Inhaltsverzeichnis

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Vorwort

Architektur

            Madeleine-Region – Neuronale Spuren

            Architektur als System der Erinnerung

            Rückkehr und Geborgenheit

            Zentralbau versus Langbau

            Anthropologische Forderungen an die Architektur

Organische und Anthropologische Architektur

            Dach als Bild und Dogma

            Urbane Landschaften

            Waldkathedralen und Stadtlandschaften

            Expressionistische Formen

            Jugendstil und Organische Architektur

            Landschaft und Ökosysteme

            Rudolf Steiner im Kontext

            Organische Architektur – Dogma der Rezeption

            Ganzheitliche Architektur

            Anthropologie als Relaunch

Mobilität

            Körper – Distanz – Leib

            Bewegung als Notwendigkeit

            Qualität der Bewegung

            Bewegung und Würde

            Klausur und Inklusen

            Körper-Bewusstsein

Neuromusikologie – Neuroarchitektur

            Musik als Erfahrung von Bewegung

            Imaginierte Kompositionen

            Kompositionen und abstrakte Gestalten

            Körper, Raum, Erfahrung

            Reduktion und Gestalt

            Grenzen musikalischen Verstehens

            Bewegung, Gestalt, Fläche

            Stockhausen – Feldman – Ligeti

            Neurowissenschaftliche Schnittmengen

Heimat

            Haus – Gemeinschaft – Identität

            Ethik des Wohnens

            Geborgenheit – Begreifen

            Zeltformen als Archetypus

            Bergende Orte

            Rückkehr – Erfüllung – Aufbruch

            Heimat als Gestalt – Winkel des Hauses

            Sensorische Zyklen: Jahreszeiten – Aromen

Potenziale der Neuroarchitektur

            Grundlagen der Neuroarchitektur

            Neuroarchitektur und Verhaltensänderungen

            Stimulanzen in funktionalen Kontexten

            Neurowissenschaftliche Raumkonzepte

            Kognition des Körpers – Muster

            Hände – Verstehen jenseits der Sprache

            Neuroarchitektur versus kognitive Einschränkungen

            Potenziale der Neuroarchitektur

            Gestaltung als anthropologische Aufgabe

            Offene Fragen und Ausblick

            Nachwort

Anhang

            Literatur

            Anmerkungen

            Bildnachweis

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Venedig, Mündung Canal Grande mit Santa Maria della Salute (1687)

      Vorwort

Neuroarchitektur verbindet Aspekte neurowissenschaftlicher Forschung mit sensorischen Angeboten von Gebäuden, die auf lebensnotwendige Stimulanzen des Menschen hin ausgerichtet sind. Gute Architektur spricht verschiedene Sinne an. Sie begünstigt und fördert Formen der Bewegung. Vergessene Werte der Architektur und einer Kultur des Bauens werden nicht nur mit der Verwendung von natürlichen Materialien in Erinnerung gerufen, wenn Häuser nach traditionellen Methoden erbaut werden, sondern auch soziale Werte wie Gemeinschaft, Heimat und Geborgenheit gilt es wiederzuentdecken und in den Kontext einer lebenswerten Architektur zu stellen. Daher werden in diesem Buch Positionen aus der jüngeren Architekturgeschichte vorgestellt, deren Sorge dem Wohl des Menschen in der Gemeinschaft gilt. Das Spektrum reicht von Einfamilienhäusern, Kindergärten, Schulen, Kulturgebäuden, öffentlichen Bibliotheken über Altenwohnanlagen bis hin zum Siedlungs- und Geschosswohnungsbau der 1950er Jahre. Dabei werden Wirkungsformen von Architektur auf dem Feld der Neuroarchitektur wesentlich für den mentalen Status des Menschen verantwortlich gemacht, insbesondere bei jüngeren und älteren Personen, die besonders schutzbedürftig sind.

