitleid, vielleicht nicht einmal Angst vor der Polizei. Man hatte Blutspuren eines Mannes gefunden, Hautpartikel, Kopfhaare und Schamhaare, Zigarettenkippen mit Speichelspuren. In den ersten vorzeitigen und kalten Abenddämmerungen des Herbstes schaute der Inspektor von den Gehwegen her in die Fenster der Bars, nahm die Gesichter der Menschen als undeutliche, konturlose Flecken wahr, unter denen plötzlich das Gesicht seiner Frau auftauchte, so wie er es sich vorgestellt hatte, als er kurz vor Feierabend im Büro mit ihr telefonierte. Er rief sie jeden Abend an, um sechs, wenn im Sanatorium die Besuchszeit begann, und manchmal fragte er sie, wie es ihr gehe, und sie sagte nichts, blieb still am Telefon, atmete nur schwer, wie früher, wenn sie in der Dunkelheit des Schlafzimmers neben ihm im Bett lag.

Jedoch drängten sich ihm jetzt andere Gesichter auf, und sie entsprangen einer Willensanstrengung, die auch eine Art Impuls war, vor seiner unverwindbaren Scham davonzulaufen. Jetzt konnte er sich nicht ablenken, jetzt musste er suchen, musste das Gesicht des Unbekannten suchen, und der Antrieb, der seine besessene Suche befeuerte und ihn weder schlafen ließ noch ihm erlaubte, sich um irgendeine andere Sache zu kümmern, hatte nichts mit Pflichtgefühl oder beruflichem Ehrgeiz zu tun und weniger noch mit irgendeiner Art von Gerechtigkeitsempfinden: Was ihn trieb, war der Drang nach einer unmöglichen Wiederherstellung und ein leidenschaftlicher Groll, von dem niemand etwas wusste und der nichts anderes als reine Rachsucht war. Er musste das Gesicht eines Unbekannten finden, um ihn zu bestrafen, weil er gemordet hatte, und um zu verhindern, dass er weiter mordete, doch vor allem wollte er ihn finden, um ihm in die Augen zu schauen und sich einige Sekunden oder Minuten lang in Drohgebärden zu ergehen, diesen Kerl bei den Jackenaufschlägen oder am Hemdkragen zu packen und ihm aus nächster Nähe in die Augen zu starren, seinen Kopf gegen die Wand zu stoßen, damit er sich vor Angst in die Hosen machte, wie sich vor vielen Jahren auf den Polizeirevieren des Nordens die Studenten und politischen Gefangenen in die Hosen gemacht hatten.

Er verließ sein Büro, grüßte die Wachhabenden an der Tür mit einem Kopfnicken, trat auf die Straße und schaute mit dem alten, noch immer lebendigen Gefühl der Angst erst zur einen, dann zur anderen Seite, musterte argwöhnisch jeden, der sich ihm näherte, hielt nach Autos Ausschau, die an verdächtigen Stellen abgestellt waren, und je weiter er sich zur Mitte des Platzes mit der Statue des Generals hin entfernte, desto mehr wurde er zu einem Unbekannten, und er begann mit seiner Suche, ein Gesicht nach dem anderen, unbemerkt Ausschau haltend, stets an dieselben Örtlichkeiten zurückkehrend, zum Schreibwarenladen des Heiligen Herzens, wo das Mädchen zum letzten Mal gesehen worden war, dann hinunter zum Parque de le Cava und zu den Gärten im äußersten Süden der Stadt, am Rande des mit Pinien bestandenen Erdwalls, der an den Feldern endete, an den ersten Bodenwellen des ausgedehnten Tals.

An manchen Nachmittagen trieb er sich bei den Schulhöfen herum, wenn die Kinder aus dem Unterricht kamen. Er lauschte von fern ihrem Lärmen oder stand zwischen wartenden Müttern reglos auf dem Gehweg; dann sah er wieder das Gesicht des toten Mädchens vor sich, das von den Fotografien und dem Videofilm von der ersten Kommunion, das Gesicht, das er leibhaftig im Schein der Taschenlampen und der Blitzlichter gesehen hatte, die Ferreras, der Gerichtsmediziner, unter den hohen Kronen der Pinien am Fuß des Erdwalls auslöste, wo das Mädchen nach einer ganzen Nacht und einem ganzen Tag vergeblicher Suche von Arbeitern der Stadtreinigung zufällig gefunden worden war. Gegen neun Uhr abends, nicht viel später, hatte Ferreras hinterher gesagt und sich die Gummihandschuhe mit einem hässlichen Geräusch von den Händen gezogen, die er sich danach unter heißem Wasser wusch. »Sie ist gegen neun Uhr gestorben«, sagte Ferreras, »allerdings wissen wir nicht, wie langsam sie gestorben ist.« Er wandte sich wieder dem Tisch zu, auf dem der bleiche geschundene Leichnam lag, nackt und dünn, mit aufgeschürften Knien und weißen Söckchen an den Füßen. Sie hat wie eine Braut ausgesehen, hatte die Mutter gesagt, als sie mit dem Inspektor das Video von der ersten Kommunion anschaute, inmitten der schrecklichen Traurigkeit der Wohnung, in die das Mädchen, Fatima, nicht zurückgekehrt war, nachdem sie zu dem Schreibwarenladen gegenüber gegangen war, um einen Malkarton und Wachsstifte zu kaufen, und wo jetzt, wie Heiligenbildchen in einer Kapelle, ihre Fotografien waren, eine auf dem Fernseher und eine an der Wand in einem vergoldeten Rahmen, eines dieser Farbfotos, die auf ein leinenähnliches Material gedruckt sind.

