Joe Coomer
Die Liebe unter dem Garten
Roman
Aus dem Englischen von Barbara Heller
FISCHER Digital
Joe Coomer wurde 1958 auf der Carswell Air Force Base in Fort Worth, Texas, geboren. Nach seinem Studium arbeitete er im Holzhandel und ist heute Besitzer verschiedener Antiquitätenläden.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Bevor der Tag zu Ende ist, wird die Worth Row, die Straße der Antiquitätenhändler, ein Feuer und einen Sturm, eine Geburt, einen Tod und die Aufdeckung auch noch des kleinsten Geheimnisses erlebt haben.
Joe Coomer schafft es, die ganze Welt zu beschreiben – in der Geschichte einer einzigen Straße. «Die Liebe unter dem Garten» ist ein wundervoll menschlicher Roman, der zeigt, dass es immer etwas gibt, an das man sich halten kann und das wert ist, es mit aller Kraft zu lieben.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-562183-7
Für meine Schwester Sally,
die alles Alte liebt,
auch alte Menschen
… diese grassierende Wanderlust
aus: Samuel Johnson,
«A Journey to the Western Islands»
TARRANT COUNTY
HISTORISCHER DISTRIKT
Die zwölf Gebäude mit ineinander übergehenden Zimmern in der Worth Row sind die letzten noch erhaltenen von sechzig 1887 für die Angestellten der Prothetischen Werke Fort Worth erbauten Wohnhäusern. Die Fabrik belieferte Sears & Roebuck, Montgomery Ward und viele andere Versandfirmen der damaligen Zeit. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ging das Geschäft infolge von Alter und Tod der Verwundeten des Sezessionskrieges zurück. Die Hoffnung auf ein Wiederaufleben bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges zerschlug sich, als das Werk und zahlreiche der Wohnhäuser 1917 im Gefolge eines Tornados abbrannten. In späteren Jahren hat sich die Straße durch ihre Antiquitätenläden einen Namen gemacht. Die Gebäude, die sich genau gleichen, sind insofern ungewöhnlich, als sie vollständig aus Zypressenholz erbaut sind, dem Material der in dem Werk angefertigten Prothesen.
Die TÖCHTER DER TEXANISCHEN REPUBLIK
15. Mai 1955
Öffnungszeiten i.d.R. Mo.–Sa. 9–17 Antiquitäten in historischer Umgebung
8.17 Verda holt in ihren engen Hosen die Zeitung herein. Sie hat die Angewohnheit, sich jedes Mal, wenn sie von einem Stuhl aufsteht, das Kleid aus der Pofalte zu ziehen. Mit ihren Hosen macht sie es genauso, wie ich gesehen habe, nachdem sie sich nach der Zeitung gebückt hatte. Ich war gerade auf der Vorderveranda und habe meine Topfpflanzen gegossen.
Es war kühl in der Bar an diesem Tag, und er hatte Durst, und das war alles, woran er dachte, das und ob er nicht vergessen hatte, die Klammer am Kondenswasserabfluss von Gerät Nummer vier anzuziehen. Aber sie würden schon anrufen, wenn der Abfluss undicht war. Oder nein, das konnte er nicht machen. Gleich morgen früh würde er noch einmal hingehen und nachsehen. Er hatte den Tag über in einem neuen Geschäft an der Hulen Street sechs Klimageräte installiert. Seine Ellenbogen ruhten auf der Theke, und seine beiden vorderen Schneidezähne saßen auf der Unterlippe wie Waschmaschine und Wäschetrockner, wobei die Waschmaschine beim Schleudern ein Stückchen weggewackelt war, so dass zwischen den Zähnen ein rosa Mullstück hervorsah, seine Zunge. Nach jedem Schluck Bier schob er es mit dem Flügelknochen eines Huhns wieder zurück. Er lutschte Hühnerknochen, seit er denken konnte, so lange schon, dass manche ihn nicht Marshall, sondern Knochen nannten. Aber das störte ihn nicht. Er hatte versucht, von den Knochen loszukommen, aber es war ihm nicht gelungen. Die Knochen waren stärker als er. Und es war auch gar keine so schlechte Angewohnheit. Hühnerflügel waren billig, und seine Zähne waren weiß wie Hundezähne. Allerdings schreckte der Knochen die Frauen ab, das wusste er. Sie starrten ihn an und zuckten zusammen, als hätten sie den Knochen selbst im Mund. Und so mied Marshall die Menschen, installierte Klimaanlagen und Wärmepumpen, legte Rohrleitungen und bezog so viel Trost und Aroma wie nur möglich aus seinem Knochen. Dieses Leben führte er, seit er vor siebzehn Jahren die Highschool abgeschlossen hatte. In seinem letzten Spiel an der Northside High hatte er achtzehn Punkte beim Basketball erzielt. Er war ein zwei Meter drei langer, zweiundsiebzig Kilo schwerer Reserve-Center gewesen, und als einer der Spieler sich zu Beginn der zweiten Halbzeit den Knöchel brach, biss Marshall seinen Knochen durch und sprang für ihn ein. Er erinnerte sich an jeden einzelnen seiner neun Körbe, redete aber nie darüber. Viele glaubten, ehe sie den Knochen sahen, er werde seiner schlanken Figur wegen Knochen genannt. Der Knochen, den er an diesem Abend lutschte, war noch relativ frisch. Durch das Gelenkstück hindurch schmeckte man noch das Mark.