Leben Menschen in gesunden Räumen und einer ihrer Natur gemäß gestalteten Umwelt, so wirkt sich das positiv auf die vitalen Funktionen aus. Dies spiegelt sich im mentalen Status, der in Teilmomenten nachweisbar ist. Hier setzt meine Abhandlung an. Aus dem Einfluss von Architektur auf das Wohlbefinden leite ich einen Forderungskatalog ab, der anhand von Altersgruppen und Voraussetzungen der Nutzung spezifiziert werden muss. Die Neuroarchitektur, deren Grundzüge hier nachgezeichnet werden, greift Debatten auf, die maßgeblich in den 1920er Jahren geführt wurden, und aktualisiert Kontroversen, die sich an Formen funktionalistischer Architektur sowie den damit einhergehenden Fertigungstechniken industriellen Ursprungs entzündeten. Manchmal, fast stereotyp, wird das „Organisch-Natürliche“ gegen das „Mechanische“ ins Feld geführt. Unweigerlich rückt dabei auch das Bild des Menschen ins Zentrum, das sich in verschiedenen Phasen europäischer und US-amerikanischer Geschichte in unterschiedlichen Anforderungen an Gebäude und auch an deren gestaltete Umgebung spiegelt. Dominieren die Bedürfnisse des Menschen die Planung oder werden funktionale Überlegungen einer durchgreifenden Rationalisierung wirksam? Eine Frage, die immer wieder am Einzelfall diskutiert werden muss und im Kontext der Nutzung steht. Als hilfreich erweist sich, dass sich führende Architekten jener Jahre oft wortgewandt zur Theorie der Architektur geäußert haben. Aus vielen oft verstreuten Aspekten lässt sich schließlich ein Kanon organischer Architektur ableiten. Damit ist eine Entwicklung eröffnet, die auf direktem Weg in aktuelle Debatten der Neuroarchitektur führt, welche sich derzeit noch eher als eine Sammlung von Ideen, statt als tragfähige Theorie präsentiert. Neuroarchitektur birgt gleichwohl ein großes Potenzial.

Gelingen können die Schritte in Richtung einer überzeugenden Gesamtschau nur durch die Integration künstlerischer und wissenschaftlicher Disziplinen wie Literatur, Bildende Kunst, Gestalttheorie und einer aus der Musikpsychologie entwickelten Neuromusikologie. Als wichtige Hilfestellung in der Beschreibung der Wirkung von Räumen und Raumfolgen, die ihre Bewohner stimulieren, gewinnt jene Literatur an Gewicht, in der explizit Räume erinnert und gewissermaßen durchwandert werden. Es sind die Bilderwelten des Menschen am Tag und während der Nacht, die Aufschlüsse über die Qualität von Architektur bieten und Quelle der Wissenschaft und der späteren Praxis werden. Literatur, die sich besonders in den Welten des Erinnerns entfaltet, kann nicht ohne Räume sein. Marcel Proust hat in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ein ganzes Universum vergangener Zeiten in eine architektonische Umgebung gestellt, die bildhaft in ihrer sensuellen Wirkung erscheint und so plastisch geschildert wird, dass sie sich als ein System von Räumen der Erinnerung präsentiert. Neurowissenschaften zitieren daher regelmäßig das Werk Marcel Prousts, ohne jedoch bislang auf die geschilderten Architekturen einzugehen. Räume der Erinnerung werden dabei als organische Beschaffenheit von Zonen definiert; die daraus erwachsenden Kartierungen können, wie etwa John Paul Eberhard 2008 in seinem Buch Brain Landscape schrieb, als „Landschaften“ unseres Gehirns und als Koexistenz von Neurowissenschaft und Architektur gefasst werden. Dabei wird der Begriff Neuroarchitektur erst seit wenigen Jahren benutzt, meist von Neurologen, um Regionen der Hirntätigkeit in Bildern eines gegliederten Aufbaus des komplexen Organs und seiner Aktivitäten zu beschreiben. Bisweilen wird die evolutionsbedingte Zunahme der Hirnaktivitäten mit der Entwicklung der architektonischen Form von der einfachen Hütte zum kathedralhaften Bau verglichen. Gemäß dieser Idee spiegelt sich in der Frühzeit die einfache Hütte in den neuronalen Bahnen, in der Gegenwart kommt die neuronale Tätigkeit einer Kathedrale gleich.

