Irene Marcuse
Tod einer alten Dame
Roman
Aus dem Englischen von Tatjana Kruse
FISCHER Digital
Irene Marcuse, geboren 1953 als Enkelin des Philosophen Herbert Marcuse, graduierte an der Columbia University zunächst in Kreativem Schreiben und später in Sozialarbeit. Sie arbeitete mehrere Jahre als Sozialarbeiterin, bevor sie sich als freie Autorin niederließ.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
In einem Mietshaus im Norden Manhattans geschieht ein Mord. Die fünfjährige Adoptivtochter der Sozialarbeiterin Anita Servi findet eine Obdachlose, die gelegentlich in ihrem Hausflur Zuflucht suchte, leblos vor. Anita widersetzt sich der routinierten Kälte der ermittelnden Behörden und macht sich auf die Suche nach der Wahrheit. Das «Grabmal eines liebenswerten Kindes» im Riverside Park bringt sie auf eine heiße Spur ...
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-562169-1
Für alle alten Menschen
Als ob nicht jeder Montagmorgen an sich schon schlimm genug wäre. Dieser hier war der Montagmorgen nach dem Wechsel zur Sommerzeit im April – der Tag im Jahr, den ich am wenigsten leiden konnte. Ich verabscheute es, dass man mir eine Stunde stahl, und ich vergab erst, wenn man mir im Oktober diese eine Stunde zurückgab.
Die Schlüssel steckten schon im Schloss, den Riemen des Rucksacks meiner Tochter hatte ich um einen Arm geschlungen. Clea hüpfte den Flur entlang zum Aufzug. Zwei Sekunden später war sie wieder da und zupfte an meiner Jacke.
«Mama, die Frau da riecht komisch», flüsterte sie.
«Was ist? Hast du auf den Knopf gedrückt?»
«Ich glaube, sie hat sich in die Hose gemacht.» Clea zupfte wieder an meinem Ärmel.
Verdammt. Wir hätten tatsächlich die Chance gehabt, pünktlich zu sein, obwohl es mit Cleas Schuluniform lange gedauert hatte und wir statt eines Frühstücks nur einen Bagel für unterwegs einstecken konnten.
«Na gut, schauen wir uns das mal an.» Ich seufzte und reichte ihr den Rucksack. Clea zog ihn über und erlaubte mir, mit der Hand über ihren Kopf zu fahren, um die Cornrows zu kontrollieren, die ich ihr gestern geflochten hatte. Alle Zöpfe saßen gerade und das Haar glänzte. Da ich selbst weiß bin, achte ich sehr darauf, dass die Haare meines schwarzen Kindes gut aussehen.
Die Frau war eine kleine, ältliche Weiße, die gelegentlich die Nächte in unserem Haus verbrachte. Wir nannten sie gern die «Dame aus dem Treppenhaus», weil sie auf dem eineinhalb auf zwei Meter großen Treppenabsatz zu schlafen pflegte, dort, wo die Treppe zwischen dem zwölften Stock und dem Dach eine Pause einlegte. Wir waren daran gewöhnt, morgens die kleine Erhebung ihrer Füße zu sehen, eingezogen unter ihrem Mantel. Clea stieg immer ein oder zwei Stufen hoch, um sie sich besser anschauen zu können, und ich rief sie stets flüsternd zurück. Clea ist wie eine Katze, wenn sie etwas sieht, muss sie hingehen und daran schnuppern. Aber sie ist erst fünf und dieses Mal hatte sie mehr erschnuppert, als sie begreifen konnte.
Vorsichtig, wie es ein New Yorker Kind sein sollte, blieb sie an meiner Seite. Der Geruch war nicht allzu intensiv, aber sie hatte richtig gerochen: die Frau hatte sich nass gemacht.
«Du bleibst hier.» Ich setzte meine Keine-Widerrede-Stimme ein, damit Clea am Fuß der Treppe blieb, während ich hochstieg, um die Sachlage in Augenschein zu nehmen.
Das Bett der Frau, eine blaue Wolldecke, in der Mitte gefaltet, um sie vor der Kälte des Marmorbodens zu schützen, lag neben ihren Knien. Sie selbst lag auf der linken Seite, zur Wand unter dem Fenster gedreht. Der Mantel, unter dem sie normalerweise schlief, war in einem rechten Winkel über ihre Hüfte ausgebreitet, als ob eine Hand beiläufig den Urin hatte auftupfen und somit verhindern wollen, dass er die Treppenstufen hinunterlief.
Ein nackter Fuß hing über die oberste Stufe. Die Zehen wiesen nach unten. Ich berührte die Haut ihrer Wade. Sie war kalt und steif. Ich wusste, die Frau hatte größere Probleme als nur Inkontinenz.
Ich schloss eine Sekunde lang die Augen und holte tief Luft. Ich bin Sozialarbeiterin. Meine Kunden sind ältere Menschen und es geschah nicht zum ersten Mal, dass ich einen von ihnen unerwarteterweise tot auffand – nur lag diese Frau praktisch vor meiner Haustür und meine Tochter stand keine drei Meter entfernt. Und Cleas Bedürfnisse kamen an erster Stelle.
«Der Aufzug ist da!», verkündete Clea.
«Wir brauchen ihn nicht.» Meine Stimme klang schärfer, als ich es beabsichtigt hatte. Als ich mich umdrehte, steckte Cleas Daumen in ihrem Mund. Ihre Augen waren weit geöffnet, aber wenigstens nahm mein Körper ihr die Sicht.
Na gut. Ich wusste, was zu tun war, ich musste mich nur beruhigen und meine Prioritäten neu ordnen. Ganz oben auf der Liste stand, dass Clea keine Angst bekommen durfte. Ich stieg die Treppe hinunter, hob Clea hoch und setzte sie auf meiner Hüfte ab.
«Ist schon okay, Bopster. Die Frau ist krank. Wir müssen wieder in die Wohnung, damit ich einen Krankenwagen rufen kann, der sie ins Krankenhaus bringt.» Ich trug Clea durch den Flur.
Sie schlang die Arme um meinen Hals. «Warum hat sie sich in die Hose gepinkelt, Mama?»
«Weißt du noch, als du Durchfall hattest und es nicht zurückhalten konntest? Manchmal passiert das auch Erwachsenen.» Ich schloss die Tür auf, setzte Clea auf die Couch und schaltete das Fernsehgerät ein. «Schau, es läuft ein Zeichentrickfilm. Ich werde jetzt der Frau helfen. Bin gleich zurück.»
Clea nahm einen Bissen von ihrem Bagel, die Augen bereits auf den Fernseher gerichtet. Ich ging nach draußen und schloss dabei die Tür hinter mir zu. Ich wollte nicht, dass Clea in den Flur lief.
Unser Haus war eine Ansammlung von alten Eigentumswohnungen in der 111th Street, ohne Portier, der unerwünschte Besucher draußen hielt. Die Flure verströmten einen Hauch von Film noir, der Bodenbelag bestand aus Linoleum mit rechteckigen Fliesen in Schwarz mit grauen Tupfen und grauen Fliesen mit schwarzen Tupfen. Fluoreszierendes Licht warf einen grünlichen Schimmer auf die hellgrauen Wände und die dunkelgrauen Türen. Ein Streifen Morgensonne aus dem Ostfenster über dem Treppenabsatz, auf dem die Frau lag, fügte dem Ganzen eine anmutige Note natürlichen Lichts hinzu. Die geschlossenen Türen meiner Nachbarn strömten Stille aus wie immer um diese Tageszeit.
