exit RACISM
rassismuskritisch denken lernen
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Tupoka Ogette: exit RACISM
eBook UNRAST Verlag, Juni 2020
ISBN 978-3-95405-011-6
7. Auflage, Mai 2020
© UNRAST Verlag, Münster
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Umschlag: Felix Hetscher, Münster
Satz: UNRAST Verlag, Münster
Vorwort
1. Intro
2. Los geht’s
2.1. Noch ein Wort, bevor wir starten
2.2. Disclaimer für Schwarze Menschen und People of Color
2.3. Warum ein ›Mitmach-Buch‹? & Wie dieses Buch ›funktioniert‹
3. Willkommen in Happyland!
4. Abwehrmechanismen von Happyland
5. Die Geschichte des Rassismus – oder: Wie Happyland entstand
5.1. Rassentheorien
5.2. Wie Deutschland von der Sklaverei profitierte
5.3. Deutschlands ›Platz an der Sonne‹
5.4. Mission
6. Rassismus und Weißsein heute
6.1. Othering – Wer sind die Anderen?
6.2. Weiße Privilegien oder: Oh, wie schön ist Happyland
6.3. Die Macht der Sprache – Sprache der Macht (TRIGGERWARNUNG)
6.4. Von Vor- und anderen Urteilen
7. Deutschland und Rassismus als Unwort des Jahrzehnts
7.1. Warum wir uns gerade in Deutschland so schwertun mit Rassismus
7.2. Die Derailing–Evergreens
8. Story time. Drei Perspektivenwechsel
8.1 Woher kommst Du? Ich meine, wirklich?
8.2. Rassismus und Kita
8.3. Rassismus und Schule
8.4. Die R-Wort Bombe oder: Jetzt bin ich aber tief verletzt!
8.5. Überall nur Rassismus oder: Schwarze Babys sind viel süßer als weiße
8.6. Ein Klimawandel auch in Mannheim
9. Raus aus Happyland – und jetzt?
9.1. Tipps für einen rassismuskritischen Alltag
9.2. Weiße Eltern, Schwarzes Kind
9.3. Der Beginn (D)einer rassismuskritischen Lebensreise
10. Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Widmung
Ich widme dieses Buch dem, der den Frieden bringt,
und dem großartigen Krieger.
Glaubt daran und vergesst nie: Liebe ist lauter.
Danksagungen
Meiner Mutter danke ich für die nie endende Liebe, die Kraft und den Mut. Stephen – für den Titel dieses Buches und die immerwährende Wärme in meinem Herzen – it is you always you.
Dem wunderbaren Tsepo für die riesige Geduld, die stundenlange Feinarbeit und dafür, dass Du an mich und dieses Buch glaubst. Mel, du bist immer bei mir, bei uns. Danke, Ali, dass du so mutig bist. Saskia, Luzie und Mario, Danke fürs Zuhören, das Vertrauen und den Mut zum Perspektivenwechsel. Liebe Heike, ich danke Dir von Herzen für den zweiten, so genauen Blick.
Allen Schwestern und Brüdern gilt mein Dank für das Trotzdem-Lachen, -Lieben, -Hoffen, -Glauben und -Leben. Allen Verbündeten, Danke, dass ihr euch jeden Tag mit auf den Weg macht – trotz der Wahl, einfach stehen zu bleiben.
exit RACISM ist ein wichtiger Beitrag zum Brechen von rassistischen Verhältnissen, unter denen vor allem Kinder und Jugendliche leiden müssen, und dies besonders vor dem Hintergrund, dass sie sich meist in Strukturen bewegen, die sowohl von Rassismus geprägt sind und zudem in der Regel durch Erwachsene dominiert und fremdbestimmt werden. Das Buch exit RACISM richtet sich folgerichtig vor allem an weiße Leser*innen, die sich mittels des Buches in einen reflexiven und prozessorientierten Raum begeben können, um ihre eigenen Rassismen zu erkennen und abzubauen.
