Superior

Superior

Im Windschatten der Lüge

Anne-Marie Jungwirth

Drachenmond Verlag

Für Kerstin,

die an mich geglaubt hat,

als ich es selbst nicht konnte.

Inhalt

Glossar

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Danksagung

Über die Autorin

Glossar

Aspirant

Einer von drei männlichen Superior, die der Maturantin zur Auswahl gestellt werden


Emotionale Disposition

Neurologische Stimulation mittels potentieller Trigger zur Aktivierung von Gaben


Erwählter

Der von der Maturantin erwählte Aspirant


Examination Week

Woche zum intensiven Kennenlernen zwischen der Maturantin und ihren Aspiranten


Maturantin

Bezeichnung für die Superia für den Zeitraum zwischen Maturity Feast und Unity


Maturity Feast

Fest zum 21. Geburtstag einer Superia, bei dem ihr ihre 3 Aspiranten vorgestellt werden


Medical Center

Kurzform für Superior Medical Center


Oberhaupt

Oberster aller Superior, geistiges Oberhaupt


Scoring

Der in Zahlen ausgedrückte Wert der Gaben und Rang innerhalb der SHS


Shared Brain

Gabe, sich mit anderen Gehirnen zu verbinden


SHS

Abkürzung für Superior Human Society


Simulation Scoring

Simulation des Scorings potentieller Nachkommen zwischen zwei Superior


SMC

Abkürzung für Superior Medical Center


Superia

f Singular


Superior

m Singular, m/f Plural


Superior Human Society

Geheime Organisation der Superior


Superior Medical Center

Einrichtung für medizinische Untersuchung der Superior


Superior-Bund

Blutsbund, der bei der Verkündungszeremonie eingegangen wird, stärker als Verlobung


Superior-Rat

Führung der weltlichen Belange der Superior


Unity

Zeremonielle Vereinigung von Maturantin und Erwähltem zu Fortpflanzungszwecken


Verkündungszeremonie

Zeremonie, bei der die Maturantin einen ihrer Aspiranten offiziell auswählt und beide zeremoniell aneinander gebunden werden

Prolog

Pandora

4 Wochen vorher

Pandora stand hinter Amelia, den Griff ihres braunen Lederkoffers fest mit ihrer rechten Hand umklammert. Ihr linker Arm war angespannt an ihren Körper gepresst. Sie wünschte sich, sie hätte noch einen zweiten Koffer. Nicht der Dinge wegen, sondern damit auch ihre linke Hand etwas zu tun hätte.

Die Motorgeräusche des Taxis, das sie gefahren hatte, verstummten. Alles, was sie noch hörte, war der Wind, der die braunen Locken ihrer Zwillingsschwester aufwirbelte. Auch Amelia sagte nichts, sondern blickte, genau wie Pandora, auf das Haus vor ihnen. Ihr neues Zuhause in West Haven. Ihr Haus. Nicht allein – aber trotzdem.

Pandora musterte die leicht verwitterte taubenblaue Holzfassade und die großzügigen weiß gerahmten Fenster. Links und rechts neben dem Haus konnte sie bereits den Atlantik sehen, der sich hinter dem Gebäude erstreckte. Das Haus war schön. Nicht das schönste, das sie je gesehen hatte. Noch nicht einmal das schönste, in dem sie je gelebt hatte. Aber schön. Und es war groß. Nicht riesig, aber groß.

Amelia drehte ihren Oberkörper zu ihr. Sie nickte, doch in ihren Augen stand Sollen wir? geschrieben. Pandora ging auf den weißen Holzlattenzaun zu und beantwortete damit Amelias unausgesprochene Frage. Durch einen Torbogen, an dem haufenweise getrocknetes Gestrüpp hing, betrat sie das Grundstück. Es als weitläufig zu bezeichnen, wäre untertrieben gewesen. Ihr nächster Nachbar würde ihre Umrisse ausmachen können, einen Schrei aber vermutlich nicht hören …

Eine Angst, von der sie wünschte, sie wäre unbegründet, übernahm plötzlich das Kommando über ihren Körper. Sie blieb stehen, stocksteif, und der Koffer glitt ihr aus der Hand. Mit einem Plumps fiel er vor ihren Füßen zu Boden. Noch ehe sie sichs versah, war Amelia neben ihr. Sie spürte, wie sich die warme Hand ihrer Schwester um ihre legte. Pandora schluckte und anstatt die bösen Erinnerungen, die sie gerade heimgesucht hatten, zu verscheuchen, hielt sie die Bilder fest. Nicht für sich, sondern für Amelia. Zeigte ihr, wie sie monatelang gequält wurde. An einem Ort, noch abgelegener als dieser.

Amelia ließ ihre Hand frei und schlang ihre Arme um Pandoras steifen, immer noch zitternden Körper.

»Hier wird dir nichts passieren«, flüsterte Amelia und wiegte sanft ihren Körper hin und her.

Damals hatte sie auch nicht geglaubt, dass es so enden würde. Sie dachte, es wäre nur ein Ausflug …

»Ich würde das nie zulassen.«

Sie schloss ihre Augen, betrachtete die Bilder, die Amelia ihr sendete. Reflexartig riss Pandora ihre Lider wieder auf. Obwohl sie selbst so viel mitgemacht hatte – Amelias Dunkelheit ertrug sie nicht. Den geschlossenen Sarg … die Schreie … Pandora löste sich von ihrer Schwester und griff sich an die Brust. Luft. Jedes Mal, wenn sie die Bilder sah, hatte sie selbst das Gefühl zu ersticken.

Und noch schlimmer … der Blick durch die Augen von Amelia zeigte ihr erst, wie falsch das war, was man ihr selbst angetan hatte. Aber wie hätte sie Nein sagen können? Wie hätte sie ihr sagen können: Es ist in Ordnung, dass du für mich kämpfst und leidest, aber ich bin nicht bereit dazu? Sie hatte es nicht über sich gebracht. Und aus Angst, Erikas Herz zu brechen, sie zu verlieren, hatte sie lieber sich selbst brechen lassen.

