Vorwort
Bauen für Demenz entstand als Fortsetzung der an der BTU Cottbus verfassten Schrift Architektur und Resonanz. Zahlreiche Impulse haben meine Sicht auf Phänomene der Architektur sowie die Wahrnehmung ihrer sensorischen Qualitäten seither immer wieder verändert. Körper von Gebäuden habe ich als Ensemble zu interpretieren gelernt, auf die der Mensch mit seinem eigenen körperlichen Sensorium reagiert. Schwingungsfähige und angeregte Körper waren mir dabei bislang eher aus der Praxis der Musik sowie der Klangkunst bekannt. Diese noch junge Gattung der Kunst wird an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig seit 2004 durch Ulrich Eller auf international anspruchsvollem Niveau gelehrt. Seit 2006 erforschen wir gemeinsam in Theorie und Praxis das Feld. Die hieraus entwickelten Projekte der Klangkunst beziehen sich auf architektonische Räume und Landschaften. An historischen Orten – wie Kirchen, Klosteranlagen, alten Fabrikgebäuden, Museen und einer Bootswerft bei Usedom, wo noch vorwiegend Holz verarbeitet wird – haben wir zahlreiche Projekte durchgeführt. Regelmäßige Exkursionen zur Architekturbiennale Venedig haben Konzepte mit Klang im Raum angeregt, die schließlich zu Erfahrungen mit multisensorischen Eigenschaften von Räumen geführt haben. Wir gehen mit diesen sensuellen Erfahrungen über eine Praxis hinaus, die sich dem Hören, Sehen oder Schmecken in Traditionen monosensorischer Kultur nähert.
Heute wissen wir mehr über die Räume, die uns umgeben, prägen und sensorisch beeinflussen. Zu behaupten, wir hätten beide, von der Gitarre kommend, über die Klangkunst neue Wege in die Architektur gefunden, trifft die Sache vielleicht am besten. So wie Musiker auf ihren Instrumenten eine Form virtuoser Bewegung erlernen, die sich tief in die Prägung ihrer Gehirne einschreibt, so wirken auch die Klänge von Räumen, die wir intuitiv erfassen, auf unser Gehirn: Es bilden sich regelrechte Pfade. Durch die ewige Wiederholung gleicher Wege im Haus und in der Umgebung verinnerlichen wir diese so stark, dass wir nach Jahren in der Lage sind, uns ohne jede optische Orientierung durch die Räume zu bewegen. Neurowissenschaftliche Forschungen haben belegt, dass im Bereich der Architekturpsychologie die gleichen Prozesse vorliegen wie bei erlernten Bewegungen beim Instrumentenspiel. Bewegungen schreiben Muster in unsere Gehirne ein, Räume und Landschaften werden gewissermaßen in unser Gedächtnis eingraviert, ähnlich einer Zeichnung, Partitur oder Karte mit Straßen und Wegen. Werden nun im Gehirn, bedingt durch Unfall oder Krankheit, bestimmte Areale deaktiviert, so schaltet sich eine Art automatisches Reparatursystem ein, das Aktivitäten, die dem geschädigten Bereich des Gehirns zugeschrieben sind, in ein anderes Areal verlagert. Diese unglaubliche Leistung, die erst vor wenigen Jahren von der Neurowissenschaft entdeckt wurde, kann herangezogen werden, um Fähigkeiten, die durch Unfall oder Krankheit aus medizinischer Sicht noch bis vor Kurzem als unwiederbringlich verloren galten, neu zu lernen. Die Fähigkeit des Gehirns, selbstständig Areale zur Verfügung zu stellen, ist bei denjenigen Menschen besonders deutlich ausgeprägt, die in ihrem Leben bereits anspruchsvolle motorische und kognitive Leistungen vollbracht haben. Bauen für Demenz nutzt diese Erkenntnisse und überträgt sie in einen Katalog von Forderungen an die Architektur. Doch das ideale Haus für Menschen mit kognitiven Einschränkungen gilt es noch zu bauen.
Wir aber gehen auch nach Bauen für Demenz weiter und werden uns in Zukunft jenen architektonischen Orten widmen, denen klaustrophobische Wirkung zugeschrieben wird; etwa Räume, in denen sich Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit ihrem gesunden Bewegungsdrang zu Recht eingesperrt fühlen. Die Gründe dafür liegen größtenteils in den Gebäuden und Strukturen. Wenn Erwachsenen und älteren Menschen Bewegung vorenthalten wird, beginnen diese meist, unterbewusst zu leiden und erfahren solche Räume und deren Umgebung als feindliche Orte, denen sie entfliehen wollen. In der Regel werden sie dann aber heute noch umfangreich pharmazeutisch behandelt, wie jene hyperaktiven Kinder und Jugendlichen, die mit fragwürdigen pharmazeutischen Produkten schließlich stillgestellt werden.