Dies ist auch deshalb ein wichtiger Schritt, weil in die deutsche Gesellschaft immer noch kein gemeinsames Verständnis über Rassismus eingeschrieben ist und eine umfassende Aufarbeitung von Wirkungen, Ursprung und Folgen rassistischer Verhältnisse nicht stattgefunden hat.
In den letzten 30 Jahren sind durch Autor*innen aus der Schwarzen/PoC Community, zu der auch Tupoka Ogette gehört, umfangreiche rassismuskritische Wissensstände entwickelt worden, die sich auf allen Ebenen mit Rassismus beschäftigen; und es ist zu hoffen, dass diese in naher Zukunft in die gesellschaftlichen Strukturen wie Kindergärten, Schulen und Universitäten Einzug halten.
Tahir Della, Vorstandsmitglied der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland, isd e.V.
Es ist ein Sommertag Mitte der Achtzigerjahre. Der Spielplatz – Steinplatz genannt – liegt vor mir. Meine Augen suchen ihn nach einem bekannten Gesicht ab. Ich bin fünf Jahre alt und habe noch ein bisschen Zeit, bevor ich wieder hoch zu meinen Großeltern muss. Die Uhr kann ich noch nicht lesen, aber ich weiß, wenn die Glocken läuten, ist es Zeit hochzugehen. [Damals durften wir Kinder noch allein unten spielen – heute ist das für mich als Mutter unvorstellbar. Aber das waren andere Zeiten.]
Ich finde leider niemanden, den ich kenne, und setze mich in den Sandkasten, um den anderen Kindern zuzuschauen. Den Jungen, der neben mir spielt, nehme ich nur am Rande war. Auf einmal höre ich eine Männerstimme über mir: »Iih, hier stinkt’s nach N***[1], komm weg!« Ich erstarre. Traue mich kaum hochzuschauen. Ich weiß genau, dass ich gemeint bin, auch wenn wir das Wort zu Hause nicht sagen. Alle Kinder um mich herum halten in ihrem Spiel inne und schauen mich an. Ich will aufstehen und wegrennen und gleichzeitig möchte ich im Boden versinken. Ich kann mich nicht von der Stelle rühren. Mein Körper fühlt sich an, als ob ich dreihundert Kilo wiegen würde. ›Ich bin ein N*** und ich stinke, ich stinke, ich stinke‹, dröhnt es in meinem Kopf. Ich höre die Stimmen um mich herum nur noch wie durch Watte. Ich sehe nichts mehr, weil ein Schleier von Tränen mir die Sicht nimmt. Bloß nicht losheulen, denke ich. Das letzte bisschen Würde will ich mir in diesem Moment erhalten. Ich schaffe es, langsam aufzustehen, drehe mich um, gehe einen Schritt und noch einen, laufe los, immer schneller und schneller, ich kann nicht aufhören, bis ich an das Haus meiner Großmutter komme. Ich rase die Treppe hoch, mein Herz sticht, ich werfe mich ihr in die Arme und vergrabe mein Gesicht in ihrem Bauch. Sie hält mich fest, summt leise ein Lied und meine Tränen dürfen endlich laufen.
Vor mir liegt ein Semester an einer Hochschule in Deutschland. 29 mehr oder weniger wissbegierige Studentinnen und Studenten werden an meinem Seminar »Interkulturelle Kompetenz« teilnehmen. Es handelt sich um eine Pflichtveranstaltung im Rahmen eines x-beliebigen – sagen wir ingenieurtechnischen – Masterstudienganges. Laut der mir vorliegenden Liste handelt es sich um 20 junge Damen und 9 Herren. Da ich die Studierenden bereits aus einer anderen Lehrveranstaltung kenne, weiß ich, dass es sich überwiegend um weiße[2] Student*innen handelt, höchstens zwei oder drei von ihnen sind Menschen mit einem sogenannten ›Migrationshintergrund‹. Der thematische Schwerpunkt dieses Seminars wird ›Rassismus und Weißsein in Deutschland‹ sein. Das wissen die jungen Leute nur noch nicht.
