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Über dieses Buch:

Wenn die Jagd nach einem Schatz zum mörderischen Wettstreit wird … Die junge Kunsthistorikerin Vicky Bliss ist schön, clever und zielstrebig, und nimmt alles mit einer Prise Humor. So auch den Heiratsantrag ihres Kollegen Tony, der verspricht, Vicky auf Händen zu tragen, aber nur, solange sie beruflich in seinem Schatten bleibt. Das kann Vicky nicht auf sich sitzen lassen und fordert Tony heraus: Beide wollen im malerischen Schloss von Rothenburg einem sagenumwobenen Reliquienschrein auf die Spur kommen – möge der Bessere gewinnen! Doch die Grafenfamilie scheint mehr als nur ein Geheimnis zu verbergen – und sogar bereit zu sein, dafür zu töten ...

»Ein altes europäisches Schloss voller Geheimgänge, ein jahrhundertealtes Mysterium und ein Gefühl von ständiger Gefahr machen diesen Kriminalroman zu Elizabeth Peters bestem Buch.« San Francisco Examiner

Über die Autorin:

Hinter der US-amerikanischen Bestsellerautorin Elizabeth Peters steht Barbara Louise Gross Mertz (1927–2013), die auch unter dem Pseudonym Barbara Michaels erfolgreich Krimis und Thriller schrieb. Die Autorin promovierte an der University of Chicago in Ägyptologie. So haben auch ihre über 20 Kriminalromane, für die sie zahlreiche Preise gewann, meist einen historischen Hintergrund.

Die Krimireihe um Vicky Bliss bei dotbooks umfasst:
»Vicky Bliss und der geheimnisvolle Schrein – Der erste Fall«
»Vicky Bliss und die Straße der fünf Monde – Der zweite Fall«
»Vicky Bliss und der blutrote Schatten – Der dritte Fall«
»Vicky Bliss und der versunkene Schatz – Der vierte Fall«
»Vicky Bliss und die Hand des Pharaos – Der fünfte Fall«

Ebenfalls bei dotbooks erscheint die Krimireihe um die abgebrühte Meisterdetektivin Jacqueline Kirby:
»Der siebte Sünder: Ein Fall für Jacqueline Kirby – Band 1«
»Der letzte Maskenball: Ein Fall für Jacqueline Kirby – Band 2«
»Ein preisgekrönter Mord: Ein Fall für Jacqueline Kirby – Band 3«
»Ein todsicherer Bestseller: Ein Fall für Jacqueline Kirby – Band 4«

Unter dem Pseudonym Barbara Michaels veröffentlichte sie bei dotbooks die folgenden Romantic-Suspense-Romane:
»Das Geheimnis von Marshall Manor«
»Die Villa der Schatten«
»Das Geheimnis der Juwelenvilla«
»Die Frauen von Maidenwood«
»Das dunkle Herz der Villa«
»Das Haus des Schweigens«
»Das Geheimnis von Tregella Castle«
»Die Töchter von King’s Island«

Sowie ihre historischen Liebesromane:
»Abbey Manor – Gefangene der Liebe«
»Wilde Manor – Im Sturm der Zeit«
»Villa Tarconti – Lied der Leidenschaft«
»Grayhaven Manor – Das Leuchten der Sehnsucht«

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eBook-Neuausgabe August 2018

Dieses Buch erschien bereits 2000 unter dem Titel »Der geheimnisvolle Schrein« bei Ullstein.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1973 by Elizabeth Peters

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1973 unter dem Titel »Borrower of the Night«.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2000 Ullstein Buchverlage GmbH & Co. KG, Berlin

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Published by Arrangement with BARBARA G. MERTZ REVOCABLE TRUST

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildabbildung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / StaniG / faestock / Kokorina Mariia / Evannovosto / BABAROGA und © Pixabay / falco

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-278-8

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Elizabeth Peters

Vicky Bliss und der geheimnisvolle Schrein

Kriminalroman

Aus dem Amerikanischen von Beate Darius

dotbooks.

Für Betty und George, die ebenfalls nicht an Geister glauben

Vorwort

Die werten Bewunderer von Rothenburg ob der Tauber werden unschwer erkennen, daß ich mich der dichterischen Freiheit bedient habe, den tatsächlichen Sehenswürdigkeiten der Stadt das Schloß Drachenstein hinzuzufügen. Genau wie alle anderen Charaktere in diesem Buch sind auch die Grafen und Gräfinnen derer von und zu Drachenstein reine Fiktion, und jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufälliger Natur. So betrüblich es ist – auch die Legende um den Riemenschneider-Schrein ist frei erfunden. Abgesehen von dieser einzigen Abweichung habe ich Leben und Werk des Bildhauers korrekt wiedergegeben.

Kapitel 1

Bereits im Alter von zehn Jahren war mir klar, daß ich niemals heiraten würde. Ich überragte meine Mitschüler in der fünften Klasse nicht nur um gut 15 Zentimeter – mit Ausnahme von Matthew Finch, der damals 1,70 m groß war und knapp 95 Pfund wog –, auch mein Intelligenzquotient hatte sich entsprechend meiner Körpergröße entwickelt. Er lag um 60 Punkte höher als bei meinen Mitschülern – mit Ausnahme des zuvor erwähnten Matthew Finch, den ich lediglich um 30 Punkte übertraf.

Ich weiß – das hier ist kein geschickter Auftakt für eine Erzählung, sofern ich die Sympathien der Leser gewinnen will. Ein Erzähler sollte zumindest versuchen, sich in Bescheidenheit zu üben. Aber Sie dürfen mir glauben, ich übertreibe nicht. So liegen die Fakten, und sie sind eher ein Handikap als ein Anlaß zur Freude. Wenn es etwas Schlimmeres gibt als das Bewußtsein, ein Leben als großes Mädchen führen zu müssen, dann ist es die Tatsache, nicht nur ein großes, sondern dazu noch ein intelligentes Mädchen zu sein.

Über Jahre hinweg bereitete mir diese Erkenntnis kaum Probleme. In der fünften Klasse dachte ich ohnehin noch nicht ernsthaft an eine Eheschließung. Erst im Erwachsenenalter setzten die Schwierigkeiten ein. Ich wuchs und wuchs, allerdings nicht nur in die Länge, sondern auch in die Breite. Das Ergebnis war erschütternd. Ich möchte meine Maße an dieser Stelle nicht wiedergeben. Ich verschrieb mich einer konsequenten Diät, aber das verschlimmerte die Sache lediglich. Ich nahm zwar an den richtigen Stellen ab, war aber nach wie vor in den Regionen üppig, wo der Volksmund behauptet, daß »an einer Frau etwas dran sein muß«.