Amelia presste ihr sanft die Hände auf die Schultern und suchte ihren Blick. »Niemals.«

»Ich weiß.« Beide teilten einen Schmerz. Verstanden ihn wie eine Sprache, die nur sie beide kannten. Und das grausamste Wort, das übersetzt in Silben und Buchstaben nicht annähernd das ausdrückte, was ihre Bilder vermochten, hieß Todesangst. Und genau deshalb würde Amelia ihr das nie antun.

Amelia bückte sich und hob den Koffer auf.

Pandora streckte ihre Hand aus und nahm ihn entgegen. Sie konnte das hier. Zusammen mit ihrer Schwester konnte sie das.

Vorsichtig setzte Pandora ihren Fuß auf den satten grünen Rasen. Sie vertraute ihrer Schwester und glaubte fest daran, dass ihr in diesem Haus nichts Schlimmes passieren würde. Trotzdem wuchs ihre Anspannung mit jedem Schritt. Schließlich war es nicht nur ihr Haus. Und …

Amelia hatte sie bereits überholt und wartete auf der Veranda. Pandora nahm die beiden Stufen zum Eingang und blickte ihrer Schwester in die Augen. Mit einem aufmunternden Lächeln auf den Lippen nahm Amelia ihr das Gepäck aus der Hand und stellte es neben sich auf den Boden. Amelia löste Pandoras verkrampfte Finger, glättete sie und umschloss sanft ihre Handflächen. »Alles wird gut, Dorrie. Keine Sorge. Ich bin bei dir.«

Pandora betrachtete ihren mehr oder weniger leeren Lederkoffer. Viel hatte sich in den Wochen, während sie mit Amelia untergetaucht war, nicht angesammelt. Ein wenig Wechselkleidung und Waschsachen. Kein einziges der Bücher, das sie im letzten Monat gelesen hatte, befand sich darin. Nicht, weil sie nicht schön waren oder sie Pandora nicht gut unterhalten hätten. Aber zu keiner dieser Geschichten konnte sie eine emotionale Bindung aufbauen, die es rechtfertigte, Ballast zu schleppen. Aber im Prinzip war alles in diesem Koffer ersetzlich. Ihr Leben befand sich nicht darin, sondern stand direkt neben ihr.

Pandora blickte zur ihrer Schwester, schluckte ihre diffusen Ängste herunter und nickte.

»Bist du bereit?«, fragte Amelia.

»Ja«, log sie. Sie war es nicht, würde es vielleicht nie sein.

Amelia öffnete die Fliegengittertür, die vor der Haustür angebracht war, und klopfte.

Schritte ertönten im Inneren und wurden immer lauter. Pandora hielt die Luft an.

Während Amelia immer noch das Fliegengitter zurückhielt und Pandora nicht wagte zu atmen, öffnete sich langsam die Tür. Eine alte Frau stand vor ihnen. Ihre weißen halblangen Haare waren hinter das Ohr gesteckt und ihr leicht rundes Gesicht wirkte offen und freundlich. Lächelnd streckte sie Amelia eine Hand entgegen.

»Hallo, ich bin Moira. Schön, dass ihr da seid.«

Amelia löste ihre Hand vom Gitter und drückte stattdessen ihren Fuß dagegen. »Ich bin Amelia«, sagte sie und nahm Moiras Hand.

»Dieses blöde Ding.« Moira zeigte kopfschüttelnd auf das Fliegengitter. »Wir sollten das dringend einmal entfernen.«

Pandora hatte inzwischen wieder Luft geholt, sich aber nicht vom Fleck bewegt.

Moira streckte ihr ebenfalls ihre faltige Hand entgegen. Pandora betrachtete sie, nickte höflich, nahm sie aber nicht.

»Das ist Pandora«, sagte Amelia an ihrer Stelle.

»Deine Zwillingsschwester.« Es war eine Feststellung, keine Frage. »Sky hat mir schon viel von euch erzählt.«

Amelia nickte.

»Kommt doch rein.« Moira ging ins Haus und machte eine einladende Geste.

Pandora nahm den Koffer und folgte ihrer Schwester ins Innere, die Augen wachsam auf Moira gerichtet. Pandora besaß keine Gabe im eigentlichen Sinne, aber etwas, das dem für ihre Begriffe sehr nahekam. Wenn sie jemanden ganz genau betrachtete, konnte sie erkennen, was an ihm Fassade war und was echt. Es war, als würden die Teile seiner Persönlichkeit und seines Auftretens, die nur aufgesetzt waren, einen falschen Schatten werfen und ihr damit ins Auge springen. Es klang lächerlich, wenn man es so sagte. Doch es war so und es half ihr, Menschen zu durchschauen. Zumindest die, die ein zweites Gesicht trugen. Und das waren die meisten.

Moira zeigte noch keine Anzeichen einer Fassade. Aber sie hatten ja auch erst ein paar Sätze geredet …

»Ich schlage vor«, setzte Moira an, »ich zeige euch jetzt erst einmal eure Zimmer und danach trinken wir Kaffee, essen Kuchen und lernen uns etwas kennen.«

»Klingt nach einem guten Plan.« Amelia griff nach ihrem Koffer.

Zimmer? Für Pandora klang dieser Plan überhaupt nicht gut. Panisch umklammerte sie Amelias Arm. Bitte nicht.

»Wobei«, nahm Amelia ihren Gedanken auf, »uns ein Zimmer für den Moment reicht.«

Moira lächelte, zeigte immer noch keine Anzeichen einer Fassade. »Ganz wie ihr wollt.« Sie ging vor ihnen die Treppe nach oben. Sie war aus Holz und im gleichen Taubenblau wie das Haus gestrichen.

Pandora und Amelia folgten ihr und die mit Teppich ausgelegten Stufen knarrten bei jedem Schritt. Am Ende der Treppe führte ein Gang nach rechts. Fünf Türen zählte Pandora.