Der Inspektor saß auf dem Sofa, und die Frau hatte ihm in unangemessener Gastlichkeit ein Bier und ein Tellerchen Oliven hingestellt, hatte ihn gedrängt, nur zuzugreifen, während sie sich mit einem Papiertaschentuch die Nase putzte und danach das Videogerät anstellte, und jäh und ohne Vorwarnung erschien das Gesicht des Mädchens in Großaufnahme, mit Ringellöckchen und einem Diadem im Haar, in einem weißen Kleid mit viel Tüll, dasselbe, das man ihr im Tod angezogen hatte, doch da sie seit der Kommunion im letzten Jahr gewachsen war, hatte man das Kleid hinten offen lassen müssen, wie man ihr auch das Gesicht hatte schminken müssen, um die Wunden und blutunterlaufenen Flecken, so gut es ging, zu überdecken, damit nicht jeder sah, was der Inspektor am Fuß des Erdwalls unter den kranken Pinien gesehen hatte, die blinden, glasigen, runden Augen, so weit aufgerissen wie der Mund.

Doch in den Mund war etwas hineingestopft worden, etwas, woran sie erstickt war, ein blutverschmierter Fetzen Stoff, den der Gerichtsmediziner später Stück für Stück herauszog, feucht noch und schwer von Speichel, Blut, wenn auch nicht Sperma, sagte Ferreras, mit einem Kugelschreiber auf einen der Flecken deutend, und der Inspektor fühlte Ekel und Kälte in sich aufsteigen, einen Anfall von Übelkeit, der gleich darauf einem rasenden Wunsch zu weinen wich. Doch es war ihm nicht möglich gewesen, er hatte es verlernt, er hatte nicht einmal beim Begräbnis seines Vaters weinen können, und vielleicht erging es dem Vater des Mädchens ebenso, seine Augen waren trocken, trocken und gerötet, die Augen eines Menschen, der nicht geschlafen hat und lange Zeit nicht mehr schlafen wird und der, selbst wenn er schliefe, keine Ruhe finden könnte, weil in seinen Träumen das Verschwinden seiner Tochter immer wiederkehren würde, die Angst und die Suche nach ihr und später dann der Telefonanruf, das Klingeln an der Haustür, der Inspektor mit zwei uniformierten Polizisten, die ihre Dienstmützen abnahmen, bevor noch jemand ein Wort gesprochen hatte. Der Mann brach nicht in Tränen aus, er öffnete den Mund, wobei sich sein Unterkiefer verkrampfte, und der Schrei, den er nicht ausstieß, kam von seiner Frau, die im Flur stehen geblieben war und nicht den Mut gefunden hatte, zur Tür zu gehen, als es klingelte. Sie schrie auf und sank zu Boden, und eine andere Frau kam, um ihr auf die Beine zu helfen, und seitdem hatte der Inspektor das Gefühl, immerfort ihr Weinen zu hören, selbst als er das Haus schon wieder verlassen hatte und zum Polizeipräsidium zurückgegangen war mit dem unbestimmten Vorsatz, etwas zu tun, etwas zu seiner Rechtfertigung, in der Vorstellung, dass das Verbrechen nicht ungestraft bliebe, dass noch Handlungen möglich waren, Suchaktionen, Befehle, die nur er geben konnte.