Bauen für Demenz zeigt den Weg in eine Architektur der Zukunft, die sich von den Zwängen jener funktionalistischen Architektur zu befreien sucht, die uns seit den 1950er Jahren in Praxis und Theorie als eine schwere Last auferlegt worden ist.
Architektur neu denken
Dieses Buch ist das Ergebnis einer Suche nach einem neuen Denken von Architektur. Es geht um Bauwerke und die durch sie angelegten Räume der Bewegung. Nicht nur, aber vor allem für eine alternde Gesellschaft. Die Recherchen zum Thema haben mein Denken über das Leben im Alter und die in dieser Lebensphase zunehmend notwendig werdenden körperlichen Tätigkeiten und Bewegungen drastisch verändert. Denken in Architektur bedeutet ein Sich-einrichten-Können in einer Umgebung mit bergenden Räumen, um im leiblichen Wohnen zu Hause zu sein.1 Die hier zum Tragen kommende Metaphorik ist in wesentlichen Teilen einer Phänomenologie des Körpers verpflichtet und überträgt diese auf die Architektur. In Erweiterung bestehender Entwürfe wird Bewegung als zentrales Motiv eingeführt. Zunächst aber werden Geborgenheit und Wohnen als Einheit gedacht. Es wird im Verlauf aufgezeigt, dass altersgerechte Formen des Wohnens anfangs nur einen unwesentlich höheren finanziellen Aufwand erfordern, der berechtigt ist. Gute Architektur erhält nicht nur im Alter die Gesundheit. Sie rechnet sich in allen Bereichen, immer vorausgesetzt, dass Bewegung durch die Anlage des Gebäudes in dessen Innen- wie Außenbereichen gefördert wird und die Motivation über lange Zeiträume erhalten bleibt. Auf der Suche nach einem Haus des Altenwohnens in Vals, Graubünden, dem Ort, der in der Welt der Architekten durch Peter Zumthors Felsentherme bekannt ist, wurde meiner Frage nach dem Altenhaus nur mit Kopfschütteln begegnet. Die Menschen im Ort bleiben bis zu ihrem Lebensende in ihren Häusern mit den Nutzgärten. Ein in den 1990er Jahren errichtetes Haus für die Alten steht fast leer. Es besteht kein Bedarf. Das Bild der Alten in Vals begleitet mich, es deutet Grundlagen guten Wohnens an, die in Ansätzen und mit Modifikationen auch in urbanen Regionen realisierbar sind.
Phänomene
Mein Plädoyer gilt einem radikalen Wandel, einem grundlegend neuen Verständnis des Altenwohnens, das aktuell noch dazu angelegt ist, Bewegung im Haus und dessen Umgebung eher zu verhindern anstatt zu fördern. Es benennt dramatische Fehler der Vergangenheit, die bis heute fortwirken und das Wohnen im Alter zu großen Teilen bestimmen. Es zeigt aber auch Alternativen auf: Architektur wird als potenzieller Bewegungsraum betrachtet, der kommunikative und motorische Anregungen zu bieten vermag. Damit entspräche Architektur dem biologischen Plan des Menschen, dessen Organismus in allen Lebensphasen nur durch regelmäßige Wechsel von Bewegung und Ruhe sein stabiles Gleichgewicht erhält – was ein gesundes Leben in allen Phasen und vor allem im Alter überhaupt erst möglich macht. Veränderungen in Richtung eines altersgerechten Wohnens bei einer frühen Planung von neuen Gebäuden machen die Beteiligung sämtlicher Gruppen nötig. Es gilt, Bewegung der Menschen im Gebäude nicht nur als selbstverständlichen Bestandteil zu integrieren, sondern zum Zentrum der Planung zu machen.2 Stimulierende Wege für die Bewohner und kurze Wege für die Pflegekräfte bilden Anforderungen, die frühzeitig bei der Planung berücksichtigt werden sollten. Architektur mit guten Raumplänen und sensorisch wirksamen Materialien werden unweigerlich im Bereich der Altenpflege zum Schlüssel für ein würdiges Wohnen im Alter. Bewohner, pflegende Menschen und Angehörige profitieren gleichermaßen davon.3