Mein Name ist Tupoka Ogette. Ich bin freiberufliche Trainerin, Beraterin und Coach. Ich selbst bezeichne mich als Expertin für Rassismus und als Aktivistin. Und, ach ja, ich bin Schwarze Deutsche. 1980 bin ich als Tochter einer weißen deutschen Mathematikstudentin und eines Schwarzen tansanischen Studenten der Agrarwissenschaften in Leipzig geboren. Ich bin quasi das Produkt einer binationalen ›Freundschaft‹ zwischen der damaligen DDR und Tansania. Diese Freundschaft endete damit, dass die Studenten nach Beendigung ihres Studiums umgehend wieder das Land verlassen mussten.
Zusammen mit meiner Mutter bin ich 1988 aus der DDR nach Westberlin ›ausgewandert‹. In Berlin Kreuzberg habe ich meine Jugend verbracht, um dann nach dem Abitur wieder nach Leipzig zum Studium zu gehen. Dort habe ich Afrikanistik und Deutsch als Fremdsprache studiert.
Zum Thema Rassismus habe ich 38 Jahre ganz ›praktische Erfahrungen‹ ›gesammelt‹. Ich hatte viele Gelegenheiten, Rassismus am eigenen Leib zu spüren. Dazu kommt eine nun inzwischen fünfzehnjährige theoretische Auseinandersetzung mit diesem Thema. Seit etwa sechs Jahren arbeite ich ganz konkret mit Menschen zu den Themen Diskriminierung, Vorurteile, Stereotype, verinnerlichte, bewusste und unbewusste Machtstrukturen in Bezug auf – nicht nur, aber vor allem – Rassismus. Seit gut zwei Jahren tue ich dies auch nicht mehr allein, sondern im Team mit meinem Mann Stephen Lawson – Bildhauer, Künstler, aktivistischer Referent. Wir arbeiten mit großen Gruppen, kleinen Gruppen, beraten Einzelpersonen. Wir werden in Schulen, Kitas, Vereine, große und kleine Unternehmen, Behörden und Verwaltungen eingeladen. Wir hören die Geschichten von Lehrenden, Studierenden, Eltern, Manager*innen, Rettungssanitäter*innen, Polizist*innen, Richter*innen. Männern, Frauen, Erwachsenen und Kindern, Schwarzen, People of Color (PoC)[3] und weißen Menschen.
Warum schreibe ich dieses Buch? Weil ich möchte, dass Sie einen Einblick in meine Arbeit als Antirassismustrainerin bekommen. Weil ich mir wünsche, dass immer mehr Menschen verstehen, wie Rassismus funktioniert und wie tief er in unserer Gesellschaft verankert ist. Und weil ich glaube, dass die meisten Menschen gut sein wollen. Ich glaube daran, dass die meisten Menschen Gerechtigkeit und Fairness als Werte schätzen und nach ihnen leben wollen. Und dass sie anderen Menschen nicht wehtun wollen. Meistens zumindest. Ich weiß aber auch, dass viele Menschen Rassismus jeden Tag reproduzieren. Sowohl bewusst als auch unbewusst. Dass Schwarze Menschen und People of Color in Deutschland jeden Tag Rassismuserfahrungen machen. In Kitas, in Schulen, in ihren Familien, auf der Arbeit, auf dem Weg zum Supermarkt. Und dass dieser Rassismus oft in Kontexten passiert, in denen sich die Menschen für tolerant, fair und vor allem für ›antirassistisch‹ halten. Oder auch in Räumen, die von (weißen) Menschen als ›rassismusfrei‹ proklamiert werden. Und da liegt das Problem: Rassismus gilt in Deutschland als individueller, bewusster Fehltritt der Anderen. Das heißt, es wird davon ausgegangen, dass Rassismus nur bei Nazis oder anderen ›schlechten‹ Menschen vorkommen kann und dass stets eine entsprechende Absicht vorhanden sein muss. So wird die Illusion geschaffen, dass es tatsächlich rassismusfreie Räume gibt. Es ist schwer, die soziale Brille, mit der auch ich gelernt habe, die Welt zu betrachten, abzunehmen und eine andere Perspektive einzunehmen. Aber es ist nicht unmöglich. Ich unterstütze Menschen auf diesem, mitunter sehr anstrengenden, schmerzhaften und aufwühlenden Weg. Daher erlebe ich auch, wie sehr er sich lohnt – für alle.