Ich darf erneut betonen, daß ich nicht übertreibe. Man kann mich beileibe nicht als eine Schönheit bezeichnen. Ich bewundere Menschen, die schlank, feingliedrig und ästhetisch anzuschauen sind. Die Heldin aus den Tagträumen meines Erwachsenwerdens besaß ein herzförmiges, von schwarzen Locken umrahmtes Gesichtsoval. Sie war ein zierliches Geschöpf mit Porzellanteint und Schmollmund. In den starken Armen ihres Helden reichte sie ihm höchstens bis in Herzgegend.

Meine Gene entstammen unisono meinen skandinavischen Vorfahren väterlicherseits – hünenhaften blonden Menschen mit rosigen Wangen und riesigen blauen Augen, die so ästhetisch wirken wie Ochsen. Und genauso empfand ich mich auch – als große, blonde, blauäugige Kuh.

Daraus resultierte, daß ich entsetzlich gehemmt war. Das klingt vermutlich irrwitzig. Niemand rechnet damit, daß eine Walküre vom Schlage einer Brunhild schüchtern sein könnte. Aber ich war es. Die intelligenten, sensiblen und romantischen Jungen hatten Angst vor mir; und diejenigen, die ich nicht in Panik versetzte, interessierten sich weder für Romantik noch für anregende Gespräche über Prescott. Eigentlich wollten sie überhaupt nicht reden. Ich leckte meine Wunden und wurde zur überzeugten Einzelgängerin, ein Verhalten, das mir viel Zeit für mein Studium ließ. Ich sammelte Diplome wie andere Mädchen Verlobungsringe. Schließlich trat ich eine Anstellung als Dozentin für Geschichte an einer kleinen Universität im Mittelwesten an, die im Zuge der Ereignisse besser ungenannt bleibt. Dort lernte ich Tony kennen. Tony ist ebenfalls Dozent für Geschichte. Er ist sehr, sehr klug. Darüber hinaus ist er 1,95 m groß und ähnelt Keats während dessen fortgeschrittener Schwindsucht.

Tony begegnete ich während des ersten Fachschaftstreffens. Ich war spät dran. Das war ein Fehler; ich verabscheue es, mich einem Spalier männlicher Blicke auszusetzen. Lediglich eine weitere Frau war anwesend. Sie sah exakt so aus, wie ich es mir erträumt hätte – schlank, dunkelhaarig und intellektuell. Ich lächelte sie gewinnend an, woraufhin sie mich frostig anstarrte. Die meisten Frauen mögen mich nicht. Zugegebenermaßen ist mir klar, warum.

Tony fiel mir aufgrund seiner Physiognomie in der Menge auf. Allerdings besaß er noch weitere bemerkenswerte Attribute – große braune Augen, breite Schultern und schwarzes gelocktes Haar, das sich um seine Ohren ringelte. Sein Gesicht war markant und anziehend. In besagtem Augenblick trug er jedoch den gleichen Gesichtsausdruck zur Schau wie alle anderen. männlichen Anwesenden, mit Ausnahme von Dr. Bronson, dem Fachschaftsvorsitzenden. Er hatte das Einstellungsgespräch mit mir geführt und mich trotz meiner Maße eingestellt. Das ist kein Scherz: Es handelt sich um einen weit verbreiteten Irrglauben, an dem auch Vita und Titel nichts ändern können, daß eine mit meinen Proportionen ausgestattete Frau nichts anderes im Kopf haben kann als ein Vakuum.

Geräuschvoll ließ ich mich auf den mir am nächsten stehenden Stuhl plumpsen, und mehrere Männer schluckten hörbar. Der liebe alte Dr. Bronson lächelte gequält, strich sich sein ergrautes Haar aus der Stirn und eröffnete die Veranstaltung.

Es handelte sich um das Übliche: Diskussionen über Terminpläne und Ausschüsse und so fort. Nachdem die Zusammenkunft beendet war, stürmte ich zur Tür. Tony war schneller als ich.

Ich weiß nicht, wie es ihm gelang, mich von diesem Gebäude in die Cafeteria auf dem Campus zu schleifen, streite jedoch nicht ab, daß er ein recht überzeugender Redner ist. Teilweise erinnere ich mich sogar noch an unsere Unterhaltung, da ich eine solche Gesprächstechnik zuvor nie erlebt hatte.

Das erste, was er sagte, war: »Willst du meine Frau werden?«

»Nein«, erwiderte ich. »Bist du verrückt geworden?«

»Hast du noch nie etwas von der Liebe auf den ersten Blick gehört?«

»Doch, ich habe davon gehört. Ich glaube nicht daran. Und selbst wenn ich daran glaubte, sind die Liebe und die Ehe immer noch zwei verschiedene Paar Schuhe.«

»So schön und doch so zynisch«, erwiderte Tony betrübt. »Stellt denn mein ehrbarer Antrag nicht deinen Glauben in mein Geschlecht wieder her?«

»Er vermittelt mir lediglich den Eindruck, daß du verrückt sein mußt.«

»Sieh es doch einmal so.« Tony stützte seine Ellbogen auf dem Tisch auf. Die Tischplatte war nicht sonderlich sauber, Tonys Ellbogen auch nicht; ich schloß daraus, daß es sich um eine für ihn charakteristische Haltung handeln mußte. »Mein ganzes Leben lang war ich auf der Suche nach meiner Idealfrau. Ich werde bald dreißig, mußt du wissen; ich hatte also genug Zeit für diese Überlegung. Schönheit, Verstand und Humor – das erwarte ich von einer Frau. Daß du intelligent bist, weiß ich, denn sonst hätte dich der alte Bronson nicht eingestellt. Fleischeslust ist kein Thema mehr für ihn, behauptet er zumindest. Du bist ganz offensichtlich attraktiv. Deinen Sinn für Humor –«

»Ha«, entfuhr es mir. »Leitest du vermutlich von meinem Augenzwinkern ab.«

Tony legte den Kopf schief und musterte mich ernst. Eine schwarze Locke fiel ihm über die linke Augenbraue.

