Die Geschichte spielt in einem kleinen Dorf im südlichen Niederösterreich. Zwei nicht mehr ganz junge Menschen lernen sich kennen, als Paul Gregor ein altes, einsames Haus oberhalb eines Weinberges kauft. Hier will er seinen Lebensabend verbringen. Die Besitzerin der Rieden, Eva Moser, hat es nicht leicht gehabt, dasselbe gilt auch für Paul. Er stößt im Haus auf Spuren einer dunklen Vergangenheit. Das Haus wurde während der Nazi Zeit von der SS als Jagdhaus genutzt. Im Dorf gilt es als verflucht und auch als Versteck eines Schatzes, der aus dem Goldzug* stammt. Mit diesem Transport haben ungarische Faschisten geraubtes jüdisches Vermögen 1945 nach Westen geschafft. Die Gier nach Gold endet nie und Pauls Leben ist gefährdet.
*Der Goldzug, Sabine Stehrer, Czernin Verlag
Norbert Zagler
© 2018 Norbert Zagler
Autor: Norbert Zagler
Umschlaggestaltung: Monika Stehring-Zagler
Verlag: myMorawa von Morawa Lesezirkel
ISBN: 978-3-99070-653-4 (Paperback)
ISBN: 978-3-99070-655-8 (e-Book)
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Während des Krieges zwischen Griechenland und der Türkei kam es am 17. Mai 1828 zu einem Kampf um die Burg Frangokastello in der Region Sfakia. Bei der Eroberung der Burg starben 350 Griechen. Seitdem erscheinen um den Jahrestag der Schlacht die Schatten einer Gruppe von schwarz gekleideten bewaffneten Kriegern, die vom Kloster Agios Charalambos zur Burg Frangokastello marschieren. Die Erscheinung dauert etwa zehn Minuten und ist besonders gut am Morgen bei Sonnenaufgang zu beobachten, wenn das Meer ruhig ist und die Luft dunstig. Das Phänomen ist seit Jahrzenten dokumentiert, eine wissenschaftliche Erklärung wurde noch nicht gefunden.
Quelle: Wikipedia
Heute würde er nichts mehr essen. Das nahm er sich vor. Zu Weihnachten hatte er sich selbst beschenkt. Eine Gesamtausgabe der orchestralen Kompositionen von Ottorino Respighi: 8 CDs. 16. Jänner, draußen war es saukalt. Paul wollte sich mit Musik und Wein wärmen. CD Nummer 4. Es war ihm, als sei es die Musik seines Lebens, die Respighi für ihn geschrieben hatte. Zu süß manchmal, aber auch bitter. Paul öffnete noch eine Flasche Zweigelt, von dem er Vorräte angelegt hatte. Man konnte ja nie wissen! Ein dramatischer Wetterumschwung könnte sein einsames Haus in den Bergen mit Schnee bedecken. Die Lampen würden verlöschen, aber der Wein und das Kerzenlicht würden ihn am Leben erhalten. Nicht für ewig, aber für eine Zeitlang. Bis dann alles vorbei sein würde. Das wäre sowieso das Beste. Einmal musste es ja vorbei sein. Paul war neugierig auf diesen Moment. Erwünschen musste er den nicht. Auch nicht den Schneesturm des Jahrhunderts. Also hieß es bis dahin zu existieren, so wie Paul mehr als sechzig Jahre existiert hatte.
Eh alles Zufall! Falsch, sein Vater hatte ihn geplant, Zufall nur, dass der Zeugungsakt während eines kurzen Urlaubs von der Front funktioniert hatte. Paul sollte der vierte Sprössling der Familie werden. Im Tausendjährigen Reich würde das dem Vater zu einer Freistellung vom Wehrdienst und zur Beförderung vom Oberlehrer zum Direktor verhelfen. Im Prinzip eine logische Aktion zur Verbesserung des Familienstandards. Paul war nicht gefragt worden. Er war das Produkt rationalen Verhaltens. Ein Akt der Vernunft gewissermaßen. Kein Kind der Liebe. Paul wuchs im Uterus heran. Frankreich war besiegt, aber der Krieg ging weiter. Der Vater konnte die Uniform eines Gefreiten der Luftwaffe nicht ausziehen. Das glorreiche Vaterland brauchte ihn. Oberlehrer ade, vom Direktor gar nicht zu reden, die Stelle bekam ein treuer Parteigenosse. Die Rechnung war nicht aufgegangen.
Also heute nichts mehr essen, um nicht zu fett zu werden. Der Rotwein hat schließlich auch Kalorien. Früher war er stolz gewesen auf seine sportliche Figur. Ein kleiner Ausgleich für das eher fade Gesicht ohne die Ecken und Kanten, die die Attraktivität eines Mannes ausmachen. In den letzten Jahren hatte er Fett angelegt, nicht sehr viel, aber ein Bäuchlein zeichnete sich schon ab. Das würde sich in Zukunft ändern! Das Haus und alles Drumherum würden ihn auf Trab halten. Das Bäuchlein sollte nicht weiter wachsen. Der BMI betrug 25. Auf die Figur wollte er besonders achten, alles andere war nicht wichtig. Er lebte allein hier in dem einsamen Haus. Die morgendliche Dusche konnte er sich sparen. Eine Nachlässigkeit bei der Körperpflege würde bequem sein. Zähneputzen in der Früh und am Abend, Hände und Gesicht waschen, mehr nicht. Mit so einer Einstellung würde er keine Partnerin finden. Ob er überhaupt eine wollte, darüber hatte er sich in den letzten Wochen nicht klar werden können. Manchmal wollte er eine, dann wieder nicht. So wie heute abends, als er damit beschäftigt war, eine Flasche Zweigelt leer zu machen. Eine Frau würde keppeln, spätestens beim dritten Achtel.
Dann musste er an seine Ehefrau denken, an die er sich gar nicht gerne erinnerte. Er hatte sie aus seinem Gedächtnis löschen wollen. Das gelang ihm nie. Er hatte hart gearbeitet und sie neben ihm gut gelebt. Bis er sie mit ihrem Liebhaber im Bett ertappte. Dann war es vorbei mit dem guten Leben. Leider mit Pauls gutem Leben auch!
Damals war Paul Marketingmanager in der österreichischen Tochtergesellschaft eines US-Konzerns. An jenem Tag hatte er eine Dienstreise zur Filiale in Linz abbrechen müssen. Der Generalmanager hatte ihn zurück in die Firma beordert, weil überraschend wichtiger Besuch aus dem Ausland eingetroffen war. Ein Geschäftsessen mit den Gästen war für 20 Uhr im Hotel Sacher angesetzt. Paul war nach Hause gefahren, um sich umzuziehen. Ein schlechter Tag für Ehefrau, Liebhaber und Paul.
Alles Zufall.
Paul hatte dann sieben Jahre lang in der Strafanstalt Stein Zeit, über diesen Zufall nachzudenken.
In diesen Jahren wollte er schon eine Frau. Das bezog sich nicht nur auf die erotische Komponente einer Ehe. Es war das natürliche Verlangen eines normalen Mannes, der lange mit einer Frau in Harmonie gelebt hatte. Eine neue Gefährtin hatte er erst nach der Entlassung gefunden und mit ihr sieben Jahre in einer Partnerschaft verbracht. Dann war auch das genug gewesen. Diese Frau hatte er aber nicht umgebracht. Sie waren sich in Treue verbunden. Getrennt hatten sie sich, weil sie sich gegenseitig auf die Nerven gegangen waren. Im Lauf dieser sieben Jahre waren die Emotionen geschrumpft. Verkümmert wie ein Rosenstock, der zu wenig Wasser bekommt. Zuletzt drehte sich das Miteinander nur mehr um Essen und Fernsehprogramm.