Details der Möblierung und Ausstattung werden unter dem Aspekt der Ergonomie und sensorischen Qualität ebenso behandelt wie die funktionalen Elemente von Tür- und Fenstergriffen, Schaltern, Armaturen im Badezimmer sowie Handläufen. Ein weiterer Bereich gilt der Haustechnik und deren Möglichkeit einer individuellen Belüftung und Klimatisierung. Der Versorgung mit für das Alter angemessenen Lichtquellen gilt das Interesse genauso wie der Ausstattung mit Medien und der Einbringung von Schallschutzmaßnahmen. Wärmezonen und absorbierende Flächen werden ebenso berücksichtigt wie Attraktionen, die Bewegung anregen – idealerweise mit dem Wechsel der Jahreszeiten verbunden. Ebenso wichtig wie Details sind die Beschaffenheit der Topografie, das vorherrschende Binnenklima sowie die Standorte der Häuser. Zentren sind zu bevorzugen, Gebäudekomplexe außerhalb von Städten müssen in Strukturen örtlichen Lebens eingebettet sein, Randlagen sind möglichst zu meiden, die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr wird vorausgesetzt.4 Was in den Niederlanden bereits als Raumkonzept für besonders anregende Räume aus der Installationskunst und den Stimulanzien des Cannabiskonsums5 in die Altenpflege übernommen wurde, kann aufgegriffen, weiterentwickelt und um historische Ansätze erweitert werden, wenn es um überdachte Wandelgänge und sensorische Attraktionen von Kurorten geht.
Ortsverschiebungen, Translokationen sind nicht nur in der Kunst des späten 20. Jahrhunderts als Verfahren bekannt, nein, bereits viel früher wurden Orte simuliert, die es so nicht wirklich geben konnte. Ich erinnere mich daran, dass meine Großeltern in den 1950er Jahren ihre Spaziergänge am Waldrand in einer besonderen Meeresluft machten – nicht nur an der Küste der Nordsee, sondern auch in Bad Orb in einem Gradierwerk. Salzhaltig mineralisierte Luft rieselt dort in langen Gängen an Schwarzreisig herunter, verdunstet und kühlt. Eine ähnlich frisch-belebende Atmosphäre wie eine Meeresbrise entsteht auf dem Gelände, das wie ein Plateau mit alten Laubbäumen im Kurpark angelegt ist. Das Gradierwerk im Naturpark Spessart des Main-Kinzig-Kreises hat Gesundheit und Wohlbefinden meiner Großeltern gefördert. Die Anlage, im Jahr 1806 errichtet, funktioniert noch heute und zählt, neben dem Panorama der Skyline von Frankfurt am Main, zu den bauhistorisch bedeutendsten Werken in Hessen.
Bauen für Demenz ist von der Überzeugung getragen, einen Beitrag zum notwendigen Wandel6 im Verständnis und in der Umsetzung des Altenwohnens zu leisten. Die Argumentation speist sich aus Erfahrungen, die systematisch für raumbildende Verfahren geordnet wurden. Allgemein fördern stimulierende Räume das Wohlbefinden, körperliche wie geistige Aktivität, die in täglich zurückgelegten Strecken und Frequenzen von Interaktionen messbar sind.7 In der Häufigkeit der Kontakte kann oft bereits der mentale Zustand des Menschen empirisch erfasst werden. Der Gang durch die einzelnen Kapitel des Buches verbindet persönliche Erlebnisse im Kontext von Typen der Bewegung, die in Bildern vorgestellt werden. Die kleinen Episoden reichen von der Kindheit bis in die Gegenwart. In manchen Passagen wird dem Leser eine Erzählung geboten, die einer biografischen Perspektive entstammt und Formen des Wohnens sowie Erfahrungen mit Räumen beschreibt. Wohnen, Denken und Sprechen werden als eine Einheit angenommen, Übergänge zwischen Disziplinen erprobt, Forderungen und Konzepte der Demenztherapien aufgegriffen, um in bauliche Kontexte überführt zu werden, die Erinnerungen ansprechen.8 Dabei wird das Denken als Vorgang des Einschreibens und Vertiefens ins Gedächtnis verstanden, dessen Nervenbahnen in den Hirnarealen als vitale Pfade der Kognition nachweisbar sind.9 Das Denken der Gedanken wird mit Wegen des Lebens in prägenden Gebäuden und ihrer Umgebung aus der Literatur aufgegriffen und weiterentwickelt.10 Daher wurde die Gliederung des Buches einer Systematik unterworfen, die mit der Schilderung eines Lebensweges und dessen Räumen beginnt. Ein solches Muster kann sicherlich auf viele Biografien übertragen werden, um individuelle Erfahrungen mit Architektur zu gewinnen. Mag man auch den Gang der Erzählung infrage stellen, die Authentizität der Bilder ist belegt und gesichert. So wie jeder physikalische Körper einen Schwerpunkt hat, so gilt meine Suche dem vergleichbaren Mittelpunkt eines Gebäudes. Das Bild des Herdes als Altar des Hauses kann anschaulich machen, wie sich Räume in Gesetzen der Physik und als Zentrum sinnlichen Erlebens verbinden lassen.11 Die Schilderungen der Kindheit spiegeln ebensolche Erfahrungen zentraler Orte im Haus. Erinnerung lebt in Räumen und besonders in sensorischen Erlebnissen.12 Umgekehrt sollen vernachlässigte Anforderungen an Räume benannt und bestehende schlechte Räume unter Bezugnahme auf