Die Dame aus dem Treppenhaus hatte seit mehreren Monaten auf unserer Treppe geschlafen. Sie war eine ständige Mahnung für mich, eine Erinnerung an die Grenzen meines Berufs und meiner Fähigkeit, denen zu helfen, die meine Hilfe anscheinend brauchten, sie aber nicht annehmen wollten. Wann immer wir ihr in wachem Zustand begegneten, wie es gelegentlich abends vorkam, wenn sie das Haus betrat, weigerte sie sich, mit mir zu reden. Clea bekam von ihr manchmal ein schiefes Lächeln geschenkt, aber das war auch schon alles.
Ich kannte nur ihren Vornamen, Lillian, und das auch nur, weil meine ältlichen Nachbarinnen, die Wilcox-Schwestern, die Decke zur Verfügung gestellt hatten, auf der Lillian schlief. Ich hatte versucht, mich mit ihr zu unterhalten und herauszufinden, warum sie obdachlos war und wo sie die übrigen Nächte verbrachte. Lillian begegnete all meinen Annäherungsversuchen mit schweigender Ablehnung, bis ich es letztendlich kapierte und damit aufhörte, ihr Hilfe anzubieten, die nicht erwünscht war. Sozialarbeit hat ihre Richtlinien und eine der wichtigsten lautet, das Recht der Kunden auf Selbstbestimmung zu respektieren. Da, wo ich arbeitete, kamen die Kunden freiwillig zu uns; wenn jemand unsere Dienste nicht wünschte, zwangen wir sie ihm nicht auf.
Im Laufe der Monate wurde sie für mich immer mehr zur Nachbarin, sie war stets sauber, verhielt sich unauffällig und redete nur, wenn man sie ansprach. Wohnungsinhaber koexistieren, tauschen ein paar Freundlichkeiten im Flur aus und geben vor, nicht mehr zu wissen, als sie sich gegenseitig erzählen. Obwohl ich mein professionelles Auge auf sie gerichtet hatte, erlaubte ich ihr die respektvolle Privatsphäre, die einer Nachbarin zusteht. Ich hatte mich angeboten, Lillian wusste, sie konnte mich jederzeit fragen, wenn sie Hilfe brauchte.
Ich blieb am Fuß der Treppe stehen, atmete wie eine Sozialarbeiterin ein und wie eine Nachbarin aus. Alle, die mit älteren Menschen arbeiten, begegnen irgendwann dem Tod, manchmal aus nächster Nähe. In den zwei Jahren, die ich in der Altenarbeit nun schon tätig war, hatte ich drei Menschen tot aufgefunden, die in ihren Wohnungen gestorben waren, und zwei andere, die über einen Tag lang hilflos auf dem Boden gelegen hatten, bevor sie gerettet worden waren. Diese Erfahrung ist mehr als ungenehm. Ich musste lernen, professionelle Distanz zu wahren, um darauf mit praktischer Effizienz reagieren zu können.
Ich stieg sieben der acht Stufen zum Treppenabsatz hoch und versuchte den Gestank zu ignorieren. Dann kniete ich mich auf den Absatz und beugte mich vor, um besser sehen zu können. Ich besaß genug Erfahrung, um zu wissen, dass die Menge an Blut nicht notwendigerweise der Schwere der Verletzung entsprach, aber … Ich musste wieder Abstand gewinnen. Ich hob meinen Kopf zum Fenster, zum strahlend blauen Himmel. Ich atmete ein paar Mal flach ein, um meine Fassung zurückzuerlangen, bevor ich wieder nach unten sah.
Direkt über ihrem rechten Ohr schien sie verletzt zu sein. Ein dunkler Klumpen Blut hatte sich in ihren weißen Haaren verfangen. Getrocknetes Blut fand sich auch auf ihrer Schulter, auf ihrer rechten Hand und wie Rouge auf ihrer Wange. Ihre Nase hatte geblutet, was braune Schlieren in den Falten um ihren Mund hinterlassen hatte. Ihr Kopf ruhte in einem klebrigen rotbraunen Fleck.
Ihre Augen standen offen, starrten die Wand an.
Ich langte nach ihrem Arm, darauf vorbereitet, dass er sich nicht würde bewegen lassen, aber stattdessen war er schlaff, schwer und kalt. Ich tastete mit zwei Fingern unter ihr Handgelenk, versuchte, einen Puls zu erfühlen. Was den Tod vom Schlaf unterscheidet, ist eine Stille, ein Glorienschein des Schweigens, der einen Körper umgibt, wenn er nicht mehr atmet. Der Tod mag schwer zu verstehen sein, aber man erkennt ihn immer. Die Dame vom Treppenabsatz war tot.
Ich versuchte mich daran zu erinnern, wann ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Nicht am Vorabend, als ich gegen 18 Uhr nach Hause gekommen war; vielleicht am Samstag – ja genau, gegen Mitternacht. Mein Ehemann Benno und ich hatten einen Babysitter engagiert und waren ins Kino gegangen.
Als wir die Straße entlang auf unser Haus zugingen, bemerkten wir sie vor uns. Sie schlurfte wie ein Gespenst die 111th Street entlang, in ihrem schwarzen Wollmantel und einem altmodischen schwarzen Filzhut. Sie beugte sich vor, um die Tür zu öffnen, und sah rasch über ihre Schulter, bevor sie ins Haus glitt. Wir blieben zurück, um ihr Zeit zu geben, vor uns hinaufzufahren. Sie war stolz; wenn wir aufgeholt hätten, wäre sie die zwölf Stockwerke lieber zu Fuß hochgestiegen, als mit uns im Aufzug zu fahren.
Nun lag ihre Kleidung auf einem Haufen, zwischen ihrer Leiche und der Wand, als ob dieselbe Hand, die sorglos ihren Mantel über ihre Hüften gelegt hatte, die Kleidungsstücke ausgeschüttelt hätte, bevor sie sie fallen ließ. Auf diesem Haufen lagen auch ihr Hut und ihre weißen Baumwollhandschuhe, an denen ein Daumen und ein Zeigefinger mit präzisen Stichen und schwarzem Faden geflickt worden waren.
Sie trug einen Slip, gelber Satin mit einem Zierband aus Seide am oberen Ende. Ein Träger ihres Büstenhalters hing herunter. Lillian war im Leben immer ausgemergelt; im Tode schien sie fast skelettiert. Ihre Haut war trocken, wächsern; Schultern, Ellbogen und Knöchel waren nurmehr Beulen aus Knochen, hauchdünn bedeckt von glänzender Haut.
Ihr rechtes Bein stak geradeaus, die Zehen wiesen in die Ecke. Zwischen dem Haufen aus schwarzer Kleidung und ihrem Fuß lagen zwei Schuhe, Lackleder mit kleinen Schleifen aus geripptem Band. Die Strümpfe, die sie immer ordentlich in jeden Schuh zu stecken pflegte, waren entfernt worden und lagen nun zerknüllt in einer Falte der Decke. Neben dem Kleiderhaufen lag ein Messingschlüssel mit einem schaufelförmigem Griff, der Schlüssel zu unserem Haus. Er hing an einer Kette aus kleinen Metallperlen, wie bei einer Schnur, mit der man Licht einschaltet.