Ich hoffe, Sie hier ein Stück mit auf die Reise in eine rassismuskritische Welt mitzunehmen.
Aber, und das will ich Ihnen nicht verhehlen, ich schreibe dieses Buch auch für mich und für die vielen anderen Schwarzen Menschen und People of Color, die täglich unter Alltagsrassismus und institutionellem Rassismus leiden. Denn, ob nun böse gemeint oder nicht: Rassismuserfahrungen sind schmerzhaft. Als Schwarzer Mensch oder Person of Color in einer rassistischen Welt aufzuwachsen, erfordert Kraft und Anstrengung und hat nicht selten traumatisierende Folgen. Ich wünsche mir, dass es für meine Kinder und deren Schwarze Freunde und Freundinnen einfacher wird. Aber dazu brauche ich Sie.
Ich lade Sie mit diesem Buch dazu ein, mich – ähnlich wie in einem meiner Seminare – zu begleiten und dabei andere Perspektiven kennenzulernen: meine Perspektive – als Schwarze Frau in Deutschland, als Mutter von zwei Schwarzen Söhnen, als Antirassismustrainerin, als Tochter einer weißen Mutter und eines Schwarzen Vaters – und die Perspektive von drei ehemaligen weißen Student*innen, die ein Semester lang Logbücher zu ihren Gefühlen und Beobachtungen geschrieben haben, aus denen ich Ihnen – mit deren Einverständnis – Auszüge vorstellen werde.
Es gibt eine traditionsreiche Forschung zum Thema Rassismus. Was es aber auch gibt, ist eine Forschung darüber, was mit Menschen passiert, wenn sie selbst nicht von Rassismus betroffen sind, sich aber damit auseinandersetzen.
Diese Forschung ist mindestens so interessant wie die Erkenntnisse über die Wirkungsweisen von Rassismus selbst. Denn sie beschreibt, welche emotionalen Phasen Menschen durchlaufen, wenn sie sich auf den rassismuskritischen Weg begeben. Sie gibt einerseits Aufschluss darüber, wie Rassismus wirkt und welche Strategien sich etabliert haben, um ihn als Machtsystem aufrechtzuerhalten. Aber sie können auch Ihnen, die Sie sich ja nun auch auf diesen Weg begeben haben, helfen. Denn zu wissen, dass man mit seinen Gefühlen nicht allein ist, ist wirklich viel wert, finde ich. Und vor allem hilft Ihnen das Wissen darum, dass das Gefühl normal ist und Teil eines Prozesses, den so oder zumindest so ähnlich schon viele Menschen vor Ihnen durchlaufen haben oder derzeit mit Ihnen beschreiten.
Ich erlebe diesen Prozess bei jedem meiner Seminare und Workshops. Immer und immer wieder.
Und ich erlebe auch, wie lohnend und bereichernd dieser Weg ist. Die Auseinandersetzung mit den bewussten und vor allem unbewussten Wirkmechanismen von Rassismus eröffnen einen neuen Blick auf uns selbst, auf die Menschen, mit denen wir leben, und auf unsere Welt. Die neu gewonnenen Perspektiven ermöglichen nicht nur neue Wahrnehmungen und echte Begegnungen, sondern geben uns vor allem Handlungsspielräume, unsere Welt aktiv mit- und umzugestalten. Zu einer gerechteren Welt für uns alle.