Moira öffnete die zweite. »So, das ist euer Zimmer.«

Pandora spitzte hinein, während Amelia an ihr vorbei schon den Raum betrat. Die Wände waren in einem warmen Beige gestrichen und helle Holzmöbel in verschiedenen Maserungen standen im Raum verteilt. Auf dem großen Bett lag eine moosgrüne Tagesdecke und eine Reihe von Kissen mit Blütenbezug.

»Eine zweite Decke bringe ich euch später. Wenn ihr sonst noch irgendetwas braucht, sagt mir Bescheid.«

Pandora betrat nun ebenfalls das Zimmer. Ihr Zimmer.

Moira zeigte in Richtung der Treppe. »Ich bin dann unten. Kommt einfach, wenn ihr fertig seid.«

»Machen wir«, sagte Amelia und schloss die Tür. Sie nahm Pandoras Hand und sah sie an. »Alles okay?«

Pandora wusste es noch nicht. Sie hatte kein schlechtes Gefühl, aber auch kein gutes.

»Ich glaube, ich mag Moira.« Amelia drückte ihre Hand. »Du wirst sehen. Wir werden uns hier richtig wohlfühlen.«

Pandora setzte sich auf das Bett. Auf dem Nachtkästchen lagen Bücher. Schundromane, hätte Erika gesagt. Sie griff sich das oberste und streckte ihre Beine auf dem Bett aus. »Vielleicht.«

»Nicht vielleicht«, sagte Amelia. »Sicher.«

Pandora schmunzelte und schlug das Buch auf.


Amelia hatte sich nur kurz frisch gemacht und war dann nach unten zu Moira gegangen, um mit ihr Kaffee zu trinken und Kuchen zu essen. Pandora war im Zimmer geblieben und hatte gelesen. Sie war heute noch nicht zu mehr bereit.

Amelia erzählte ihr später, dass Moira Sky dabei geholfen hatte, ehemalige Patienten von Brick zu behandeln. Und Amelia prophezeite ihr, dass auch sie Moira bald ins Herz schließen würde. Vermutlich sprach nichts dagegen. Sich ihr mit offenen Armen entgegenstürzen, konnte sie trotzdem nicht. Und Moiras Gabe trug zu ihrer Zurückhaltung bei. Denn Moira konnte die Erinnerungen von Menschen manipulieren. Woher sollte sie jemals wissen, ob das, was sie jetzt für sie empfand, das war, was sie noch fünf Minuten vorher für sie empfunden hatte? Erika hatte oft genug ihre Emotionen manipuliert, ihren Ärger durch Freude ersetzt. Pandora hatte es gehasst und die Gaben deshalb immer verabscheut. Bis  … ja, bis Amelia in ihr Leben gekommen war. Denn ihre Gabe war so anders – sie nahm nichts, sondern half dabei, Dinge zu teilen.

Pandora schlug das Buch zu, das sie bis zur letzten Seite ausgelesen hatte. Sie hatte nicht aufhören können, musste es beenden, musste wissen, dass alles gut werden würde. Behutsam legte sie das Buch zurück auf den Nachttisch. Das Licht ließ sie brennen – für Amelia. In ihr tobten gemischte Gefühle, als sie ihren Oberkörper flach auf die Matratze legte.

Amelia schlief bereits neben ihr. Das ruhige und gleichmäßige Atmen ihrer Schwester war für sie wohl das, was für kleine Kinder eine Spieluhr ist. Sie legte ihren Kopf auf das Kissen und blickte zurück zu dem Buch auf dem Nachtkästchen. Die Liebe in diesen Büchern war so anders. Nicht nur, weil es Mann und Frau waren, sondern weil sie anders zueinander waren. Sie wusste nicht, ob sie es war, die die Liebe falsch verstand, oder die Menschen in diesen Büchern.

Pandora vermisste sie. Die Liebe, die sie kannte. Wünschte sich, sie könnte sie Erika beibringen – die Sprache, die nur sie und Amelia sprachen. Und dann würde alles …

Pandora fühlte sich schuldig. Schuldig für all diese Gedanken. Aber Erika war nun einmal der erste Mensch in ihrem Leben gewesen, der sie geliebt hatte, der ihr gezeigt hatte, was Liebe überhaupt war. In dem Haus, in dem sie aufgewachsen war … da gab es das nicht. Nicht für sie. Das ehemalige Oberhaupt, William Clayton, hatte sie eher wie einen Gegenstand behandelt. Einen, den man geschenkt bekommen hat, ihn schrecklich findet, aber nicht wegschmeißen darf. Und seine Frau Victoria war auch nicht besser gewesen. Selbst die erwachsenen Kinder, Cliff und Jason, gaben ihr bei jedem Besuch das Gefühl, ein verlauster Köter in einem Haus voller Tierhaarallergiker zu sein. Trotzdem war sie traurig gewesen, als ihr Pflegevater William starb.

Die Tränen, die sie an seinem Grab vergossen hatte … vielleicht war es nur Angst gewesen. Angst vor dem Ungewissen. Victoria hatte schließlich nie einen Hehl daraus gemacht, dass Pandora in ihrem Haus nur geduldet war, weil William es so wollte. Schnell war klar, die Familie des neuen Oberhauptes würde sie aufnehmen. Zu Beginn war ihr Elliots Kälte noch unheimlicher als Williams Abscheu ihr gegenüber. Doch sie gewöhnte sich daran. Und Erika … sie gab ihr vom ersten Augenblick an das Gefühl, willkommen zu sein, ein Zuhause zu haben und schließlich … geliebt zu werden.

Es mochte eine falsche Liebe gewesen sein, aber es war die einzige, die sie kannte. Pandora hoffte, die Sehnsucht würde vergehen, wenn sie nur genug von der anderen Liebe las.