Ich ging die Treppe wieder hinunter, lehnte mich gegen die Wand und versuchte meine Haltung zurückzugewinnen. Lillian war zugleich Nachbarin und potenzielle Kundin gewesen, darum fühlte ich mich für sie verantwortlich. Ein Großteil meiner Arbeit bestand darin, ältere Menschen vor dem Pflegeheim zu bewahren. Ich sorgte dafür, dass sie alle Dienstleistungen erhielten, die sie brauchten, um so unabhängig wie möglich in ihrer eigenen Wohnung zu leben: Reinigung, Einkauf, Krankenpflege, Beförderungsmöglichkeiten, medizinische Versorgung.
Ich starrte die graue Wand an und sagte mir, dass ich nicht hatte wissen können, dass sie hier sterben würde. Ich hatte alles getan, was ich glaubte, tun zu können. Wenn Lillian der Ansicht war, es sei besser, auf einer Treppe zu schlafen, als in ein Heim zu kommen, tja, dann war das ihre Entscheidung. Mir war klar, dass ich nur rationalisierte. Ihr Tod erschütterte mich – und auch das Vertrauen in meine Fähigkeit, eine Kundin richtig einzuschätzen und auf sie zu reagieren. Auf einen Mitmenschen.
Ich war Sozialarbeiterin geworden, nachdem ich bereits eine ziemliche Menge Lebenserfahrung gesammelt hatte. Eines hatte ich bei der Ausbildung gelernt, abgesehen davon, auf dem Papier gute Noten zu bekommen, und das war, eine emotionale Reaktion meinerseits zu erkennen und dafür zu sorgen, dass sie den Bedürfnissen des Kunden nicht im Wege stand. Natürlich fällt es Menschen im Gesundheitsbereich am schwersten, professionelles Fachwissen auf persönliche Situationen anzuwenden – nehmen wir nur den geschiedenen Eheberater. Hier stand ich nun, sah mich einer Situation gegenüber, die ich kompetent gemeistert hätte, wenn sie mir im Umfeld meines Jobs begegnet wäre. Doch vor meiner eigenen Tür verhielt ich mich wie ein Amateur.
Ich kannte mich mit dem Drill aus: Polizei, Notarzt, offizielle Bestätigung der Todesursache, Bestattungsunternehmer oder Leichenschauhaus, Benachrichtigung der nächsten Angehörigen. Es war an der Zeit, loszulegen. So vertraut mir die Routine in einem unerwarteten Todesfall auch war, es würde trotzdem kein leichter Morgen für mich werden.
Clea war eins mit dem Fernseher geworden.
Normalerweise setzte ich den elektronischen Babysitter nicht gern ein, aber im Augenblick war er ein wahrer Segen. Clea sah kaum in meine Richtung, als ich eintrat.
Ich wusch mir die Hände, zweimal, und rieb sie mit einer Handcreme ein, die nach Rosen duftete, um den Gestank von Lillians Körper loszuwerden. Doch den Geschmack des Todes konnte ich damit nicht aus meinem Hals bekommen.
Ich nahm das schnurlose Telefon mit ins Schlafzimmer und verständigte, in dieser Reihenfolge, meinen Ehemann, meine Arbeitsstelle, die Hausmeisterin und den Notruf. Ich wollte, dass Clea aus dem Weg war, bevor das offizielle Geschäft des Todes losging, und auf ein paar Minuten mehr würde es Lillian sicher nicht ankommen.
Benno, ein selbstständiger Kunsttischler, hatte seinen Laden in der Nähe der Canal Street. Mit einem Bus der roten Innenstadtlinie des Seventh Avenue IRT würde er in einer halben Stunde zu Hause sein. Ich wusste, die Polizei würde sich mit mir unterhalten wollen, und ich hatte mir überlegt, dass es besser wäre, wenn Clea Benno ins Geschäft begleitete, anstatt noch zur Schule zu gehen, zu der sie angesichts der Tragödie im Treppenhaus ohnehin viel zu spät dran war.
An meiner Arbeitsstelle gab es keine Probleme. Lillians Tod galt als Kundennotfall; anstatt zu spät zu kommen, war ich im Gegenteil zu früh.
Das längste Telefonat führte ich mit der Hausmeisterin, Barbara Baker, die in der Kellerwohnung lebte. Barbara war 44, zwei Jahre und zwei Tage älter als ich. Sie war die Erste, mit der ich nach meinem Umzug nach New York Freundschaft geschlossen hatte, und sie war immer noch meine engste Freundin, der Mensch, der mir beigebracht hatte, wie man Cleas Haare flechten musste.
«He, Anita, was machst du um diese Uhrzeit noch zu Hause?», erkundigte sich Barbara.
Ich erzählte es ihr. Sie schnalzte angesichts der Neuigkeiten mit der Zunge.
«Was für eine schreckliche Art zu sterben, so allein. Ich habe dir ja gesagt, es wäre ihr besser ergangen, wenn –»
«Du musst mir das nicht unter die Nase reiben, ich fühle mich so schon elend genug. Ich weiß gar nicht, was ihr zugestoßen sein könnte. Ich war ehrlich der Ansicht, sie wäre hier sicher. Zumindest konnte ich sie so im Auge behalten.»
«Tja, du hast dein Bestes getan, du und dein weiches Herz. Ich dagegen, ich hätte auf die Leute hören sollen, die mein Gehalt zahlen, aber nein, als der Betreuungsdienst sie ablehnte, füllte sich mein Herz mit dem Geist christlicher Nächstenliebe. Siehst du, wohin es einen bringt, wenn man seinem Herzen folgt? Dennoch, was für eine furchtbare Sache.»
Irgendwann hatte ich den Betreuungsdienst für Erwachsene verständigt, das Amt der letzten Zuflucht, doch so weit es sie betraf, war Lillian vielleicht lästig für die Hausbewohner, stellte aber weder eine Gefahr für sich selbst noch für andere dar, weshalb sie es ablehnten, sich um sie zu kümmern.
«Es ist meine Schuld, Barbara, nicht deine. Ich hätte hartnäckiger versuchen sollen, ihr Vertrauen zu gewinnen, um herauszufinden, warum sie überhaupt herkam. Nicht einmal die Polizei konnte sie längere Zeit vertreiben. Ich glaube, nur ein Nachtwächter hätte sie fern halten können.»
«Ja, stimmt, habe ich vergessen. Ich bin die Hausmeisterin, nicht der Türsteher. Allerdings hat man mir die Schuld gegeben, dass sie überhaupt hier war. Anita, glaubst du etwa, dass sie jetzt, wo sie tot ist, nicht auch eine Möglichkeit finden, mir dafür die Schuld in die Schuhe zu schieben? Wart’s nur ab.» Barbara hängte ein.
Barbara war in New York geboren, in Harlem aufgewachsen und besaß eine feine Nase für Hausverwaltungspolitik. Sie lebte schon seit Jahrzehnten in diesem Gebäude; ihr Ehemann hatte bis zu seinem Herzinfarkt im letzten Sommer hier als Hausmeister gearbeitet. Obwohl der alte Eigentümervorstand sich einstimmig dafür ausgesprochen hatte, ihr den Job zu übertragen, war Barbara jetzt der Gnade eines neu gewählten Eigentümervorstands ausgeliefert, dessen momentaner Sprecher keine weiblichen Hausmeister mochte.
