Pandora
Pandora stand hinter Amelia, den Griff ihres braunen Lederkoffers fest mit ihrer rechten Hand umklammert. Ihr linker Arm war angespannt an ihren Körper gepresst. Sie wünschte sich, sie hätte noch einen zweiten Koffer. Nicht der Dinge wegen, sondern damit auch ihre linke Hand etwas zu tun hätte.
Die Motorgeräusche des Taxis, das sie gefahren hatte, verstummten. Alles, was sie noch hörte, war der Wind, der die braunen Locken ihrer Zwillingsschwester aufwirbelte. Auch Amelia sagte nichts, sondern blickte, genau wie Pandora, auf das Haus vor ihnen. Ihr neues Zuhause in West Haven. Ihr Haus. Nicht allein – aber trotzdem.
Pandora musterte die leicht verwitterte taubenblaue Holzfassade und die großzügigen weiß gerahmten Fenster. Links und rechts neben dem Haus konnte sie bereits den Atlantik sehen, der sich hinter dem Gebäude erstreckte. Das Haus war schön. Nicht das schönste, das sie je gesehen hatte. Noch nicht einmal das schönste, in dem sie je gelebt hatte. Aber schön. Und es war groß. Nicht riesig, aber groß.
Amelia drehte ihren Oberkörper zu ihr. Sie nickte, doch in ihren Augen stand Sollen wir? geschrieben. Pandora ging auf den weißen Holzlattenzaun zu und beantwortete damit Amelias unausgesprochene Frage. Durch einen Torbogen, an dem haufenweise getrocknetes Gestrüpp hing, betrat sie das Grundstück. Es als weitläufig zu bezeichnen, wäre untertrieben gewesen. Ihr nächster Nachbar würde ihre Umrisse ausmachen können, einen Schrei aber vermutlich nicht hören …
Eine Angst, von der sie wünschte, sie wäre unbegründet, übernahm plötzlich das Kommando über ihren Körper. Sie blieb stehen, stocksteif, und der Koffer glitt ihr aus der Hand. Mit einem Plumps fiel er vor ihren Füßen zu Boden. Noch ehe sie sichs versah, war Amelia neben ihr. Sie spürte, wie sich die warme Hand ihrer Schwester um ihre legte. Pandora schluckte und anstatt die bösen Erinnerungen, die sie gerade heimgesucht hatten, zu verscheuchen, hielt sie die Bilder fest. Nicht für sich, sondern für Amelia. Zeigte ihr, wie sie monatelang gequält wurde. An einem Ort, noch abgelegener als dieser.
Amelia ließ ihre Hand frei und schlang ihre Arme um Pandoras steifen, immer noch zitternden Körper.
»Hier wird dir nichts passieren«, flüsterte Amelia und wiegte sanft ihren Körper hin und her.
Damals hatte sie auch nicht geglaubt, dass es so enden würde. Sie dachte, es wäre nur ein Ausflug …
»Ich würde das nie zulassen.«
Sie schloss ihre Augen, betrachtete die Bilder, die Amelia ihr sendete. Reflexartig riss Pandora ihre Lider wieder auf. Obwohl sie selbst so viel mitgemacht hatte – Amelias Dunkelheit ertrug sie nicht. Den geschlossenen Sarg … die Schreie … Pandora löste sich von ihrer Schwester und griff sich an die Brust. Luft. Jedes Mal, wenn sie die Bilder sah, hatte sie selbst das Gefühl zu ersticken.
Und noch schlimmer … der Blick durch die Augen von Amelia zeigte ihr erst, wie falsch das war, was man ihr selbst angetan hatte. Aber wie hätte sie Nein sagen können? Wie hätte sie ihr sagen können: Es ist in Ordnung, dass du für mich kämpfst und leidest, aber ich bin nicht bereit dazu? Sie hatte es nicht über sich gebracht. Und aus Angst, Erikas Herz zu brechen, sie zu verlieren, hatte sie lieber sich selbst brechen lassen.
Amelia presste ihr sanft die Hände auf die Schultern und suchte ihren Blick. »Niemals.«
»Ich weiß.« Beide teilten einen Schmerz. Verstanden ihn wie eine Sprache, die nur sie beide kannten. Und das grausamste Wort, das übersetzt in Silben und Buchstaben nicht annähernd das ausdrückte, was ihre Bilder vermochten, hieß Todesangst. Und genau deshalb würde Amelia ihr das nie antun.