Der Hauptteil meiner Arbeit – neben der Vermittlung der Inhalte – besteht darin, Menschen möglichst gut durch diesen Prozess zu begleiten. Ich hoffe, dass Ihnen die Logbucheinträge meiner Student*innen in Ihren verschiedenen Phasen helfen werden.
Bevor wir weitermachen, möchte ich Ihnen noch kurz das ›Du‹ anbieten. Wir begeben uns jetzt auf eine mit Sicherheit aufwühlende, emotionale und spannende Reise, und es ist für mich einfach entspannter und auch netter, wenn wir uns ab jetzt mit ›Du ‹ ansprechen. Ich hoffe, das ist okay.
Liebe Geschwister,
wie oben beschrieben, schreibe ich dieses Buch mit Fokus auf weiße Leser*innen. Das Ziel ist, sie zu einer rassismuskritischen Perspektive zu ermutigen. Doch natürlich bist auch Du herzlich eingeladen, dieses Buch zu lesen. Wichtig ist mir aber zu sagen, dass es mir durchaus bewusst ist, dass die Auseinandersetzung und Positionierung von Schwarzen Menschen und People of Color im Kontext des Empowerments[4] anders verläuft, andere Räume braucht und sich auch einer anderen – achtsameren – Sprache bedient. Ich möchte Dir daher hiermit eine Triggerwarnung[5] aussprechen. An der einen oder anderen Stelle werden rassistische Szenen, Bilder oder auch rassistische Sprache reproduziert – vor allem im Kapitel 6.3 »Die Macht der Sprache – Die Sprache der Macht«.
Die Kapitel dieses Buches sind alle ähnlich strukturiert. Mit Ausnahme des Kapitels »Perspektivwechsel«sind die Kapitel wie folgt aufgebaut:
Unter ›Input‹ findest Du Informationen, geschichtliche Herleitungen, Erklärungen zu dem jeweiligen Themenabschnitt. Es geht hier vor allem um Informationsvermittlung ganz nach dem Motto: ›Wissen ist Macht‹. Je mehr faktisches Wissen Du über Rassismus hast, desto gewappneter wirst Du auch im Alltag sein, ihn zu erkennen, mit ihm umzugehen und natürlich bei seiner Dekonstruktion mitzuhelfen.[6] Darüber hinaus werden in diesen Teilen des Buches Fragen aufgeworfen und diskutiert, Bezüge hergestellt, Thesen aufgestellt.
Ein echter Workshop würde natürlich nicht nur aus reinem Input bestehen. Gerade bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus wird die emotionale Ebene in der Auseinandersetzung oft weggedrückt, ignoriert oder gar als ›subjektiv‹ kritisiert. Doch Rassismus hat gerade auf emotionaler Ebene viel mit uns gemacht. Dafür braucht es Raum.
Die Professorin Grada Kilomba äußerte sich dazu in einem Interview auf die Frage zu den emotionalen Komponenten ihrer Arbeitsweise folgendermaßen:
»Ein Grund, warum ich das mache, ist, weil ich Emotionalität und Spiritualität in der Wissensproduktion sehr vermisse. Für mich ist das ein sehr wichtiger Teil von ›Decolonizing Knowledge‹[7]. Ich will, dass akademisches Wissen und Diskurs subjektiver und persönlicher wird. Theorie hat mit Biographie zu tun und Biographie mit Theorie. Wissenschaft wird von einer Person produziert, von einer Person geschrieben. Diese Person hat eine Biographie, eine Fragestellung, Emotionen.«[8]
Die Auseinandersetzung mit Rassismus unter Berücksichtigung der emotionalen Ebene ist in meiner Arbeit neben der reinen Wissensvermittlung auch der wichtigste Teil. Rassismus ist so eng mit unserem Ich und der Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen – auch emotional – verbunden, dass ich es für essenziell halte, diese Ebene immer mitzudenken.