Ich schlage ein alternatives Vorgehen vor. Neuroarchitektur nimmt bei mir den Weg durch die Literatur. Dabei verbinden sich verschiedene Fragestellungen einer phänomenologischen Wahrnehmungstheorie, wie sie Maurice Merleau-Ponty und Roland Barthes anknüpfend an die Gestalttheorie (Stumpf, Wertheimer, Köhler) unter Einbeziehung der Anthropologie entwickelten, um die Bedürfnisse des Menschen im Raum und dabei insbesondere seines Körpers als des individualisierten Zentrums menschlicher Existenz zu beschreiben. Auf dieser Basis werden dann Körperverhältnisse in der Architektur gesetzt, die sich am Modell der Erinnerung orientieren, um sich in einem Gebäude sicher zu orientieren. Bewegung als Leistung der Ortung im Raum wird zum Leitmotiv einer gestalttheoretischen Grundierung: Räume werden als Phänomen und Abfolge multisensorischer Stimulanzen betrachtet, welche aber erst durch die Reduktion kognitiver Vorgänge jene Sicherheiten bieten, in denen sich Menschen intuitiv bei Tag und Nacht bewegen können.

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Ereignis, Oberflächen, Muster und Prägnanz sind – in der Tradition der Gestalttheorie – die Leitbegriffe, die dann, wie auch im Erlernen musikalischer Tätigkeiten, ausschlaggebend werden. Zumal wenn, wie vorgeschlagen, Musik als Bewegung und Klang beschrieben wird, die vom gesamten menschlichen Körper aufgenommen und auf unterschiedlichen Erfahrungsstufen verstanden wird.

Neuroarchitektur fügt sich nahtlos in die Reihe der früheren Bücher Architektur und Resonanz (2015) sowie Bauen für Demenz (2016) ein. Die an der Hochschule für Bildende Künste (HBK) Braunschweig mit Prof. Ulrich Eller entwickelten Ostseebiennalen der Klangkunst und zahlreichen Projekte an der Küste haben neben raumspezifizierenden Arbeiten auf dem Feld akustischer Kunstformen jene Formate hervorgebracht, die dann im Feld der Theorie von Architektur und Klangkunst weitergeführt werden konnten, um im Jahr 2016 in die HBK-Tagung abstract music zu münden, welche Phänomenen der Abstraktion aus dem Geist komponierter Musik gewidmet war. Bereits hier wurden Grundlagen neurowissenschaftlicher Forschung in Kontexten von Musik, Klangkunst und Architektur erörtert. Im Anschluss daran konnte die HBK-Tagung Körperwahrnehmung vs. Iconic Turn (2017) mit Prof. Dr. Thomas Becker durchgeführt werden, deren Verlauf durch Beiträge von Prof. Dr. Bernhard Waldenfels und Prof. Dr. Hartmut Böhme maßgeblich bestimmt wurde. Die dabei aufgezeigten Perspektiven eines erweiterten Gestaltbegriffs sollen hier unter neurowissenschaftlichen Aspekten weiterentwickelt werden. So wie Musik tiefgreifende Systeme der Erinnerung im menschlichen Gehirn entstehen lässt, so wirken sich Räume und die in ihnen erlebten Zeiten als ein System der Erinnerung umso deutlicher aus, je stärker die positiven Stimulanzen waren, die meist bis in die frühe Kindheit zurückreichen. Klang- und Raumerfahrungen sind es, die ebenso lange in Erinnerung bleiben, wie der Geschmack einer Lieblingsspeise, eines Kuchens oder eines Gebäcks – und damit unmittelbar zur Heimat werden können.

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Venedig, Anlegestelle San Marco

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Cabourg um 1900, aus: Marcel Proust. 1871–1903: Les Années de Jeunesse.

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Le Pré Catelan, Illiers, aus: Marcel Proust. 1871–1903: Les Années de Jeunesse.