Amelia bückte sich und hob den Koffer auf.
Pandora streckte ihre Hand aus und nahm ihn entgegen. Sie konnte das hier. Zusammen mit ihrer Schwester konnte sie das.
Vorsichtig setzte Pandora ihren Fuß auf den satten grünen Rasen. Sie vertraute ihrer Schwester und glaubte fest daran, dass ihr in diesem Haus nichts Schlimmes passieren würde. Trotzdem wuchs ihre Anspannung mit jedem Schritt. Schließlich war es nicht nur ihr Haus. Und …
Amelia hatte sie bereits überholt und wartete auf der Veranda. Pandora nahm die beiden Stufen zum Eingang und blickte ihrer Schwester in die Augen. Mit einem aufmunternden Lächeln auf den Lippen nahm Amelia ihr das Gepäck aus der Hand und stellte es neben sich auf den Boden. Amelia löste Pandoras verkrampfte Finger, glättete sie und umschloss sanft ihre Handflächen. »Alles wird gut, Dorrie. Keine Sorge. Ich bin bei dir.«
Pandora betrachtete ihren mehr oder weniger leeren Lederkoffer. Viel hatte sich in den Wochen, während sie mit Amelia untergetaucht war, nicht angesammelt. Ein wenig Wechselkleidung und Waschsachen. Kein einziges der Bücher, das sie im letzten Monat gelesen hatte, befand sich darin. Nicht, weil sie nicht schön waren oder sie Pandora nicht gut unterhalten hätten. Aber zu keiner dieser Geschichten konnte sie eine emotionale Bindung aufbauen, die es rechtfertigte, Ballast zu schleppen. Aber im Prinzip war alles in diesem Koffer ersetzlich. Ihr Leben befand sich nicht darin, sondern stand direkt neben ihr.
Pandora blickte zur ihrer Schwester, schluckte ihre diffusen Ängste herunter und nickte.
»Bist du bereit?«, fragte Amelia.
»Ja«, log sie. Sie war es nicht, würde es vielleicht nie sein.
Amelia öffnete die Fliegengittertür, die vor der Haustür angebracht war, und klopfte.
Schritte ertönten im Inneren und wurden immer lauter. Pandora hielt die Luft an.
Während Amelia immer noch das Fliegengitter zurückhielt und Pandora nicht wagte zu atmen, öffnete sich langsam die Tür. Eine alte Frau stand vor ihnen. Ihre weißen halblangen Haare waren hinter das Ohr gesteckt und ihr leicht rundes Gesicht wirkte offen und freundlich. Lächelnd streckte sie Amelia eine Hand entgegen.
»Hallo, ich bin Moira. Schön, dass ihr da seid.«
Amelia löste ihre Hand vom Gitter und drückte stattdessen ihren Fuß dagegen. »Ich bin Amelia«, sagte sie und nahm Moiras Hand.
»Dieses blöde Ding.« Moira zeigte kopfschüttelnd auf das Fliegengitter. »Wir sollten das dringend einmal entfernen.«
Pandora hatte inzwischen wieder Luft geholt, sich aber nicht vom Fleck bewegt.
Moira streckte ihr ebenfalls ihre faltige Hand entgegen. Pandora betrachtete sie, nickte höflich, nahm sie aber nicht.
»Das ist Pandora«, sagte Amelia an ihrer Stelle.
»Deine Zwillingsschwester.« Es war eine Feststellung, keine Frage. »Sky hat mir schon viel von euch erzählt.«
Amelia nickte.
»Kommt doch rein.« Moira ging ins Haus und machte eine einladende Geste.
Pandora nahm den Koffer und folgte ihrer Schwester ins Innere, die Augen wachsam auf Moira gerichtet. Pandora besaß keine Gabe im eigentlichen Sinne, aber etwas, das dem für ihre Begriffe sehr nahekam. Wenn sie jemanden ganz genau betrachtete, konnte sie erkennen, was an ihm Fassade war und was echt. Es war, als würden die Teile seiner Persönlichkeit und seines Auftretens, die nur aufgesetzt waren, einen falschen Schatten werfen und ihr damit ins Auge springen. Es klang lächerlich, wenn man es so sagte. Doch es war so und es half ihr, Menschen zu durchschauen. Zumindest die, die ein zweites Gesicht trugen. Und das waren die meisten.