Michel Foucault kritisiert und mit den Zwangsmaßnahmen von körperlichen Strafen in Zusammenhang gebracht werden. In diesem Kontext gilt der Frage besondere Aufmerksamkeit, inwieweit die strikt funktionalen Formen und das hoch verdichtete Wohnen im 20. Jahrhundert durch die fehlende, vielleicht sogar vorsätzlich verweigerte Ansprache der Sinne negative Auswirkungen auf den Menschen zeitigen. Die Verdichtung von Räumen steht dem Wunsch nach individuellen Freiräumen entgegen; persönliche Bedürfnisse werden programmatisch geleugnet, wenn Menschen gezwungen werden, sich dem Diktat einer Wohnmaschine13 zu beugen. Die Konsequenzen eines radikalen Funktionalismus des Wohnens14 werden im Hinblick auf das Altenwohnen thematisiert, alternative Möglichkeiten mit Verweisen auf historische Formen einzelner Gebäudekomplexe aufgezeigt.15 Helle und belüftete Innenhöfe,16 geschützte Gärten und Wandelgänge17 sakraler Komplexe erfahren eine Wiederentdeckung, wenn es darum geht, Räume gezielt für die Bewegung und Kommunikation ihrer Bewohner zu planen. Denken in Architektur wird als Vorstufe und Form raumbildender Reflexion18 verstanden, an deren Ende als Resultat einer Entscheidungsfindung die Realisierung im Bau steht. Daher werden Angebote im Bereich von Demenzeinrichtungen diskutiert und damit verknüpfte bauliche, psychologische sowie gesellschaftspolitische Dimensionen auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse erörtert. Besondere Aufmerksamkeit gilt Verfahren aus dem Feld der Therapie für Menschen mit kognitiven Einschränkungen.19 Auch der Begriff der Demenz und das mit ihm seit den 1980er Jahren verbundene Stigma sollen in ihrer Genese und ihren sozialpsychologischen und gesundheitspolitischen Wirkungsformen diskutiert werden.20
Im Rahmen eines Forschungsprojektes, das Fragen räumlicher Orientierung bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen gewidmet war, konnten Modelle der Psychologie der Wahrnehmung aufgegriffen werden, um Muster akustischer Gestalterkennung von Räumen in Verbindung mit dem Erkennen von Schallsignalen zu gewinnen. Die gewonnenen Erkenntnisse lieferten Anregungen für Bereiche multisensorischer Architektur mit den notwendigen baulichen Hilfestellungen für Menschen mit kognitiven Einschränkungen. Bedeutsam in diesem Zusammenhang war es, sich regelmäßig in Erinnerung zu rufen, dass die Akte der Wahrnehmung trotz aller stereotypen Vergleichbarkeit individuell erfahren und erlebt werden.21 Ohne Kenntnis sensorischer Qualitäten der uns prägenden Räume und Orte ist es kaum möglich, eine am Menschen ausgerichtete architektonische Planung mit stimulierenden Momenten zu erstellen. Es galt, den Körper realisierter Architekturen als lebendiges Wechselspiel von Volumen, Material und damit verbundenen klanglichen Eigenschaften, die jedem Volumen einen eigenen Raumklang, eine Resonanz verschaffen, zu denken.22 Impulse von Klängen im Raum entstehen immer als eine Bewegung, deren Kraft sich einem Luftstrom mitteilt, der den Raum durchwandert und der durch den Raum selbst erst seine Beschaffenheit, die unverwechselbare Färbung seines akustischen Impulses erfährt.23 Waldenfels interpretiert Räume als beseelte Körper, wenn er vom Leib der Architektur spricht: „Der Raum, in dem wir uns aufhalten, zeigt verschiedene Bedeutungszonen, die der Vielfalt leiblicher Organe und erogenen Körperzonen gleichen. Man lebt nicht einfach im Raum, sondern man tut es auf unterschiedliche Weise. Das bloße Einschlafen verwandelt den Raum in eine Dunkelkammer, in der wir uns nach dem Aufwachen wieder zurechtfinden müssen. Dies gelänge uns nicht, käme der Leib als Hüter des Vergangenen uns dabei nicht zu Hilfe.“24 Im Klang des Raumes erinnert man bereits Erlebtes, der Raum zeigt Potenziale seines Schutzes, der uns in Erinnerung geblieben ist; wir kehren zurück. Und wir erheben uns aus dem Bett, die zuvor geschlossenen Augen übernehmen wieder die Kontrolle, die Sensibilität des Hörens geht zurück. Körperschall wird nun nicht mehr aus der Horizontalen, nämlich durch das Bett vermittelt, auf den gesamten Körper übertragen, sondern wir empfangen die tiefen Frequenzen des Körperschalls nun vor allem mit den Füßen. Barfuß besser als in Schuhen.
