EINE KINDHEIT
IM SOZIALISMUS
IMPRESSUM
Röfke, Stefanie:
Risse im Asphalt – Eine Kindheit im Sozialismus
1. Auflage — Berlin: Berlin Story Verlag 2018
eISBN 978-3-95723-710-1
© Berlin Story Verlag GmbH
Leuschnerdamm 7, 10999 Berlin
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Umschlag und Satz: Norman Bösch
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Land im Nebel
Heimkehr
Flackernde Schatten
Willkommen im Sozialismus
Zähmung der Tyrannen
Umzug in die Platte
Der improvisierte Weihnachtsmann
Der König des Sandkastens
Seid bereit! Immer bereit!
Diskofieber im Ferienlager
Ich verspreche ein guter Pionier zu sein!
Geheimnisvolle Mauern
Abschied
Meine Heimat liegt im Ostteil Berlins, im Schatten hoher Pappeln und gleichförmig funkelnder Plattenbauten. Das Land, in dem ich aufwuchs, ist immer noch sichtbar und doch existiert es längst nicht mehr. Es zerrann lautlos in einer Novembernacht und löste sich nach und nach im Nebel auf. Die silbergraue Silhouette brannte sich tief in mein Gedächtnis, als sie verschwand. Ihre Konturen vermischten sich mit dem langen Zauber der letzten Sommerferien und ließen mich ohne Erklärung zurück. Alles, was mir vertraut war, schien plötzlich durch bessere Versionen austauschbar. An allen Ecken bröckelten Erinnerungen herunter, prallten auf harten Beton und blieben fahl und spröde liegen.
Meine Heimat ist Berlin-Marzahn. Keine Asphaltwüste, kein Randbezirk, kein trauriges Nirgendwo. Ort meiner Kindheit, lebendig und farbenfroh. Ich gehörte zur letzten Generation der Deutschen Demokratischen Republik. Als die Mauer fiel, war ich neun Jahre alt. Zu jung, um zu verstehen, doch alt genug, um zu spüren, dass die Welt, die ich kannte, nichts als ein Trugbild war. Die rauen Böden meiner Heimat, die ich für unverrückbar hielt, brachen auf und gaben allerlei Unrat frei. Über Jahrzehnte Hinweggekehrtes, Unausgesprochenes, Millionen eingezwängter Leben drangen durch jeden Spalt und zerfraßen gerade erst Gewesenes wie giftige Säure. Nichts durfte mehr sein, wie es war.
Der 9. November 1989 war ein ganz normaler Schultag. Seit den Morgenstunden prasselte Regen gegen die beschlagenen Fensterscheiben unseres Klassenzimmers, in dem wir die wichtigsten Lebensdaten Ernst Thälmanns zum x-ten Mal in unsere Heimatkundehefte kritzelten. Ab und zu warf ich einen kurzen Blick auf den leeren Stuhl neben mir, so als müsste ich mich vergewissern, dass er nach so vielen Jahren wirklich unbesetzt blieb. Henri Stillmann war eines Tages einfach nicht mehr zum Unterricht erschienen. Einfach so, ohne ein Wort des Abschieds hatte sich mein bester Freund für immer aus meinem Leben gestohlen.
In jener Herbstnacht des Jahres 1989 hatte ich ein letztes Mal an Henris Wohnungstür geklingelt und war nach einer halben Stunde sinnlosem Herumgestehe schniefend in die Obhut unserer vier Wände zurückgekehrt. Nun saß ich stumm auf unserer Wohnzimmercouch, den Blick auf den flimmernden Fernsehapparat gerichtet, eingekeilt zwischen grell geblümten Kissen und Omas guter Mollydecke, während über den Dächern unserer Hochhaussiedlung der Himmel aufklarte. In jeder anderen Nacht wäre ich eilig ans Fenster gelaufen, hätte die Gardinen beiseitegezogen und mit zusammengekniffenen Augen den Polarstern gesucht. »Der Polarstern ist der hellste und nördlichste Punkt des Himmels. Er bleibt immer an derselben Stelle, während die anderen Sterne weiterziehen. Egal, was passiert, er bleibt, wo er ist«, hatte mir Henri beigebracht. Doch all das war mir jetzt egal. In dieser Nacht verblasste der Nordstern, der so viele Lichtjahre entfernt lag, denn die Welt, in der ich lebte, erzitterte.
Mit überraschten Minen hatten meine Eltern den halb gedeckten Abendbrotstisch links liegen gelassen und waren an den Bildschirm gestürzt. Mit hektischen Handbewegungen drehte meine Mutter den Lautstärkeregler hoch, bis die Stimme des Nachrichtensprechers laut und deutlich zu vernehmen war, während mein Vater sich auf die Sesselkante sinken ließ, jede Sehne seines Körpers zum Zerreißen gespannt. Mit offenen Mündern starrten meine Eltern wie in Trance auf den Fernsehbildschirm. Ihre Augen verfolgten zahllose Frauen und Männer, die euphorisch auf eine meterhohe Mauer kletterten, hinter der das Brandenburger Tor in den Nachthimmel ragte. Eine schwarz-rot-goldene Fahne blitzte hier und da in der Menschenmenge auf. Hände griffen nach unten und zogen weitere Körper hinauf auf die graffitibesprühte Wand aus Beton, die ich nicht einordnen konnte, weil sie mir fremd war und nichts bedeutet hatte. Meine Eltern, deren angespannte Rücken mir abgewandt waren, schienen überrascht und ratlos und ich begriff: Das Hier hatte dem Dort nichts entgegenzusetzen.