Nachts, in den langen schlaflosen Nächten, wenn er in der Dunkelheit ausgestreckt auf dem Bett lag und sich ohne rechte Überzeugung nach Alkohol und Zigaretten sehnte, sah er im Geiste die verschiedenen Gesichter des Mädchens vor sich, das, welches er beim ersten Mal sah, und das spätere im Leichenschauhaus, als der Gerichtsarzt das Laken zur Seite schlug, um ihm die Verletzungen zu erklären, und auch das letzte Gesicht, das er gesehen hatte, das auf dem Videofilm von der Kommunion. Er sah diese Gesichter, und danach, als ob die Dunkelheit sich verdichtete, sah er das andere Gesicht ohne erkennbare Züge, das Gesicht von jemandem, der zu dieser Stunde vielleicht auch nicht schlafen konnte, der sich zweifellos noch in der Stadt aufhielt, durch die Straßen lief, zur Arbeit ging und seine Nachbarn grüßte. Manchmal fuhr der Inspektor dann in die Höhe, wie jemand, der beim Einschlafen von einem jähen Herzrasen erfasst wird, und hatte dann das abwegige Gefühl, eine Erinnerung mit Händen greifen zu können, doch nichts geschah, nicht einmal der Schlaf überkam ihn, oder er kam, wenn der Morgen bereits graute und er an den frühen Morgen jenes Tages dachte, an die erste Helligkeit, die das Gesicht des Mädchens hatte erkennbar werden lassen, den Klumpen ihres Körpers, der von weitem wie ein Haufen weggeworfener Kleider ausgesehen hatte, dort am Fuß des Erdwalls, wo ein paar Rücksichtslose ihren Abfall hinunterwarfen, zerbrochene Literflaschen, Getränkekartons von Ananassaft und billigem Wein. Auch an jenem Morgen hatte er wach gelegen, hatte die zunehmende Helligkeit beobachtet und erst gemerkt, dass er eingeschlafen war, als das Läuten des Telefons ihn wie ein Pistolenschuss weckte.

Er erwachte in der diffusen Furcht, man riefe ihn vom Sanatorium an. Zugleich fürchtete er auch, von einem Attentat unterrichtet zu werden, vom Tod eines Kameraden, doch als er zur Besinnung kam, fiel ihm wieder ein, dass er nicht mehr in Bilbao stationiert war, dass man ein paar Monate vorher seinem Versetzungsgesuch stattgegeben hatte, nach einer langen Zeit des Wartens, als es vielleicht schon zu spät war, wie immer oder beinah immer. Stets passieren die Dinge, wenn alles längst hoffnungslos geworden ist. Er dachte daran, wie seine Frau ihn angeschaut hatte, als er ihr die Mitteilung zeigte, den aufgerissenen amtlichen Umschlag, aus dem ein Stück Briefpapier hervorlugte. Ihre starren Pupillen waren ihm so nahe, dass sie ihn schmerzten, doch sie schauten ihn nicht an, blickten durch ihn hindurch, nicht auf den laufenden Fernseher und auch nicht zu dem Fenster, an dem sie so oft auf ihn gewartet hatte, sondern auf die Wand, auf die Tapete an der Wand der Wohnung, in der sie so viel Zeit verbracht hatten, ohne je das Gefühl zu haben, dass sie dort lebten, Jahre, von denen sie erst bei der Abreise begriffen, dass sie vergangen waren, ohne dass sie etwas daraus gemacht hatten, die Jahre vom Ende der Jugend bis zu einem anderen Alter, das man nicht ernsthaft als Reife bezeichnen konnte und in dem sie, wie der Inspektor es jetzt empfand, in einem ungastlichen Provisorium gelebt hatten, das vielleicht endgültig war, so wie die leere Wohnung, in die er jeden Abend zurückkehrte, erschöpft von all dem Herumlaufen und den Blicken in unbekannte Gesichter, und wie das Bett, in dem ihn die Schlaflosigkeit bereits zu erwarten schien, wie seine Frau ihn erwarten würde, wenn man sie aus dem Sanatorium entließ.

2

»Gelobt sei Gott«, sagte Pater Orduña, und über die Lippen des Inspektors kam automatisch die Antwort, die er seit über dreißig Jahren kein einziges Mal mehr gesprochen hatte: »Jetzt und in alle Ewigkeit.«