Sie schloss die Augen und versuchte, an etwas Schönes zu denken. Es war ihre erste Nacht im neuen Haus und Amelia hatte ihr gesagt, was man träumt, würde in Erfüllung gehen. Pandora dachte an Liebe und an Familie und bemühte sich, ein buntes und schönes Bild zu zeichnen. Farbenfroh und lebendig. Eines, das sie mit in ihre Träume nehmen konnte. Und damit schlief sie ein …


Ein Wimmern riss sie aus dem Schlaf. Amelia saß aufrecht neben ihr im Bett, ihre Knie herangezogen und ihren Kopf darauf gebettet. Schweißperlen glitzerten auf ihren Oberarmen und ihr Zittern sendete Wellen aus, wie ein Stein, der auf eine glatte Wasseroberfläche traf. Amelias Traum war sicher wieder keiner gewesen, von dem man hoffte, dass er in Erfüllung ging. Es war ein Albtraum. Einer der Sorte, die schon wahr geworden ist.

Pandora legte ihre Arme um die Schultern ihrer Schwester und verharrte, bis sie sich beruhigt hatte.

So heilten sie sich gegenseitig, Nacht für Nacht. Amelia half ihr, sich der Welt wieder etwas zu öffnen und ihr gebrochenes Herz zu kitten. Und Pandora half ihrer Schwester, die Erinnerungen an die Qualen, die sie im Medical Center erleiden musste, zu vergessen. Beide hatten alles verloren, doch einander gewonnen.

Aneinandergekuschelt schliefen sie ein.

Auch das, was sie für ihre Schwester empfand, war nicht die Liebe aus den Büchern. Es war eine andere. Eine, die sie gerettet hatte und die ihrer Seele guttat.

1

Amelia

Es war zehn Uhr morgens und wie jeden Tag um diese Uhrzeit legte Amelia den Akku in ihr Prepaid-Handy ein und schaltete es an. Und wie jeden Tag um diese Uhrzeit musste sie schmunzeln, als der Begrüßungstext auf dem Display erschien.

Save that smile for me.

Nathan hatte es ihr bei seinem ersten Besuch in West Haven eingestellt, bevor er abgereist war. Sie wusste noch, wie traurig sie gewesen war, als sie an jenem Montagmorgen aufwachte und er schon fort war. Als sie dann um zehn Uhr ihr Handy eingeschaltet hatte, war sie für diesen kurzen Moment einfach nur glücklich gewesen. Es gab so vieles in ihrem Leben, das gerade richtig Scheiße lief. Aber jeden Tag um zehn, sechzehn und zweiundzwanzig Uhr las sie diese kleine Botschaft von Nathan und es ging ihr ein Stück besser. Vielleicht war das total lächerlich. Save that smile for me war weder wahnsinnig poetisch noch romantisch. Aber es war so … so Nathan.

Der Begrüßungstext verblasste und ihr Telefon zeigte eine neue Nachricht an. Amelia öffnete das Menü und sah, dass sie von Nathans Prepaid-Handy kam. Sie öffnete sie und las den Inhalt stirnrunzelnd.

»Sky hat mir geschrieben«, sagte Moira, die neben ihr stand und ebenfalls ihr Telefon auf Nachrichten checkte. »Er möchte heute Abend eine Videokonferenz mit dir – allein.«

Amelia blickte zu Moira auf. »Ich weiß, Nathan hat mir eben das Gleiche geschrieben. Er und Sky wollen mit mir reden.«

»Dann ist das wohl eher ein allein mit dir und Nathan«, korrigierte Moira sich.

»Scheint so.« Amelia tippte auf Antworten und gab OK ein. Dann schaltete sie das Handy wieder aus, entfernte den Akku und legte es auf den Couchtisch. »Ich frage mich, warum Sky dir schreibt, dass er mit mir allein reden will. Wäre es nicht naheliegender, mir das direkt zu schreiben?«

Moira setzte sich neben sie und baute ebenfalls ihr Handy auseinander. »Vielleicht einfach, weil …«

»Er mir nicht zutraut, dass ich drei Mal am Tag mein Handy anschalte?«

»Das würde ich so nicht sagen.« Moira tätschelte ihre Schulter und setzte ein Lächeln auf, mit dem sie von Haus zu Haus ziehen und Bibeln verkaufen könnte. »Ich denke, er hält das für den Weg mit den geringsten Reibungsverlusten.«

»Schon klar. Weil ich einmal mein Telefon zehn Minuten zu spät eingeschaltet habe, bin ich ein Reibungsverlust

»Du kennst ihn doch. Er meint das gar nicht so.«

Amelia verdrehte die Augen. »Ich werde nie verstehen, wie man ein Empath sein und sich gleichzeitig so emotionslos aufführen kann.«

»Sky«, sagte Moira mit ihrem dah-Tonfall.

Aber sie hatte recht. Man konnte Sky nun einmal nicht anders als mit Sky erklären. Von Verstehen wollte sie hier noch gar nicht reden. Und was dieses Einzelgespräch zu bedeuten hatte … auch darüber wollte sie sich keine Gedanken machen. Was einfacher gesagt war als getan. Je länger sie darüber nachdachte – Einzelgespräche bedeuteten nie etwas Gutes. Manchmal wünschte sie sich, sie könnte einfach zum Telefon greifen, Nathan anrufen und ihn fragen, was das alles sollte. Leider ging das nicht. Zu gefährlich. Ihn oder Sky auf ihren normalen Smartphones anzurufen, stand quasi unter Todesstrafe. Und damit ihre Prepaid-Handys nicht aufgrund von Ortung mit ihren regulären Smartphones in Verbindung gebracht wurden, mussten die eigentlich ständig aus sein. Und nicht nur einfach aus, auch der Akku musste entfernt werden, damit kein Signal gesendet werden konnte. Und so blieben ihnen nur fix vereinbarte Zeiten und die auch nie länger als zwei Minuten. Die Liste ihrer Sicherheitsmaßnahmen war lang und leider nicht unbegründet. Nach Amelias und Pandoras Verschwinden hatte man Nathan und Catherine wochenlang beschattet. Skys Ermittler konnten ausschließen, dass dies immer noch der Fall war. Doch sie mussten wachsam bleiben, durften keine Spuren hinterlassen. Manchmal – so wie jetzt – trieb sie das alles in den Wahnsinn. Aber wenn sie Pandora sah und wie sie aufblühte … dann war es das alles wert. Ihre Schwester hatte es verdient, dass es ihr gut ging, und für sie würde Amelia noch sehr viel mehr Entbehrungen in Kauf nehmen als diese.