Daher wirst Du in diesem Teil Anregungen für Gespräche mit Menschen in Deinem Umkreis und Tipps für weitere Beobachtungen in Deinem Alltag finden, zu denen ich Dich herzlich einlade. In diesem Sinne ist dieses Buch ein ›Mitmach-Buch‹. Nicht in dem engen Sinne, dass Du Aufgaben abarbeitest. Aber im Sinne eines neuen Hinschauens, Zuhörens, Ent-Deckens. Ich kann Dir versichern, es macht Spaß und ist hochspannend, einen Perspektivwechsel zu proben und Strukturen neu zu lesen.
Um Deine persönliche Reise auch rückblickend noch einmal analysieren zu können, ist in diesem Kapitel auch immer Platz für Deine Gedanken und Emotionen. Dies hilft auch in der eigenen Auseinandersetzung und in der Reflexion ungemein.
Wie versprochen, findest Du hier Auszüge aus Logbüchern verschiedener ehemaliger Workshopteilnehmer*innen, die diese dankenswerterweise für dieses Buch freigegeben haben. Zum Schutz der Privatsphäre dieser Personen sind die Einträge anonymisiert.
Die Idee ist, dass Du anhand der Logbücher die Möglichkeit hast, zu schauen, ob es Dir an der einen oder anderen Stelle vielleicht ähnlich geht. Oder vielleicht denkst Du über ganz andere Fragen nach? In jedem Fall bieten die Logbucheinträge Material für einen selbstreflektierenden Dialog. Wichtig zu erwähnen ist noch, dass die Teilnehmenden die Thematik nicht eins zu eins in der chronologischen Reihenfolge wie in diesem Buch behandelt haben. Demnach geht es in den Logbüchern nicht immer streng inhaltlich um das jeweils vorangegangen Kapitel, vielmehr wird ein Reflexionsprozess widergespiegelt.
INPUT
Ich nenne den Zustand, in dem weiße Menschen leben, bevor sie sich aktiv und bewusst mit Rassismus beschäftigen, ›Happyland‹. Den Begriff hat ein Manager eines großen Kommunikationsunternehmens am Ende einer meiner Workshops geprägt. Er sagte:
»Frau Ogette, ich habe das Gefühl, vierzig Jahre meines Lebens in ›Happyland‹ gelebt zu haben. Und Sie haben mich jetzt da rausgeschubst. Es fühlt sich an, als wäre ein Tornado durch meinen Kopf geweht.«
Happyland ist eine Welt, in der Rassismus das Vergehen der Anderen ist. In Happyland wissen alle Bewohner*innen, dass Rassismus etwas Grundschlechtes ist. Etwas, das es zu verachten gilt. Rassismus ist in Happyland enorm moralisch aufgeladen. Rassismus ist NPD, Baseballschläger, Glatzen und inzwischen auch die AfD. Es ist Hoyerswerda, Hitler und der Ku-Klux-Klan. Der Begriff ist nicht ambivalent, denn rassistisch ist, wer schlecht ist. Darüber gibt es in Happyland einen Konsens. Gelernt hat die*der Happyländer*in dies seit seiner oder ihrer* Kindheit. Immer wieder wurde es ihm oder ihr* eingebläut. Im Selbstverständnis der Happyländer und -länderinnen* hat das Wort ›Rassismus‹ keinen Platz. Auch andere verwandte ›Ismen‹[9] sind dort wenig vertreten. Kein Wunder also, dass mit Rassismus in Zusammenhang stehende Begriffe regelmäßig zum Unwort des Jahres gekürt werden – wie ›ausländerfrei‹ im Jahr 1991 oder auch ›Gutmensch‹ im Jahr 2015.