Er wirkte kleiner, aber nicht viel älter, trug eine Brille mit dicken Gläsern und altmodischem Gestell, doch sein Haar war noch dicht und fast schwarz, und wenn er etwas gebeugt und schlurfend ging, so lag das nicht nur an den Jahren, denn genauso war er schon gegangen, als er noch viel jünger war, und das nicht aufgrund von Unbeholfenheit, sondern weil er einfach nachlässig war und zerstreut. Immer noch überraschend war auch, dass er keine Soutane trug und keine Tonsur und seine Hand nicht ausstreckte, damit der Besucher sie küsse. Normalerweise musste man sich vor ihnen verbeugen oder niederknien und mit gesenktem Kopf einen Kuss auf den Handrücken hauchen, und dann nahm man den Geruch von Soutane, von Seife oder dem Duftwasser wahr, der den weißen, sehr weichen und immer kalten Händen anhaftete, kältestarren Händen, die sich wie Wachs oder Seide anfühlten. Jetzt waren Pater Orduñas Hände das Befremdlichste an ihm, das, was sich am meisten verändert hatte, große, von Jahren körperlicher Arbeit hart gewordene Hände, deren Innenflächen noch Reste von Schwielen trugen, die Hände eines Arbeiters und nicht die eines Priesters, obwohl er sich auch davon vor längerer Zeit zurückgezogen hatte. Jetzt war er nur noch Pensionär, sagte er, altes Eisen, stets vom nächsten Herzanfall bedroht, der ihn das Leben kosten konnte. Er rauchte nicht mehr, trank nicht einmal mehr ein Glas Wein zum Essen, der einzige Wein, den er probiere, sei der Messwein, sagte er lachend, und mit dem benetze er nur seine Lippen, Salz habe man ihm ganz und gar verboten, was er jedoch weniger vermisste als die Zigaretten, denen er in jungen Jahren mit Genuss zugesprochen hatte: Hinter seinem Pult auf dem Podium des Klassenzimmers sitzend, hatte er bedächtig seine Zigaretten gedreht, während er den Schülern den Katechismus abhörte. Nachts im Schlafsaal hörte man seinen bronchitischen Husten, und wenn sich das Kindergesicht zu seiner rechten Hand hinunterbeugte, roch diese nach Tabak, und man sah die gelben Nikotinflecken an seinem Zeige- und Mittelfinger. Pater Orduñas Soutane roch nach Kerzenwachs, nach Kirche, Weihrauch und Tabakbeutel.

»Gelobt sei Gott«, sagte er nach einigen Sekunden des Zögerns, zurückzuführen hauptsächlich auf den ungewohnten Umstand, dass jemand in dem kleinen Vorzimmer auf ihn wartete. Er bekam heute kaum noch Besuch, nicht wie früher, als seine Wohnung ein Ort des Trostes, der politischen Debatten und für einige sogar der Zuflucht gewesen war, in den damaligen schwierigen Zeiten. Einmal hatte die Polizei, auf der Suche nach jemandem, der gar nicht dort war, sogar seine Tür eingetreten, hatte seine Bücher und Papiere durchwühlt und alles auf dem Boden verstreut liegen lassen, als sie wieder abgezogen waren, die Tür halb aus den Angeln gerissen. Aus jener Zeit hingen noch ein paar Reliquien an der Wand, zwanzig Jahre alte, heute unglaublich veraltete Poster, ein Porträt von Che Guevara und ein Plakat von Antonio Machado mit ein paar Gedichtzeilen unter seinem Bild, und noch ein weiteres mit einer grünweißen Landkarte, auf die unbeholfen eine junge Frau gezeichnet war, die aus einem Traum zu erwachen oder sich mühsam von der Erde zu erheben schien: »Steh auf und gehe, Anda-Lucía«, alle vergilbt, schlaff an der Wand hängend, mit Reißnägeln festgesteckt. Und über allem diese altvertraute Atmosphäre von Bedürftigkeit, hervorgerufen vor allem durch die mit grünem Kunststoff bezogenen Stühle und das Sofa voller Brandflecken von Zigaretten, wie in einer Wohnung von armen Leuten, ein Kühlschrank, auf dem seit undenklichen Zeiten eine hohe, in grellem Blau bemalte Vase mit getrockneten Blumen stand, und daneben, an der Wand, ein Kalender des Bauordens mit dem altersfleckigen Bild der heiligen Familie, die in der Werkstatt Josefs des Zimmermanns arbeitete.

Pater Orduña, dem die Annehmlichkeiten des Lebens gleichgültig waren, schenkte dem Dekorativen noch weniger Beachtung, denn seine angeborene Askese, die ihn daran hinderte, groß über den Geschmack des Essens nachzudenken, machte ihn auch blind für die materiellen Unzulänglichkeiten der ihn umgebenden Dinge, für ihre Gewöhnlichkeit oder ihren Anachronismus, für ihren heruntergekommenen Zustand. Ihn störte nicht, dass das Kopfende des kleinen Bettes, in dem er schlief, aus Resopal war oder dass seine Schuhe, die Schuhe eines alten Priesters, der ständig auf den Füßen war, gerundete Spitzen und breite Absätze hatten, wie sie zwanzig Jahre zuvor in Mode gewesen waren, so wie er vor seinem Bett auch keinen Läufer vermisste, auf den er morgens beim Aufstehen seine Füße stellen konnte, um nicht auf die kalten Fliesen treten zu müssen. Bar jeglicher Annehmlichkeit, hatte seine Wohnung, klein und eng wie die Wohnungen in den Arbeitervierteln, etwas von einem unfreiwilligen Museum früherer Zeiten, nicht sehr weit zurückliegender, doch mittlerweile recht übel beleumdeter Zeiten, und sogar die meisten seiner Bücher schienen wie Reliquien einer vergangenen Zeit, die nicht mehr modern war, die kaum je existiert hatte, Bücher über Theologie und Marxismus-Leninismus, leidenschaftliche, längst vergessene Debatten über Glauben und Engagement, über den Menschen, über die Gesellschaft und über das Transzendentale, Gespräche zwischen Kommunisten und Katholiken, das eine oder andere so genannte Sachbuch sogar, von der Art, die heute in den Antiquariaten verramscht wird, mit ehemals skandalösen Titeln wie Die neuen Priester oder Priester als Kommunisten.