Ich wählte die 911. Nachdem ich die wichtigsten Informationen übermittelt hatte, legte mich die neutrale, nicht zu beeindruckende Stimme in die Warteschleife. Als mir das zum ersten Mal passierte, war ich empört: Selbst der Notruf besaß eine Warteschleife! Aber ich lernte, dass die Zentrale zwischenzeitlich den Anruf zur Polizei und zur Notarzteinsatzstelle weiterleitete und mich dann später nach den Einzelheiten ausfragen würde. Die Zentrale meldete sich wieder. Ich erzählte noch mal alles und man teilte mir mit, dass die Ambulanz in ungefähr fünfzehn Minuten eintreffen würde.
Ich legte das Telefon zur Seite. Das Leben imitierte die Arbeit. Manchmal kam mir der Gedanke, dass ich die Hälfte meines Lebens am Telefon verbrachte, man sollte Sozialarbeitern zusammen mit ihrem Diplom auch Telefonimplantate mit auf den Berufsweg geben.
Die Stimme von Mr Rogers füllte immer noch auf beruhigende Weise das Wohnzimmer. Ich setzte mich zu Clea auf die Couch und breitete die Arme aus, damit sie auf meinen Schoß klettern konnte. Ich roch ihren Kleinmädchengeruch, zum Teil Haarcreme, zum Teil Milch. Was immer mit Lillian geschehen war, ich wollte nicht, dass es in Cleas Welt eindrang.
Die Zeichentrickfigur schloss gerade eine Tür und verschwand im Fernsehland. Clea schenkte mir gnädig einen Funken ihrer Aufmerksamkeit.
«Was ist mit der Frau?», wollte sie wissen.
«Es war sehr klug von dir zu erkennen, dass etwas nicht stimmte. Die Frau ist krank und gleich kommt ein Krankenwagen und bringt sie ins Krankenhaus. Ich habe Dad angerufen und er kommt nach Hause.» Clea war noch jung genug, um sich von einem Thema ablenken zu lassen, über das ich nicht reden wollte. «Da du ohnehin für die Schule zu spät dran bist, dachten wir, dass du ihn in den Laden begleiten kannst. Klingt das gut?»
«Okay. Darf ich die Frau im Krankenhaus besuchen? Ich bringe ihr einen Teddybären, damit sie sich besser fühlt.
So viel zu meinem Themenwechsel.
«Eine gute Idee, Bopster, aber noch darf sie keine Besucher empfangen.» Neben einem Lächeln bedachte die Dame aus dem Treppenhaus Clea bisweilen auch mit einem Geschenk: mit einer ausgestopften Katze, die jemand neben der Tür vergessen hatte, oder einem Schokohasen. Clea wollte gerade eine weitere Frage stellen, als mir die Sesamstraße zur Rettung eilte. Clea schlängelte sich aus meinen Armen und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Fernsehgerät. Ich seufzte. Nur gut, dass sie wieder beschäftigt war.
Bennos Schlüssel klimperten gegen die Tür. Clea sprang im Nu von der Couch und umklammerte seine Beine, bevor er noch ganz in der Wohnung war. «Daddy, Daddy, die Frau hat sich in die Hose gemacht und ich habe es gerochen!»
Ich konnte nicht anders, ich musste lachen. Entweder das oder weinen, so erleichtert war ich bei Bennos Anblick. Er nahm mich in die Arme. Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter, Clea stand zwischen uns wie in einem Sandwich.
Aber nur eine Minute lang, dann erklang das Heulen von Sirenen von der Straße. Clea schälte sich aus unserer Umarmung und eilte zum Fenster. Sie bemühte sich, es aufzustoßen, damit sie über die Kindersicherung hinwegsehen konnte. Clea liebte Action, jede Art von Action. Sirenen und Blaulicht versetzten sie in Ekstase. Es war ihr Herzenswunsch, einmal in einem Krankenwagen mitzufahren.
«Bringen sie die Frau jetzt ins Krankenhaus? Darf ich mitkommen? Bitte, Mama, bitte, ich bin auch ganz still und stehe niemand im Weg!»
Ich öffnete das Fenster und hob sie hoch, damit sie besser sehen konnte. Es war ein Streifenwagen, kein Krankenwagen.
«Nein, Bopster, du kannst nicht mit ins Krankenhaus. Dad nimmt dich mit in den Laden, erinnerst du dich?» Ihr kleiner Kopf senkte sich vor Enttäuschung.
«Komm schon, leitende Assistenztischlerin, wir schälen dich jetzt am besten aus der Schulkleidung und stecken dich in einen Overall.» Benno nahm sie an die Hand, um sie ins Kinderzimmer zu führen. Er blinzelte mir über die Schulter zu. Clea würde nicht lange niedergeschlagen sein.
Ich warf ihm eine Kusshand zu und trat auf den Flur hinaus.
Ich hatte die beiden Streifenbeamten, die aus dem Wagen stiegen, sofort wieder erkannt. Sie waren schon zweimal im Einsatz gewesen, als ich nach dem Fund einer Leiche die Notrufnummer verständigt hatte. Ich war im kalifornischen Berkeley aufgewachsen und hatte gelernt, gegenüber den Hütern von Recht und Ordnung einen gesunden Mangel an Respekt zu hegen. Inez Collazo, eine zierliche Frau aus Puerto Rico mit einem Schwall honigfarbener Haare, die sie unter die Mütze gesteckt hatte, und ihr grünäugiger irischer Partner Michael Dougherty waren jedoch beide einfühlsam und klug. Als ich sie sah, keimte in mir die Hoffnung auf, dass ich den Morgen doch überstehen würde.
«He, es ist die Sozialarbeiterin.» Dougherty trat aus dem Aufzug. «Eine weitere von Ihren Kundinnen?»
«Nein, diesmal ist es privat. Ich wohne hier.»
«Und sie wohnte auch hier?» Dougherty stieg ein paar Stufen hoch, um besser sehen zu können. «Wie heißt sie?» Er zog einen Notizblock aus seiner Hosentasche und schlug ihn auf.
«Soweit ich weiß, war sie obdachlos. Manchmal verbrachte sie die Nacht hier. Ich glaube, ihr Vorname lautete Lillian.»
Michael runzelte die Stirn. «Warum schläft sie hier auf Ihrer Treppe?»
«Keine Ahnung, Michael. Vielleicht glaubte sie, hier sicherer zu sein als in einem Obdachlosenheim.»
«Na klar.» Michael schnaubte. «Hat nicht den Anschein, als ob sie hier ziemlich sicher war, oder? Wie lange hat sie sich schon häuslich auf der Treppe eingerichtet?»
«Den ganzen Winter über. Sie fing unten in der Vorhalle an, zwischen den beiden Haustüren, bis eine zweite Sprechanlage installiert wurde und die äußere Tür ein Schloss erhielt, um sie draußen zu halten.»
«Sieht nicht so aus, als ob das funktioniert hätte. Was für eine Stadt, wo kleine alte Damen einfach überall schlafen, wo es ihnen einfällt. Wie kommt es, dass es hier keinen Portier gibt?» Michael starrte mich an, als ob das meine Schuld sei.
«Wir sind hier nicht in der East Side oder auf der West End Avenue. Außerdem, wo sollten wir mit dem Portier hin?» Das Gebäude war für ein New Yorker Apartmenthaus recht klein: zwölf Stockwerke mit je vier Wohnungen, 49 Einheiten, wenn man die Wohnung der Hausmeisterin im Keller mitzählte. Wir hatten keine richtige Eingangshalle, nur eine kleine Nische für die Briefkästen neben dem Aufzug im Erdgeschoss.