Die Erinnerung kann eine hartnäckige Begleiterin sein!
Im kommenden Jahr würde Paul den fünfundsechzigsten Geburtstag feiern können. Arbeiten brauchte er nicht mehr. Nach der Entlassung aus der Haft hatte er mit Hilfe des Vereins Neustart einen Job in einer Speditionsfirma bekommen. Seine Sprachkenntnisse in Englisch, Französisch, Ungarisch und Russisch waren ein Bonus. Letzteres hatte er im Gefängnis gelernt. Irgendwie hat alles auch eine gute Seite. Blödsinn! Um Sprachen zu lernen hätte er nicht in Stein einsitzen müssen. Der Mensch versucht halt immer alles ins Positive zu drehen. Mit der Firma war es bergab gegangen. Der Firmeninhaber war den Herausforderungen der Globalisierung und der wachsenden Konkurrenz aus dem ehemaligen Ostblock nicht gewachsen gewesen. Paul hatte den Golden Handshake dankend angenommen. Vor einem Jahr hatte er eine kleinere Summe nach dem Tod einer Tante geerbt. Da hatte er schon begonnen, sich nach einem Haus umzusehen. Einsam sollte es sein. Das bedeutete Ruhe, Stille, Abgeschiedenheit.
In seinen ´Karrierejahren´, wie er die Periode seines Lebens bezeichnete, hatte es das nicht gegeben. Reisen und Konferenzen in ganz Europa und den USA. Geschäftsessen im Baur en Ville in Zürich, in den feinsten Restaurants europäischer Metropolen oder sonst wo. Die Namen der Gourmettempel hatte er vergessen. Damals war er voller Energie gewesen, begierig darauf im Konzern aufzusteigen. Erst in seiner Einzelzelle hatte er lernen müssen, die Einsamkeit zu schätzen, denn der Absturz aus dem früheren Leben war krass. Aber er war selbst schuld. In den einsamen Stunden hatte er sich immer wieder die Frage gestellt, wie weit sein Einsatz für die Firma zum Scheitern der Ehe beigetragen hatte. Paul hatte sich bemüht, seine Frau mehr einzubinden. Sie hatte Anteil genommen, wenn er abends vom Arbeitsalltag erzählte. Sie hatte ihn zu Geschäftsessen begleitet. Später wollte sie das nicht mehr. Er hatte die schleichende Entfremdung nicht bemerkt oder nicht bemerken wollen. Vielleicht lag es auch daran, dass die Ehe kinderlos geblieben war. Er hatte für seine Frau gut gesorgt. Sie lebten in einem stattlichen Haus im Speckgürtel Wiens. Seine Frau konnte sich vieles leisten, was für andere Ehefrauen unerschwinglich war. Sie konnte über das Konto verfügen und sich immer die neueste Mode leisten. Und trotzdem hatte das dramatisch geendet. Die Ehe war ein Fiasko.
Der Zufall besucht den wahren Gast! Dieses Zitat von Louis Pasteur hatte er einmal irgendwo gelesen.
Durch einen Zufall hatte er das Haus gefunden. Nun saß er da an einem der Fenster und blickte hinaus über die verschneiten Weingärten. Hinunter zu den Lichtern des nahen Dorfes. Er konnte einige Straßenzüge erkennen, schneebedeckte Dächer, den beleuchteten Turm der Dorfkirche. Eine Idylle, drinnen verborgen die Konflikte der Menschen.
Was sich in seinem neuen Refugium verbarg, hätte Paul gerne gewusst. Seltsames Erstaunen des Maklers über den Kaufwunsch. Das hatte Paul der Lage zugeschrieben. Später eine mysteriöse Bemerkung der Chefin im Lebensmittelgeschäft des Dorfes. Sie könne ihm eine kundige Frau nennen, die das Haus ausräuchern würde. Das sei notwendig nach allem, was sich da abgespielt habe. Er hatte nicht weiter gefragt, weil es ihn nicht interessiert hatte.
Die gestrige Nacht hatte er in Unruhe verbracht. Er hatte den Kaminofen den ganzen Tag lang geheizt und zusätzlich noch die IR – Heizkörper eingeschaltet. Nachdem sich das Haus langsam durchwärmte, hatte es zu atmen begonnen. Es war Paul, als hätte er das Haus mit seinem Einzug wieder zum Leben erweckt. Es gab Geräusche ab, die Paul noch nicht zuordnen konnte. Er würde sich an alles gewöhnen. Nur das Klopfen in der Nacht hatte ihn für eine Weile beunruhigt. Es klang so, als stünde jemand vor der Tür. Paul hatte nachgesehen, aber da war niemand. Kein Mensch, kein Geist!
Der Zufall hatte Paul zu einem Umweg durch Hertmansdorf gezwungen. Am Dorfende hatte er die Tafel des Maklers gesehen. So hatte sich alles ergeben. Oase der Stille – so lautete die Headline auf der Webseite des Maklerbüros. Ein solides Blockhaus, einsam auf einem Höhenrücken, inmitten einer Lichtung, die an drei Seiten von Wald und Buschwerk begrenzt war. Die vierte Seite, dort wo das Haus stand, bot einen herrlichen Ausblick auf das Dorf, das Wiener Becken und die Höhenzüge im Osten. Der Preis war äußerst günstig. Wunder war das keines. Das Haus war an das Stromnetz angeschlossen, nicht jedoch an den Abwasserkanal. Ein Feldweg führte durch Weingärten und Wiesen hinauf. Das letzte Stück wies eine starke Steigung auf. Im Sommer kein Problem, aber im Winter war das nur mit einem Allrad- Auto zu schaffen. Wo der geschotterte Weg von der Landstraße abzweigte, stand eine Kapelle, die dem Hl. Antonius geweiht war. Daneben war an einem Baum der Postkasten befestigt. Auch die Mülltonne stand dort.
Die Sekretärin im Gemeindeamt von Hertmansdorf hatte sich gewundert, dass jemand seinen Hauptwohnsitz in dem Haus nehmen wollte. Sie würde sich fürchten da oben, unheimlich sei es dort, behauptete sie, ein Geisterhaus. Er hatte die Bemerkung nicht an sich herangelassen.
Paul verstand das zum Teil, besonders jetzt, in diesen grauen Wintertagen. Einsam ja, aber unheimlich nur dann, wenn einer an Gespenster glaubte. Er jedenfalls nicht. Außer wenn er schlecht träumte. Sein Lebenslauf wich von tausenden anderen ab, denn nicht jeder hat zwei Leichen im Gepäck. Er würde sich nicht fürchten. Alle anderen mussten ihn fürchten. Er konnte sich gegen alle und alles wehren. Über die Bemerkung der Frau musste er nachdenken. Geisterhaus? Was bedeutete das? Als Kulisse für einen Gruselfilm konnte das Haus schon dienen. Hier spricht Edgar Wallace. Der aufgehende Mond als Beleuchtung für den Grünen Bogenschützen, der jeden Moment zwischen den Stämmen erscheinen würde.