Wer erinnerte sich heute noch an diese Dinge? Selbst Pater Orduña war von der Stadt, die ihn abgelehnt hatte, vergessen worden, von ihrem katholisch-klerikalen Teil, der finsteren Reaktion, die sich des verlorenen Sohnes schämte und ihn in die Verbannung schickte, ihn aus dem Orden ausschloss und sogar aus dem Priesteramt: ohne Ansehen seiner Herkunft und seines Namens. Auf den mit grünem Kunststoff bezogenen Stühlen und dem Sofa in der ärmlichen Wohnstube waren Zusammenkünfte von urchristlicher Heimlichkeit abgehalten worden, Messen, bei denen das Brot mit den Händen gebrochen und ausgeteilt und der Wein nicht aus goldenen oder silbernen Kelchen getrunken wurde, sondern aus großen Gläsern von gepresstem Glas, wie sie in Garküchen und Arbeiterhaushalten benutzt wurden, denselben vom vielen Gebrauch trüb gewordenen Gläsern, in denen Pater Orduña jetzt Kaffee mit warmer Milch vor seinen Besucher hinstellte, den er wieder erkannt hatte, ohne dass er seinen Namen hören musste. Koffeinfreier Nescafé mit Kondensmilch und Wasser, das Pater Orduña nicht besonders heiß gemacht hatte auf seinem kleinen Elektrokocher, den er im Schrank aufbewahrte.

»Segne diese Mahlzeit, die du uns beschert hast«: Gläser aus Duralex, trockene Kekse auf einem Plastiktablett mit dem vielfachen Emblem der Sparkasse darauf. Wie in der Apostelgeschichte hatten sich die Gerechten in aller Verschwiegenheit versammelt, um Armut und Verfolgung zu teilen. Im Kreise junger Leute, die ihn heimlich in seiner Wohnung aufsuchten, hob Pater Orduña, in dunklem Wollpullover und blauen Arbeitshosen, wie ein archaischer Vorbeter seine Hände, die groß und breit waren, kräftig und stumpf von der Arbeit. Sie diskutierten mit gedämpften Stimmen die Briefe des heiligen Petrus und die Schriften Lenins zur Gewerkschaftsarbeit, und plötzlich war ihnen, als poltere es in stürmischem Galopp die Treppe hinauf, die Tür sprang aus dem Rahmen, man hatte sie eingetreten, unnötigerweise, denn weder war sie verschlossen, noch hatte sie überhaupt einen Schlüssel.

Jenem Polizeiüberfall verdankte Pater Orduña die ersten Hinweise auf sein schwaches Herz. Seine Vorgesetzten entließen ihn mit scheinheiligem Wohlwollen aus allen priesterlichen Pflichten und gestatteten ihm nur noch, die Frühmesse zu lesen, die kein Mensch besuchte. Doch nach und nach, Morgen für Morgen, saßen mehr Gestalten in den Bänken: Das Predigen war ihm untersagt worden, doch er wählte Kapitel aus dem Neuen Testament oder von den Propheten und las sie mit klarer Stimme, die zu dieser noch nächtlichen Stunde deutlich durch das kalte, düstere Kirchenschiff hallte.

Heute besuchte ihn kaum noch jemand, und seine einzigen regelmäßigen Kontakte zur Außenwelt bestanden in den Beichten, die er immer noch abhielt, morgens nach seiner Messe, der Frühmesse um halb acht, wenn noch Nacht war im Winter, die er aber gerne las, selbst wenn niemand kam, zwei oder drei Frauen höchstens, die sich ernst und vereinzelt in die hinteren Bänke setzten, dort, wo die Kirche im Schatten lag. Seine kargen Frühstücke und Mahlzeiten nahm er in dem Speisesaal ein, der auch jenen Gemeindemitgliedern offen stand, die noch nicht in andere Wohnheime verlegt worden waren, und da sein Herz so schwach war, unternahm er auch nicht mehr die langen Spaziergänge von früher, seine Wanderungen zu den Ausblicken am Stadtrand und über die Feldwege weiter draußen. Auch schrieb er nicht mehr so viele Briefe wie früher. Wohl hingegen brachte er einen beträchtlichen Teil seiner Zeit mit dem Ordnen seiner Korrespondenz zu, unter der sich Stücke befanden, auf die er sehr stolz war, wie die Briefe, die Louis Althusser ihm Anfang der siebziger Jahre geschrieben hatte, oder ein getippter Brief von Pier Paolo Pasolini über seinen Film Das Evangelium nach Matthäus. Pater Ordtifia war versucht gewesen, diesen Brief einzurahmen und in seinem Zimmer an die Wand zu hängen, doch nach langen Beratschlagungen mit sich selbst war er zu dem Schluss gekommen, dass er sich des Hochmuts versündige, wenn er dies täte, oder schlimmer noch, der schlichten weltlichen Eitelkeit, sodass er ihn weiterhin unter Verschluss hielt, wenn auch nicht zusammen mit den anderen, sondern in seiner Nachttischschublade zwischen den Seiten des schlanken schwarzledernen Neuen Testaments, das er seit den Tagen des Priesterseminars mit sich führte.