Bewegungen im Raum
Das Gehen im Raum gilt daher, in einer vielleicht neuen Form mit Bezug auf die Architektur, als eine fundamentale Erfahrung, die vom gesamten Körper erlebt wird. Nicht nur mit den Ohren, sondern mit dem ganzen Körper nehmen wir die Resonanzen eines Raumes wahr und orientieren uns besonders in der Dunkelheit daran, natürlich ohne dabei die Geschicklichkeit von Fledermäusen zu erreichen. Nicht nur bei mir, auch bei anderen Menschen erzählt der Gang eine Geschichte. Am Rhythmus der Schritte kann manches abgelesen werden. Vieles hängt von der Kleidung und den Schuhen ab, die zwischen Mensch und Raum eine Atmosphäre erzeugen; die von Mensch und Bauwerk in ihren jeweiligen Klima- und Schallzonen bestimmt werden, welche dann in einem komplexen Verhältnis zueinander stehen. Unsere Bewegungen und das Denken werden durch die uns umgebenden Räume beeinflusst. Volumen, Raumklima, Licht, Tisch und Stuhl senden Appelle an die Sinne, der Körper antwortet mit seinen Zeichen von Entspannung, Konzentration oder Stress. Ebenso reagiert der Gang auf die akustischen Impulse, die von den Räumen reflektiert werden. Im Laufe meines Lebens habe ich gelernt, auf den Gang meiner Schritte und der Menschen der Umgebung zu achten. Am Gang des Menschen und der Haltung des Körpers kann die Verfassung körperlicher und geistiger Zustände des Menschen und anderer Lebewesen meist direkt abgelesen werden.25 Viele Berichte von Aktivitäten, bei denen von älteren Menschen regelmäßige Spaziergänge veranstaltet werden, weisen auf die Notwendigkeit von Attraktionen hin, die zur Veranlassung des Gehens gezielt eingesetzt werden müssen.26 Die gemeinschaftliche Pflege einer Parkanlage27, der Besuch einer Lesung oder eines Cafés sind genauso wertvoll wie das Aufsuchen eines Streichelzoos mit besonderen Schweinen.28 Immer sind es offensichtlich Ziele, die durch das Gehen erreicht werden müssen. Gehen kann aber auch als Selbstzweck verstanden werden, als bewegte Anregung der Sinne.29 Sind es im Erwachsenenalter noch unglaubliche 10.000 Schritte,30 die täglich zurückgelegt werden sollten, so hat sich das Projekt des Caritasverbandes Oberursel im Bezirk Hochtaunus für Senioren das Maß von 3000 Schritten gesetzt, die jeweils an zwei festen Terminen im Monat durch einen gemeinsamen Spaziergang erreicht werden sollen.31
Vor dem Bauen kommt das Denken. Gute Architektur ist das gelungene Ergebnis eines Prozesses. Sie ist die Summe vieler Entscheidungen. Handwerkliche Erfahrungen kommen mit der Kenntnis der künftigen Nutzung erst zur vollen Entfaltung. Gute Architektur hat schon oft zur Bewegung motiviert, sie bietet immer die Möglichkeit zur Interaktion mit der Umgebung und stimuliert durch wechselnde Perspektiven, die ihre Bewohner selbstverständlich wählen können.