Ein Blockhaus im Wald, hineingesetzt in den Hang. Von vorne betrachtet war es ein einstöckiger Bau. Der Feldweg mündete in einen geschotterten Platz vorm Haus. Dort war ein breites, zweiflügeliges Holztor. Man konnte direkt in das Untergeschoß fahren, das Garage, Keller und Werkstatt bildete, alles in einem. Eine Holzstiege in der Garage führte innen hinauf in den Wohnraum.
Die Wiese rund ums Haus war einladend. Paul freute sich darauf, hier im Frühjahr eine Gartengarnitur aufzustellen. Von dieser Seite konnte man das Haus über drei Stufen durch eine massive Holztür betreten, die durch einen verbauten Windfang geschützt wurde. Vom Vorraum aus waren Bad und WC zugänglich. Ein grob verputzter Kamin und vier massive Pfosten, etwa zwanzig Zentimeter im Quadrat, die den mittig verlaufenden Deckenbalken trugen, gliederten dieses Geschoss. Der große Wohnraum hatte Paul sofort angesprochen. Die Schalung der Wände und der Decke mit Naturholz verliehen dem Raum eine rustikale Note. Diese Lattung war im Lauf der Jahre nachgedunkelt. Das störte Paul nicht, im Gegenteil. Eine Authentizität, die ein Neubau nicht haben konnte. Die Dielen des Schiffbodens trugen unterschiedliche Abnützungsspuren. Die frühere Aufteilung der Möbel war daran erkennbar. Hier hatten Menschen gelebt, alle Spuren bildeten ein Mosaik früherer Schicksale, in das Paul sein eigenes einfügen wollte. Er war zum Sonderling geworden und passte gut in dieses Haus.
Paul hatte einiges aus der Wiener Wohnung mitgenommen. Bett, Kasten, Ohrensessel und noch andere Stücke. Teile der vorgefundenen Einrichtung hatte er behalten. Eine Kommode, zwei kleine Beistelltische, auch ein Bücherregal mit etwa sechzig Bänden: Die große Erzähler-Bibliothek der Weltliteratur. In diesem Regal hatte er auch seine eigenen Bücher unterbringen können. Die spärliche Einrichtung der Küchenzeile an der Westseite war unansehnlich und abgenützt, aber für Pauls Kochambitionen ausreichend. Einige andere Möbel hatte er aussortiert und in der Garage gelagert. Die verbliebenen hatte er gereinigt, das Holz mit Öl eingelassen, in der Küche alles desinfiziert. Dreimal. Die Schalung der Innenwände wollte er im Frühjahr neu lasieren. Im Winter war das wegen der Ausdünstung nicht sinnvoll. Dasselbe hatte er mit dem Dielenboden vor. So hatte er es zumindest bei der Besichtigung gedacht. Nach wenigen Tagen im Haus passte es ihm jedoch, so wie es war. Seine Person war nicht wichtig, er wollte zu einem Teil des Hauses werden.
Die Fenster in der vorderen Front boten einen weiten Blick ins Land hinaus. Übers Dorf hinweg, hinaus in die Ebene, bis hinüber zur Rosalia und zum Leithagebirge.
Für die kommenden Tage waren starke Schneefälle und Sturm angesagt. Paul wollte morgen für einen größeren Einkauf in die Bezirksstadt fahren.
Das Haus verfügte über einen Brunnen im Kellergeschoss. Von dort wurde das Wasser hinauf in den Wohnbereich gepumpt. Das war beruhigend. Wasser, Kaffee, Wein, Knäckebrot, Zwieback und einiges Andere, da konnte der Schnee kommen. Sollte es die Masten der Stromleitung umhauen, egal! Kerzen hatte er eingelagert.
Die Mitte des Dorfes bildete ein kleiner Platz mit einer Grünfläche, an dem die Hauptstraße links und rechts vorbeiführte. Hier war das Zentrum des Dorfes. An beiden Seiten standen einstöckige Häuser. Einige schlicht und einfach. Andere versuchten mit gegliederten Fassaden einen bürgerlichen Wohlstand anzudeuten. Was der Mensch zum Leben braucht, war da zu finden. Ein kleiner Lebensmittelmarkt, eine Bäckerei, die Ordination eines praktischen Arztes, eine Bankfiliale und ein Wirtshaus. Paul hob Geld ab, folgte einer Art Ferienlaune und ging ins Wirtshaus. Er bestellte einen Pfiff Bier und nahm einen ersten tiefen Schluck. Vormittag im Wirtshaus. Dolce far niente auf österreichisch. Plötzlich schien der Einkaufszettel nicht mehr so wichtig. Das Bier entspannte Paul. Viel war nicht los. Ab und zu erschien eine Kellnerin. Paul suchte einen Lesestoff. Keine der besseren Tageszeitungen zu entdecken, nur so ein Billigblättchen lag auf. Er hatte sein Abonnement der PRESSE gekündigt, aber diese seit Jahren gewohnte Lektüre würde ihm abgehen. Aber es gab ja auch noch das Internet. Ein schwacher Ersatz, aber dafür mehr Auswahl.
An einer Ecke der Theke stand ein alter Mann, vor sich ein Glas Rotwein. Paul dachte nicht daran, dass auch er nicht mehr zu den Jungen zählte. Er fühlte sich nicht alt. Alt waren immer nur die anderen. Aber der Mann sah wirklich älter aus als Paul.
„Grüß Gott, wie ist der Rote? Der soll ja eine Spezialität der Gegend sein.“
„Passt schon.“
Sehr gesprächig war der nicht. Egal.
„Wer macht denn den besten Rotwein?“
„Wollen Sie was kaufen?“
„Ja, wenn ich jetzt schon da wohne.“
Kaum hatte Paul das gesagt, ärgerte er sich über sich selber. Das Bier musste ihn redselig gemacht haben. Er wollte doch so anonym wie möglich bleiben. Zu spät, da hätte er schon bei seinem ersten Einkauf im Lebensmittelgeschäft nicht tratschen dürfen. Der Mann wirkte nicht sympathisch auf Paul. Alles nur, weil es in dem Wirtshaus keinen gescheiten Lesestoff gab.
„Aha, haben Sie vielleicht das alte Jagdhaus gekauft?“
„Wie kommen Sie darauf?“ „So einen starken Zuzug haben wir nicht im Dorf. Hab´ schon gehört, dass da einer einziehen will. Wundern sich eh schon alle.“
„Wieso denn, was ist da besonderes dran?“
„Wird nicht leicht sein, dort oben.“
Der Mann könnte ihm mehr Informationen über das Haus geben, obwohl Paul keine Unterhaltung führen wollte, „Wissen Sie mehr über das Haus?“
„Na ja, wie man´s nimmt.“
„Ich lade Sie ein auf ein Glas, das interessiert mich natürlich.“
Paul bestellte zwei Achtel Rotwein und rückte näher zu dem Alten. Sie prosteten sich zu. Taktisches Manöver.
„Wer hat denn das Haus gebaut?“
„Das ganze Gebiet, Felder, Weingärten, Wald war Besitz des Gutsherrn vom Nachbarort. Der hat Anfang des vorigen Jahrhunderts das Jagdhaus errichten lassen.“
„Aha, und der hat es dann einmal verkauft.“
„Nicht ganz.“
„Wieso?“
„Sie sind ja auch nicht mehr der Jüngste. Also werden Sie über die vergangenen Zeiten Bescheid wissen.“ Dabei dämpfte er seine Stimme, als würde er etwas Vertrauliches preisgeben.