»Soll das ein Zwinkern sein? Es wirkt eher wie ein stahlhartes, unterkühltes Glitzern. Nein, ich bin bereit, deinen Sinn für Humor auf Treu und Glauben anzunehmen.«

»Du irrst dich. Ich finde das überhaupt nicht lustig. Und selbst wenn es so wäre, würde ich dich nicht heiraten. Ich habe gar nicht vor zu heiraten. Niemals.

»Wenn dir das lieber ist«, meinte Tony schulterzuckend.

So ging es fast den ganzen Winter über. Das Frustrierende an Tony war, daß er es ernst meinte. Er wollte tatsächlich heiraten. Das überraschte mich keineswegs; Männer, die auch nur einen Funken Verstand besitzen, wissen, daß die Ehe heutzutage die einzige Möglichkeit ist, eine Vollzeit-Bedienstete zu erwerben, die 25 Stunden pro Tag tätig ist, über keinerlei Freiraum verfügt und abgesehen von Kost und Logis keinen finanziellen Aufwand darstellt.

Natürlich hätte Tony diese Motive nie eingestanden. Er sprach immer nur von Liebe. Dafür konnte er nichts, denn sein familiärer Hintergrund war hoffnungslos konventionell. Er stammte aus einer großen, glücklichen Familie, hatte eine beleibte, glückliche Mutter und einen langen, dürren, glücklichen Vater er zeigte mir ihre auf seinem Schreibtisch stehenden Fotos. Das beweist doch eindeutig, was für ein Mensch er war. Seine Eltern waren sein ein und alles. Er liebte auch seine Brüder und Schwestern, mit denen er reichlich gesegnet zu sein schien. Verschämt gestand er mir seinen nicht nachvollziehbaren Kinderwunsch. Oh, seine vordergründigen Motive waren bewundernswert – und seine Ausstrahlung nicht von der Hand zu weisen. Es wäre Untertreibung zu behaupten, daß wir körperlich hervorragend harmonierten, aber das war beileibe nicht alles. Wir hatten Hunderte gemeinsamer Interessen, angefangen von der europäischen Geschichte bis hin zum Basketball. (Genau wie ich war er der Star in seiner High-School-Mannschaft gewesen.) Er teilte meine Leidenschaft für mittelalterliche Skulpturen und war verrückt nach alten Marx-Brothers-Filmen. Ich hätte mir niemanden vorstellen können, der mir sympathischer gewesen wäre. Trotzdem ließ ich mich nicht erweichen.

»Warum eigentlich nicht?« fragte Tony eines Tages. Es war Ende Januar oder Anfang Februar, und er verzweifelte allmählich. »Verflucht, warum nicht? Hast du etwas gegen die Ehe, nur weil sie als altmodisch gilt? Für so unoriginell hatte ich dich wahrlich nicht gehalten.«

»Damit hat das nichts zu tun. Ich bin nicht grundsätzlich gegen die Ehe. Aber sie ist nichts für mich. Ich werde nicht heiraten. Warum zum Teufel muß ich mich ständig wiederholen? Vermutlich sollte ich ein Tonband besprechen.«

»Das ist lächerlich.«

»Was, das Tonband? Es würde mir das Für und Wider meiner Argumentation abnehmen. Hör mir zu, Tony –« Ich stützte meine Ellbogen auf dem Tisch auf und zog sie rasch wieder fort; ich dachte nicht im Traum daran, seine albernen Unarten nachzuahmen. »Dein Verhalten ist ein grundlegendes Beispiel dafür, warum ich nicht heiraten will. Ich erkläre meinen Standpunkt, und du greifst ihn an. Du hörst mir nicht zu, du versuchst erst gar nicht, mich zu verstehen, sondern sagst lediglich –«

Tony sagte es.

»Fluchen bringt dich auch nicht weiter«, erwiderte ich. »Meine Gefühle sind eine Tatsache und keine Selbsttäuschung. Für mich besitzen sie Gültigkeit. Was bildest du dir eigentlich ein, mir Vorschriften machen zu können, wie meine Empfindungen auszusehen haben? Du denkst, daß du eine intellektuelle Ehefrau brauchst, die mit dir über deine Arbeit diskutieren kann. Aber das würde nicht von langer Dauer sein. Nach einer Weile würdest du Apfelkuchen statt Diskussionen erwarten, dann würdest du mich bitten, meine Arbeit aufzugeben, und falls ich promovierte und du nicht, wärest du eingeschnappt, und falls wir ein Baby hätten, würdest du mit Sicherheit nicht nachts aufstehen und ihm die schmutzige Windel wechseln –«

Ich brach ab, und das nicht etwa, weil ich meinen Monolog beendet hatte, sondern weil mir Tony gar nicht zuhörte. Seine Ellbogen auf die Tischplatte aufgestützt, verbarg er sein Gesicht in beiden Händen und lachte so heftig, daß der Tisch vibrierte.

Da er mich ohnehin nicht anschaute, gestattete ich mir ein süßsaures Grinsen. Das alles hatte vielleicht lustig geklungen, war aber nichtsdestoweniger meine feste Überzeugung. Abrupt rempelte ich einen von Tonys Ellbogen an, so daß sein Kinn in der Kaffeetasse landete; das beendete diesen Gesprächspunkt.

Aber bei weitem nicht unsere eigentliche Auseinandersetzung. Der nachdenkliche Glanz in Tonys Augen verriet mir, daß er zum erstenmal ernsthaft über das Problem nachdachte. Ich fand es belustigend, ihn zu beobachten, als er über das, was er als meinen Komplex bezeichnete, genauso methodisch grübelte wie über eine abstrakte wissenschaftliche Frage. Zumindest war es so lange amüsant, bis er seine Schlußfolgerung äußerte.

Wir waren in Tonys Apartment. Er hatte ein Feuer im Kamin angezündet und sich in einem Sessel niedergelassen, der sich in einem gewissen Sicherheitsabstand zu dem Sofa befand, auf dem ich saß. Den ganzen Abend hatte er mich nicht angerührt, eine Verhaltensänderung, die mir doch zu denken gab. Nachdem er mich eine ganze Weile angestarrt hatte, sagte er schließlich: »Ich bin zu einem Entschluß gekommen.«

»Ach, tatsächlich?«

»Ja. Was du brauchst, ist Dominanz.«

»So ist das also«, erwiderte ich.