«Wie ist sie in das Gebäude gekommen?», erkundigte sich Inez.
«Sie pflegte für gewöhnlich hinter einem mitleidvollen Mieter hereinzuschlüpfen.»
«Jemand wie Ihnen», warf Michael ein.
«Ja, ich gehörte zu denjenigen, die sie hereinließen. Manche Leute schlugen ihr die Tür ins Gesicht. Na los, verklagen Sie mich. Ich gebe den Obdachlosen auf der Straße auch Geld und es ist mir egal, wofür sie es ausgeben.»
«Eine echte Wohltäterin», murmelte Michael. «Hat sie sich die Kleider selbst ausgezogen oder haben wir es hier mit einem Sexualverbrechen zu tun?» Mit seinem Stift hob er vorsichtig den Mantel an, der auf Lillians Torso lag. Er beugte sich vor, krümmte sich, ließ den Mantel fallen. «Sieht so aus, als ob sie ihre Unterwäsche noch trägt.»
«Sie hat sich normalerweise selbst ausgezogen und schlief dann unter ihrem Mantel.» An die Möglichkeit, dass Lillian vielleicht vergewaltigt worden war, mochte ich lieber nicht denken.
«Hat niemand je versucht sie loszuwerden? Die Polizei gerufen, um sie zu vertreiben?»
«Natürlich haben wir das, aber Sie wissen doch, wie so was abläuft. Vor ungefähr einem Monat hörte ich einen Aufruhr im Flur. Als ich hinauskam, brüllte sie: ‹Nehmt eure Hände von mir, ihr Nazis, fasst mich nicht an!› Sie beruhigte sich, als sie mich sah, aber zwei Ihrer Kollegen hatten ihr Handschellen angelegt. Sie meinten, sie hätte sich der Verhaftung widersetzt und sie getreten. Eine kleine alte Dame in einem schäbigen Slip, wütend, weil man sie mitten in der Nacht aufgeweckt hatte. Was für eine Gefahr stellte sie schon dar?»
«Cops lassen sich nicht gern Nazis nennen. War sie Jüdin?», fragte Michael.
Darüber musste ich erst nachdenken. «Wäre möglich.» Ich weiß, es ist ein Klischee, aber man stellt sich jüdische Mitbürger normalerweise nicht als Obdachlose vor. «Manche Cops gehen maßvoll vor, wissen Sie. Sie hatte ihre Kleider sauber gefaltet und ihre Strümpfe in den Schuhen aufgerollt, aber die beiden wollten ihr nicht erlauben sich anzuziehen, während sie darauf warteten, dass ein Krankenwagen sie in die psychiatrische Abteilung des Bellevue fuhr. Ihre Einstellung lautete wohl, dass die Sanitäter sie ohnehin in eine Decke wickeln würden. Was sie auch taten. Drei Tage später war Lillian aber wieder da.»
Ich hatte ein Dutzend Mal im Bellevue angerufen, doch es war so gut wie unmöglich, Informationen über einen Patienten in einer psychiatrischen Abteilung zu bekommen, wenn man kein Familienmitglied war oder keine Vollmacht des Betreffenden besaß. Ich wollte schon hinfahren, als Lillian wieder aufgetaucht war.
«Wie kommt es, dass Sie sie hier schlafen ließen?», wollte Michael wissen.
«Ich habe sie gar nichts tun ‹lassen›. Sie wollte meine Hilfe nicht und im Bellevue war man der Ansicht, dass sie nicht behindert genug wäre, um sie dort zu behalten, und was immer sie dem Betreuungsdienst erzählte, ihr Fall wurde dort ebenfalls abgelehnt. Ich dachte, es würde ihr hier gut gehen, zumindest konnte ich sie im Auge behalten …» Ich schwieg. Ich mochte Michael trotz seiner Art, obwohl er im Augenblick nicht viel tat, um meine Einstellung gegenüber Cops zu bessern. «Ich weiß, ich hätte mehr tun sollen. Aber was? Alte Menschen können schrecklich dickköpfig sein.»
«Haben Sie den Notruf verständigt?»
Danke, Inez.
«Meiner Tochter ist der Geruch aufgefallen, also stieg ich hoch und fand sie.» Ich legte eine Hand auf den Arm von Inez. «Sie werden doch Clea keine Fragen stellen, oder? Sie hat nichts gesehen.»
«Wo ist sie jetzt?», fragte Inez.
«In der Wohnung, bei meinem Mann. Er packt ihre Sachen, um sie wieder mit zur Arbeit zu nehmen.»
«Wieder mitzunehmen?» Dougherty sah auf mich herab. «Er war schon dort?»
«Ja, er geht um sieben aus dem Haus. Ich habe ihn angerufen, damit er sich um Clea kümmert.»
«Ist ihm die Tote zu der Zeit nicht aufgefallen?» Dougherty zog seine Nase hoch und fügte hinzu: «Hat er die Tote nicht gerochen?»
Inez stieg ein paar Stufen hoch, um sich Lillian anzusehen. «Diese Frau scheint nicht friedlich im Schlaf gestorben zu sein. Ich frage mich, warum der Krankenwagen so lange braucht.»
«Es besteht doch keine Eile, ihren Tod festzustellen, oder?», meinte Michael.
«Anita, wissen Sie etwas über diesen Schlüssel?», erkundigte sich Inez.
«Ich glaube, der gehört zur Haustür unseres Gebäudes. Was ist Ihrer Meinung nach mit ihr geschehen?»
«Sie wohnt hier nicht, warum besitzt sie einen Schlüssel?» Inez ließ sich von mir nicht ablenken.
«Um hereinzukommen?», schlug ich vor.
Michael fand das nicht komisch. «Das hier ist kein Spiel, Anita. Haben Sie ihr den Schlüssel gegeben?»
«Nein, jemand aus diesem Haus mag das getan haben, aber ich war es nicht.»
«Aber Sie wissen, wer es war?»
Dougherty starrte mich mit seinem Cop-Blick an.
Die Wilcox-Schwestern, die Papageien und Tauben fütterten, hatten auch Lillian unter ihre Obhut genommen. Sie hingen jeden Abend eine Plastiktüte mit der blauen Wolldecke an ihren Türknauf und Lillian brachte sie am Morgen immer zurück. Ich nahm an, dass sie ihr auch einen Schlüssel überlassen hatten, aber sicher war ich mir da nicht.
Die Aufzugstür öffnete sich. Zwei junge weiße Sanitäter mit einer Trage traten in den Flur und bewahrten mich davor meine Nachbarinnen zu verpfeifen.
Michael hob eine Hand. «Nezzie, wir brauchen hier einen Detective. Vielleicht kannst du Anitas Telefon benützen und dich dann auch gleich mit ihrer Familie unterhalten?»
Wir erwischten Benno und Clea auf dem Weg aus der Wohnung. Zu Ehren des Anlasses hatte Clea ihre offizielle Souvenirsmütze eines MTA-Busfahrers aufgesetzt. Die Perlen an ihren Zöpfen verliehen dem Ganzen einen festlichen rosa, lila und blauen Anstrich.
Inez, die die Gefahr, dass sie angesichts von Schlagstock, Waffe, Handschellen, Funkgerät, Ersatzmunition und einer Taschenlampe, die an ihrem Gürtel befestigt waren, ihr Gleichgewicht verlieren könnte, einfach ignorierte, ließ sich auf Cleas Höhe hinunter und salutierte vor ihr.