„Sie meinen, die Weltkriege und die Nazidiktatur?“
„Genau. Die Nazis haben den Gutsherrn enteignet, weil er nicht arisch war.“
„Verbrecher alle.“
„Wer?“
„Na, die Nazis natürlich. Und weiter?“
„Hm“.
Der Alte runzelte die Stirn, schien mit der Antwort nicht ganz einverstanden zu sein. Paul dachte, ob dem noch immer der Völkische Beobachter im Hirn herumspukte.
„Was war mit dem Haus in der Nazizeit?“
„Die SS hat es als Stützpunkt für die Jagd benützt. Die haben es sich da oben gut gehen lassen.“
„Und weiter?“
„Dann sind die Russen gekommen.“
„Also rote Diktatur statt der braunen.“
„Schwere Zeiten für uns alle, überhaupt die ersten Jahre. Mit den Russen ist es zwar später besser geworden. Aber in dem Haus da oben…Soldaten, Alkohol, muss ich noch mehr sagen?“ Der Alte nahm einen Schluck aus seinem Glas.
Paul fragte nicht weiter. Seine Fantasie reichte aus, um sich das vorzustellen, von dem er nichts hatte wissen wollen. Sein Haus, der Sammelpunkt für eine Soldateska, die wüste Feste feierte. Das alles hatte er nicht hören wollen. Jetzt aber war es zu spät. Die Bilder würden ihn nicht mehr los lassen. Er schalt sich einen Narren, den Alten angeredet zu haben. Nichtwissen ist Schutz. Wissen erfordert Auseinandersetzung mit den Tatsachen. Er sprach es aus.
„Das wollte ich nicht wissen.“
„Tut mir leid, aber so war es. Sie haben gefragt. Uns war das alles bekannt. Die Erben des Gutsherrn wollten das Haus loswerden. Es war devastiert. Das Agrarland, die Weingärten, der Wald, all das wurde schnell aufgekauft. Das Haus wollte keiner.“
Sie hatten die Gläser geleert und Paul wollte nachbestellen, aber der Alte lehnte ab, „Ich muss nach Hause.“
„Ich will Sie nicht aufhalten, aber eines noch, vor mir hat schon jemand darin gewohnt.“
„Richtig, Deutsche waren das. Komische Leute.“
„Weil sie Deutsche waren?“
„Nein, die ganze Art so…aber ich muss jetzt wirklich gehen. Auf Wiedersehen!“
Seltsam, dass er es auf einmal so eilig hat, dachte Paul.
„Ich würde mich da oben nicht trauen zu wohnen“, mischte sich die Kellnerin ein. Sie hatte von der Unterhaltung bei der Schank mitgehört. Die Gier nach Aufregung war ihr vom Gesicht abzulesen.
Paul gab sich gelassen. „Jedes Haus hat seine Geschichte.“ Er beschrieb mit der Hand einen Kreis. „Da rundherum, in den alten Bauernhäusern, was glauben Sie, wie viele da schon ihr Leben ausgehaucht haben. Und trotzdem werden die Häuser bewohnt.“
„Ja, aber die sind alle eines natürlichen Todes gestorben.“
„Da oben war es anders, wollen Sie sagen?“
„Dort sind Leute verschwunden, der Mann und später auch die Frau.“
„Die werden halt weggezogen sein.“
„Nein. Sie hat im Dorf erzählt, er erscheine manchmal in der Nacht, auf der Wiese hinter dem Haus. Und Gestalten hat sie gesehen. Der Frau Aigner vom Markt hat sie es erzählt. Unheimlich das alles. Ich tät dort nicht wohnen wollen!“
Paul hatte jetzt genug. „Das haben Sie schon einmal gesagt. Ich trau´ mich. Es gibt keine Geister, für alles wird man eine vernünftige Erklärung finden.“
Aus der Küche rief jemand nach der Kellnerin, die mit einem Achselzucken ging.
Paul blieb an seinem Achtel hängen. Geschwätz, Personen verschwinden, Geistererscheinungen. Mir ist noch keiner erschienen. Höchstens mein eigener Furor. Er trank aus und rief zur Küche hin, „Bitte zahlen.“
Die Kellnerin näherte sich, und Paul beglich die Zeche. „Nichts für ungut, alles Gute trotzdem.“
„Danke, bis jetzt ist es auch gut gegangen. Eins noch, wer war der Herr, mit dem ich mich unterhalten habe?“
„Das war der Herr Triebl, ein Stammgast.“
„Danke, und auf Wiedersehen!“
Er trat hinaus und atmete tief durch. Herrliche Winterluft. Wollen die mich alle verunsichern? dachte er. Wenn die wüssten, was ich für ein Vorleben habe, die würden Augen machen. Die Unterhaltung hatte ihn ermüdet. Die geplante Einkaufsfahrt konnte er auch im Lauf der Woche machen. Ewig würde es ja nicht schneien. Also ging er nur in den kleinen Markt, drei Häuser weiter. Das Notwendigste zum Überleben konnte man hier allemal finden.
„Wieso kommst denn heute schon heim?“
„So halt“, sagte der Mann, mit dem sich Paul im Wirtshaus unterhalten hatte.
„Ich kenn dich doch, vor halb zwölf bist sonst nie da. Das Essen ist auch noch nicht fertig.“ Die Frau Triebl wirkte leicht gereizt. Der Mann ging ihr auf die Nerven. Wenn er zu Hause war, hatte er immer was zu nörgeln. Ihr war es recht, wenn er zweimal oder auch dreimal am Tag ins Wirtshaus ging. Über dreißig Jahre waren sie verheiratet. Manchmal hoffte sie, er würde sich zu Tode saufen, aber den Gefallen tat er ihr nicht. Der Alte war zäh. Heute jedoch wirkte er angeschlagen.
„Der Neue vom Jagdhaus, der ist so neugierig, der will was wissen.“
„Und was soll das sein?“
„Frag nicht so dumm, übers Jagdhaus, über den Diethardt, was sonst?“
„Deswegen regst du dich auf?“
„Na, du bist vielleicht…“
„Was kann der schon rauskriegen, der Diethardt hat mit seiner Enkelin dort gewohnt. Dann ist er zurück nach Deutschland und sie ist in ein Heim gekommen. Was hat das mit uns zu tun?“
„Wenn der, Gregor heißt er, weiter stierlt, könnt es unangenehm werden.“
Die Frau Triebl war eindeutig die Coolere.
„Ach was, wenn du, der Erdinger und der Sepp und der Ferdl die Goschn halten, kann nichts rauskommen.“
„Hoffentlich hast recht. Blöd ist es schon, warum muss dieser Gregor das Haus kaufen. Der Erdinger war ein Trottel, dass er es damals nicht mit dem Wald zusammen gekauft hat.“
„Das kannst jetzt nicht mehr ändern. Wie alt ist der Gregor?“
„Bissel jünger als ich.“
„Also eh schon in Rente. Der wird nur neugierig sein, weil er erst eingezogen ist. Wird sich beruhigen. Und jetzt komm, die Suppe ist fertig.“
Eine möglicherweise aufkommende Beeinträchtigung des Lebensabends bewirkte eine ungewohnte Harmonie des Ehepaares Triebl. Die beiden widmeten sich der Suppe und dem darauffolgenden Schnitzel. Natürlich vom Kalb, Geld hatten sie genug.