Amelia ging ins Büro des Hauses, um alles für die Videokonferenz vorzubereiten. Irgendwie hatte jedes Zimmer in diesem Haus seinen eigenen Charme, nur das hier nicht. Es war ein seelenloser Raum. Deckenhohe Regale nahmen den Wänden die Luft zum Atmen. Die Regalböden hingen durch und zeugten noch von der Last, die sie einmal tragen mussten. Nun waren sie leer. Ein paar Blätterstapel hier und da, aber keine Bücher oder Ordner, nach denen die Möbel zu hungern schienen. Vor dem Fenster befand sich ein Schreibtisch, dessen Arbeitsfläche ebenfalls durchgebogen war. Seiner eigentlichen Funktion beraubt, wurde er jetzt als Abstellplatz für ihren Drucker genutzt. Neben dem Schreibtisch befand sich eine Kommode. Auf ihr ein Fernseher, ein schwarzer Plastiklautsprecher, den Moira und sie immer Ufo nannten, jede Menge Kabel und eine Konsole. Amelia steckte das Verteilerkabel in die Steckdose und schaltete die Konsole ein. Während ihr die blinkenden Lichter anzeigten, dass sich die gesicherte Verbindung aufbaute, nahm sie auf einem der beiden Stühle Platz, die direkt vor dem Fernseher standen.

Hier konnten sie länger reden. Sie verstand nicht viel von diesen Dingen, aber irgendwie wurden die Signale wohl verschlüsselt und die Übertragung umgeleitet oder so. Sky war ein Freund von Regelmäßigkeit und gerne gut informiert. Moira und Amelia sprachen hier deshalb montags, mittwochs und freitags um Punkt achtzehn Uhr mit ihm und meistens auch Nathan. Gespräche, die wie heute außerhalb dieser Termine stattfanden, gab es nur selten. Theoretisch könnte sie hier auch länger mit Nathan reden, aber sie hatten es nur einmal gemacht. Für Amelia war es merkwürdig, Nathans Gesicht und jede Pore darin dreifach vergrößert auf dem Bildschirm zu sehen, ohne seine Wärme zu spüren. Und dabei selbst hier zu sitzen, auf diesem unbequemen Stuhl, und in das künstliche Auge über dem Bildschirm zu blicken, das ihr Gesicht zu Nathan übertrug. Selbst ein Telefonat fühlte sich intimer an, vermittelte ihr das Gefühl, seine Stimme an ihrem Ohr zu hören. Aber dieses Video-Ding … Für manche mochte das eine Form von Nähe sein, sie fand es gruselig und konnte auf diese Art der Kommunikation verzichten.

Die Verbindung zum Netzwerk hatte sich aufgebaut und Amelia betrat den virtuellen Besprechungsraum. Obwohl sie zu früh war, waren Nathan und Sky bereits dort.

»Hey, Amelia«, begrüßte Nathan sie sofort.

Sie wusste nicht warum, aber irgendwie klang er in ihren Ohren überschwänglicher als sonst.

»Hey.« Amelia winkte der Kameralinse zu. »Ihr seid ja schon da. Beide.«

»Ich würde mir das ja rot im Kalender ankreuzen, aber …«, begann Sky.

»Du willst nicht, dass ich abhebe. Schon klar«, unterbrach Nathan schulterzuckend.

»Erstens: Ich glaube nicht, dass du noch mehr abheben kannst«, widersprach Sky. »Und zweitens: Nein, ich habe einfach keinen roten Stift.«

Wenn Amelia es nicht besser wissen würde, würde sie sagen, die beiden liebten einander, so wie sie sich gegenseitig neckten. »Also ich weiß gar nicht, was du hast, Sky. Mich nerven Männer, die zu früh kommen, ja viel mehr.«

Sky blickte nach oben und schien nachzudenken. »Da ist was dran.«

Nathan schenkte ihr ein anzügliches Lächeln.

»Also, was gibt’s?« Amelia trommelte mit ihren Fingern auf der Sitzfläche ihres Stuhls.

»Es geht um deine Gabe«, begann ausnahmsweise Nathan das leidige Thema. »Wir haben schon oft darüber geredet, was wir glauben, was alles in dir steckt.«

»Richtig«, ergriff Sky das Wort. »Und wir dachten, es wäre nicht nur für uns gut, das Ganze etwas systematischer anzugehen, sondern würde auch dir eine gewisse Orientierung geben.«

Amelia überkreuzte ihre Arme vor der Brust. »Orientierung?«

»Ja, genau«, bestätigte Nathan und wirkte schon wieder so euphorisch.

Wollten sie ihr jetzt etwa ganz systematisch zeigen, wie weit unten sie war? Und wie weit entfernt vom Ziel? Vielleicht mit einer total bescheuerten Tacho-Grafik. Also … wenn das der Plan war, konnte Amelia auf diese Art der Orientierung verzichten. Sie wusste auch so, dass ihre Fortschritte zu wünschen übrig ließen.

»Wir zeigen es dir«, sagte Nathan und sie hörte, wie er mit seiner Maus herumklickte. »Warte kurz. Ich stelle mal eben auf Screen-­Sharing um.«

Amelia betrachtete das Bild, das sich langsam an der Stelle des Bildschirms aufbaute, auf der vor einer Sekunde noch Nathans Gesicht strahlte. »Was ist das denn bitte?«

»Eine Matrix«, antwortete Sky ruhig.

Echt? »Ich weiß, was eine Matrix ist. Für den Fall, dass es jemand vergessen hat, ich habe in Harvard studiert. So zwei, drei Dinge weiß ich also auch.«

»Hm.« Skys Gesicht wirkte ungerührt. »Wenn man den Erzählungen deiner Pflegeschwester während der Examination Week glauben darf, hast du auf dem Campus gelebt und keine Party ausgelassen. Das erfüllt zwar einige Kriterien von studiert, aber nicht alle.«

Amelia streckte ihm die Zunge raus. Total kindisch, aber ihr war gerade danach.