Clea salutierte zurück, strahlend, weil ihr die ungeteilte Aufmerksamkeit einer echten Polizistin zuteil wurde. «Erschießen Sie Menschen mit dieser Waffe?», fragte sie.
«Nein, meine Kleine, das habe ich noch nie.» Glücklicherweise lachte Inez. «Ist dir an der Frau etwas aufgefallen, außer ihrem Geruch?»
«Sie hatte rosa Nagellack auf den Zehennägeln», sagte Clea.
Es erstaunte mich immer wieder. Clea sah Einzelheiten, Dinge, von denen man nie erwarten würde, dass sie einem Kind auffielen. Trotz meiner sorgfältigen Überprüfung von Lillian hatte ich die lackierten Zehennägel nicht bemerkt. Aber Clea war ja auch eine Nagellackexpertin. Meine Freundin Janis bevorzugte ausgefeilte Maniküren, zur Freude von Cleas Kleinmädchenseele. Wenn Janis uns besuchte, begrüßte Clea sie stets mit weit gespreizten Fingern. Janis zeigte sich dafür mit der Farbe ihres Herzens erkenntlich: leuchtend Pink, Lila und schwarze Punkte zu Halloween.
«Sehr gut, Sergeant», gratulierte Inez ihr. «Ich glaube, wir müssen Sie zum Detective befördern!»
«Kann ich ein Abzeichen haben?» Clea versuchte ihr Glück.
Wir mussten alle lachen. Clea wurde schüchtern und verbarg ihr Gesicht in meinen Hosenbeinen.
Inez wandte sich an Benno. «Ihnen ist nichts aufgefallen, als Sie heute Morgen die Wohnung verließen?»
«Nein, aber ich habe auch nicht darauf geachtet. Catherine Wilcox trat gerade mit ihrem Kaffee aus dem Aufzug und ich hielt ihr die Tür auf. Ich hatte es eilig und sie kann endlos plappern.»
Catherine ist die jüngere der beiden Schwestern. 78 Jahre. Jeden Morgen um Punkt sieben Uhr begibt sie sich zur Imbissbude und holt zwei Becher Kaffee, zwei Butterbrötchen und die Times.
Clea zerrte an meiner Hand, wollte sich unbedingt die Ausrüstung der Sanitäter ansehen. Ich hob sie hoch und reichte sie Benno. «Die Sanitäter sind hier. Du schaffst Clea besser aus dem Weg, solange sie …» Ich blockierte die Sicht auf das, was auf dem Treppenabsatz vor sich ging und beendete den Satz schweigend. Ich wollte alles, nur nicht, dass Clea noch einen Blick auf Lillian warf.
Benno nahm Clea in die Arme. «Was meinst du, Kid? Sollen wir uns diesen Eisstand vornehmen?»
Michael hielt die Aufzugstür auf, damit Benno Clea schnell an der Treppe vorbeitragen konnte. Die beiden Männer tauschten einen Blick aus, taxierten einander. Michael war größer, aber Benno schlug ihn in der Abteilung Brustumfang. Michael sah als erster zur Seite, lächelnd, und der Testosteronpegel im Flur fiel. Männer.
Ich trat in den Aufzug und rückte Cleas Mütze zurecht. «Sei lieb zu Daddy, Sergeant Servi», sagte ich zu ihr.
Benno strich mir das Haar aus dem Gesicht. Seine Hände waren wie Topfhandschuhe, bestickt mit Muskelkissen. «Sei vorsichtig, Anita meines Herzens.» Er zog mich an sich und küsste mich. Ich wollte bei ihm bleiben, wollte, dass der Aufzug mich an einen Ort brachte, an dem die Dame aus dem Treppenhaus noch lebte und ich ihr helfen konnte.
Stattdessen drückte ich einen Schmatz auf Cleas Wange und trat aus dem Aufzug. Benno betätigte den Knopf für das Erdgeschoss, und die Tür schloss sich. Durch das kleine, runde Fenster sah ich meine Familie entschwinden. Mein Herz fühlte sich an, als ob es mit ihnen in die Tiefe sank.
Hinter mir räusperte sich Michael. Welche Gefühle ich für die Dame vom Treppenhaus auch hegte, sie würden warten müssen. Sie war jetzt zu einer Polizeisache geworden. Ich wollte gerade in meine Wohnung zurück, als Catherine Wilcox in den Flur trat.
«Was ist denn los? Ach herrje, Anita, was ist denn los?» Catherine starrte zur Treppe.
Ich zog ihre Hand unter meinen Ellbogen und ging mit ihr zu Elizabeth zurück, die sich auf der Schwelle zu ihrer Wohnung auf ihren Stock stützte.
Ich bin nur einen Meter 57 groß, aber neben den Schwestern fühle ich mich wie ein Basketballspieler. Ich sah zu Elizabeths abfallenden Schultern herab, der dunkle Scheitel zeigte sich durch die Zöpfe in ihrem dünnen grauen Haar. Elizabeth, 13 Jahre älter als ihre Schwester, ist das Gehirn der beiden; Catherine liefert die Muskelkraft. Zusammen sind sie 169 und wunderbar, obwohl ich den Tag erahnen kann, an dem sie die Grenze überschreiten und mehr zu Kundinnen als zu Nachbarinnen werden.
Inez trat zu uns und ich stellte sie einander vor.
Elizabeth unterbrach mich mit einem gebieterischen Stirnrunzeln. «Wir ziehen es vor, nicht im Flur zu plaudern, Anita. Kommt doch bitte herein und setzt euch.»
In ihrer Wohnung nahm Elizabeth ihren Posten auf der Rückseite des Esstisches ein, strategisch so platziert, dass sie die Küche und das Wohnzimmer einsehen konnte. Sie klopfte mit dem Stock auf den Boden und verlangte: «Catherine, biete diesen jungen Frauen eine Erfrischung an. Ich glaube, es steht noch eine Kanne Tee auf dem Ofen. Und dazu einen Teller mit Keksen!»
Catherine und Elizabeth Wilcox waren zwei schwarze Ladys der alten Schule; jeder, der über ihre Schwelle trat, wurde mit Speisen und Getränken versorgt, bevor man zum Geschäftlichen kam. Ich hatte gelernt, dass man ihre Gefühle verletzte, wenn man ihre Gastfreundschaft ablehnte, gleichgültig, wie höflich man es tat. Wie Benno zu sagen pflegte, wurden Frauen wie die Wilcox-Schwestern nicht mehr gemacht, und sie verdienten unseren Respekt.
Sie waren außerdem Anhängerinnen kreativer Gesundheitskost und in ihren Schubladen lagerten getrocknete Kräuter und Gewürze. Ich nahm immer eine Tasse von der Kräutermischung, die sie anzubieten hatten. An diesem Morgen bestand das Gebräu, wie uns Catherine wissen ließ, aus einem Frühlingstonikum – Benediktendistel und roter Klee mit Honig. Es war viel zu süß, aber es muss funktioniert haben: Nach wenigen Schlucken fühlte ich mich wesentlich frischer.