Später am Abend musste Paul an das Gespräch im Wirtshaus denken. Er hatte im Kamin eingeheizt, eine angenehme Wärme verbreitete sich im Raum. Er legte sein Buch beiseite, weil er an die Unterhaltung im Wirtshaus denken musste. Über die dunkle Zeit des Zweiten Weltkriegs und den Aufstieg der NSDAP hatte er viele Bücher gelesen. Dramatische Ereignisse, die nicht mehr rückgängig gemacht werden konnten. Die Zukunft verhieß auch nichts Gutes. Jetzt schrieben die Zeitungen, dass in zwanzig Jahren eine weltweite Hungersnot drohe, wenn die Böden nicht geschont und nachhaltiger bewirtschaftet werden. Und lokale Kriege bestimmten noch immer die Schlagzeilen der Zeitungen.
Homo homini lupus, dachte Paul, das wird sich nie ändern. Als das Feuer langsam niederbrannte, nahm er sein Buch, um noch eine Stunde im Bett zu lesen. Dann würde er vielleicht einschlafen können, ohne an das zu denken, was auf der Soll-Seite seines Lebenskontos gebucht war.
Hell war es im Raum, als Paul erwachte. Er sah auf die Uhr. Das Feuer im Kamin war ausgegangen. Drei Uhr vorbei. Von seinem Bett aus hatte er die Fenster an der Ost- und auch an der Südseite im Blickfeld. Fenster gab es genug im Haus. Das schaffte Licht und Offenheit. Alle Fenster waren mit massiven Holzläden ausgestattet, aber die hatte Paul nicht geschlossen. Er wollte die Helligkeit im Haus haben. Die Überschaubarkeit des Raumes hatte Paul von Anfang an zugesagt. Nicht so ein Winkelwerk von Wänden und Türen. Er stand auf, um einen Schluck Wasser zu trinken. Er ließ das Wasser ein wenig laufen, es schmeckte kalt und frisch. Erst jetzt wurde ihm bewusst, warum es so hell war. Früher in dieser Nacht musste es heftig geschneit haben. Jetzt rieselte es nur mehr ganz fein. Der zunehmende Mond spendete schwaches Licht. Vorm Wasserhahn in der Küche stehend, konnte Paul Wiese und Wald überblicken. Alles in glitzerndes Weiß getaucht. Ein perfektes Motiv für eine Winter- Ansichtskarte. Paul konnte sich gar nicht lösen. Er schaute zu der kleinen Stiege mit dem Geländer hin, um die Schneemenge schätzen zu können.
Jäh war alles anders. Die Idylle gestört.
Spuren im Schnee, Schuhabdrücke. Sie kamen von links und endeten vor der ersten Stufe zur Eingangstür. Dort war jemand stehengeblieben. Von der Stiege weg führten sie nach rechts in den Wald hinein. Die Spuren waren frisch, scharf gezeichnet.
Jäh war Paul aus seiner Verschlafenheit gerissen. Dem ersten Gefühl von Bedrohung folgte ein Anfall von Wut. Jetzt eine Schrotflinte haben und schießen, hinaus zum Wald, ein Signal setzen, hier ist einer der sich wehrt. Lasst mich in Ruhe!
Paul zog Jacke und Winterschuhe an, nahm die Taschenlampe und sperrte die Eingangstür auf. Er ging die drei Stufen hinunter und betrachtete die Abdrücke. Profilsohlen, deutlich gezeichnet im Schnee. Paul setzte einen Fuß genau daneben. Er selbst hatte Schuhgröße 43, der Abdruck war ähnlicher Größe, vielleicht doch etwas kleiner. Was konnte das bedeuten? Wer war da in der Nacht herumgeschlichen? Er machte ein paar Schritte hinaus auf die Wiese und leuchtete zum Rand des Waldes hin. Es war nichts zu sehen, als die Büsche und die Stämme der Bäume.
Paul ging zurück ins Haus. Er fröstelte. Zum schnellen Erwärmen drehte er den IR-Heizkörper beim Fenster auf. Er machte sich einen Schwarztee und nahm die Tasse mit zu seinem Ohrenstuhl. Der stand vor einem Fenster der Vorderfront. Von hier aus konnte er den Himmel im Osten und die ersten Bäume an der westlichen Grenze des Grundstückes sehen. Bei gutem Wetter oder Mondlicht. Jetzt war alles mehr zu ahnen, als zu erkennen. Die Beeinträchtigung war gegeben. Paul fühlte sich unbehaglich, weil er von dieser Position aus die Eingangstür und die Fenster an der Rückseite nicht kontrollieren konnte. Er drehte den Stuhl um und blieb im schwachen Licht der Winternacht sitzen. Der Tee beruhigte ihn.
Die Fußspuren am Tag wären nicht so besonders gewesen. Ein Wanderer, neugierig, vielleicht ein Gespräch, eine Auskunft über die Wege suchend. Dasselbe jedoch in der Nacht?
Ein Notfall konnte es nicht gewesen sein, sonst hätte der- oder diejenige sich bemerkbar gemacht. Also musste dahinter eine böse Absicht stecken. Oder war es ein Irrer gewesen? Eine verwirrte Person, die in der Nacht herumwandert?
Paul nahm sich vor, die Spuren bei Tagesanbruch zu verfolgen. Es ging ihm so viel im Kopf herum: das heute Gehörte - Nazis, SS, Verbrechen, ein Mann, der verschwand. Er konnte das alles nicht einordnen. Noch nicht. Aber er würde das alles klären. Eine Anwandlung von Zweifel über den Kauf stieg in ihm auf. Alles rückgängig machen? Das Haus verkaufen? Nein, das kam nicht in Frage. Eine Oase der Stille, keine Nachbarn, kein Lärm. Mehr Lebensqualität würde er nirgends finden können. Probleme traten immer und überall auf. Der Tee mit Milch und Honig beruhigte ihn. Eigentlich gab es hier in diesem Haus kein Problem. Geschwätz im Wirtshaus, irgendwelche Fußspuren, lächerlich sich deswegen verrückt zu machen! Was auch kommen möge, er würde sich zu wehren wissen.
Vor der Stiege zum Windfang stand eine Frau. Groß war sie mit hellem Haar. Paul konnte ihre blauen Augen erkennen. Er öffnete die Außentür und wollte etwas hinausrufen, brachte aber keinen Ton heraus. Er konnte die Frau nur anstarren. Auf einmal war sie weg und Paul dachte, eine unangenehme Person, Gott sei Dank, jetzt ist sie gegangen. Das erleichterte ihn ungemein. Er drehte sich um, weil er wieder ins Bett gehen wollte, da stand eine andere Frau vor ihm. Er wusste genau, dass es eine andere war. Auf einmal war es seine Ehefrau. Sie starrte ihn genauso an wie die Blonde und fragte, warum er das getan habe. Er wollte sich entschuldigen, aber wie zuvor konnte er nicht sprechen. Panik überkam ihn. Die Frau sagte, das wirst du mir erklären müssen. Er wollte etwas erwidern, rang um Worte, wollte weggehen, konnte aber die Füße nicht bewegen. Die Frau kam immer näher. Aus einer Wunde am Kopf rannen dünne Blutspuren über das Gesicht. Er hob die Hand, um die Frau abzuwehren.