»Dein willensstarkes Auftreten ist lediglich ein Schutzpanzer«, erklärte Tony. »Insgeheim wünschst du dir eine starke Schulter zum Anlehnen. Als eine in vieler Hinsicht überlegene Frau muß man dich allerdings davon überzeugen, daß dein Partner noch weitaus überlegener ist.«

»In Ordnung«, preßte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Du bist vielleicht stärker als ich, du Affe, aber solltest du auch nur einmal deine Gorilla-Taktik anzuwenden wagen, dann kriegst du es –«

»Nein, nicht doch. Ich spreche nicht von so barbarischen Dingen wie körperlicher Züchtigung. Ich beabsichtige, dich von meiner intellektuellen Überlegenheit zu überzeugen.«

»Haha«, entfuhr es mir.

»Du bezweifelst also meine intellektuelle Überlegenheit«, meinte Tony sachlich. »Natürlich tust du das. Und das ist dein Problem.«

Mühsam verkniff ich mir den wütenden Fluch, der mir auf den Lippen brannte. Er wollte doch nur, daß ich die Beherrschung verlor, denn das hätte meine emotionale Unreife bewiesen.

Statt dessen lehnte ich mich auf dem Sofa zurück, schlug die Beine übereinander und atmete tief ein. Tony taxierte mich mit Blicken, rührte sich jedoch nicht.

»Und auf welche Art und Weise«, fragte ich, während ich tief Luft holte, »willst du mich davon überzeugen?«

Tony war schon ein merkwürdiger Vogel. Es kostete ihn einige Mühe, seinen Blick von meinem Körper abzuwenden und ins Feuer zu starren.

»Das habe ich mir noch nicht überlegt«, gestand er. »Aber mir wird schon was einfallen.«

»Laß mich wissen, wenn du soweit bist.« Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen sank ich zurück auf das Sofa und streifte einen meiner Schuhe ab. »Habe ich dir schon erzählt, daß gegen Ende des Jahres vermutlich zwei meiner Artikel veröffentlicht werden? Wie kommst du eigentlich mit dem einen voran, den du im letzten Herbst begonnen hast?«

Das war zuviel. Mit einem Aufschrei stürzte sich Tony auf mich. Damit hatte ich gerechnet; ich entwand mich ihm, stand auf und blickte nachsichtig auf seine merkwürdig über dem Sofa kauernde Gestalt.

»Da du vorhast, mich mental zu bezwingen, besteht hierfür doch absolut kein Anlaß.« Ich schlüpfte erneut in meinen Schuh. »Ruf mich an, wenn du mit deiner Dominanz-Theorie weitergekommen bist.«

Er meldete sich rascher wieder, als ich erwartet hatte.

Es war einer jener gräßlichen Märztage im Mittelwesten, wenn Eis und Schnee nach einigen milden Tagen zu einem scheußlichen Matsch schmelzen. Ich watete über den aufgeweichten Boden und erfreute mich nicht unbedingt bester Stimmung, obwohl der bevorstehende Abend interessant zu werden schien. Tony wollte eine seiner Errungenschaften mit mir teilen – keine historische Theorie, sondern einen Menschen. Jacob Myers gehörte zu den ganz großen Tieren in unserer kleinen Stadt. Um genau zu sein, war er der einzig Einflußreiche überhaupt. Einer seiner Vorfahren hatte das Grundstück gestiftet, auf dem die Universität erbaut worden war; das Autowerk dieser Familie war der Hauptarbeitgeber. Die öffentliche Bibliothek, die Hauptstraße und der Park trugen unisono Namen der Clanmitglieder. Da Myers wohl zu viel Geld (falls das überhaupt möglich ist) und eine Schwäche für die Kultur besaß, verteilte er großzügig Stipendien und Forschungsgelder. Seltsam war nur, daß Tony zu den wenigen Ausnahmen gehörte, die nicht von seiner Großzügigkeit profitiert hatten, obwohl sein Vater und Myers Logenbrüder oder etwas Vergleichbares gewesen waren. Zufällig erfuhr ich – allerdings nicht von Tony–, daß er Myers sogar das Geld zurückgezahlt hatte, das dieser ihm für den Besuch der High-School zur Verfügung gestellt hatte. Das hatte Myers gar nicht gefallen. Mein Informant erklärte mir, daß der alte Herr seine Zigarren mit Tonys Schecks anzündete, bis dieser gedroht habe, die Stadt und die Universität zu verlassen.

Ich habe nie behauptet, daß Tony nicht auch seine guten Seiten hätte.

Wie auch immer, an jenem Abend sollte ich den berühmten Zeitgenossen kennenlernen. Und falls er beabsichtigte, mir irgendwelche Fördergelder zukommen zu lassen, würde ich mit Sicherheit nicht ablehnen.

Eigentlich hätte mich Tony abends abholen sollen, aber auch das gehörte zu seinen strategischen Schachzügen in unserem nicht ganz unbewaffneten kalten Krieg: keinerlei Zugeständnisse an die Weiblichkeit, nicht einmal die Grundgesetze der Höflichkeit. Wenn ich autonom sein wollte, so Tonys Devise, dann verflucht noch mal in jeder Beziehung. Ich hatte keinesfalls die Absicht, mich auf eine hitzige Diskussion mit ihm einzulassen; wenn er schon nicht einsah, daß marginale Höflichkeit nichts mit dem Zweikampf der Geschlechter zu tun hatte, wollte ich nicht diejenige sein, die ihn darüber aufklärte. An einem so verflucht feuchten, ungemütlichen Abend hätte ich ihn sogar abgeholt, wenn ich ein Auto gehabt hätte.

Aufgrund dieser Gedankengänge und der dünnen, mein Gesicht überziehenden Eisschicht darf man es mir nicht übelnehmen, daß ich ihn eher abweisend begrüßte. Er war so rosig und warm wie ein Baby, als er mir die Tür öffnete; hinter ihm prasselte ein gemütliches Kaminfeuer, und die halbleere Flasche auf seinem Tisch deutete darauf hin, daß er sich die schwere Arbeit mit Bourbon versüßt hatte. Das war auch seine vordergründige Entschuldigung, warum er mich nicht abholen konnte; er mußte noch Dutzende von Büchern lesen und für die nächste Ausgabe des historischen Universitätsjournals rezensieren.