Von diesem Moment an, der erst viel später in mein Bewusstsein rückte, landete Stück um Stück und Jahr um Jahr Vertrautes unter dem Richtschwert, wurde entsorgt oder bunt angepinselt, um als Souvenir oder Museumsstück in neugierig beäugten Vitrinen zu überdauern. Bedauernde Blicke überschatten meine Herkunft, urteilen mit psychologischem Sachverstand und können dennoch nicht verstehen. Aus lehrreichen Büchern purzeln mir fundierte Analysen entgegen, historische Aufarbeitungen, mit denen ich nichts anfangen kann. Ich erfahre von unmenschlichen Wohnbedingungen, Denunziation und Bespitzelung, lerne, dass ich in einem Unrechtsstaat aufwuchs, von einer undurchdringbaren, tödlichen Mauer umgeben. Meine Erinnerungen aber sind davon unberührt, bleiben politisch inkorrekt, die Bilder in meinem Kopf sind zu tanzenden Fragmenten verblasst. Alles, was in lebendigen Tönen erhalten blieb, ist der süße Duft von Papageienkuchen und ein flatterndes Pioniertuch im Wind.
Niemand lauscht unseren Erzählungen, denn in der Erinnerung glänzt vieles golden und was können wir schon berichten von einem Leben, das noch gar nicht richtig begonnen hatte. Wir sind Kuriosa der Weltgeschichte, lebendige, bestaunenswerte Attraktionen für Mauer-Touristen, die sich an Flohmarktständen über rostige Parteiabzeichen beugen. »Ach, Sie kommen tatsächlich von da? Dann erzählen Sie doch mal ‘nen Schwung. Das würde mich nämlich sehr interessieren.« Doch wie viel weiß man schon zu berichten über ein Land, in das man nur zufällig hineingeboren wurde. Erwartungsvoll geweitete Pupillen starren mir aus fremden Gesichtern entgegen, warten gebannt auf eine authentische Zeitzeugenaussage, oder zumindest ein nostalgisches Abdriften in die Vergangenheit. Doch ich muss sie enttäuschen, denn ich lebe genau wie sie im Hier und Jetzt und verscherble meine Erinnerungen nicht an den meistbietenden Schlachthof.
Ich blicke zurück auf eine halb fertige Kindheit, die entweder auf dem Jahrmarkt feilgeboten werden kann oder nur im Flüsterton erzählbar scheint, und stelle mir tausend Fragen, auf die es keine Antwort mehr gibt. Es fühlt sich an, als wäre ein Teil meiner Persönlichkeit unvollständig geblieben. Wie einst meine Heimat, so bin auch ich in der Mitte entzweit, pulsiere rastlos zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Ich kann mich frei und unbeschwert in der Welt bewegen und mich dennoch nicht entscheiden, wo ich hingehöre.
Der graue Koloss ragt stumm und mächtig mitten hinein in das kühle Blau des Vormittagshimmels. Gelbwarmes Sommerlicht spiegelt sich in seinen Fenstern, kitzelt seinen stählernen Körper und bringt ihn zum Blinzeln. Ich lächle schüchtern zurück und frage mich, ob es Orte gibt, die ein Gedächtnis haben. Wie lange bin ich nicht mehr hier gewesen? Es fühlt sich an, als wären nicht Jahrzehnte, sondern Jahrhunderte vergangen. Anders kann ich mir nicht erklären, dass einst Vertrautes beinahe spurlos verschwunden ist, als wäre es nie von Belang gewesen. Doch war es das wirklich? Seltsamerweise fühle ich mich kein bisschen fremd in Gegenwart des Riesen, der staunend zu mir herabzwinkert, als überlege er angestrengt, woher wir uns kennen. Gestern erst habe ich mich dazu entschlossen, unseren alten Wohnblock am Rand Ostberlins noch einmal aufzusuchen, um meine über Jahre achtlos verstreuten Erinnerungen aufzusammeln und sie sorgsam in meinem Herzen zu verstauen. Ich will diesen Teil meines Lebens mit mir nehmen, denn morgen verlasse ich meine Heimat auf unbestimmte Zeit.
In den einst wachen Augen des steinernen Giganten hat sich etwas verändert, das an der Oberfläche aufblitzt und in der Tiefe nicht mehr wichtig scheint. Statt bunter Fensterbilder klebt ein trüber, milchiger Schlierfilm über den Glasscheiben. Jemand hat meinen alten Freund mit reichlich Farbe übergossen. Ein verwaschener Mix aus Grün, Blau und Rot täuscht Gegenwart vor, übertüncht Vergangenes halbherzig und ohne jeden Sinn. Ich bedaure das neue Antlitz meines einstigen Gefährten, das ganz und gar nicht zu ihm passen will. Mir gefiel sein grau-schattiertes Kleid um vieles besser. Meine Augen malten es bunt mit Millionen von Farben, wie ein Prisma, in dem sich das Leben spiegeln und brechen konnte.