Nathans Gesicht war nicht zu sehen, sondern nur die Tabelle. Aber Amelia könnte schwören, dass er sich die Hand vor den Mund hielt, um sein Lachen zu dämpfen.

»Voll witzig.« Amelia verdrehte die Augen und legte ihren Arm über die Rückenlehne.

»Ein wenig schon«, sagte Nathan entschuldigend. »Aber zurück zum Thema. Das hier ist eine Matrix mit den Ausbaustufen und Merkmalen deiner Gabe.«

Amelia zählte fünf Zeilen und fünf Spalten. Ihre Gabe … mit Pandora klappte der Austausch von Bildern und Gedanken problemlos. Sie glitten fließend zwischen ihnen hin und her. Amelia musste nicht einmal darüber nachdenken. Es war wie atmen. Aber mit anderen … es war nicht so, dass sie sich extra blöd anstellte. Es funktionierte einfach nicht. »Enttäuschend, dass es nur so wenige Ausbaustufen gibt.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Keine Angst«, sagte Sky nüchtern. »Wir haben uns für diese Abbildung auf die rein serielle Nutzung beschränkt.«

»Serielle Nutzung?«

»Das ist …«, setzte Sky an.

»Verdammt«, fluchte Amelia. »Ich weiß, was seriell ist. Aber habt ihr sie noch alle? Ich finde schon den Großteil dieser Matrix total verrückt. Und du willst mir jetzt sagen, dass man die Gabe nicht nur bei einer Person, sondern gleichzeitig bei mehreren einsetzen kann?«

»Wissen«, schaltete sich Nathan mit sanfter, aber sachlicher Stimme ein, »tun wir genau genommen nichts von alldem. Aber es sind Vermutungen, die wir aufgrund deiner DNA und dem Vergleich mit ähnlichen Sequenzen anderer Gaben-Träger angestellt haben. Was tatsächlich alles möglich ist, kannst nur du uns zeigen. Und nur mit viel Zeit.«

»Mit ganz viel Zeit würde ich sagen.« Amelia sah erneut zu der Abbildung. »Im Moment bin ich bei …«

»Wenn wir Pandora einmal außen vor lassen«, unterbrach sie Sky. »Dann bist du bei 1,1 und 1,2.«

Amelias Blick glitt zur Matrix. Reihe 1: In die Gedankenvorhalle eines anderen eindringen. Spalte 1: mit Körperkontakt. Spalte 2: bei physischer Präsenz nach erstmaliger Verbindung. »Das fasst es ziemlich gut zusammen, würde ich sagen.«

»Und das ist kein Grund, dich schlecht zu fühlen.« Die Matrix verblasste und Nathans nun nicht mehr so überschwänglich wirkendes Gesicht erschien vor ihr. »Eine solche Gabe zu erlernen, braucht seine Zeit und du tust, was möglich ist. Das wissen wir doch alle.«

Amelia nickte und biss sich auf die Unterlippe. Wussten das wirklich alle? So kam es ihr nämlich meistens nicht vor.

»Wir haben dir das nicht gezeigt, um dir Vorwürfe zu machen.« Sky schüttelte den Kopf. »Wirklich nicht. Ganz im Gegenteil. Wir wollten dir die Perspektiven aufzeigen und dir Mut machen. Wie du siehst … das Ganze ist eine Matrix. Wenn du nach unten nicht weiterkommst, probieren wir es nach rechts. Und wenn es dort stockt, dann gehen wir wieder nach unten.«

»Wow!« Amelia atmete tief ein und aus. Was glaubte Sky eigentlich, was sie hier den ganzen Tag trieb? Netflix sehen und Chips futtern? Sie arbeitete jeden verdammten Tag an ihrer Gabe. Sie kämpfte mit den Basics. Hauptsächlich damit, nicht ständig kotzen zu müssen. Und er faselte hier etwas von ihren Perspektiven. »Du bist ja so motivierend, Sky. Ehrlich! Du solltest nach Afrika fliegen und verhungernden Kindern erzählen, dass sie alles erreichen können. Dass es Perspektiven gibt. Wenn sie doch nur endlich aufhören würden, sich mit elementaren Grundbedürfnissen von ihrer Bestimmung abzulenken.«

Sky senkte den Kopf. »Das ist jetzt irgendwie falsch rübergekommen. Entschuldigung, aber ohne meine Gabe … weiß ich einfach nicht, wann ich besser den Mund halten sollte.«

Nathan hob eine Braue. »Macht wirklich einen Riesenunterschied bei dir …«

»Tut mir ehrlich leid, Amelia.« Sky wirkte aufrichtig betrübt. »Es ist gerade einmal zwei Monate her, dass sich deine Gabe aktiviert hat. Und du machst das großartig. Ich bin nur einfach ungeduldig. Zu ungeduldig. Es tut mir leid.«

»Schon okay.« Wenigstens sprachen alle nur über ihre Shared Brain-Gabe. Brick hatte ihr während ihrer Gefangenschaft erzählt, dass noch zwei weitere inaktive Gaben in ihr schlummerten. Eine präkognitive und eine Naturkraft. Feuer, wenn sie sich richtig erinnerte. Aber für ihre Sache waren diese Gaben womöglich auch nicht so hilfreich wie ihre bereits aktivierten.

»Du siehst aber nicht okay aus«, sagte Nathan.

»Ich bin es aber.« Sie spürte, wie es in ihr brodelte. »Können wir es jetzt einfach gut sein lassen?«

»Können wir.« Nathan sah sie an und seine Augen wirkten so traurig, dass sie wegschauen musste.

»Wir sprechen dann morgen wieder, Amelia«, beendete Sky das Gespräch. »Tschüss.«

»Bis morgen.« Nathan suchte ihren Blick. Sie konnte es spüren.