Moira zeigte noch keine Anzeichen einer Fassade. Aber sie hatten ja auch erst ein paar Sätze geredet …
»Ich schlage vor«, setzte Moira an, »ich zeige euch jetzt erst einmal eure Zimmer und danach trinken wir Kaffee, essen Kuchen und lernen uns etwas kennen.«
»Klingt nach einem guten Plan.« Amelia griff nach ihrem Koffer.
Zimmer? Für Pandora klang dieser Plan überhaupt nicht gut. Panisch umklammerte sie Amelias Arm. Bitte nicht.
»Wobei«, nahm Amelia ihren Gedanken auf, »uns ein Zimmer für den Moment reicht.«
Moira lächelte, zeigte immer noch keine Anzeichen einer Fassade. »Ganz wie ihr wollt.« Sie ging vor ihnen die Treppe nach oben. Sie war aus Holz und im gleichen Taubenblau wie das Haus gestrichen.
Pandora und Amelia folgten ihr und die mit Teppich ausgelegten Stufen knarrten bei jedem Schritt. Am Ende der Treppe führte ein Gang nach rechts. Fünf Türen zählte Pandora.
Moira öffnete die zweite. »So, das ist euer Zimmer.«
Pandora spitzte hinein, während Amelia an ihr vorbei schon den Raum betrat. Die Wände waren in einem warmen Beige gestrichen und helle Holzmöbel in verschiedenen Maserungen standen im Raum verteilt. Auf dem großen Bett lag eine moosgrüne Tagesdecke und eine Reihe von Kissen mit Blütenbezug.
»Eine zweite Decke bringe ich euch später. Wenn ihr sonst noch irgendetwas braucht, sagt mir Bescheid.«
Pandora betrat nun ebenfalls das Zimmer. Ihr Zimmer.
Moira zeigte in Richtung der Treppe. »Ich bin dann unten. Kommt einfach, wenn ihr fertig seid.«
»Machen wir«, sagte Amelia und schloss die Tür. Sie nahm Pandoras Hand und sah sie an. »Alles okay?«
Pandora wusste es noch nicht. Sie hatte kein schlechtes Gefühl, aber auch kein gutes.
»Ich glaube, ich mag Moira.« Amelia drückte ihre Hand. »Du wirst sehen. Wir werden uns hier richtig wohlfühlen.«
Pandora setzte sich auf das Bett. Auf dem Nachtkästchen lagen Bücher. Schundromane, hätte Erika gesagt. Sie griff sich das oberste und streckte ihre Beine auf dem Bett aus. »Vielleicht.«
»Nicht vielleicht«, sagte Amelia. »Sicher.«
Pandora schmunzelte und schlug das Buch auf.
Amelia hatte sich nur kurz frisch gemacht und war dann nach unten zu Moira gegangen, um mit ihr Kaffee zu trinken und Kuchen zu essen. Pandora war im Zimmer geblieben und hatte gelesen. Sie war heute noch nicht zu mehr bereit.
Amelia erzählte ihr später, dass Moira Sky dabei geholfen hatte, ehemalige Patienten von Brick zu behandeln. Und Amelia prophezeite ihr, dass auch sie Moira bald ins Herz schließen würde. Vermutlich sprach nichts dagegen. Sich ihr mit offenen Armen entgegenstürzen, konnte sie trotzdem nicht. Und Moiras Gabe trug zu ihrer Zurückhaltung bei. Denn Moira konnte die Erinnerungen von Menschen manipulieren. Woher sollte sie jemals wissen, ob das, was sie jetzt für sie empfand, das war, was sie noch fünf Minuten vorher für sie empfunden hatte? Erika hatte oft genug ihre Emotionen manipuliert, ihren Ärger durch Freude ersetzt. Pandora hatte es gehasst und die Gaben deshalb immer verabscheut. Bis … ja, bis Amelia in ihr Leben gekommen war. Denn ihre Gabe war so anders – sie nahm nichts, sondern half dabei, Dinge zu teilen.
Pandora schlug das Buch zu, das sie bis zur letzten Seite ausgelesen hatte. Sie hatte nicht aufhören können, musste es beenden, musste wissen, dass alles gut werden würde. Behutsam legte sie das Buch zurück auf den Nachttisch. Das Licht ließ sie brennen – für Amelia. In ihr tobten gemischte Gefühle, als sie ihren Oberkörper flach auf die Matratze legte.