Ich nähere mich langsam von der Seite, lege meine Hand zur Begrüßung an die kühle Außenwand und streichle sanft über seine raue, kratzige Haut. Hier und da bröckeln Krumen aus dem Gemäuer und landen hüpfend auf sandigem Boden. Meine Finger, die jede Unebenheit mit meinen Erinnerungen abgleichen, finden auf der Stelle Vertrautes wieder. Behutsam fahre ich mit den Händen über den lieblos bepinselten Leib und beginne, daran zu kratzen. Meine Fingernägel krallen sich trotzig darin fest, Lacksplitter flattern zu Boden. Ich schabe eine murmelgroße Vertiefung hinein. Dann erkenne ich alles wieder: glitzernde Kieselsteinchen, die im Sonnenlicht funkeln, glasige, mit dunklen Perlen versetzte Diamanten meiner Kindheit. Ich schließe meine Augen und schlüpfe in den unscheinbaren Spalt, der sich vor mir auftut. Mein Blick streift an der Zone zum Gestrigen kreuz und quer an der Fassade entlang. Zwischen den Furchen und Ritzen bahnt sich die Natur ihren Weg. Namenloses Kraut überwuchert die mit Graffiti besprühte Häuserwand wie ein dünnes Mäntelchen.
Ich suche den Eingang und finde schließlich eine mit blättrigem Rost überzogene Tür. An ihrem Griff klebt eine schleimige Masse, die es mir unmöglich macht, daran zu rütteln. Mit dem Unterärmel meiner Jacke wische ich ein kopfgroßes Guckloch in das zugestaubte Sichtfenster, lege meine Hände blendenförmig an die Scheibe und blicke neugierig in das Innere.
Im lichtlosen Treppenhaus türmen sich Schutt und Unrat zu einer postsozialistischen Retrospektive. In den achtlos weggeworfenen Alltagsrelikten entdecke ich Bekanntes wieder: Das zerschundene Seitenschränkchen einer Wohnwand in Nussbaumimitat liegt bäuchlings im Zentrum, darunter klemmt ein orangefarbenes Einkaufsnetz mit zerschlissenen Lederriemchen. Ein umgestülptes Bonbonschälchen erweckt auf meiner Zunge den klebrig-süßen Geschmack von Himbeerbonbons und Sahnebaiser. Darüber hat jemand ein kornblumenblaues Stofftüchlein drapiert. Meine Gedanken haken sich daran fest, spulen zurück und rasen in atemberaubender Geschwindigkeit an den Beginn einer längst verblichenen Zeit.
Hallendes Gelächter schallte durch das Treppenhaus, auf Hochglanz polierte Halbschuhe plumpsten im Gleichtakt vorwärts. Kornblumenblaue Halstücher, fest verknotet unter geröteten Kindergesichtern. Die Hemden und Blusen geweißt und gestärkt. Nur in den Haarfarben leuchtete – gelb, braun, rot – ein Hauch von Persönlichkeit. Wir strahlten sorglos einem neuen Lebensabschnitt entgegen, auf den Lippen die Hymne der Jungpioniere, die für uns nur ein Lied war von vielen:
»Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und
Dörfer,
unsre Heimat sind auch all die Bäume im Wald.
Unsre Heimat ist das Gras auf der Wiese,
das Korn auf dem Feld und die Vögel in der Luft
und die Tiere der Erde
und die Fische im Fluß sind die Heimat.
Und wir lieben die Heimat, die schöne
und wir schützen sie,
weil sie dem Volke gehört,
weil sie unserem Volke gehört.«
An jenem Tag wurden wir in Berlins größtem Freizeitpark offiziell als Jungpioniere vereidigt, nachdem wir auf einer Bühne gelobten, für Frieden und Sozialismus einzutreten und das blaue Halstuch mit Stolz zu tragen. Wir hatten keinen blassen Schimmer, worum es dabei ging, verfluchten die steife, kratzige Uniform und den festen Knoten, der viel zu straff am Kehlkopf anlag. Dennoch grub sich das Ereignis in unsere Seelen, gerade weil es für uns unergründlich war. Wir verstanden noch nicht viel von politischen Zusammenhängen und dennoch geschahen Dinge um uns herum, die uns nicht verborgen blieben. Auch wenn wir ihre Tragweite längst nicht begreifen konnten, so spürten wir das wachsende Unbehagen in den Blicken unserer Eltern und Großeltern, bemerkten das heimliche Flüstern der Nachbarn im Hausflur, die ratlosen Ausflüchte und das bedauernde Streicheln unserer Köpfe. Noch überwog das Vertrauen in die Vernunft der Erwachsenen, das uns Sicherheit verlieh, mit der wir uns fürs Erste begnügen konnten.
Sobald ich versuche, die Bilder aus der Vergangenheit deutlicher heranzuzoomen, um sie zu Geschichten zu verweben, zu logischen Abfolgen zu verknüpfen, die sich nachvollziehbar erzählen lassen, entgleiten sie mir und rauschen hinab in einen unersättlichen Schlund.