»Bis morgen«, sagte sie, während sie aufstand, die Verbindung trennte und das Stromkabel zog. Amelia ließ sich zurück auf den Stuhl sinken und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen.

2

Amelia

Nach dem Gespräch mit Nathan und Sky gestern war sie nicht mehr zu viel zu gebrauchen gewesen. Heute hatte sie sich wieder aufgerafft und schon den ganzen Tag mit Moira ihre Shared Brain-Gabe trainiert. Sich mit ihr verbinden und in ihrem Kopf nach einer ganz bestimmten Information suchen. Wieder und wieder.

Amelia blickte auf den Kübel mit Erbrochenem, der ein paar Schritte von ihrem Stuhl entfernt stand. Sie war nie der ehrgeizige Typ gewesen und schlecht in etwas zu sein, hatte sie nie runtergezogen. Mit ihrer Gabe war es anders. Sie wollte sie beherrschen und arbeitete wie besessen daran. Die Erfolge – sofern man überhaupt von ihnen sprechen konnte – blieben überschaubar. Vielleicht hatte sie ihr ganzes Leben gut daran getan, nicht zu viel von sich zu wollen. Vielleicht war sie einfach nicht dafür gemacht.

Amelia hob den Kopf und sah auf das Wasser. Wie immer, wenn es das Wetter zuließ, hatten sie im Garten hinter dem Haus trainiert. Kotzen mit Meerblick gehörte nicht zu ihren Tageshighlights, war ihr aber bedeutend lieber als Kotzen mit Muscheltapete und Klosteingeruch. Doch das Training setzte ihr zu. Sich mit anderen Gehirnen zu vernetzen, fiel ihr nicht in den Schoß und brachte sie täglich – nicht nur körperlich – an ihre Grenzen. Ihr schauderte beim Gedanken an die Bilder aus Moiras Kopf.

Amelia zuckte zusammen, als sich ein Schatten über den leeren Plastikstuhl neben ihr legte. Sie erkannte Moiras faltige Hände in ihrem Sichtfeld und entspannte sich augenblicklich. Die alte Frau trug ein Tablett mit einer Kanne voll frisch gemixter Margaritas und einem Teller Sandwiches.

Moira nahm Platz und stellte die Kanne, die Gläser und den Teller auf das weiße Holztischchen zwischen ihren Stühlen. »Du siehst aus, als könntest du einen vertragen.« Ohne Amelias Antwort abzuwarten, schenkte sie ein.

Damit hatte Moira ins Schwarze getroffen. »Danke«, nuschelte Amelia vor sich hin und griff nach einem der Margaritas. In einem Zug kippte sie den Inhalt hinunter. Sie kam sich dämlich vor. Nicht sie sollte sich schlecht fühlen, sondern Moira. Schließlich waren es die Bilder ihrer Erinnerungen, die Amelia so sehr verstört hatten. »Es tut mir so leid.«

Moira nahm ebenfalls einen Schluck und blickte auf den Atlantik. »Es ist lange her.«

Das mochte es sein. Doch Amelia konnte sich nicht vorstellen, dass die Narben der Gräueltaten jemals verschwinden würden. Mit Glück würden sie verblassen. »Wir werden dem ein Ende setzen.« Sie war erstaunt, wie bestimmt und kämpferisch ihre Stimme klang. Sich Sky anzuschließen war zunächst nur ein Impuls gewesen. Komplett überzeugt war sie damals nicht von der Sache. Pandora und all die Gefühle, die ihre Anwesenheit mit sich brachte, hatten Amelia dazu getrieben. Inzwischen wusste sie, dass es das Richtige war. Superior waren Menschen und hatten – wie jeder andere auch – ein Recht zu leben. Aber die SHS musste vernichtet werden. Menschen wie Pandora, Moira und sie selbst durften nicht länger von ihnen gequält und missbraucht werden.

Amelia griff nach Moiras Hand und drückte sie sanft.

»Das werden wir, Liebes«, bestätigte Moira und das Funkeln in ihren Augen ließ keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit.

Diese alte Frau … Amelia hatte sie sofort in ihr Herz geschlossen. Für eine gesichtslose Sache zu kämpfen, war nicht Amelias Ding. Aber für Menschen, die ihr etwas bedeuteten, war sie bereit, Opfer zu bringen.

»Ich hoffe, das hört sich jetzt nicht an wie ein Vorwurf … Aber hast du nie versucht, dich zu wehren?«

Moiras Blick wurde bitter. »Am Anfang nicht. Ich war noch jung und überzeugt von ihren Idealen. Es war für mich nachvollziehbar, fast schmeichelhaft, dass sie mein Erbgut nicht verschwenden wollten. Natürlich fand ich den Gedanken an eine Unity, die nicht mit meinem Walter stattfinden sollte, etwas verstörend. Und auch Walter war nicht begeistert. Gleichzeitig erschien es uns so logisch.«

Amelia erschien nichts daran logisch. Wie konnten diese Menschen nur ernsthaft erwarten, dass eine Frau mit einem anderen Mann schlief, um schwanger zu werden? Und das auch noch umringt von Priesterinnen und im Beisein ihres eigenen Ehemannes.

Ja, Moiras Gabe war sehr machtvoll. Sie konnte die Erinnerungen von Menschen manipulieren. Für eine skrupellose Organisation wie die SHS war sie eine perfekte Waffe. Aber wie konnten sie nur? Wie konnte irgendjemand das, was sie taten, um diese Gabe zu bewahren, normal finden?

Moira fixierte Amelia. Sie konnte nicht sagen, was genau in ihrem Blick lag. Er war nicht vorwurfsvoll, gleichzeitig spürte sie aber, dass sie sich verurteilt vorkam.