Paul fuhr auf. Er atmete tief durch. Ein Traum, ähnlich jenen, die ihn in all den Jahren verfolgt hatten. Er setzte sich im Bett auf. Alles war wie immer, ruhig und still. Erleichtert ließ er sich zurücksinken. Seine reale Welt war in Ordnung. Warum einem das Hirn solche Streiche spielen musste? Er hatte im Gefängnis gebüßt, aber dem Unterbewusstsein genügte das nicht. Bevor er weiter grübelte, fielen ihm die Spuren im Schnee ein. Paul stand auf um nachzusehen. Es war nichts mehr zu erkennen. In der Nacht hatte es nochmals geschneit. Der Schnee lag über zehn Zentimeter hoch. Paul öffnete das Küchenfenster und sog die kalte Schneeluft ein. Es war logisch, dass diese Träume mit der Tat und der Vergangenheit in Verbindung standen. Die konnte er nicht ablegen, die Träume würden ihn immer verfolgen. Aber es war auszuhalten. Er beherrschte das. Meistens. Nur die Gegenwart sollte ihm keine neuen Bürden auferlegen. Dafür war er nicht hierher ins Jagdhaus gezogen.
Paul trat aus dem Haus und ließ die Winterlandschaft auf seine Seele wirken. Ein Produzent von Ansichtskarten fände hier das perfekte Motiv. Die ebene Fläche glitzernd von den reflektierten Sonnenstrahlen, die Bäume rundherum wie mit Zuckerguss überzogen. Zuerst schaufelte Paul rund ums Haus einen Gehweg. Säuberte die schmale Stiege, die an der Seite hinunter zur Garage führte. Der Feldweg zur Straße war in den Konturen erkennbar. Paul hatte sich noch im November einen Suzuki mit Allrad Antrieb zugelegt. Es reizte ihn, den im Schnee zu testen. Es war noch früh, vielleicht würde der Weg später geräumt werden. Er hatte vergessen im Gemeindeamt zu fragen. Abwarten, er hatte unendlich viel Zeit.
Die ungewohnte Tätigkeit des Schaufelns hatte ihn ermüdet, die Beschäftigung mit den Büchern würde eine angenehme Abwechslung sein. Die Bände der Weltliteratur waren im Regal nicht ordentlich gereiht. Paul trug Stapel um Stapel zum großen Tisch in der Mitte des Raumes. Dieses Möbel hatte er mit Freude übernommen. Groß, massiv, Platz für acht bis zehn Leute. Ein Familientisch. Zwar hatte Paul keine Familie, aber für ihn, den Meister der organisierten Unordnung, war dieser Tisch ideal! Paul hatte ihn nach Verwendungszweck unterteilt. Laptop, Drucker, Papier und Schreibzeug an der einen Ecke. Anschließend Post, Zeitungen, Internet-Radio, die aktuellen Bücher, Schachspiel. Er hatte meistens zwei oder drei Bücher, die er je nach Lust und Laune las. Krimi, Zeitgeschichte, im Moment Notrationen, über die Vorgänge im Triestingtal in der 1. Republik und der Nazi Diktatur. Eine Ecke fürs Essen. Und dann blieb immer noch genug Platz für anderes.
Paul wollte die Bücher nach dem Alphabet reihen. Er öffnete jedes Buch und ließ die Seiten durch die Finger gleiten. Die Einbände waren prächtig mit goldenen Ornamenten geschmückt. Das Papier war jedoch weniger gut, nicht reinweiß, holzig. Die Bücher muffelten. Die hatte jahrelang keiner in der Hand gehabt. Andersen, Alexis, Conrad, Dostojewski…, bei Jeremias Gotthelf angelangt, flatterte ihm eine 1000 Schilling Banknote vor die Füße. Der Vorbesitzer der Bibliothek hatte sich wohl eine Eselsbrücke gemacht, gerade aus Gotthelfs Erzählungen kommt Geld ans Tageslicht. Nicht schlecht. Gott hilft immer, manchmal oder gar nicht. Der Schilling war schon lange passee, aber in der Nationalbank würde man den Schein tauschen können. Oder doch nicht – jedenfalls ein Souvenir aus einer vergangenen Zeit.
Paul widmete sich wieder den Büchern, Goethe, Gogol. Dann – Goldsmith, Hawthorne, Jacobsen, John Gordon Davis, Namen, die sein Deutschprofessor nicht genannt hatte. Die Auswahl für eine Bibliothek der Weltliteratur schien Paul etwas seltsam. Aber er war ja kein Germanist. Wikipedia würde ihm weiterhelfen. Auf alle Fälle war es eine interessante Beschäftigung.
Ein sich näherndes Motorengeräusch unterbrach ihn. Er trat zum Fenster. Ein Traktor mit montiertem Schneepflug kämpfte sich den Feldweg herauf zum Haus. Paul zog sich schnell an und ging hinunter zur Garage. Der Traktor schwenkte ein und Paul hob grüßend die Hand. Der Fahrer bog auf den Vorplatz ein und hielt an. Er stieg ab.
„Bin überrascht, dass der Weg geräumt wird.“
Der Mann, in ähnlichem Alter wie Paul, zwang sich zu einem Lächeln.
„Sie sind der Herr Gregor“, sagte er in einem breiten Dialekt. Das Gesicht des Mannes hätte in jedes Bild von Albin Egger-Lienz gepasst. Kantig, ein breites Kinn, struppige graue Haare.
Trotzdem empfand Paul keine sofortige Sympathie, wie es sich manchmal ergibt. Man trifft einen Menschen und ist gleich bereit, mit dem zu plaudern, eine Zeit zu verbringen. Vielleicht lag es daran, dass ihm der Mann nicht in die Augen schauen konnte. Ein kurzer Blick, um sich gleich wieder abzuwenden.
„Ja!“
„Das ist Ihr Hauptwohnsitz, Sie zahlen die Steuern, also muss auch geräumt werden.“
„Aha, so ist das. Und Sie arbeiten bei der Gemeinde?“ „Nur im Auftrag der Gemeinde. Im Winter die Schneeräumung.“
Paul dachte daran, dass der Mann ihm etwas über das Haus und die Vorbesitzer erzählen könnte. Der wusste bestimmt mehr.
„Kann ich Ihnen was anbieten, Herr…?“
„Erdinger, aber mich kennen alle nur als Kreutbauer, weil unser Hof so heißt.“
„Wollen Sie einen Kaffee…oder lieber ein kleines Bier?“
„Na, ist eh schon elf vorbei, ein kleines Bier könnt´ nicht schaden.“ Er stellte den Motor ab. Paul wollte mit dem Kreutbauern hinauf ins Haus gehen, der aber wehrte ab. Also holte Paul das Bier her. Das war eh in der Garage gelagert, weil es da schön kühl blieb.
„Prost!“
„Zum Wohl!“
Paul überlegte, wie er es angehen könnte. Wenn Sie hier immer im Winter geräumt haben, dann haben Sie sicher auch die Vorbesitzer gekannt.“
„Freilich.“
„Wie waren denn die, nette Leute?“
„Na, überhaupt net.“
„Wieso denn?“
„Er war ein Deutscher, ein scharfer, dem ist kein Lacher ausgekommen. Aber immer korrekt. Übrigens, für die Senkgrube hier, bin auch ich zuständig.“
„Gut, dass ich das weiß.“
„Der hat immer gleich bar bezahlt, nicht so, wie die vom Tierschutzverein, die ist mir noch immer die letzte Räumung schuldig.“
Das ging jetzt aber durcheinander, Paul gab sich unwissend. Die offene Rechnung war dem Kreutbauern wichtig.