Mit zugeschnürter Kehle kehre ich zurück in die Gegenwart. Mein Blick wandert weiter über Stofffetzen, die einst Kleidung gewesen sein könnten, über ausgefranste Kabel und zerbrochenes Glas. An der Kellertreppe hat sich ein Fernsehgerät der Marke »Combivision« aufgebaut und lässt niemanden passieren. Auf den Stufen, die in den ersten Stock führen, haftet der braungeblümte PVC-Belag nur noch lose am Boden und ist an manchen Stellen ganz herausgerissen. Düstere Parolen ziehen sich wie ausgefranste Geburtstagsgirlanden an den Wänden entlang, von denen in einem Fort verblichene Farbe und Putz herunterblättern. »Stasiknast« steht dort und »Nie mehr Sozialismus!« Unwillkürlich verkrampft sich etwas in mir. Ein Gefühl von beklemmender Empathie befällt mich. Dieses bis ins Mark vertraute Konstrukt aus Fertigteilen, dieses aus unzähligen Platten zusammengeschweißte Haus, das einst das Prestigeprojekt einer ganzen Ära war – hier wurde es seiner Würde beraubt. Ich trete zurück. Das Bild des Zerfalls brennt sich tief in mein Gedächtnis. Hier hatte jemand meine Heimat in ein anderes, von Zorn erfülltes Licht gerückt. Mir wird zum ersten Mal eindrücklich bewusst, dass sich auch meine Erinnerungen an jene Zeit so sehr vermengt haben mit fremden Sichtweisen, dass ich nicht mehr weiß, welcher Teil davon mir gehört und welcher nachträglich hinzugefügt wurde. Mein Gedächtnis lässt sich nicht mehr trennen von der Gegenwart und geht mal mehr, mal weniger konform mit diesem oder jenem Urteil. Doch ich will mich nicht für die eine oder andere Wahrheit entscheiden müssen, auf keiner Seite der Geschichte stehen, sondern aus vielen Versionen wählen können. Ich will mal hierhin und mal dahin schweifen und einen bunten Flickenteppich knüpfen mit verworrenen Mustern, aus dem keine zurechtgestutzten Bilder erstehen.
Ich vermisse das Glitzern des Schnees auf laternenbeschienenen Asphaltwegen, aber ich will ihn nie wieder unter den Füßen spüren. Ich sehne mich nach der Beschaulichkeit zwischen Plastikgeschirr und Velourtapeten, aber ich will nie wieder dort sesshaft werden. Mir fehlen so viele Dinge, aber sie gehören zu einem anderen Leben, für das kein Platz mehr ist. Ihre geisterhafte Existenz beschwert mich und ich will sie einsammeln, bevor sie sich für immer auflösen, meine Fundstücke zu einer Wunderkammer anfüllen und von ihnen erzählen, frei und unbeschwert, als wäre es das Leichteste auf der Welt.
Mit dem Finger fahre ich die vergilbten Klingelschilder entlang, ohne sie zu berühren. Nur noch auf wenigen lese ich unbekannte Namen. Ich stutze. Wohnt hier tatsächlich noch jemand? Unter den letzten beiden Namensschildern klebt eine eilig dahingekritzelte Nachricht:
Betreff: Abriss des Hauses Nummer 21 in der Lilienstraße
Sehr geehrte Mieter/-innen,
Ihre Hausverwaltung teilt Ihnen mit, dass dieses Wohnhaus am 18. April 2017 vorschriftsgemäß zum Abriss freigegeben wird. Bitte beachten Sie die Einhaltung der Räumungsfrist bis zum 01. April 2017.
Wir bedanken uns für Ihr Vertrauen und wünschen Ihnen für die Zukunft alles Gute!
Ihre Hausverwaltung
Ungläubig starre ich auf die fleckige Sterbeurkunde des Betontriesen, dessen vertraute Wände ich vor Jahren verlassen hatte, weil mich die Enge in seinen niedrigen Räumen bedrückte. Eine eigentümliche Melancholie befällt mich und lässt mich nachdenklich werden. Wie würde sich meine Geschichte verändern, wenn der Ort endgültig verschwunden wäre, der so viele Jahre mein Zuhause gewesen war? Die einzige Manifestation meiner Erinnerungen – durch Abrissbirnen zu Fall gebracht, von Baggern davongetragen. Ich habe diesem steinernen Riesen zu entfliehen versucht, als er nichts mehr barg als trostlose Rückblicke, und dennoch war er einst mein Refugium gewesen, der Ort, der mich für das Leben gewappnet hatte. Sollte ich mich nicht schützend vor ihn stellen, den Abriss um jeden Preis verhindern oder wenigstens den Umriss markieren, um später an sein Grab zu pilgern? Doch anstatt mich für einen zermürbenden Kleinkrieg mit einer emotional unbeteiligten Baufirma zu rüsten, stehe ich nur ratlos in der Gegend herum, scharre mit den Füßen im Kies. Zwei Wochen Schonfrist und es gäbe keinen sichtbaren Beweis mehr für meine Herkunft.