Das Erste, was er von Aura bemerkte, war ihr Drink. Am anderen Ende der Theke stand ein niedriges, breites Glas mit einer aquamarinblauen, von einem Schirmchen beschützten Flüssigkeit darin. Es sah aus, als hätte man eine blaue Tiefkühlkompresse aufgeschnitten und in das Glas geleert. Im Schatten hinter dem Glas fing irgendetwas das Licht ein. Ein zweites und ein drittes Mal blitzte es auf, als würde sich dort ein Fünfcentstück in der Luft drehen. Einen Moment lang vergaß Marshall seinen Knochen, so dass er ihm zwischen den Vorderzähnen durchrutschte, von seiner Unterlippe glitt und auf die Theke hüpfte. So behutsam, als setzte er sich ein Glasauge ein, schob er ihn wieder in den Mund. Eine Hand tauchte aus dem Schatten auf, umschloss das Glas und verschwand wieder. Er erschauerte. Die Hand bestand fast nur aus Handfläche, die Finger ragten kaum über das dicke Kürbisschalenfleisch hinaus. Marshall senkte seine eigenen Hände unter die Theke und schlang sie ineinander. Wieder das Aufblitzen. Fast wusste er schon, was es war. Er schob den Knochen von einer Backe in die andere und fasste sich an den Mützenschirm. Ein ganz seltsames Gefühl überkam ihn, als würde sich im nächsten Moment jemand den Knöchel brechen. Er nahm sein Bier und ging mit drei großen Schritten um die Theke herum. Seine langen Beine trugen ihn stets schneller zu Orten und Ereignissen, als seine Augen sie zu deuten wussten.
«Setzen Sie sich zu uns», sagte sie. Sie wollte auf den Hocker neben sich klopfen, aber ihr Arm war zu kurz. Im Dämmerlicht der Bar sah sie aus wie ein Malzbonbon, rund und dunkel. Ihre Haut war ungewöhnlich braun gebrannt für eine so dicke Frau. Der Spalt zwischen ihren Brüsten verschmolz mit der Kerbe in ihrem Kinn. Sie trug ein leichtes T-Shirt-Kleid, auf dem das verzerrte Gesicht Felix’ des Katers an ihren Brüsten sog.
«Setzen Sie sich doch, Mr. Lennox», sagte sie.
«Nein, nein, ich heiße Marshall. Ich installiere nur Lennox-Klimaanlagen.» Seine Knie stießen an die Theke, als er Platz nahm.
«Irgendwann», sagte Aura, «schaff ich’s vielleicht, Sie Marshall zu nennen, ohne dass ich mir wie Festus Haggen in Rauchende Colts vorkomme.»
Einen Moment war er verwirrt, dann begriff er, dass sie ihn mit Matt Dillon verglich, einer Figur, die er akzeptieren konnte.
«Hallo», sagte er.
Sie rollte einen Pfefferminzbonbon über ihre Zunge. Wieder das Aufblitzen.
«Jetzt wissen wir nichts zu reden», sagte sie. Der Bonbon klickte gegen ihre Zähne, und in diesem Augenblick sah Marshall, dass es kein Bonbon war, sondern ein weißer Ring, ein Stück von einem Schinkenknochen. Die durchsichtige Markscheibe, die er einmal umschlossen hatte, haftete noch als glänzender Film an ihren Porzellanzähnen.
«Heiß heute, was?», fragte sie.
«Ich könnte es Ihnen schön kühl machen», sagte Marshall. «Ich installiere Klimaanlagen.» Er schob den Hühnerknochen zwischen die Backenzähne, um ihn dort festzuklemmen.
«Hoffen wir, dass Sie hier nicht mehr finden, als Sie brauchen», flüsterte Aura.
Er schnupperte ihren Knochenatem.
«Wir sollten uns da beide mit einbeziehen», sagte sie.