Ich sah, wie erstaunt Inez war – typisch für jemand, der zum ersten Mal in diese Wohnung kam. Die Wände des Wohnzimmers waren hell lavendelfarben, der Teppich dunkles Purpur, die Fenster versteckt hinter mauvefarbenen Vorhängen unter aufwändigen Gardinen. Die hervorstechendsten dekorativen Elemente waren ein riesiger Vogelkäfig vor dem Fenster und dutzende Fotografien in Schmuckrahmen, die an der Wand über dem Sofa hingen.
Catherine hatte eine mäßig erfolgreiche Karriere als Sängerin hinter sich. Obwohl sie nie berühmt wurde, hatte sie als Backup mit den Besten gesungen. Die Fotos, von denen viele signiert waren, bildeten einen Who’s who der Elite schwarzer Entertainer aus den vierziger, fünfziger und sechziger Jahren – einschließlich meiner persönlichen Heldin Nina Simone.
Der Käfig, geformt wie ein Haus mit einem Spitzdach, war der Vogelhimmel auf Erden für einen grünen und zwei blaue Papageien, Charlie, Bird und Parker, und sie besaßen jedes Vogelspielzeug, das es auf dem Markt gab. Clea konnte sie stundenlang beim Fliegen und Klettern beobachten, wie sie mit den Glocken spielten und an ihren Kalkstangen knabberten, wenn die Schwestern nicht vor Unruhe ganz flatterig würden.
Inez ließ ihren Tee unangetastet auf dem Tisch stehen. «Sie waren mit der Verstorbenen bekannt?»
Elizabeths weiße Zöpfe und Catherines schwarz gefärbter Zopf nickten unisono.
«Kennen Sie ihren Namen?»
«Ich glaube, sie hieß Lillian Raines, Raines mit einem e hinten. Möge sie in Frieden ruhen», sagte Elizabeth, mit Bedacht beiläufig.
«Wir trafen sie regelmäßig im Riverside Park. Sie saß am Grab des Liebenswerten Kindes. Natürlich gehen wir dort nicht mehr hin, wegen Elizabeths Beinen …»
«Ich bin sicher, die Polizistin will nichts über meine Beine wissen, Catherine.»
Inez blieb beim Thema. «Wissen Sie, warum sie hier geschlafen hat?»
Catherine wollte etwas sagen, aber Elizabeth sprach als Erste. «Wir haben uns natürlich gewundert. Sie war eine Dame, wissen Sie, trotz ihrer Situation, und bei einer Person ihrer Herkunft, nun ja, es wäre nicht höflich gewesen, wenn wir sie gefragt hätten, wie sie in diese schlechten Lebensumstände geraten war.»
Inez bedachte sie mit demselben skeptischen Blick, den sie mir schon zuvor geschenkt hatte, als ob sie wusste, dass mehr dahinter steckte.
«Hat eine von Ihnen letzte Nacht etwas Ungewöhnliches im Flur gehört?», erkundigte sich Inez.
Elizabeth klopfte auf ihr Hörgerät und überließ es Catherine, darauf zu antworten.
«Nein, also nein, das könnten wir gar nicht. Wir schließen unsere Schlafzimmertür und auch die Fenster. Das haben wir uns seit der Zeit angewöhnt, als wir nachts auftraten und tagsüber schliefen. Wir haben einen kleinen Ventilator und natürlich hilft mir dessen Geräusch beim Einschlafen …» Catherines Stimme verlor sich.
«Ms Raines besaß offenbar einen Schlüssel für dieses Gebäude. Wissen Sie, wie sie an ihn gekommen ist?»
So, wie Catherine die Hände rang, hätte sie für Lady Macbeth vorsprechen können.
Elizabeth sah Inez fest in die Augen und erklärte kurz angebunden: «Nun, ich nehme an, jemand, der hier wohnt, muss ihn ihr gegeben haben.»
Inez erwiderte den Blick wortlos. Das war die älteste Taktik der Welt: dem Befragten genug Spielraum lassen, damit er sich selbst ans Messer lieferte. Die meisten Menschen fühlen sich unwohl, wenn sie mit Schweigen konfrontiert werden, und fangen sofort an zu sprechen.
Elizabeth gehörte nicht dazu.
Inez klappte ihr Notizbuch zu. «Danke für den Tee, meine Damen. Ein Detective wird Sie im Laufe des Tages aufsuchen. Bitte teilen Sie ihm alles mit, was Sie für wichtig halten.»
Ich selbst war von der geschickten Art beeindruckt, mit der Elizabeth es fertig gebracht hatte, die Frage nicht zu beantworten. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie nie offen lügen würde, aber die Sünde der Auslassung war offensichtlich eine völlig andere Sache.
Catherine nahm mich am Arm und hielt mich davon ab, Inez in den Flur zu folgen.
«Sie dürfen der Polizei nichts von dem Schlüssel erzählen, Anita. Wenn Mr Orton herausfindet, dass wir etwas damit zu tun hatten, wird uns der Eigentümervorstand verklagen! Er sagte, wir würden die Verantwortung tragen, falls ihr etwas zustößt, solange sie hier ist. Ach, ich wusste, wir –»
Elizabeth, die Stimme der Vernunft, unterbrach sie. «Was geschehen ist, ist geschehen, Catherine. Sie können nicht beweisen, dass wir ihr den Schlüssel gegeben haben, aber ich stimme dir zu, es ist besser, nichts zu sagen.»
«Es ist schrecklich, einfach schrecklich. Man stelle sich vor, ich bin heute Morgen hinausgegangen und die Ärmste lag da und ich habe nicht einmal … Ach, ich weiß, keine gute Tat bleibt unbestraft und jetzt …»
«Catherine, reg dich nicht so auf. Es hat diese unglückselige Ärmste schwer getroffen, aber jetzt hat sie alles Leiden überstanden. Anita, war es falsch von uns, dass wir ihr geholfen haben?» Elizabeths Gesicht verzog sich qualvoll.
Ich wusste genau, wie sie sich fühlte. «Nein, Miss Elizabeth, ich glaube, Sie haben gut und großzügig gehandelt, aber Sie sollten der Polizei wirklich von dem Schlüssel erzählen.»
Elizabeth blieb höflich, aber hartnäckig. «Ich ziehe es vor, derartige Angelegenheiten nicht mit der Polizei zu diskutieren. Ich sehe nicht, was es bringen sollte, wenn man uns die Schuld für Lillians Anwesenheit in diesem Haus zuweist.»
Das ließ mich innehalten. Es war, als ob wir uns alle verschworen hätten, Lillian hier schlafen zu lassen, weil jede von uns dachte, wir würden zwar nicht das Richtige, aber doch wenigstens etwas Gutes tun.
Im Flur sah ich, dass die Geschehnisse einen weiteren Nachbarn geweckt hatten. Geoffrey Tate, der Alkoholiker des Hauses, lehnte an seinem Türrahmen und wunderte sich über den Aufruhr.
Seinem Aussehen nach war meine Aversion gegen den Montagmorgen nichts im Vergleich zu Geoffs Gefühl, so früh am Tag schon in der Vertikalen zu sein. Er ließ sich hängen wie eine Margerite am Abend, verschrumpelt, mit nackter Brust, haarlos, außer einem Pfeil feiner Strähnen, die vom Nabel abwärts auf hellgrüne Jogginghosen zeigten. Seine braunen Socken kamen dem Bild von Schmutz sehr nahe, auch wenn der matte Blick seiner Augen die Wirkung etwas beeinträchtigte.