Wehmütig denke ich an die erhitzten Wangen meiner Großeltern, wenn sie von ihrer Heimat erzählten, von mystischen Wäldern, glitzernden Flüssen, idyllischer Dorfkindheit, von Häusern, in denen inzwischen fremde Familien wohnten, die eine andere Sprache sprechen. Orte, die weit genug entfernt lagen, um sie mit einer Aura der Märchenhaftigkeit zu umgeben, um fest daran glauben zu können, dass sie immer noch dieselben waren. Diese Orte sind Refugien der Erinnerung, von denen sich an dunklen Wintertagen träumen lässt, die die Phantasie beflügeln und mit sich forttragen können. Was aber würde ich meinen Enkeln erzählen? Durch meine Kindheit zogen keine feengleichen Wesen, rauschte kein Wind durch blühende Apfelbäume und trug den Duft von frischem Heu mit sich. Ich würde flüsternd berichten von Pioniernachmittagen und blauen Fahnen im Wind. Vielleicht würde ich unsere genormte Vier-Zimmer-Wohnung im Plattenbau erwähnen, von Steckbaukästen und weißhaarigen Männern in grauen Anzügen erzählen, die sich mit roten Nelken schmückten. Vermutlich würden mich meine Nachfahren mit zusammengekniffenen Augen und ungläubigen Mienen fragen: »Oma, hör auf zu spinnen, wo hast du wirklich gelebt? Zeig uns das doch mal! Das ist doch gar nicht so weit von hier.« Dann werde ich verschämt die Nase krausziehen und ihnen gestehen müssen: »Da gibt es nichts mehr zu sehen. Da steht jetzt ein Einkaufszentrum drauf.«
»Unsere Oma kommt aus’m Ghetto, aber das wurde plattgemacht«, höre ich sie auf dem Spielplatz tönen. Das gäbe ihnen Gelegenheit, ihre Coolness unter Beweis zu stellen und sie würden in der Halbwüchsigen-Rangordnung vermutlich ein gehöriges Stück nach oben rutschen. Ich würde es ihnen nicht verübeln, meine Heimat taugt nicht für wärmende Geschichten am Lagerfeuer. Ihre Züge sind zu surreal, um sich hineinzufühlen in eine Welt, die nur für jene sichtbar war, die in ihr lebten.
Meine Kindheit war eine Groteske, eine mit Beschaulichkeit drapierte Dystopie. Das Leben strömte darin nicht kraftvoll und unberechenbar vorwärts, sondern plätscherte in abgesteckten Bahnen vor sich hin, schwappte vor und zurück, um sich an den Ufern zu brechen, aber nie darüber hinauszustürzen. Unter dem beschlagenen Uhrglas, das sich wie eine schützende Kuppe über das Land gestülpt hatte, bewegten sich die Zeiger in einer anderen Geschwindigkeit. Manchmal verstummte das monotone Ticken des Räderwerks für einen Augenblick und es schien, als wäre die stickige Luft, die sich unter der Kuppel gebildet hatte, zum Bersten bereit. Doch es dauerte nicht lange bis die Schwachstelle gefunden, geflickt und die eingerosteten Zahnrädchen gegen weniger verrostete ausgetauscht worden waren. Ich frage mich, ob der Zeitpunkt je gekommen wäre, da ich das geflickte Uhrwerk selbst bemerkt hätte. Hätte ich ein Schlupfloch nach draußen gesucht oder mir einen Flicken geschnappt und es einfach zugestopft?
Gepolter im Treppenhaus reißt mich aus meinem lose aneinandergeknüpften Gedankengeflecht. Konfuses Stimmengewirr dringt an mein Ohr. Die Haustür fliegt mit einem quietschenden Krächzen auf und entlässt drei dubiose Gestalten, die sich nacheinander aus der Öffnung schieben.
»Tach auch!«, maunzt der Kleinere der Drei mir zu und jongliert seinen Kaugummi mit weit geöffnetem Mund von der einen zur anderen Kauleiste. Mit seinem haarlosen Kopf, der etwas schief auf seinem Hals zu sitzen scheint, den verschmitzten Grübchen und der gedrungenen Figur erinnert er mich an die Comicfiguren aus dem »Mosaik«. Ich erwidere seinen Gruß mit einem schmalen Lächeln. Die anderen beiden, schlaksige, rotblonde Hünen, die einander bis aufs Hemd ähneln, schleppen gemeinsam einen vergilbten Kühlschrank aus dem Hausinneren und blicken ganovengerecht finster drein. Rückwärts schleichend balancieren sie Schritt um Schritt den sperrigen Kasten über den Treppenabsatz auf den Gehweg hinunter, während der kleine Glatzkopf sie mit hektisch ausholenden Handbewegungen dirigiert.