Teilhabe am öffentlichen Leben und Rückzug in eine schützende Sphäre des Privaten sind für ältere Menschen in unserer Gesellschaft im ländlichen und besonders im städtischen Leben zum Privileg geworden; in den meisten der bestehenden Einrichtungen des Altenwohnens lässt sich kaum noch von der Würde des Alters sprechen.32 Im Folgenden wird die Entwicklung des Altenwohnens nachgezeichnet, aktuelle Angeboten werden kritisch diskutiert.33 Modelle des Wohnens im Alter sollten zum Politikum werden. Wir befinden uns auf dem Weg eines fundamentalen Wandels; zunehmend thematisieren die Medien das Altern und die damit einhergehenden kognitiven Veränderungen und das Interesse am Thema Demenz wächst.34 Bald werden wir vor einer gesellschaftlich fundamentalen Frage stehen, der Frage nämlich, was wir als Form im Umgang mit alten Menschen für angemessen halten und wie wir bereit sind, in einer zunehmend durchorganisierten Lebenswelt der Gruppe der schutzbedürftigen Menschen zu entsprechen. Wohnen im Alter gilt es neu zu denken. Um eine den Lebensaltern gerechte Architektur zu schaffen, ist es notwendig, das Bauen als Möglichkeit des an der Bewegung im Gebäude orientierten täglichen Angebotes zu entwickeln.
Damit komme ich zu der Frage, wie sich ältere Menschen im Idealfall bewegen sollten. In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, sich mit der Ideengeschichte einer Architektur zu befassen, die den Körper des Menschen ins Zentrum stellt. Eine Ausrichtung der Raumgliederung an der Gestalt des Menschen ist in der Geschichte der Architektur oft mit Bezug auf den Grundriss diskutiert worden.35 Räume korrespondieren mit Räumen. „Die leibhafte Räumlichkeit, die beim irdischen Bauen entsteht, verteilt sich auf verschiedene Raumregister. An erster Stelle sind verschiedene Raumrichtungen zu erwähnen. Dies sind die Dimensionen, die wir auf verschiedene Weise durchmessen. Bauen heißt, sich und die Dinge im Raum einrichten.“36 Waldenfels merkt an, dass unser Verständnis sakraler wie profaner Architektur der Repräsentation lediglich auf eine distanzierte Art erfolgt und wir daher kaum imstande sind, die tieferen Bedeutungen der Bauwerke zu erahnen. „Man besucht Kirchen und Schlösser, die man nicht bewohnt. Lebensplätze und Festorte werden zu Sehenswürdigkeiten, wenn sie sich vom Alltag ablösen. Der Besucher eines Schlosses unterscheidet sich dadurch vom Bewohner, dass er den Louis-XV.-Sessel nur betrachten, sich aber nicht auf ihn setzen darf. Der Umgang mit den Dingen degeneriert zu einem kulturellen Voyeurismus.“37
Fenster als Versprechen
Mit der Vereinseitigung der Wahrnehmung, die lediglich die visuelle Kompetenz fordert, vernachlässigen wir die anderen Sinne. Dieses regelrechte Dogma des Visuellen wird regelmäßig in der Architektur diskutiert. Der Blick aus dem Fenster vermag nicht alles zu erschließen, was mit dem Blick an sinnlichen Reizen vermutet werden mag. Ein Blick aus dem Fenster ist dazu angelegt, eine Vielzahl möglicher Ereignisse zu erahnen und sich auf Erfahrungen zu beziehen. Fenster in Gebäuden der Moderne sind bisweilen als Öffnungen in eine erhoffte räumliche Freiheit des Lebens angelegt; gleichzeitig suggeriert der Standort einen souveränen Blick, eine Macht, die ironischerweise meist aus zu engen Räumen in die Weite gerichtet ist. Grob schematisiert besteht die Funktion des Fensters, nach Bollnow, darin, „vom Innenraum her die Außenwelt zu beobachten. Schon lange, ehe man größere verglaste Fenster zu bauen gelernt hatte, gab es wenigstens ein Guckloch, durch das man die Umgebung des Hauses auf die Annäherung eines möglicherweise bedrohlichen Fremden hin überblicken konnte“38. Damit angedeutet ist die Bedeutung, die der Höhe und Größe des Fensters zukommt. Guckloch oder Panoramafenster weisen auf die Entscheidung des Bauherren hin, den Blick nach draußen quasi als eine Einbahnstraße zu gestalten oder die Landschaft zur Leinwand werden zu lassen, die, bedingt durch das Fenster, auch Einblicke in die Privatsphäre freigibt. Durch die Höhe des Fenstersimses wird zudem die Haltung des Menschen im Raum bestimmt.39 Gleichzeitig sind Fensterscheiben auch Spiegel, die (Bachelard, Bollnow, Foucault) auf gesellschaftlich relevante Fragen verweisen können.40 Dieses In-die-Weite-Sehen aus dem Fenster ähnelt zudem der Funktion des Fernsehers. Er ist häufig das letzte Fenster, das bleibt. Jeder Blick, der nicht zur Bewegung motiviert, zieht eine Minderung des sonst möglichen sensorischen Erlebens nach sich. Mangel an Bewegung schadet Körper und Geist. „Dass Bluthochdruck aber in ganz wesentlichen Anteilen durch ungünstige Lebenszusammenhänge bedingt ist, (…) wird, wenn überhaupt, nur kurz zur Kenntnis genommen. Über diese Morbidisierung der Bevölkerung, diese zunehmende Krankheitslast, wird wenig reflektiert.