Hinzu kommt, dass man in Happyland davon ausgeht, dass Rassismus etwas mit Vorsatz zu tun hat. Damit man etwas rassistisch nennen kann, muss es mit Absicht gesagt oder getan worden sein. Des Rassismus bezichtigt werden kann also nur jemand, der oder die* vorsätzlich beschließt, dass die nun folgende Handlung oder das im Folgenden Gesagte rassistisch sein soll. Eine Wirkung, die der Verursachende derselben nicht beabsichtigt hat, liegt entsprechend nur im Auge des Betrachters und der Verursachende trägt keinerlei Verantwortung dafür.
Auch Absicht und Wirkung bilden in Happyland keine kausale Kette und haben – wenn überhaupt – nur sehr wenig miteinander zu tun. Die*der Happyländer*in entscheidet, wann und wie das Gesagte beim Empfangenden ankommt, wie es sich anfühlt oder anzufühlen hat. »Ich habe es nicht so gemeint, also musst Du nicht so beleidigt tun.«
Und da das R-Wort so schwer moralisch belastet ist und Rassismus = schlechter Mensch bedeutet, kommt es für die*den Happyländer*in auch einer schweren Beleidigung gleich, des Rassismus bezichtigt zu werden: einem Hochverrat an allem, woran die*der Happyländer*in glaubt und was sie*er gelernt hat. Ein noch schwerer wiegendes Tabu ist in Deutschland der Antisemitismus, als Spezialform des Rassismus, dessen tödlicher Ausgang im kollektiven Gedächtnis präsent ist. Weil dies so ist, reagieren Happyländer*innen auch defensiv und wütend auf die kleinste Andeutung, dass irgendetwas in ihrem Verhalten oder ihren Äußerungen auf Rassismus hindeutet. Dementsprechend erhält auch jeder Mensch, der es wagt, nur eine Vermutung auszusprechen, dass es sich in einer Situation oder bei etwas Gesagtem um das leidliche R-Thema handelt, umgehend und ungeprüft die Höchststrafe. Denn einen Rassismusvorwurf zu erhalten, ist IMMER schlimmer und emotional schwerwiegender, als das, was die fragliche Situation oder der fragliche Spruch ausgelöst hat. Immer. Deshalb macht man sich in Happyland auch vielmehr Sorgen darüber, rassistisch genannt zu werden, als sich tatsächlich mit Rassismus und dessen Wirkungsweisen zu beschäftigen. Fragt man die Bewohner*innen Happylands, wie es denn so um Rassismus steht in dieser Welt, wird er*sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen, dass das kein großes Thema mehr ist. Mehr noch, Happyländer*innen sind überzeugte Nicht-Rassisten. Nichts läge ihnen ferner, als jemanden bewusst auszugrenzen. Jedenfalls ist das nicht Teil ihres Selbstverständnisses. Sie halten sich für offen und tolerant. Das liegt daran, dass nicht nur das Wort, sondern auch die Gedanken daran aus Happyland verbannt wurden.
Noch etwas ist für die Bewohner*innen von Happyland wichtig. Sie möchten als Individuen wahrgenommen werden. Die eigene Hautfarbe spielt für sie keine Rolle. Es ist eine Kategorie, die – ihrer Meinung nach – in ihrem Alltag und daher auch in ihrem Selbstbild keine Rolle spielt. Die Kategorie ›Weißsein‹ scheint ihnen daher erst einmal sehr suspekt, und sie halten sie für eine abgedrehte Erfindung von fanatischen linksradikalen Hippies, die zu viel Zeit damit verbringen, anderen den Mund zu verbieten und überhaupt immer an allem herumnörgeln müssen, obwohl diese Dinge doch eigentlich kein Problem sind.
Klingt doch eigentlich nach einem ganz netten Land, oder? Also zumindest für die Bewohner*innen.
Aber Du ahnst es sicher schon. Es gibt ein Problem.
Wenn Du weiß