Er begrüßte mich mit einem strahlenden Lächeln und ließ mich dann selbst meinen Mantel ausziehen. Ich warf diesen, so durchnäßt wie er war, auf das Sofa. Das war vergebliche Liebesmüh; ich hätte ihn auf seine Notizen werfen sollen, denn seine wissenschaftliche Arbeit hütete er wie seinen Augapfel; ansonsten war er ein ziemlich nachlässiger Mensch. Er warf den Mantel auf den Boden, setzte sich in aller Seelenruhe auf die feuchte Stelle und fing an zu tippen.

»Im Anschluß daran muß ich mir noch zwei Bücher zu Gemüte führen«, sagte er, während er auf der Schreibmaschine herumhackte. »Ein ordentlicher Batzen Arbeit.«

Ich goß mir einen Whiskey ein, obwohl er mir keinen angeboten hatte, und setzte mich vor dem Kamin auf den Boden. Überall lagen Bücher verstreut, die er nach Durchsicht vermutlich achtlos hingeworfen hatte.

Das Kaminfeuer und der Bourbon erfüllten mich allmählich mit Gleichmut, und ich stellte eine unterschwellige Befriedigung an mir fest, als ich den armen, geplagten Tony an seiner altmodischen Schreibmaschine hantieren sah. Sein Vierfinger-Suchsystem – zwei an jeder Hand – schien ihn so anzustrengen, daß er seine Zunge zwischen den Zähnen vorschob. Sein Haar stand zu Berge, auf einer Wange zeichnete sich Druckerschwärze ab, und seine Oberlippe bedeckten winzige Schweißperlen. Er wirkte wie ein verflucht attraktiver Achtzehnjähriger; wenn ich auch nur im entferntesten Mutterinstinkte besessen hätte, wäre ich dahingeschmolzen. Allerdings scheinen mir diese Instinkte völlig zu fehlen. Das ist auch einer der Gründe, weshalb ich mich gegen die Ehe sträube. Zärtlich beobachtete ich, wie Tony schwitzend vor sich hin brütete, doch trotz meiner hormonalen Schwingungen wäre es mir nicht im Traum eingefallen, zu ihm zu eilen und ihm anzubieten, das Maschineschreiben für ihn zu übernehmen. Ich tippe sechzig Wörter pro Minute. Und das weiß Tony ganz genau.

»Wir werden in einer halben Stunde erwartet«, wandte ich ein.

»Wenn du den Mund halten würdest, könnten wir es spielend schaffen.«

»Im Verlauf der nächsten halben Stunde willst du noch zwei weitere Bücher lesen und Kritiken dazu verfassen?«

»Lesen?« Tony unterbrach seine Tipparbeit, um mir einen mißfälligen Blick zuzuwerfen. »Niemand liest solche Bücher. Sei nicht töricht.«

Erneut fing er an zu tippen.

Ich hob das nächstbeste Buch auf und warf einen Blick hinein.

»Ich verstehe, was du damit meinst«, gab ich zu.

Sämtliche Bücher waren zentimeterdicke Wälzer; ich weiß nicht, warum Wissenschaftler Fachliteratur immer nach Gewicht und nicht nach Gehalt beurteilen. Ich hielt gerade das schwerste Opus in der Hand, und dessen deutscher Titel war ebenfalls gewichtig.

»Der Bauernkrieg: Eine Abhandlung der im Jahre 1525 in Franken stattgefundenen Ereignisse und ihr Einfluß auf die Reformation«, las ich laut vor. »Ist das lesenswert?«

»Wie soll ich das denn wissen? Ich habe noch nicht hineingeschaut.«

Tony malträtierte weiterhin seine Schreibmaschine. Abwesend überflog ich einige Seiten des Buches. Der wissenschaftliche Sprachduktus ist im allgemeinen trocken, und der deutsche der schlimmste überhaupt. Aber der Autor hatte einige neue Materialien – zeitgenössische Briefe und Tagebuchaufzeichnungen – zusammengetragen. Darüber hinaus interessierte mich das Thema.

In früheren Jahren hatten sich die Studenten häufig über fehlende »Relevanz« beklagt. Diese Grundsatzidee ist nicht von der Hand zu weisen: Bildung sollte sich in irgendeiner Weise auf das wirkliche Leben und seine Probleme beziehen. Die Schwierigkeit liegt in der Definition des Begriffs. Was ist relevant? Die Geschichte jedenfalls nicht, sofern man radikaleren Kritikern Glauben schenkt. Wen kümmert es, was im alten Babylon oder im mittelalterlichen England geschah? Das Heute zählt.

Dieser Standpunkt ist alles andere als korrekt. Alles ist schon einmal dagewesen – und wiederholt sich ständig. Wir sind vermutlich nicht in der Lage, unsere Probleme anhand dessen zu klären, was bombastisch als »Sternstunden der Geschichte« bezeichnet wird, aber wir sollten zumindest die Grundproblematik erkennen und vielleicht einige der in der Vergangenheit aufgetretenen Fehlentscheidungen zu vermeiden suchen. Und wir können unser eigenes Dilemma besser verarbeiten, indem wir begreifen, daß andere Menschen zu anderen Zeiten Schlimmeres überlebten.

Der gesellschaftliche Umsturz und die Revolution sind so alt wie die Menschheit selbst. Der Bauernkrieg in den südlichen Gebieten Deutschlands zählt nicht unbedingt zu den bedeutenden Revolutionen, weist aber interessante Parallelen zur heutigen Zeit auf. Die Bauern sind nie zufrieden, heißt es im Volksmund. Ein dummer, alter Scherz. Die Bauern hatten allen Grund zur Auflehnung. Es hatte bereits eine ganze Reihe von Aufständen verzweifelter Gruppierungen gegeben, deren Lebensbedingungen moderne Slums als Paradies erscheinen ließen, doch im 16. Jahrhundert fanden die allgemeine Unzufriedenheit und das Elend ein Ventil. Und das in Gestalt eines wahren Rebellen – eines ehemaligen Mönchs, der den Papst und die Oberschicht kritisierte. Er heiratete sogar eine Ex-Nonne, die aufgrund seines schlechten Beispiels exkommuniziert wurde. Sein Name lautete Martin Luther.