“41 Die Morbidisierung verstärkt sich mit zunehmendem Alter. Ein höheres Alter ist meist mit einer zunehmenden Last an gesundheitlichen Einschränkungen verbunden. Dem kann jedoch entgegengewirkt werden. Positiv übereinstimmend werden motorische Aktivitäten und kognitive Kompetenzen als gegenseitig sich bedingende Bereiche angeführt, wenn es um die Aktivierung der Sinne geht. Nachlassende Aktivität wird mit dem Alter assoziiert und entsprechende gut gemeinte Hilfestellungen sind oft dafür verantwortlich, dass negative Tendenzen verstärkt und beschleunigt werden.42 Altern bedeutet eine Verlangsamung von fluiden Prozessen.43 Damit verbunden ist auch das medial vermittelte Bild der Demenz, das aus seiner ursprünglichen medizinischen Diagnose herausgelöst werden kann und verstärkt als Folge eines natürlichen Alterungsprozesses angenommen werden sollte.44 Das Bild, das wir von der Demenz zu haben glauben, ist dem nicht zu unterschätzenden Anteil bildgebender Verfahren in der medizinischen Diagnose geschuldet. Verena Rothe wendet die mit der Demenz zusammenhängenden Fragen in eine sozialpsychologische und politische Dimension und mindert die medizinische Seite. „Könnte man Demenz (…) als Phänomen unserer heutigen Gesellschaft bezeichnen? Wenn wir alle so flexibel, innovativ, schnelllebend und vergänglich sind, müssen nicht zwangsläufig Menschen, die mit diesem Tempo nicht mehr mithalten können, Probleme bekommen? Tun dies nicht schon andere, nicht nur im Alter? Könnte es eine Erfindung, Schöpfung von umtriebigen Wissenschaftlern sein?“45 Vor dem Hintergrund, älteren Menschen immer neue Möglichkeiten der Prävention anzubieten, gewinnen Lebensmittel, die als „Brainfood“ angepriesen werden, sowie entsprechende Nahrungsergänzungsmittel an Marktanteilen. Filme, die sich dem Thema widmen, erreichen derzeit schon ein Massenpublikum, das Aufklärung und Hilfestellungen angesichts eines allgegenwärtigen Bedrohungsszenariums sucht, welches durch die Medien bedient, verstärkt und kommerziell genutzt wird.46 Vielleicht kann man mit Gronemeyer, Rothe und Kreutzer dem Thema Demenz einfach mit der Einsicht in einen meist aber erst im hohen Alter eintretenden Verlust an Erinnerung der Bilder aus mittleren Lebensabschnitten begegnen, deren Bedeutung im Alter zentral wird, wenn es um den Erhalt der Persönlichkeit geht. Bilder der Kindheit und frühen Jugend gewinnen mit den Jahren an wachsender Bedeutung. Vielleicht ist es auch gar nicht notwendig, von Demenz zu sprechen? Reimer Gronemeyer, einer der schärfsten Kritiker einer Popularisierung des aktuellen Demenzbegriffes, erinnert an die Selbstverständlichkeit, mit der Altersprozessen begegnet werden kann. Er erinnert sich: „Ich habe eine zugleich vage und deutliche Erinnerung an eine Begegnung im Jahr 1943, als ich fünf Jahre alt war. Nachdem die Wohnung meiner Familie dem Hamburger Feuersturm zum Opfer gefallen war, wurde ich nach Nordstrand, der nordfriesischen Insel gebracht. Es gab zu essen, es gab keine Alarmsirenen, es war das Paradies. Zum großen Hof und der großen Familie gehörten auch eine Mühle und eine Bäckerei. Unvergesslich der Augenblick, in dem mir ein weißgekleideter Bäcker durch das Kellerfenster ein warmes Brötchen reichte. Und es gab Tante Hulda. Sie war – wie man in Hamburg zu sagen pflegte – tüddelig. Wir Kinder flüsterten uns zu, dass in Tante Huldas Ohr eine Fliege gekrochen sei, sie schwirrte nun im Hirn herum und machte sie ein bisschen verrückt. Tante Hulda hätte heute vermutlich eine Demenz-Diagnose. (…) Für Tante Hulda galt: Keine Reha, keine Medikamente, keine Demenz-Experten, sondern nur deutliche Worte des Bauern und Mühlherrn: ‚Dat geit nu nich, Hulda!‘“47 So wie Gronemeyer Bilder seiner Kindheit erinnert, so arbeiten auch biografische Therapiekonzepte, die dem Menschen im Gespräch ein offenes Ohr schenken. Biografie und Erinnerung sind Teil jedes Menschen und sie durchwandern in Bildern und Einstellungen zu den Dingen und Menschen unser Empfinden und Handeln bei Tag und bei Nacht, vor allem aber in Phasen des Schlafes, dessen Eigenleben gerade bei älteren Menschen, die ohne Medikamente gut schlafen, weitere Untersuchungen berechtigt.