„Jetzt kenn´ ich mich nicht mehr aus…“
Wie der Alte verschwunden ist, hat sie allein einige
Jahre da gewohnt.“ „Wer, seine Frau?“
„Nein. Die war viel jünger. Wir im Dorf haben zuerst geglaubt, das ist seine Frau, aber der Triebl vom Gemeindeamt hat gewusst, dass es seine Enkelin ist.“
„Aha, und die hat nicht gezahlt.“
„Die schon, aber später dann, wie das Haus dem Tierschutzverein zugefallen ist, die haben nicht gezahlt.“
Paul wusste vom Makler, dass dem Tierschutzverein das Haus von einer Frau Diethardt überschrieben worden war. Für die weitere Vorgeschichte hatte er sich jedoch nicht interessiert.
„Ich war gestern im Wirtshaus, da ist komisch geredet worden, Leute sind verschwunden…“
„Ja, der Alte war auf einmal weg. Die Enkelin ist ins Dorf gekommen und hat alle Leute gefragt, ob sie ihren Großvater gesehen hätten. Er sei nämlich verschwunden. Sie war sehr besorgt um ihn.“
„Und, wurde was unternommen?“
„Nein, weil die hat so wirr geredet. Das war nicht ernst zu nehmen. Ein erwachsener Mann kann doch für ein paar Tage verreisen.“
„Und weiter? Ist der Diethardt wieder aufgetaucht?“
„Nein. Aber die Enkelin hat der Frau Aigner vom Markt einen Brief gezeigt. Der Großvater sei in Deutschland und würde bald wieder kommen.“
„Ist er gekommen?“
„Nein. Ich glaube nicht. Da weiß ich nichts.“
„Und die Enkelin hat dann allein im Haus gewohnt?“ „Ja, aber dann ist sie immer komischer geworden.“
„Wieso?“
Der Kreutbauern wand sich ein bisschen. „Was da alles früher passiert ist!“
„Was meinen Sie denn?“
„Die Kriegszeit, die Nazis, die SS.“
„Aber das war doch alles lange bevor die Deutschen hier gewohnt haben.“
„Herr Gregor, Sie haben sicher schon was über die SS gehört. Wozu die fähig waren.“
„Darüber habe ich viel gelesen.“
„Auch da bei uns haben sie jüdische Häftlinge eingesetzt, die mussten graben für den Ostwall. Der hätte die Russen aufhalten sollen.“
Paul konnte sich denken, was das bedeutete. „Und dann wurden die Juden…“
„Genau, da heroben, hinten im Wald. Mein Vater hat die Schüsse gehört. Die Leichen wurden irgendwo vergraben“, dabei deutete er in unbestimmter Richtung hinter das Haus.
„Ich weiß, in diesen furchtbaren Jahren sind unzählige Verbrechen begangen worden. Aber einen Zusammenhang mit der Enkelin sehe ich noch nicht. Und die Opfer wurden doch sicherlich nach Kriegsende ordentlich bestattet.“
„Ja, schon. Aber im Dorf ist jahrelang geredet worden, über Tote, die keine Ruhe finden, und so Sachen halt. Es sollen noch immer welche im Wald liegen.“
„Jetzt verstehe ich, was Sie sagen wollten. Eine junge Frau allein in dem Haus. Gerede, das ihr Angst macht, die Einsamkeit.“
„Was die geredet hat, das ist immer wirrer geworden, von Geistern, von einem Schatz, lauter so Sachen.“
„Die hat das Alleinsein da heroben nicht vertragen, wenn jemand empfindlich ist…“
„Das habe ich gemeint“, er sah auf die Uhr, „Herr Gregor ich muss jetzt weiter. Wenn was ist mit der Senkgrube, rufen´s mich an.“
„In Ordnung, und danke fürs Schneeräumen.“
„Passt schon, danke fürs Bier.“ Und mit diesen Worten schwang sich der Kreutbauer auf den Traktor, startete und tuckerte den Feldweg hinunter zum Dorf.
Der hat es jetzt aber eilig, dachte Paul. Nicht schlecht, dass er den Kreutbauern kennen gelernt hatte. Von dem konnte er noch mehr erfahren. Ein paar Bierchen, das würde dem die Zunge lösen. Sympathisch muss mir der Mann nicht sein, der Zweck heiligt die Mittel.
In der Dorfkirche läuteten die Glocken zu Mittag. Aus vielen Schornsteinen stieg Rauch auf. Ein Bild tiefen Friedens. Das war jetzt getrübt.
Die Zeitung nach dem Essen fehlte Paul. Er hatte sein Abonnement abbestellt. Er wollte nicht jeden Tag hinunter zum Postkasten gehen müssen. Der Alte vom Berg. Ob ich je so weise sein werde, dachte Paul. Klug wäre es, die Vergangenheit dieses Hauses und seiner Bewohner ruhen zu lassen. Und das eigene Restchen vom Leben genießen.
Nachdem er die Schlagzeilen der wichtigsten Tageszeitungen am Laptop gelesen hatte, wandte er sich dem Stapel Bücher am großen Tisch zu. Das war die richtige Beschäftigung für einen Nachmittag im Winter. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Paul fühlte sich sicher und geschützt in dem Haus. Er genoss es, ab und zu von den Büchern aufzublicken und das Fallen der weißen Flocken zu beobachten. Nach Süd-Osten hin ein grauer verhangener Himmel, nach Süden und Westen sah er die verschneiten Nadelbäume.
John Gordon Davis, Brennpunkt Hongkong, gehörte das wirklich zur Weltliteratur? Paul war überrascht, der Titel Deutsch, die Seiten jedoch in einer anderen Sprache. Er blätterte das Buch durch und ein Zettel fiel heraus. Auf dem stand nur ein Satz, mit Bleistift geschrieben:
Mein Vater ist ein Mörder!
Gerade noch hatte sich Paul so wohlgefühlt. Entspannt nach seiner Siesta im Ohrensessel. Jetzt die Irritation von einem Moment zum anderen, ausgelöst durch ein Stück Papier mit fünf Wörtern. Das genügte den Nachmittag zu verändern. Es war ihm nicht klar, wer das geschrieben hatte. Welche Tochter bezichtigte ihren Vater eines schweren Verbrechens?
Paul vermutete, dass das Buch in norwegischer Sprache gedruckt war. Das erste innere Blatt fehlte. Auf dem zweiten wurde Autor und Titel wiederholt. Dann, Oversatt av Ragnar Wold, Hjemmets bokklubb. Er tippte einige Wörter bei Google ein, es handelte sich eindeutig um Norwegisch. Der Zettel ausgerechnet in diesem Buch? War das ein Hinweis? Welchen Bezug gab es zu den Bewohnern?
Die Schrift wirkte eher kindlich. Großvater und Enkelin hier im Haus. Eine Frau Diethardt hatte das Haus dem Tierschutzverein vermacht. Der hatte es nicht nützen wollen oder können. Laut Hörensagen erbten Vereine öfters von Leuten, die keine Angehörigen hatten. Paul fragte sich, wem er das Haus einmal vererben sollte? Seine Geschwister waren alle bereits verstorben. Es gab auch keine Neffen oder Nichten. Anscheinend hatte er von allen Anverwandten die besten Gene mitbekommen.