Auch wenn seine Lehren den Unzufriedenen Rätsel aufgaben, war Luther gegen Gewalt. »Kein Aufstand ist je gerechtfertigt.« Und in dem brutalen, für seine Zeit üblichen Stil: »Einem Rebellen kann man nicht mit Argumenten kommen, da er diese nicht begreift. Für solche Menschen gilt das Faustrecht.«

Die autokratischen Fürsten der aufständischen Regionen stimmten ihm in beiden Punkten zu. Viele von ihnen billigten zwar Luthers Angriffe auf die Kirche, da diese Institution ihre Machtbefugnisse eingrenzte, aber beileibe nicht die Übergriffe ihrer undankbaren Untertanen. Sie machten von ihrem Faustrecht Gebrauch. Der Bauernkrieg wurde von den Adligen und den hohen kirchlichen Würdenträgern gewaltsam niedergeschlagen, die häufig Regent und Bischof in Personalunion verkörperten.

Heute ist Franken eine der reizvollsten Gegenden Deutschlands. Bezaubernde alte Städte pflegen ihre mittelalterlichen Gemäuer, Renaissance-Bauwerke und gotische Kirchen. Man kann sich kaum vorstellen, daß die verträumten alten Gassen einst Schauplatz der Grausamkeit waren, und doch bildete diese Gegend das Zentrum des Aufstands; das Blut floß im wahrsten Sinne des Wortes in Strömen. Würzburg mit seiner prachtvollen Festung war der Sitz eines solchen Bischofsregenten, der von seinen eigenen Untertanen eingekerkert wurde. Einen weiteren Schwerpunkt der Bauernerhebungen bildete Rothenburg, heute eine der berühmtesten mittelalterlichen Städte Deutschlands.

Während eines Sommerurlaubs hatte ich Rothenburg einmal besucht und mich prompt in diese Stadt verliebt. Zu ihren zahllosen Sehenswürdigkeiten gehört auch ein Schloß – Schloß Drachenstein, der Sitz derer von und zu Drachenstein. Obwohl ich zugeben muß, daß ich eine Schwäche für die Romantik solch altehrwürdiger Baudenkmäler hege, befand ich mich in jenem Sommer nicht auf Besichtigungstour. Es handelte sich um einen jener Zufälle, die Tony und andere Romantiker als Wink des Schicksals bezeichnen würden, daß Tony einen Sommer lang das gleiche getan hatte wie ich. Wir wandelten beide auf den Spuren von Tilman Riemenschneider.

Tilman Riemenschneider war vermutlich der berühmteste deutsche Bildschnitzer und Bildhauer der Spätgotik. Sämtliche von ihm geschaffenen Grabskulpturen und Altäre befinden sich in der näheren Umgebung seiner Heimatstadt Würzburg, wo er viele Jahre lang als Stadtrat tätig war. Zum Zeitpunkt des Bauernkrieges war er bereits ein älterer Mann – wohlhabend und berühmt – und ein überaus respektiertes Mitglied der Oberschicht. Es wäre keineswegs erstaunlich gewesen, wenn er die Kirche, die doch viele seiner Werke in Auftrag gegeben hatte, unterstützt und seine ergrauten Locken mißfällig über die Dreistigkeit der aufständischen Bauern geschüttelt hätte. Statt dessen jedoch ersuchte er die übrigen Stadtratsmitglieder um Unterstützung der Bauern. Als der Aufstand niedergeschlagen wurde, fand er sich im Verlies des Bischofs wieder; und obgleich er dieses mit heiler Haut verlassen konnte und noch weitere sechs Jahre lebte, rührte er nie wieder sein Werkzeug an. Der 1525 fertiggestellte Altar von Maidbronn war seine letzte Arbeit.

Allerdings existierten verlockende Hinweise auf ein weiteres Werk Riemenschneiders, das im Verlauf der Bauernaufstände spurlos verschwunden war. Ein Reliquienschrein, mit drei riesigen Edelsteinen besetzt, die einer der Grafen Drachenstein von den Sarazenen »abgestaubt« hatte. Einer alten Chronik zufolge hatte einer der Nachfahren dieses Adligen den Schrein Anfang des 16. Jahrhunderts in Auftrag gegeben.

Die Kunsthistoriker verleugneten dessen Existenz. Noch nie hatte man auch nur eine einzige Spur von diesem Schrein entdeckt, und er wurde lediglich in der Mönchschronik erwähnt – einer Literaturgattung, die nicht unbedingt durch ihren Wahrheitsgehalt besticht. Ich hatte dieser Geschichte noch nie Bedeutung beigemessen – bis zu jenem Winternachmittag, als ich mich bei der Übersetzung eines Briefes wiederfand, den einer der Grafen Drachenstein geschrieben hatte, während Riemenschneider in den Kerkern des Bischofs von Würzburg einsaß.

Geliebte Gemahlin, ich muß euch sagen, daß der alte Mann hartnäckig bleibt. Ich besuchte ihn heute im Kerker, wo er seit dem vierten Tage des Juli in Ketten liegt und wo man tagtäglich hinsichtlich der gleichen Frage mit ihm zur Tat schreitet. Man sollte doch annehmen, daß die Furcht vor seinem erzürnten Gott, den er so schändlich beleidigt hat, sein schuldiges Herz zur Sühne bekennen müßte. Doch weigert er sich, das Versteck preiszugeben. Und das, obwohl er von meinem edlen, verblichenen Vater in Auftrag gegeben wurde, Gott hab ihn selig! Es entspricht der Wahrheit, daß mein Vater ihm eine Vergütung versprochen hatte und auch die Rückgabe des für die Edelsteine hinterlegten Pfandes, aber er kann seinen Lohn nicht bekommen, denn er ist ein Verräter und Rebell. Morgen werde ich mit neuer Hoffnung zum Kerker schreiten. Der allmächtige Gott wird die gerechte Sache unterstützen, so wie Er mich im Kampfe unterstützt hat.

Das wärmende Kaminfeuer im Rücken, saß ich da und hielt das Buch mit mittlerweile leicht tauben Fingern fest. Das Zimmer schien vor meinen Augen zu verschwimmen, und Tonys Schreibmaschine hörte ich nur noch wie aus weiter Ferne. Vor meinem geistigen Auge tauchten ein anderes Jahrhundert und mir unbekannte Menschen auf.

Der alte Mann.

Riemenschneider war um 1445 geboren. 1525 wäre er 80 Jahre alt gewesen. Man hatte ihn eingekerkert und gefoltert – »war zur Tat geschritten«, so die nette Umschreibung der damaligen Zeit.