Schlaf und Erinnerung
Die Stufen bewusster und unterbewusster Handlungen sowie Grade der Reflexion ändern sich nicht nur im Laufe der persönlichen Entwicklung, sondern auch die individuelle Konditionierung unterliegt Schwankungen. Eines der bedeutendsten Werke der französischen Literatur beginnt mit einer Schilderung, die sich dem Übergang zwischen Wachsein und Schlaf widmet. Ein feines Gewebe der Erinnerung wird hier gespannt, das wie ein Netz in der Lage ist, uns Sicherheit zu geben. Es handelt von dem Bewusstsein der Erinnerung und von Übergängen. Die Idee hat leitmotivischen Charakter. Wenige Zeilen von Marcel Proust – auf die sich Generationen der französischen Philosophie von Henri Bergson bis Maurice Merleau-Ponty beziehen – sind es, die zeigen, dass auch wir von den Bildern unserer Vergangenheit getragen werden, die uns, unabhängig von Orten und Räumen, an denen wir uns gerade aufhalten, zur Heimat geworden sind. Solange wir in der Lage sind, die vergangenen Bilder erinnern zu können, sind die Kindheit und die Jugend für uns nicht verloren, sie bleiben gegenwärtig und sie können einen Schutzraum bieten, der durch einen Klang, einen Geruch, einen Raum sich als Atmosphäre ausbreitet. „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen. Manchmal fielen mir die Augen, wenn kaum die Kerze ausgelöscht war, so schnell zu, dass ich keine Zeit mehr hatte zu denken: ‚Jetzt schlafe ich ein.‘ Und eine halbe Stunde später wachte ich über dem Gedanken auf, dass es nun Zeit sei, den Schlaf zu suchen; ich wollte das Buch fortlegen, das ich noch in den Händen zu halten glaubte, und mein Licht ausblasen; im Schlaf habe ich unaufhörlich über das Gelesene weiter nachgedacht, aber meine Überlegungen waren seltsame Wege gegangen; es kam mir vor, als sei ich es selbst, wovon das Buch handelte: eine Kirche, ein Quartett.“48 Das Bild der Erinnerung formt sich hier zum Raum und zur Musik, dem Synonym für gestaltete Zeit. Durch Literatur, Kunst und besonders durch Musik können wir lernen, was es heißt, auf eine Kultur des Erinnerns lebensnotwenig angewiesen zu sein. Sämtliche Formen der Selbstvergewisserung basieren auf dem Erlebnis erinnerter Bilder, die mit Handlungen verknüpft sind und jederzeit ins Gedächtnis gerufen werden können. Werke der Kunst helfen uns zu verstehen, warum wir den Kern der Erinnerung in jeder Erzählung entdecken müssen, um eine Geschichte zu verstehen. Erzählte und erinnerte Zeit bilden sich nur durch uns aus; sie erst konstituieren unsere Person. Wir selektieren und erschaffen uns mit den Sinnen täglich neu. Keine Kunst verlangt ein höheres Maß an Übersetzung als komponierte und notierte Musik. Sie verbindet Erinnerung mit Motorik und sie hat über Hunderte von Jahren eine Schriftsprache entwickelt, die als Notenschrift von den Kennern dieser Kunst gelesen werden kann. Demenz bei Musikern ist selten.49