Er hörte Radio, ein kleines Transistorgerät, das ihm morgens im Bad Gesellschaft leistete, während er sich wusch und zuweilen laut gegen Ansager wetterte und gegen Politiker, die gerade interviewt wurden; eine Schwäche, die er sich zugestand, ohne dass jemand davon wusste, ein Rest der alten Gewohnheit, logisch, systematisch, Schritt für Schritt zu diskutieren, und das unter dem doppelt dialektischen Fluch von Theologie und Marxismus. Noch immer heißblütig, obwohl die geringste Aufregung sein Herz rasen ließ, gönnte er sich Momente biblischen Zorns, eines Tobens gegen die Mächtigen dieser Welt, jedoch schon lange nicht mehr in der Öffentlichkeit, vielleicht war er dessen müde geworden, und viel Gelegenheit dazu hatte er auch nicht. Mit welcher Überzeugung konnte er das Reich der Gerechtigkeit auf Erden predigen, und das zu ein paar alten Mütterchen in dunklen Mänteln, die jeden Morgen zur selben Stunde und am selben Platz in ihren Bankreihen knieten und die er mit Namen sowie von ihren immer gleichen Sünden her kannte, die sie ihm später im Beichtstuhl zuflüsterten, ohne Reue natürlich und ohne den geringsten Wunsch, Anteilnahme oder gar Überraschung zu wecken, und mit einer fast fahrplanmäßigen Pünktlichkeit bei den Sakramenten. Er verbrachte zu viel Zeit allein, vergiftete sich allmählich mit einer Verbitterung über die ihm angediehene Geringschätzung und das Alter, an das er aber nicht glaubte und um das er sich eigentlich kaum kümmerte, wie ihn auch das langweilige salzlose Essen nicht kümmerte, nicht die kalten Fliesen in seinem Zimmer, nicht der hässliche stinkende Gasofen, mit dem er sich wärmte und der genauso alt war wie der hellblaue Emaillekessel und die mit grünem Kunststoff bezogenen Stühle und das Sofa. Seinen Kummer ignorierte er und beschwerte sich auch nicht über seine Einsamkeit, doch als er den Besucher erkannte, der im schwachen Licht der Diele wortlos vor ihm stand, unfähig noch, seinen Namen zu nennen, da überkam ihn eine schamlose, leutselige Herzlichkeit, eine jähe Dankbarkeit, die seine Augen feucht werden ließ und die tiefsten Emotionen seiner Seele weckte, uralte Zärtlichkeit und grundlose Wehmut, ein Bedauern, das konkreter und präziser war als die zum Teil schon ausgelöschten Erinnerungen, die es hervorrief.

»Gelobt sei Gott«, sagte Pater Orduña.

»Jetzt und in alle Ewigkeit«, antwortete der Inspektor automatisch, ohne dass sein Wille und seine Erinnerung etwas dazu beitrugen; die Worte kamen einfach über seine Lippen.

3

Jemand trägt ein Geheimnis in sich, nährt es in seinem Innern, als sei es ein Tier, das ihn langsam verschlingt, ein Krebs, dessen Zellen sich im absoluten Dunkel des Körpers vermehren, in diesem weichen, feuchten Dunkel, das rhythmisch erbebt wie unter Paukenschlägen, einem Gewissen, in das niemand Einblick hat und in dem wie eine Krebsgeschwulst eine hartnäckige Erinnerung wuchert, geheime Bilder, die er mit keinem Menschen teilen kann, die ihn nie mehr verlassen werden, die ihn unweigerlich von allen anderen menschlichen Wesen trennen. In dieser Erinnerung und in diesen Augen wohnen jetzt die unauslöschlichen Bilder des Verbrechens; Augen, die sich in diesem Moment irgendwo in der Stadt umschauen, harmlos, heiter vielleicht, wie die Augen eines jeden.