Vater und Tochter und Enkelin Diethardt? Wie passte das alles zusammen? Paul würde nachforschen müssen. Der Zettel musste nichts bedeuten. Kindliche Übertreibung? Rache für ein vermeintliches Unrecht? Andererseits, wenn doch was dran war? Die Andeutungen des Kreutbauern?
Für heute hatte er keine Lust mehr, sich mit den Büchern zu beschäftigen. Die bereits nach dem Alphabet Geordneten stellte er zurück ins Regal. Oben am Dachboden waren noch alte Möbel. Vielleicht gab es dort weitere Spuren. Er zögerte. Es war, als hielte ihn eine innere Stimme ab. Wenn dort oben etwas zu finden sei, würde es nichts Gutes sein. Woher er diese Überzeugung nahm, hätte er nicht begründen können. Aber es musste sein. So wie er sich früher mit jedem beruflichen Problem so lange befasst hatte, bis es gelöst war, so musste er auch diese Aufgabe zu Ende bringen. Zur Stärkung seiner Entschlusskraft nahm er einen Schluck Zweigelt.
Eine schmale steile Holzstiege führte hinauf. Paul öffnete die Holztür. Kalt war es da heroben. An jeder Seite des Satteldaches waren vier Luken eingebaut. Paul ging zu einer an der vorderen Hausseite. Er öffnete sie und genoss einige Minuten lang die Aussicht. Die verschneiten Höhenlinien des Leitha- und Rosaliengebirges. Hier und da dunkle Risse in den Flächen, wie eine Maserung, wo der Schnee nicht so dicht lag. Er schloss die Luke und drehte das Licht auf. Beim ersten Anblick wirkte der Dachboden wie ein Lagerplatz für alte Möbel. Eigentlich war er das auch. Paul probierte den einen oder anderen Weg, bis ihn jedes Mal ein Möbelstück hinderte. Um da weiter zu forschen, musste man jedes Möbel umräumen. Ein schöner alter Kasten aus Nussholz mit einer geschwungenen Holzschnitzerei über der Tür wurde vom Gestell eines Eisenbetts blockiert. Der Dachboden, ein Archiv vergangener Zeiten. In einer Gasse, so dachte er sich das scherzhaft, drang er etwas weiter vor, zwängte sich durch zwei Kommoden und entdeckte eine Sitzgarnitur. Polsterbank, Fauteuil, fleckig und an manchen Stellen zerschlissen. Hier hatte sich jemand eine stille Ecke geschaffen. Einen Schlupfwinkel. Vielleicht die Enkelin, dachte Paul. Warum ihm das zuerst einfiel? Es hätte auch der Großvater sein können, der hier seine Ruhe gesucht hatte. Aber der zuvor gefundene Zettel ließ auf einen Konflikt zwischen Vater und Tochter schließen. Wo hatte der stattgefunden? Wie gravierend der war, das wollte Paul herausfinden. Da heroben musste es Spuren geben. Die Dämmerung hatte eingesetzt, es war kalt. Der Dachboden nur spärlich erleuchtet. Paul beschloss morgen weiterzumachen.
Aufwachen und zu wissen, der Tag steht frei zur Verfügung, ohne Bestimmung einer dritten Seite. Ein Gefühl der Freiheit. Das Licht der Morgendämmerung versprach einen freundlichen Wintertag. Paul wollte ihn für eine gründliche Durchsuchung des Dachbodens nützen.
Das war die Realität nicht die Frau im soeben abgespielten Traum. Die war ihm sympathisch gewesen. Sie hatten sich glänzend unterhalten. Paul hatte geistreich parliert und gewusst, dass ihm die Frau zugetan war. Sie umarmten sich, Paul konnte ihren Körper fühlen. Paul spürte eine sexuelle Regung, ein angenehmes Gefühl. Dann war er aufgewacht, war enttäuscht, dass die Frau seines Traumes entschwunden war. Mein Gott, alter Depp, hört das nie auf, dachte Paul. Na gut, so alt war er ja auch wieder nicht. Wer weiß, was das Leben noch bringen würde? Noch ein Zufall, wie das Haus! Zufallen, was fällt einem zu? Eine Tür, eine Reifenpanne, eine Erbschaft, eine untreue Frau, eine neue Beziehung?
Der morgendliche Appetit lenkte ihn ab. Während er auf das heiße Wasser für den Tee wartete, sah er beim Küchenfenster hinaus. Keine Abdrücke, er hatte es auch nicht anders erwartet. Vielleicht hatte er alles nur geträumt. Manchmal spukte etwas in seinem Kopf herum. Dann wusste er nicht mehr, ob er das gelesen, im Radio gehört oder geträumt hatte. Aber die Fußspuren im Schnee waren schon real gewesen. Wie auch immer, Paul würde auf der Hut sein!
Am Vormittag zog er seine dicke Jacke an, setzte eine Kappe auf und stieg wieder hinauf in den Dachboden. Neben einem Fauteuil stand eine schmale Kommode mit fünf Laden. Paul öffnete die erste Lade. Steine, Schneckenhaus, Glaskugeln, kindliche Sammelobjekte. Ähnliches in der zweiten Lade, Münzen, deutsche Pfennige, eine Mark, ein kleines Geduldspiel, ein Püppchen. In der dritten Lade fand er neben Bilderbüchern ein Fotoalbum. Auf der Vorderseite der Aufdruck Solveigh. Paul schlug es auf. Es war ein Album, wie auch er eines besaß. Die Außenseiten mit Stoffbespannung. Die S/W Fotos mit jeweils vier transparenten Fotoecken auf schwarzen Kartonseiten geklebt, dazwischen das Spinnenpapier. Das war ein wichtiger Fund. Der würde ihm Aufschluss über die Familie geben. Er setzte sich in den Fauteuil und sackte durch. Das ideale Möbel zur Erzeugung von Kreuzschmerzen. Das erste Foto zeigte ein Baby in einem Steckkissen. Solveigh Elisabeth Diethardt – 4. Mai 1942 Oslo. Auf den folgenden Blättern Aufnahmen eines heranwachsenden Kindes. Auf einem Foto die Eltern. Der Mann im dunklen Anzug, den linken Arm um die Taille der Frau gelegt. Vor ihnen die Tochter im Kinderwagen. Meine Eltern – Juni 1943. Der Vater blickte streng in die Kamera. Die Mutter wirkte verschlossen. So als warte sie nur darauf, sich nach der Aufnahme wieder von dem Mann lösen zu können. Ein weiteres Foto zeigte Mutter, Kind und einen anderen Mann. Mutti und Onkel Gudmund mit Solveigh am Fjord. Auf diesem Bild lächelte die Mutter und zeigte keinerlei Anspannung. Es folgten weitere Fotos, die restlichen Seiten blieben leer.
Paul war sich über den Zusammenhang Norwegen, Deutschland, Österreich noch nicht klar. Wenn es stimmte, dass die Diethardts Deutsche gewesen waren, wieso war die Tochter in Oslo zur Welt gekommen? Oder waren es Norweger, die es aus irgendwelchen Gründen nach Deutschland verschlagen hatte? Dagegen sprach wohl der Name Diethardt.