»Man muss ja sehen, wo man bleibt, wa?« Er zwinkert mir schmatzend zu und ich frage mich, in welchen Verhältnissen er lebt, dass er über einen offensichtlich kaputten Kühlschrank in einen derartigen Freudentaumel gerät. Doch als hätte er meine Gedanken erraten, fügt er mit stolzem Grinsen hinzu: »Mein Cousin ist so’n Elektrofritze. Der kriegt den wieder tippi toppi in Schuss. Dafür kriegt man sicher noch ‘n Hunni.«
Ich bin mir unschlüssig, ob ich den offenbar beruflich erfolgreicheren Cousin wegen seiner verwandtschaftlichen Beziehungen bedauern sollte, zumal nicht sicher ist, ob dieser nicht vielleicht sogar selbst hinter dieser findigen Geschäftsidee steckt. Also entschließe ich mich zu einem weiteren schmalen Lächeln und hoffe, damit nicht noch detaillierter in die Geheimnisse der Unterwelt eingeweiht zu werden.
»Ey Alter, hör auf die Olle anzulabern. Schmeiß die Karre endlich an!«, schnauzt der Vordermann und deutet mit einem Nicken auf einen völlig verbeulten Opel Astra, der mitten auf der Straße parkt.
Der unsanft auf seine Pflichten Gestoßene reißt die Augen auf, schiebt seine fleischigen Finger erst in die vorderen Taschen seiner Hose, dann in die hinteren, doch seine Hände bleiben leer. Mit panischem Blick scannt er den Boden zu seinen Füßen ab.
»Was’n los? Wo ist der Autoschlüssel, du Depp?«, schnauzt der Kantigere der Zwillinge den verzweifelt Hin- und Hersuchenden an. Der wendet sich mit einem Aufschrei abrupt von der Szene ab und stürzt auf das Gefährt zu. Seine Kumpel ächzen und fluchen unter ihrer Last. »Der Idiot hat den Schlüssel schon wieder steckenlassen. Der kann sich seine Prozente sowas von abschmieren, sag ich dir. Verdammter Schwachkopf!«
Ich entschließe mich, die angespannte Situation nicht länger als nötig zu strapazieren und nutze den Moment der Unachtsamkeit. Bevor die Tür wieder ins Schloss fällt, schiebe ich meinen Fuß dazwischen und schlüpfe in das Hausinnere.
Ein beißender, ammoniakgetränkter Geruch fährt mir in die Nase. Schlagartig halte ich die Luft an, ziehe ein zerknülltes Taschentuch aus meiner Jackentasche und halte es mir schützend vor die Nase. Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen. Die Jungs haben gute Arbeit geleistet. Entweder hatte der Kühlschrank wirklich zu den einzigen noch verwertbaren Gegenständen gehört, die sich auf ihrem Plünderungszug finden ließen, oder sie wussten einfach nicht, was sie mit dem restlichen Plunder anfangen sollten. Der Hausflur ist komplett zugemüllt. Ich komme mir vor wie eine gerade erst ausgelernte Spurensichererin, die den Tatort mit unsicherer Miene abscannt, auf der Suche nach verräterischem Beweismittel, um einen ungehaltenen Chef zufriedenzustellen.
Mit storchartigem Gang arbeite ich mich voran, steige die Stufen zum ersten Stockwerk hinauf. Mein Blick fällt auf metallene Briefkästen, von denen einige aufgebrochen worden sind, andere vor papiernen Neuigkeiten überquellen. Die Namensschilder sind zum Teil zerkratzt oder anderweitig entfernt worden. Das einst unverzichtbare Nachrichtenauffangsystem des Wohnhauses ist vollkommen überflüssig geworden. Durch die verbeulten Schlitze hatte ein uniformierter Beamter einst handgeschriebene oder mit Schreibmaschine getippte Botschaften eingeworfen. Diese waren zuvor von geheimen Kontrollmechanismen für belanglos befunden worden, sodass sie ihren Weg in die Wohnzimmer fanden, wo sie ein beruhigendes Gefühl verbreiteten. Eine in wenigen Zeilen festgehaltene Vergewisserung, dass die alltägliche Ordnung fortbestand, Omas Ausflug in die Hohe Tatra ihrer Bronchitis zur Heilung verholfen hatte, die Kinder im Ferienlager nicht auf dumme Gedanken kamen oder der Brieffreund in Nicaragua immer noch arm genug war, dass man ihn mit einer Tüte Sahnebonbons erfreuen konnte.
Hatte man das mit Tintenklecksen und Märchenmotiven verzierte Briefpapier herumgereicht, wurde es in einer hübschen Schachtel verwahrt und lautlos unter das Bett geschoben. Im Grunde war der Inhalt zwar ein sentimental bedeutsamer, aber nicht der entscheidende Bestandteil eines Briefes. Auch die fleckigen, durch zahlreiche Hände verunreinigten Umschläge wurden auf einen sorgfältig gegen Zugluft abgeschirmten Stapel gelegt. Sobald dieser hoch genug war, wurden die Briefmarken in liebevoller Handarbeit abgelöst und in Alben eingeklebt, von denen man sich eines Tages eine lohnende Dividende versprach. Doch die Zeiten, in denen dem alltäglichen Gang zum Hausbriefkasten mit einer erwartungsvollen Vorfreude entgegengefiebert worden war, waren endgültig vorbei. Eine Flut von bunten Werbeprospekten und vorgedruckten Mahnbescheiden überschwemmte die metallenen Kästen mit funktionaler Nüchternheit. Auch in meiner Schlafzimmerkommode schlummert irgendwo in der hintersten Ecke ein Karton mit unzähligen Briefen in verblasster Schrift. Irgendwo, an einem gut verborgenen Ort, liegt auch ein Briefmarkenalbum mit vergilbten Seiten, von denen sich die transparenten Aufbewahrungstaschen gelöst haben und in dem die einst gut sortierten Bildchen mit den gezackten Rändern heillos durcheinandergepurzelt sind.