Doch die Augen eines jeden können große Angst verbreiten, die Augen, die die eigenen sind. In dem kleinen Waschraum neben seinem Büro schaute der Inspektor in den Spiegel über dem Waschbecken und dachte mit heimlicher Scham an eine noch nicht sehr lange zurückliegende Zeit, da er sich in den Spiegeln der Bars betrachtet hatte und seine vom Alkohol geröteten Augen trüb und bedrohlich aussahen. Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück, auf dem in einem ungeordneten Haufen die Akten aus der Verbrecherkartei lagen, der möglichen Verdächtigen, jeder mit seinem Geheimnis im Gesicht, in den Augen, hinter dem Blick, jeder mit seinem Anteil an Herausforderung und Verwegenheit und Hass darin, intelligente Augen, stumpfsinnige Augen, mitleidslose Augen, Augen, die die letzten Lebenssekunden des Mädchens gesehen hatten, Pupillen, in denen sich sein Bild gespiegelt hatte, konvex und winzig, wie durch das Guckloch einer Tür betrachtet. An der Wand haftete das Foto, das die Eltern dagelassen hatten, als sie ihr Verschwinden meldeten: Es war eine Erinnerung, eine nachdrückliche Aufforderung, die Suche weiterzuführen; aber dieses Gesicht mit dem lieblichen Lächeln zu betrachten, die großen, etwas schräg gestellten Augen, in denen nicht die Spur eines Argwohns, nicht die geringste Vorahnung des Schmerzes stand, war für den Inspektor auch ein Weg, um nicht an die anderen Fotos denken zu müssen, sich nicht an das Gesicht mit den weit aufgerissenen Augenlidern erinnern zu müssen, an den weit geöffneten Mund, den er plötzlich im Licht der Taschenlampen gesehen hatte, in einem Graben, neben dem Stamm einer Pinie, ohne anfangs ganz zu begreifen, was er da sah, die farblose Haut, die Verrenkung des Kopfes im Verhältnis zum Körper, die weit gespreizten Beine, der unmögliche Ausdruck des Mundes, groß wie ein Loch, wie eine unmenschliche Öffnung oder aufgerissene Wunde, mit dem beschmutzten weißen Stoff des Höschens darin, das wie Erbrochenes oder wie ein Auswuchs heraushing, den der Inspektor erst nach einer Weile als das erkannte, was er war.

Was mochte ihr Mörder gesehen haben, während er sie erdrosselte, welche Erinnerung trug er in diesem Augenblick in seinem Gewissen mit sich herum, wohin er auch ging, vielleicht sogar in seinen Träumen, was mochte das Mädchen am Schluss gefühlt haben. Doch das würde kein Mensch je herausfinden können, niemand würde imstande sein, das Ausmaß und die Tiefe des Leidens zu ermessen, die Grausamkeit des Schreckens, niemand außer dem Mädchen selbst, der kleinen Fatima, die nach einigen Sekunden oder Minuten des Ringens nach Luft aufgehört hatte zu existieren, mit aufgerissenem Mund, in den die Finger des Mannes das zerrissene Höschen hineingedrückt hatten, bis der Stoff tief in den Hals gedrungen, die Zunge zerquetscht war, hineingestopft in die Nasenlöcher. Danach hatten die lebendigen, entsetzten Augen aufgehört zu schauen, tote Materie plötzlich, wie aus Glas, und er hatte sich vergewissert, dass sie nicht mehr atmete, hatte sich von ihr abgewandt, aufgewühlt von der Anstrengung und vom Zorn, von der schmutzigen Triebhaftigkeit, der Vollmond zwischen den hohen Zweigen der Pinien, das Gesicht bleicher jetzt, rund, ein Kindergesicht noch, das Gesicht eines Mädchens und nicht das Gesicht einer Toten, mit einem letzten, eingebildeten Widerschein in den Pupillen, ebenfalls konvex und fern, von dem Gesicht, das sich über sie beugte, um sicherzugehen, dass sie nicht mehr atmete.