Amelia schlief bereits neben ihr. Das ruhige und gleichmäßige Atmen ihrer Schwester war für sie wohl das, was für kleine Kinder eine Spieluhr ist. Sie legte ihren Kopf auf das Kissen und blickte zurück zu dem Buch auf dem Nachtkästchen. Die Liebe in diesen Büchern war so anders. Nicht nur, weil es Mann und Frau waren, sondern weil sie anders zueinander waren. Sie wusste nicht, ob sie es war, die die Liebe falsch verstand, oder die Menschen in diesen Büchern.
Pandora vermisste sie. Die Liebe, die sie kannte. Wünschte sich, sie könnte sie Erika beibringen – die Sprache, die nur sie und Amelia sprachen. Und dann würde alles …
Pandora fühlte sich schuldig. Schuldig für all diese Gedanken. Aber Erika war nun einmal der erste Mensch in ihrem Leben gewesen, der sie geliebt hatte, der ihr gezeigt hatte, was Liebe überhaupt war. In dem Haus, in dem sie aufgewachsen war … da gab es das nicht. Nicht für sie. Das ehemalige Oberhaupt, William Clayton, hatte sie eher wie einen Gegenstand behandelt. Einen, den man geschenkt bekommen hat, ihn schrecklich findet, aber nicht wegschmeißen darf. Und seine Frau Victoria war auch nicht besser gewesen. Selbst die erwachsenen Kinder, Cliff und Jason, gaben ihr bei jedem Besuch das Gefühl, ein verlauster Köter in einem Haus voller Tierhaarallergiker zu sein. Trotzdem war sie traurig gewesen, als ihr Pflegevater William starb.
Die Tränen, die sie an seinem Grab vergossen hatte … vielleicht war es nur Angst gewesen. Angst vor dem Ungewissen. Victoria hatte schließlich nie einen Hehl daraus gemacht, dass Pandora in ihrem Haus nur geduldet war, weil William es so wollte. Schnell war klar, die Familie des neuen Oberhauptes würde sie aufnehmen. Zu Beginn war ihr Elliots Kälte noch unheimlicher als Williams Abscheu ihr gegenüber. Doch sie gewöhnte sich daran. Und Erika … sie gab ihr vom ersten Augenblick an das Gefühl, willkommen zu sein, ein Zuhause zu haben und schließlich … geliebt zu werden.
Es mochte eine falsche Liebe gewesen sein, aber es war die einzige, die sie kannte. Pandora hoffte, die Sehnsucht würde vergehen, wenn sie nur genug von der anderen Liebe las.
Sie schloss die Augen und versuchte, an etwas Schönes zu denken. Es war ihre erste Nacht im neuen Haus und Amelia hatte ihr gesagt, was man träumt, würde in Erfüllung gehen. Pandora dachte an Liebe und an Familie und bemühte sich, ein buntes und schönes Bild zu zeichnen. Farbenfroh und lebendig. Eines, das sie mit in ihre Träume nehmen konnte. Und damit schlief sie ein …
Ein Wimmern riss sie aus dem Schlaf. Amelia saß aufrecht neben ihr im Bett, ihre Knie herangezogen und ihren Kopf darauf gebettet. Schweißperlen glitzerten auf ihren Oberarmen und ihr Zittern sendete Wellen aus, wie ein Stein, der auf eine glatte Wasseroberfläche traf. Amelias Traum war sicher wieder keiner gewesen, von dem man hoffte, dass er in Erfüllung ging. Es war ein Albtraum. Einer der Sorte, die schon wahr geworden ist.
Pandora legte ihre Arme um die Schultern ihrer Schwester und verharrte, bis sie sich beruhigt hatte.
So heilten sie sich gegenseitig, Nacht für Nacht. Amelia half ihr, sich der Welt wieder etwas zu öffnen und ihr gebrochenes Herz zu kitten. Und Pandora half ihrer Schwester, die Erinnerungen an die Qualen, die sie im Medical Center erleiden musste, zu vergessen. Beide hatten alles verloren, doch einander gewonnen.
Aneinandergekuschelt schliefen sie ein.
Auch das, was sie für ihre Schwester empfand, war nicht die Liebe aus den Büchern. Es war eine andere. Eine, die sie gerettet hatte und die ihrer Seele guttat.