Als ich mich umdrehe, entdecke ich hinter mir einen Fahrstuhl. Bis auf eine neu eingesetzte Hightech-Knopfleiste und eine rote Displayanzeige hatte er sich über die Jahre überhaupt nicht verändert. Obwohl ich angesichts des fortgeschrittenen Verfalls, der mir aus jedem Winkel des Gebäudes entgegenschlägt, stark daran zweifle, dass er noch funktionstüchtig ist, trete ich näher heran und drücke nacheinander alle Knöpfe. Genauso hatte ich es als Kind unzählige Male getan, sehr zur Freude meiner Nachbarn, deren Ausflug in den Konsum oder zur Wochenend-Datsche sich regelmäßig um einige Minuten verzögerte. Doch das kribblige Gefühl einer als Unverschämtheit klassifizierten Tat will sich einfach nicht einstellen. So sehr ich auch in den verschlungenen Gängen meines Gedächtnisses umherirre und danach Ausschau halte, ich habe den Zauber verloren, der sich mit kindlicher Arglist paarte und der nicht mehr zurückkehrte, wenn man ihn in einem unachtsamen Moment hatte ziehen lassen.
Ich lege meine Hand an die blaue Stahltür und blicke durch das längliche Milchglasfenster wie durch ein nebliges Fernrohr, hinter dem sich Vergangenes zu einem flimmernden Panorama verdichtet. Wie in einem verstaubten Stummfilm, der aus unzähligen Fragmenten zusammengeflickt wurde, flackern Bilder auf und ab, formen eine Geschichte, die nur noch einen halbseidenen Sinn ergibt, erschließbar für einen kurzen Augenblick, der in Wirklichkeit längst vorübergezogen ist. Meine Stirn trifft auf kaltes Glas und meine Lider senken sich, als hätte mich eine lähmende Schläfrigkeit erfasst. Längliche Schatten bäumen sich im Wechsel des Lichts empor, bestrebt die eisernen Tore zu durchbrechen, die sie im Gestern gefangen halten. Ich stehe im Hier und Jetzt und kann ihre Sprache nicht verstehen, die sie mir mit stummen Mündern entgegenspeien. Also lasse ich sie nicht frei, sondern schaue zu, wie sie sich um sich selbst windend im Schacht versinken.
Als ich meine Augen wieder öffne, stehe ich immer noch im ersten Stockwerk herum. Doch etwas hat sich verändert. Die Luft brennt nicht mehr in meinen Lungen und ich lasse das Taschentuch in meine Hosentasche zurückgleiten. Vertraute Aromen strömen durch meine Nasenlöcher und übertünchen den modrigen Geruch von feuchtem PVC, der eben noch dagewesen ist. Verwundert blicke ich mich um. Dann bemerke ich, dass meine Füße auf frisch gebohnertem Boden stehen und der Sperrmüll um mich herum verschwunden ist, genauso wie das Geschmiere an den Wänden. Das Treppenhaus wirkt beinahe makellos, auf den Fensterbrettern stehen Pflanztöpfe, aus denen herzförmige Blätter wie Girlanden nach unten ranken. Auch das Geländer sitzt wieder Strebe für Strebe in seiner Fassung. Jetzt fühle ich es deutlich: Das Haus ist immer noch bewohnt. Doch es sind nicht mehr Menschen, die es mit Leben erfüllen, es sind schattenhafte Abbilder, die wie geisterhafte Nebelschwaden durch Wände und Mauern kriechen. Sie packen mich an den Händen und schleifen mich vorwärts, dann wieder halten sie inne, zerren verzweifelt an Armen und Beinen, bis ich schließlich nachgebe und sie gewähren lasse.
Es war an einem Sonntag gewesen, als mein bester Freund Henri klammheimlich aus meinem Leben verschwand. An diesem stillen Augustmorgen saß ich gegen sieben Uhr mit geputzten Zähnen und in voller Montur an meinem Schreibtisch. An meinen Nägeln knabbernd zählte ich die Minuten, bis der große Zeiger meines Weckers auf die Zwölf und der kleine auf die Acht gerutscht war. Gleich würde er wie ein wildgewordener Spatz lostschirpen und verkünden, dass es an der Zeit war. Dann würde ich meinen Rucksack aufsetzen und in meine Sandalen schlüpfen. Um Viertel nach acht würde Henri nach unserem vereinbarten Signal drei Mal an der Wohnungstür kratzen und wir würden uns auf Zehenspitzen aus dem Haus schleichen.