»Es tut mir leid«, setzte Amelia an. »Es sollte wirklich nicht wie ein Vorwurf klingen. Ich verstehe es einfach nicht. Und ich würde es so gerne verstehen. Wie sollen wir Menschen von etwas befreien, von dem sie nicht befreit werden wollen?«

»Ich frage mich selbst auch oft, wie um alles in der Welt ich da nur mitspielen konnte.«

Amelia schauderte und die feinen Härchen auf ihren Armen stellten sich auf. Wie schrecklich es war, wenn man gegen den eigenen Willen gequält wurde, wusste sie. Wie es sich anfühlte, seine Peiniger mit offenen Armen willkommen zu heißen und erst nach und nach zu erkennen, was mit einem passiert … das mochte sie sich gar nicht vorstellen. Amelia strich Moira sanft über den Oberarm. »Egal warum. Dich trifft keine Schuld. Du bist ein Opfer ihrer Gehirnwäsche.«

Moira schluckte. »Ich weiß. Und sie sind verdammt gut darin. Die Frage, warum ich nichts dagegen getan habe, verfolgt mich trotzdem.«

»Aber du hast etwas dagegen getan.«

»Erst als mein Leben in Scherben lag. Als ich nicht mehr in der Lage war, meinem Walter in die Augen zu sehen und er es nicht mehr über sich gebracht hat, mich zu berühren.«

»Du bist mutiger als die meisten von ihnen.« Es mochte für Moira ein schwacher Trost sein. Aber es war so. Und Amelia wollte, dass sie es wusste. »Du hast dich am Ende gegen sie gestellt und nicht mehr mitgespielt. Und du hast damit anderen die Augen geöffnet und sie ermutigt, es ebenfalls zu tun. Du bist das Sandkorn, aus dem unsere Sache erst entstanden ist. Für mich bist du eine Heldin.«

Eine Träne löste sich aus Moiras Augen. Amelia stand auf, beugte sich zu Moira, nahm sie in ihre Arme und wiegte sie, bis die kleinen erstickten Schluchzer, die sie von sich gab, immer leiser wurden und schließlich vom Rauschen des Wassers vor ihren Füßen verschluckt wurden. Moira löste sich ein Stück und schien sich wieder gefangen zu haben. Mit ihrem Handrücken wischte sie sich die Tränen aus ihrem Gesicht. »Und jetzt trinken wir diese Kanne Margaritas aus und hören auf, uns erbärmlich zu fühlen.«

Diese Worte hätten glatt von Amelia stammen können. Sie hob ihr Glas. »Darauf, dass wir uns von diesen Arschlöchern nicht kleinkriegen lassen.«

»Nie wieder«, ergänzte Moira.

»Nie wieder«, stimmte Amelia zu. Ohne weitere Worte zu verlieren und Wunden aufzureißen, verweilten sie am Wasser und leerten ihre Gläser.

Unweit von ihnen saß Pandora auf einer Decke im Gras und las. Amelia konnte von ihrem Platz aus nicht erkennen was, aber für gewöhnlich waren es sehr schmalzige Liebesgeschichten – Happy End inklusive. Ihre Schwester inhalierte diese Geschichten. Man sah sie nur selten ohne ein Buch in der Hand und meistens las sie mindestens eines am Tag, seit sie vor Erika geflohen waren. Zwei Monate war es nun her und Amelia war glücklich damit, wie sich Pandora seitdem entwickelt hatte. Natürlich war sie nach wie vor verschlossen und auf Fremde musste sie immer noch wie das Mädchen von zuvor wirken.

Amelia wusste es besser. Ihre Schwester war nicht mehr die Pandora, die sie kennengelernt hatte. Die an einem Tisch saß, Puzzle legte und nicht wahrnahm, was um sie herum geschah. Mithilfe ihrer Gabe war Amelia zu ihrer Schwester durchgedrungen, hatte die unsichtbare Mauer, die sie zwischen sich und der Welt errichtet hatte, niedergerissen. Ganz schutzlos wollte sie sich der Welt immer noch nicht präsentieren, hatte die Mauer durch einen Vorhang ersetzt, den sie bei Bedarf zuziehen und ihre Seele vor ungeschützten Blicken abschirmen konnte. Für Amelia war dieser Vorhang keine Barriere. Pandora schob ihn für sie immer bereitwillig beiseite. Und auch für Sky und Moira, die sie mittlerweile etwas besser kannte, tat sie das meist problemlos. Nathan gegenüber, den sie nur einige Male gesehen hatte, blieb sie jedoch auf Distanz. Amelia beunruhigte das nicht. Schließlich hatte sie sich bei Moira zu Beginn ähnlich verhalten. Seit etwa einem Monat lebten sie nun schon zu dritt in diesem Haus. Es hatte etwa zwei Wochen gedauert, ehe Pandora ein Wort mit ihr gewechselt hatte und eine weitere, bis sie sich in ihrer Gegenwart entspannte. Nathan hingegen hatte sie bisher nur vier Mal gesehen. Einmal in Detroit nach ihrer Flucht und dreimal hier im Haus.

Viel zu selten.

Es war eine Qual. Manchmal hatte Amelia das Gefühl, von einer Folter in die nächste geflohen zu sein. Aber es ging nicht anders. Es war notwendig. Und obwohl es Sky gewesen war, der darauf bestanden hatte – sie wussten es beide selbst. Die Gefahr, dass Erika Nathan beschatten ließ und er sie damit direkt zu ihr und Pandora führte, war einfach zu groß. Also mussten sie Abstand halten, falsche Fährten legen. Erst sechs Wochen nach ihrer Flucht, als sie sich sicher waren, dass Nathan nicht mehr beobachtet wurde, hatten sie ein erstes Treffen gewagt.

Sky hatte West Haven unter strategischen Gesichtspunkten als Unterschlupf für sie gewählt. Es lag zwischen New York und Boston und war somit für alle Beteiligten gut zu erreichen. So die Theorie. In der Praxis waren West Haven und eine zweistündige Autofahrt aber zu weit für einen kurzen Abstecher. Es war gerade erst ein paar Tage her, seit Nathan sie besucht hatte, sie sich nahe gewesen waren. Doch sie vermisste ihn, als läge es Jahre zurück.

Vielleicht verstand Amelia ja nicht viel von Strategie, aber für sie persönlich war das strategisch scheiße.