Vor dem Börsencrash im Jahr 1987 war Geoff ein erfolgreicher Portfoliomanager bei Merrill Lynch gewesen. Nun war er ein erfolgreicher Trinker, der es kaum schaffte, sein eigenes Portfolio zu managen. Laut dem Klatsch im Haus war ihm vor kurzem ein Treuhandvermögen zugefallen, das ihm weiterhin Wodka, chinesisches Essen und Frauen ermöglichte. Die Freundinnen schienen in sporadischen Intervallen zu kommen und zu gehen. Bennos Theorie lautete, dass Geoff sie mit Drogen zu sich lockte, wenn seine Dividende ausgezahlt wurde, und sie ihn verließen, sobald das Geld wieder knapper wurde.
In den letzten Monaten schien er jedoch eine feste Freundin zu haben, eine Weiße mit rötlichem Pferdeschwanz. Meiner Meinung nach bestand ihre größte Tugend darin, dass sie ihm Lebensmittel brachte, um seine Lieferungen aus dem Chinarestaurant zu ergänzen. Dank der verbesserten Ernährung und dem Bart, den er sich stehen ließ, als glücklichen Ausweg für das Problem, sich mit zitternden Händen zu rasieren, sah Geoff in letzter Zeit erheblich besser aus.
«Was zur Hölle …» Geoff fuhr sich mit der Hand über den Kopf, auf dem seine braunen Haare zu Berge standen. Ich war wohl das Erste, was in sein Sichtfeld glitt. «Hallo, Anita, ist etwas mit den Schwestern?»
Der Pferdeschwanz schlüpfte unter Geoffs Arm hindurch. Sie war zu dieser frühen Stunde auch nicht besonders in Form, aber man konnte mühelos erkennen, was Geoff an ihr besonders anziehend fand: verstreute Sommersprossen tanzten in ihrem Dekolletee, schön umrahmt von einem seidigen türkisfarbenen Spitzenhemd. Sie war wohl Anfang dreißig, zwei Jahrzehnte jünger als Geoff. Ihr spitzes Kinn und ihr verkniffener Mund schienen zur Üppigkeit ihrer Brüste gar nicht zu passen.
«Was ist los, Babe?» Sie lehnte sich gegen Geoffs Brustkasten und schob den Kopf in den Nacken, um zu ihm aufzusehen. Geoff legte eine Hand auf ihren Bauch und streichelte ihn in konzentrischen Kreisen. Wenn es mich interessiert hätte, hätte ich sehen können, ob ihre Schamhaare ebenso rot waren wie ihr Pferdeschwanz.
Michael trat auf uns zu und begrüßte die beiden. «Guten Morgen, Sir, Ma’am. Waren Sie letzte Nacht beide zu Hause?»
Der Pferdeschwanz nahm die Zigarette aus Geoffs Hand und inhalierte. Sie blies den Rauch aus dem Mundwinkel, zielte damit vage in Michaels Richtung. «Was glauben Sie wohl?», fragte sie übertrieben freundlich.
Geoff holte sich seine Zigarette zurück. «He, bleib ganz locker. Der Mann hat nur eine Frage gestellt. Natürlich haben wir letzte Nacht hier geschlafen. Na ja, es war schon eher Morgen, als wir zurückkamen. Ich weiß nicht genau, vielleicht drei oder vier Uhr. Was ist denn passiert, Officer?»
Ich überließ die beiden Michael und zog los, um meine Handtasche zu holen, die Wohnungstür abzuschließen und erneut zu versuchen zur Arbeit zu gehen.
Als ich aus meiner Wohnung trat, waren die Sanitäter durch mehrere Leute in dunkelblauen Jacken ersetzt worden, auf deren Rücken SPURENSICHERUNG stand. «Was ist Ihrer Meinung nach mit ihr passiert?», fragte ich Michael.
«Die Sanitäter sagen, dass sie höchstwahrscheinlich gestürzt ist und sich am Kopf verletzt hat.» Er zuckte mit den Schultern.
«Von wo gestürzt?» Ich beantwortete meine Frage selbst. «Vom obersten Treppenabsatz? Dort ist sie nie hinaufgestiegen.»
Der oberste Treppenabsatz hätte ihr mehr Privatsphäre geboten, aber dort war es auch viel kälter – Lillian wäre der schlimmen Zugluft ausgesetzt gewesen, die unter der Tür zum Dach hervorblies. Na gut, wenn sie nicht gefallen war, wie hatte sie sich ihre Kopfverletzung dann zugezogen?, fragte ich mich selbst. Konnte sie jemand geschlagen haben? Hatte sie jemand mit dem Kopf gegen die Wand gestoßen? Diese Vorstellung entsetzte mich. Lillian Raines war direkt vor meiner Wohnungstür gestorben – wenn ihr Tod etwas anderes war als ein Unfall …
«Warum ist die Spurensicherung hier?», fragte ich Michael.
Statt einer Antwort blitzte ein Fotoapparat und ich hörte, wie eine Polaroidkamera ein Foto ausspuckte. Ein junger Weißer mit tiefen Falten um den Mund reichte Michael einen altmodischen Stoffgeldbeutel. «Den haben wir in ihrer Manteltasche gefunden.»
Michael öffnete den Geldbeutel und fischte eine Medicare-Karte, ein Bündel Geldscheine und eine Visitenkarte vom Betagten-Betreungsdienst der Altenbetreuung von St. John heraus – meinem Arbeitgeber, drei Häuserblocks von der Kathedrale St. John the Divine an der Amsterdam Avenue entfernt.
«Wahrscheinlich habe ich ihr in den letzten Monaten dutzende davon gegeben», sagte ich.
Michael drehte die Karte um, damit ich die Rückseite sehen konnte. «Haben Sie das geschrieben?»
Emma Franklin, stand da, in spinnenartiger blauer Schrift.
«Sie ist meine Chefin, aber das ist weder ihre Handschrift noch meine.» Dann fiel bei mir der Groschen. «Raines, ich wusste doch, das klingt irgendwie vertraut. Wir haben eine Akte mit diesem Namen bei den inaktiven Fällen.» Dann hatte ich also die ganze Zeit Zugang zu Informationen gehabt, die mir hätten helfen können, ihr zu helfen, wenn ich nur darauf gedrängt hätte, ihren Nachnamen zu erfahren.
«Gehen Sie noch nicht, Anita», bat Inez. «Ich bin sicher, die Detectives werden Sie befragen wollen.»
Wie aufs Stichwort öffnete sich die Aufzugstür. «– die Namen. Die meisten Wohnungen werden von älteren Pensionären bewohnt. Ich hoffe, Ihre Männer verursachen keine unnötige Aufregung.» Howard Orton, Sprecher des Eigentümervorstands, ein rundlicher Mann Ende sechzig, unterhielt sich mit einem hoch gewachsenen Mann in einem Anzug und mit viel Grau in seinem kurzen Afro – der Detective, wie ich annahm. «Also, Mrs Teague ist in den Achtzigern und geistig nicht mehr ganz auf der Höhe.» Howard fuhr auf seine methodische Weise fort, während sie den Aufzug verließen.
Er sah zum Treppenabsatz hoch, wandte sich abrupt ab, schaukelte vor und zurück und streckte dann eine Hand aus, als müsse er sich um sein Gleichgewicht bemühen. Ich trat auf ihn zu und stützte ihn.
Der große Mann nickte mir dankend zu, aber dann bekamen Michael und Inez seine ganze Aufmerksamkeit.