Ich blickte zu Tony, der immer noch über seiner Schreibmaschine brütete. Ohne aufzusehen, warf er das soeben rezensierte Buch zu Boden und griff nach dem nächsten. Ich schob ihm ein weiteres in die Hand. Abwesend murmelte er irgend etwas wie »danke« und fuhr mit seiner Arbeit fort, während ich mich erneut dem Bauernkrieg zuwandte.

Es existierten noch zwei weitere Briefe des Grafen Burckhardt von Drachenstein. Er war einer der vom Würzburger Bischof ernannten Ritter gewesen, als dessen Untertanen rebellierten. Aber nicht alle Ritter stellten sich gegen die Bauern. Götz von Berlichingen, der romantische Raubritter mit der eisernen Hand, hatte eine Gruppe Aufständischer aus dem Odenwald angeführt. Allerdings behauptete er später, man habe ihn dazu gezwungen, und die Anklage des Hochverrats wurde fallengelassen. Zugegeben, bei diesem Geständnis und dem sich daran anschließenden Freispruch ist ein gewisser Zynismus nicht von der Hand zu weisen.

Burckhardt von und zu Drachenstein hatte mit progressiven Radikaltendenzen nichts im Sinn. Er kämpfte für den Status quo und die Kirche. Seine Beschreibung der Belagerung, in der er seine blutige Streitaxt schwang, wirkte erschütternd, nicht unbedingt wegen der abgetrennten Köpfe und der gespaltenen Schädel, sondern eher wegen des von ihm verwendeten Tonfalls. Er zählte Leichen wie Kinder die Schätze in ihrer Briefmarkensammlung.

Im dritten Brief fiel das schlagende Argument.

Heute, meine geliebte Gemahlin, ist der alte Mann schließlich geständig geworden. Ich habe die Sache nun selbst in der Hand und werde Pläne schmieden, wie ich es nach Hause schicken kann, aber das wird nicht einfach sein, schließlich ist das Land immer noch in Aufruhr. Als ich ging, verfluchte mich der Alte, doch das kümmert mich nicht. Der Allmächtige wird seinen getreuen Diener beschützen.

Die aufgrund meiner Einbildungskraft entstandene, schillernde Vision verblaßte und wich einer anderen, ebenso lebhaften, aber weitaus weniger ansprechenden Vorstellung. Ich verfüge über eine außergewöhnliche Fantasie, die in diesem Fall auf entsprechenden Nährboden stieß; während meiner Jugend hatte ich eine ganze Reihe von Foltermuseen besichtigt, bis mir schließlich dämmerte, daß meine ständigen Alpträume vielleicht mit diesen gräßlichen Exponaten zusammenhingen. Solche Dinge vergißt man einfach nicht – gräßliche Folterwerkzeuge wie Daumenschrauben, Streckbank, die eiserne Jungfrau mit ihrem widerwärtigen Lächeln. Der alte Mann tauchte ebenfalls vor meinem geistigen Auge auf. Auf dem Creglinger Marienaltar befindet sich ein Selbstporträt von Riemenschneider. Auf dieser Schnitzarbeit wirkt sein Gesicht rundlich und wohlgenährt. Wohlgenährt war es nach einigen Wochen bischöflichen Kerkers mit Sicherheit nicht mehr gewesen. Es war ausgemergelt und verdreckt, genau wie sein alternder Körper – von Rattenbissen und von der Folter durch Zange, Ahle und Feuer gezeichnet. O ja, ich konnte mir das Ganze sehr gut vorstellen, und ich sah auch den beiwohnenden Burckhardt, der die Folterknechte zu Höchstleistungen animierte. Einer der berühmtesten und schöpferischsten Künstler seiner Epoche, verspottet und erniedrigt von einem Rüpel, der so stahlhart war wie seine Rüstung – und der nicht einmal seinen Namen schreiben konnte.

Ich steigerte mich in ein solch aufgebrachtes Entsetzen hinein, daß ich einen entscheidenden Fehler beging. Ich bemerkte erst, daß Tony hinter mich getreten war, als er zischend nach Luft rang.

Ich umklammerte das Buch und wandte den Kopf. Meine Stirn traf Tonys Nase. Ein solcher Treffer ist schmerzhaft und setzt die Vernunft des Opfers außer Kraft. Tony hielt sich mit einer Hand die Nase und packte mit der anderen zu. Instinktiv leistete ich Widerstand. Ein ungerechter Kampf entbrannte. Schließlich gab ich das Buch auf, weil ich nicht wollte, daß es Schaden nahm. Tony wäre so verrückt gewesen, die Seiten einzeln herauszureißen.

Als er sich keuchend wieder gesetzt hatte, umklammerte er seine Trophäe und betrachtete mich mißtrauisch.

»Keine Sorge«, meinte ich frostig. »Vor mir bist du sicher.«

»Danke. Na, du weiblicher Benedict Arnold, wolltest du dieses Geheimnis etwa für dich behalten?«

»Welches Geheimnis?«

»Spitzfindigkeit paßt nicht zu dir. Ich habe dir schon eine ganze Weile über die Schulter geschaut, Vicky. Und ich kenne meinen Riemenschneider ebenso gut wie du.«

Während er die Briefe erneut las, hüllte ich mich in beleidigtes Schweigen. Schließlich blickte er mit leuchtenden Augen von der Lektüre auf.

»He.« Er grinste wie ein dummer, kleiner Junge. »He, weißt du –«

»Ich weiß, daß wir spät dran sind. Daß wir uns vermutlich verspäten werden. Wenn du Mr. Myers unbedingt kränken willst –«

»In Ordnung«, meinte Tony. »In Ordnung!«

Er erhob sich – ein aufgrund seiner überdimensionierten Extremitäten immer wieder faszinierend zu beobachtender Vorgang – und blickte auf mich hinunter.

»In Ordnung«, wiederholte er monoton. »Wenn das dein wahrer Charakter ist, dann – nun, dann ist es eben dein wahrer Charakter. Komm schon.

Als er durch die Tür stürmte, trug er immer noch das Buch bei sich.

Ich löschte das Licht und vergewisserte mich, daß die Tür abgeschlossen war. Dann zog ich meinen Mantel an. Ich hatte bemerkt, daß Tonys Mantel achtlos über einem Stuhl hing, und dabei beließ ich es auch. Es heißt, daß ein kleines Gewitter die Luft reinigt, und ich bin kein Kindermädchen. Doch als ich schließlich die Treppe hinunterging, entschied ich, daß ich Tony besser besänftigte. Selbst guter Laune ist er ein selbstmörderischer Fahrer, und die Mischung von vereister Fahrbahn und Tonys Wut konnte fatal sein – für mich jedenfalls.