Heute war mein achter Geburtstag, der mitten in die großen Sommerferien fiel und ich begriff nicht, warum mein Freund ausgerechnet an diesem Nachmittag nicht zur verabredeten Zeit auftauchte. Erst gestern hatten wir abgemacht, gemeinsam zum Pfuhlteich zu radeln, der versteckt inmitten schattiger Weiden hinter den Stadtrandfeldern lag. Wir hatten es zum Ritual werden lassen, an unseren Geburtstagen keine anderen Kinder einzuladen, sondern nur zu zweit zu bleiben, um ungestört einen wertvollen Schatz zu begutachten.
Heimlich hatte ich zuvor einen Schwung der alten Mosaikhefte meines Vaters zusammengeschnürt und in meinen Rucksack gestopft, zusammen mit ein paar tschechischen Oblaten und einer Flasche Orangenlimonade. Henri brachte im Gegenzug die karierte Picknickdecke mit, auf der sein Hund Mischka immer gedöst hatte, bevor er eines Tages vor die Straßenbahn gelaufen war. Wir waren eine verschworene Gemeinschaft an diesen Tagen, die mit den Digedags um die Welt segelte, in der Südsee landete, ins alte Rom reiste oder nach Amerika übersetzte und allerlei Abenteuer bestand. Das Besondere an diesen bunten Comic-Heften aber war, dass weder die Soldaten der Sowjet-Armee noch Pioniere mit blitzblanker Uniform darin eine Rolle spielten. Die Helden des Sozialismus, die uns tagtäglich als mahnende Vorbilder vorgesetzt wurden und deren strahlende Lebensläufe wir je nach Anlass fehlerfrei herunterbeten konnten – hier hatten sie ausnahmsweise keinen Platz. Die Abenteuer der Digedags gehörten uns und waren frei von der alles beherrschenden Symbolik einer Ideologie, die fest in unseren Köpfen verankert, aber noch nicht bis zu unseren Herzen vorgedrungen war. Das Schönste an unseren heimlichen Ausflügen war das Gefühl, das sich jedes Mal einstellte, sobald wir die Decke über das kratzige Gras ausbreiteten, unsere Turnschuhe abstriffen und uns rücklings fallen ließen. Die milde Sommerluft hüllte unsere Körper ein und wir atmeten den Geruch von grenzenloser Freiheit. Wenn wir flach auf dem Boden lagen, verschwanden die Hochhäuser hinter den Baumwipfeln und übrig blieb nur ein blauer Himmel, über den schneeweiße Phantasiegestalten zogen. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, die Welt würde allein uns gehören.
Doch an diesem Morgen kratzte niemand an der Tür, rollte mein Fahrrad nicht Richtung Stadtrand, sondern blieb angeschlossen im Keller stehen. Ich schob meinen Rucksack zurück unters Bett und vergrub mich schmollend unter meinem Schreibtisch, den ich mit einer Decke in eine Höhle verwandelt hatte. Nicht einmal die Aussicht auf einen »Kalten Hund«, einen geschichteten Kuchen aus schokoladenüberzogenen Butterkeksen, den meine Mutter mir später hinter der Zimmertür anpries, konnte mich aus meinem Refugium hervorlocken.
Am nächsten Morgen beschloss ich, meinem Freund die Leviten zu lesen. Wie er das wieder gutzumachen gedenke, würde ich ihn fragen und ihm dabei streng in die Augen blicken. Doch so sehr ich auch Sturm klingelte, Henris Tür blieb verschlossen, nichts und niemand regte sich dahinter. Auch am folgenden Tag und am darauffolgenden, ja die gesamte Woche blieb die verdammte Tür zu. Ich fragte meine Eltern um Rat, doch die versuchten, mich mit fadenscheinigen Erklärungen zu beruhigen. »Da wird wohl kurzfristig doch noch ein Urlaubsplatz in einem FDGB-Heim frei geworden sei. Du weißt doch, wie gern die immer an die Ostsee fahren. In spätestens zwei Wochen ist Henri wieder da.« Ich glaubte ihnen kein Wort. Die verstohlenen Blicke, die sie sich zuwarfen, das Beben auf ihren Lippen verriet ihre Lüge.
Auch nach zwei Wochen öffnete niemand die Tür. Mein Zorn über die unangekündigte Abreise meines Freundes wandelte sich in Verzweiflung, dann in Traurigkeit und schließlich war es mir gleichgültig. Henris Gesicht verblasste zu einem flackernden Schatten, bis ich mir sicher war, ich würde ihn nicht mehr erkennen, selbst wenn er wiederkäme. Doch er kam nicht wieder und eines Tages hörte ich schließlich ganz auf, an ihn zu denken. Als ich an einem Septembermorgen durchs Treppenhaus Richtung Schule eilte, stand Henris Wohnungstür offen, aber zum Vorschein kamen neue, fremde Gesichter. Mein Freund blieb verschollen.
Schmerzhaft wird mir bewusst, dass ich Henri irgendwann einfach vergessen habe. Aus kindlicher Ohnmacht heraus und dem Glauben, dass manche Dinge sich schon fügen werden, habe ich meinem Freund womöglich unrecht getan. Scham überwältigt mich und das Versäumnis, seiner Geschichte nie nachgegangen zu sein, holt mich wieder ein. Ich begreife, dass ich mich den weißen Flecken stellen muss, die meine Erinnerungen überlagert haben.