Er kletterte den Erdwall hoch, blind tastend vielleicht, mit dem Drang zu fliehen, auf den Piniennadeln ausgleitend, die unter seinen Schuhsohlen knirschten, doch möglicherweise hatte er auch alles kaltblütig geplant, neben dem Messer noch eine Taschenlampe mitgenommen, obwohl überflüssig, da in dieser Nacht Vollmond war. Der Inspektor erinnerte sich an die Helligkeit in seinem Zimmer, als er aus einem unruhigen Traum erwacht war und bis zum Morgengrauen nicht mehr einschlafen konnte, als er aufgestanden war, um ins Bad zu gehen, und im Fensterrahmen das blaue Rechteck der Nacht gesehen hatte, und mitten darin, über den Dächern und den Fernsehantennen, den großen weißen Vollmond mit seinem kalten phosphoreszierenden Glanz, der die Umrisse scharf hervorhob, ohne den Himmel zu erleuchten. Als er aus dem Bad zurückkam, legte er das Kopfkissen doppelt, um sich nicht wieder hinzulegen, saß mit dem Kissen im Rücken wach im Bett, betrachtete den Mond im Fenster, drehte den Kopf, um die Zeit auf dem Digitalwecker abzulesen, der auf dem Nachttisch stand. Er hatte die Stundenschläge von den Türmen der Stadt gehört, am nächsten die dumpfen Schläge vom Uhrturm auf dem Platz neben dem Polizeipräsidium, die die Fensterscheiben seines Büros leicht erzittern ließen. Vielleicht hatte zur selben Zeit, als der Inspektor erwachte und in der Schlaflosigkeit strandete, der andere, eben zum Mörder geworden, in seinem Bett gelegen, noch wach, müde, erregt, hatte seine Kleidung versteckt, die er am anderen Morgen beiseite schaffen wollte, hatte sich gründlich geduscht, und die Dusche hatte ihm zweifellos ein Gefühl der Erleichterung verschafft, der Absolution beinah, denn es gibt keinen Menschen, der sich frisch geduscht nicht unschuldig fühlt. Aber wenn er nicht allein lebte, wie war er unbemerkt ins Haus gekommen, ohne dass eine Frau oder eine Mutter ihm geöffnet hatten oder aufgestanden waren und ihn gefragt hatten, wo er gewesen sei, warum er so spät erst komme. Eine Frau in Morgenmantel und Pantoffeln, nervös, ungekämmt, starr in der Diele stehend, mit einer qualmenden Zigarette in der Hand, und er, der Inspektor, still an der Tür, die er soeben geschlossen hat, zu erschöpft oder betrunken, um einen Vorwand, eine halbwegs glaubwürdige Lüge zu erfinden, mit dem einzigen Wunsch, sie möge den Geruch seines Atems oder seiner Kleidung nicht wahrnehmen.

Wie hatte der Mörder sich vor ihnen verstellen können, vor einer Frau oder einer Mutter, wo und wie konnte er, bevor er nach Hause kam, die Spuren des Vorfalls beseitigt haben, die Flecken, den Schmutz, der wahrscheinlich in seinem Haar oder an seiner Kleidung haftete, auch den Geruch, wer weiß, den Geruch von Schweiß und von Blut. Wer schlendert nachts oder tags durch die Stadt, ohne ein Geheimnis zu verbergen, Familienväter, die mit ihrem Auto zur Landstraße hinausgefahren sind, wo die jungen Prostituierten stehen, magere Gespenster mit bloßen Beinen und von winzigen Nadeleinstichen übersäten Unterarmen, Ehemänner, die nach dem Büro, bevor sie nach Hause fahren, noch eben in eine jener Bars hineinschauen, wo man junge Männer trifft, oder eine Telefonnummer wählen, die auf den vermischten Seiten der Zeitung zu finden sind, neben einer verheißungsvollen Annonce, die heimliche Erregung, Frevel und Treuebruch ohne Spuren verspricht, ohne Folgen, ohne Erinnerung und Schuld, glauben sie. Jeder trägt sein Geheimnis mit sich wie seinen Personalausweis, sein kleines oder alles verzehrendes Maß an Scham, seinen diskreten Schwindel mit der Erinnerung an eine Stunde des Ehebruchs oder mit Kreditkarte bezahlter Wollust, mit dem Geheimnis einer aufbrechenden Begierde beim schlichten Anblick einer Frau auf der anderen Straßenseite, während er mit der eigenen Frau am Arm spazieren geht, mit der unerkannten oder verheimlichten Existenz eines Virus, eines Gewissensbisses, einer Krankheit.

Allein in seinem Arbeitszimmer, mit dem Rücken zum Fenster, hinter dem es Nacht geworden war und ein leichter Regen eingesetzt hatte, ohne dass er es bemerkte, erinnerte sich der Inspektor an die bleiche, tote Haut des Mädchens, die weit geöffneten Augen, den aufgerissenen Mund, wie immer, wenn er sich daran erinnerte, inmitten des großen gelben Lichtschachts, den die Taschenlampen ins Dunkel gruben, verspürte ein Frösteln, ein durch und durch körperliches Unwohlsein, einen Ekel, wie wenn man an einem unwirtlichen feuchten Ort erwacht und in der Finsternis etwas Glitschiges, Fremdes ertastet, ein Gefühl von Widerwillen und Erbarmen, von hilfloser, grenzenloser Empörung, auch von Entsetzen mit einem Mal, von rasendem Zorn.

Er schaute von seinem Fenster auf die Fußgänger hinab, die den Platz überquerten, möglicherweise sah er sogar den Mörder, ein Dutzendgesicht mit Augen, die gesehen hatten, woran niemand sonst in der ganzen Stadt sich erinnerte. Unter all den Trägern von niederträchtigen oder abscheulichen oder elenden oder kindischen Geheimnissen war dieser Mann der heimliche Monarch, der absolute Herr des schlimmsten Geheimnisses von allen, der schlimmsten aller Schändlichkeiten, die nie gebeichtet wurden.