Er wartete bereits im Wagen, als ich auf die Fahrbahn trat. Welch eine Erleichterung; ich hatte schon fast damit gerechnet, daß er ohne mich losgefahren war.

Als ich einstieg, meinte ich kleinlaut:

»In Ordnung, Tony. Ich entschuldige mich. Natürlich hätte ich dir das nicht vorenthalten. Du hast mich erschreckt, das ist alles.«

»Aber natürlich«, erwiderte Tony. Allerdings schien er etwas besänftigt, denn wir drehten uns lediglich einmal im Halbkreis, bevor Tony den Wagen erneut in Fahrtrichtung manövrierte und mit schlappen 70 Stundenkilometern weiterfuhr.

»Ich weiß, daß du dasselbe denkst wie ich«, fuhr ich fort. »Aber ich denke auch, daß wir beide ziemlich überreagiert haben. Die Sache ist doch recht vage, oder?«

»Äh ... sicherlich«, warf Tony ein.

Manchmal ist er so hinterhältig wie Christopher Robin. Sein Tonfall und sein promptes Einlenken vermittelten mir ganz eindeutig, wo Tony den Sommer verbringen würde.

Ich nahm sein Schweigen zum Anlaß, um eigene Pläne zu schmieden. Das Beweismaterial war alles andere als schlüssig. Burckhardt hatte keine Einzelheiten genannt, was kaum erstaunlich war; ich ging keine Sekunde lang davon aus, daß er den Brief selbst verfaßt hatte. Vermutlich war er – wie viele seiner aristokratischen Zeitgenossen – des Lesens und Schreibens nur bedingt kundig. Nein, das Schriftstück war einem Sekretär oder einem öffentlichen Schreiber diktiert worden, und Burckhardt nannte selbstverständlich keine Namen. Doch die erwähnten Einzelheiten paßten in das Bild. Wie viele wertvolle Objekte mochten es wohl sein, die einem Grafen von Drachenstein gehörten und bei einem alten Mann in Würzburg »in Auftrag gegeben« worden waren? Der Brief erwähnte sogar ein Pfand oder eine Sicherheit, die der Alte für Edelsteine wie die in der Legende beschriebenen hinterlegt hatte.

Ich kreischte auf, weil Tony um Haaresbreite einen Fußgänger erwischt hätte, und gab mich erneut meinen Überlegungen hin. Den Verfasser des Buches hatten weder kunstgeschichtliche Erwägungen noch Legendenbildung interessiert. Er hatte Burckhardt lediglich deshalb zitiert, weil der Graf in anderen Teilen seiner Briefe Kampfszenen beschrieben hatte. Wer die Legende nicht kannte, dem würden dank Burckhardts Vorsicht auch nicht die entscheidenden Einzelheiten auffallen. Trotzdem war ich mir ziemlich sicher, daß die Briefe eindeutig auf Riemenschneiders verschollenes Meisterwerk Bezug nahmen. Burckhardt erwähnte, daß er »es« nach Hause schicken wolle. Selbst unter starker Bewachung wäre das ein gewagtes Unternehmen gewesen. Es war gut möglich, daß der Begleittroß aus einem Hinterhalt überfallen, der Schrein gestohlen und die wertvollen Juwelen herausgebrochen worden waren. Es war aber auch möglich ...

Ich hatte noch keine Pläne für den Sommer. Falls Riemenschneiders Schrein noch irgendwo auf dieser Welt existierte, gab es nur einen plausiblen Ort, wo man ihn aufspüren konnte. Und nichts und niemand würde mich davon abhalten, dort zu suchen.

An diesem Punkt meiner Überlegungen angelangt, schlitterten wir vor einen Zaunpfahl, rutschten zurück und setzten unsere Fahrt über eine dunkle, mit Bäumen gesäumte Auffahrt fort. Wir waren angekommen, wenn auch mit einer halben Stunde Verspätung.

Ich war darauf eingestellt, Jacob Myers auf Anhieb zu verabscheuen, so wie wir ständig Aversionen gegenüber Menschen hegen, die mehr Geld besitzen als wir. Er war glatzköpfig und fett. Sein Bauch hing über seinem Kummerbund. Er reichte mir gerade einmal bis zum Kinn. Er hatte den Mund eines Hais und den Blick eines Dichters. Ich fühlte mich sogleich zu ihm hingezogen – zu dem Hai und auch zu dem Dichter.

Myers' Haus war schon erstaunlich. Ich wußte um sein Renommee als Kunstmäzen und Sammler, aber das bedeutete noch lange nicht, daß er einen guten Geschmack hatte; reiche Leute können es sich leisten, sich Geschmack zu erkaufen. Mit der Größe und Opulenz des Anwesens hatte ich gerechnet, doch der Gesamteindruck war völlig unorthodox. Die ungewöhnlichsten Kunstgegenstände standen nebeneinander und paßten sogar irgendwie zusammen. Eins hatten sie alle gemein: Sie waren geschmackvoll, angefangen von dem verblaßten Perserteppich im Eßzimmer bis hin zu dem kleinen blauen Keramiktopf auf dem Tisch. Ich erkannte den Topf an seiner Glasur; eine der Studentinnen am College töpfert sie und verkauft sie für sechs Dollar in irgendwelchen Souvenirläden.

Jake – er bat mich, ihn so zu nennen – kam persönlich an die Tür. Es gab auch einen Butler. Jake nannte ihn Al und Tony ebenfalls. Er erweckte den Eindruck eines Schwergewichtsboxers, seine sonore Stimme erinnerte mich an Sir Laurence Olivier. Während uns Jake in den Salon führte und dabei lautstark Cocktails in Auftrag gab, geriet ich leicht ins Schwanken.

Es würde Seiten füllen, diesen Salon zu beschreiben, deshalb versuche ich es erst gar nicht. Dort befanden sich weitere Perserteppiche – ich verabscheue es, solche Kostbarkeiten zu betreten – sowie Gemälde, die den Uffizien würdig gewesen wären. Und ein weiterer männlicher Gast. Als wir eintraten, erhob er sich von seinem Platz neben dem Kamin. Während wir von der Tür zum Kamin schritten, blieb mir genug Zeit, um ihn zu mustern; der Raum war ungefähr 18 Meter lang.