Marshall nahm ihre Fingerspitzen in seine; er fürchtete, in seinen Händen könnte sie schmelzen. Ihr Körper strahlte eine enorme Hitze ab. Doch er wusste, dass nur ein so scharf geschnittenes Gesicht wie seines ihre tief eingebetteten Lippen erreichen konnte. Er beugte sich weiter hinab, fiel in den Schatten ihrer Sonnenbräune und berührte ihren Mund, erst mit dem Hühnerknochen, dann mit den Zähnen und schließlich mit den Lippen. Sie überließ sich ihm mit dem gummiartigen Widerstreben und Nachgeben einer Kühlschranktür. Es war, als würde die ganze Welt verschluckt. Der Knochenring schob sich über den Knochen, und Marshall fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben einbezogen, umschlossen.
8.29 Ich vergaß zu erwähnen, dass Mose gestern, als er seinen Wagen gewaschen hat, das Nummernschild absichtlich schmutzig gelassen hat.
8.34 Aura und Marshall haben ihr Auto so geparkt, dass ich nur vom Garten aus sehen kann, was sie aus- und einladen.
8.42 Weißer Plymouth – Kennzeichen 458-HCJ – immer noch vor Nadines Haus. Schon den zweiten Tag. Aufkleber: Reagan/Bush ’84 und Hurra, ich bin Cheerleader.
8.44 Tradio und sein Männerfreund sitzen auf ihrer Vorderveranda wie zwei GEIER, die darauf lauern, was sie noch alles von Effie kriegen können.
Mose stellte den Staubsauger ab, bückte sich und versetzte der Walze einen kräftigen Schlag mit der Zange, die er stets in der Gesäßtasche hatte. Ein Schräubchen von einem alten Radio fiel heraus, das er seit einer Woche vermisste. Er musste es aus dem Laden ins Schlafzimmer gekickt haben. Mose verkaufte und reparierte alte Radios, Ventilatoren, Telefone, Uhren, nahezu alles Elektrische, doch seine wahre Leidenschaft galt der Suche nach der Idee, der Erfindung, die ihn reich machen würde. Er hob die Schraube auf, saugte noch in der Ecke, in der er sie gefunden hatte, und trat dann zurück, um den sauberen Teppich zu betrachten. Die vielen Linien, die der Staubsauger hinterlassen hatte, waren deutlich zu sehen. Konnte man nicht einen Teppich mit einem Muster aus Staubsaugerspuren entwerfen? Ein solcher Teppich würde immer frisch gesaugt aussehen. Er würde Nadine von nebenan die Idee vortragen.
8.47 Mr. Haygood geht einkaufen. Er hat gelacht, als er an meinem Haus vorbeigegangen ist, und unwillkürlich hergeschaut, obwohl er versucht hat, es nicht zu tun.
«Eine schöne Idee, Mose, aber dein Teppich wäre ja trotzdem schmutzig, nicht wahr, auch wenn er sauber aussähe.»
«Na ja, schon, aber es geht um die Idee, um den schönen Gedanken, Nadine, Liebes.»
«Das ist aber nicht sehr ehrenwert, Mose, nicht sehr gentlemanlike, eine Erfindung, die am Ende doch nur eine Täuschung ist.»
Mose vergrub die Hände in den Taschen. Ein Dichtungsring, ein Kabelbinder und eine Pennymünze waren darin. «So hab ich das noch gar nicht gesehen, Nadine.»
«Tut mir Leid, Mose, mein Lieber, aber dir wird schon noch etwas einfallen. Sag mal, hast du dir schon einmal die simple Tatsache klargemacht, dass man nur den ersten Vokal in deinem Namen auszutauschen bräuchte und du würdest statt Mose Muse heißen? So einfach ist das! Warum hat deine Mutter bloß nicht daran gedacht? Sie hätte doch neun Monate Zeit dazu gehabt, und ich hab nur ein Weilchen überlegt, und schon ist es mir eingefallen.»
«Na, ich weiß nicht, Nadine …»
«Ich mag Vokale. Schade, dass es nicht mehr davon gibt. Man huscht beim Sprechen so über sie hinweg und würdigt sie gar nicht gebührend, und man hat nicht mal ein schlechtes Gewissen dabei. Es müsste ein Gesetz geben, dass alle Vokale mindestens drei Silben lang sein müssen, findest du nicht auch?»
«Du sprichst so schön, Nadine.»
«Das hab ich von meiner Mutter, Mose.»
«Sie war eine so gute Frau.»
«Ich mag jetzt nicht an sie denken, Mose, ich ertrag’s nicht. Es bricht mir das Herz, wenn ich mir vorstelle, wie schön sie war, wie ein Schmetterling, der am Kühlergrill eines Autos sein Leben gelassen hat.»
«Denk nicht mehr an sie, Nadine.»
«Darf ich dich ‹Muse› nennen, Mose? Machst du mir die Freude?»
«Aber Nadine, ich lebe jetzt seit achtundsiebzig Jahre mit dem Namen Mose, ich würde mich gar nicht angesprochen fühlen, wenn du mich anders nennen würdest.»
«Na gut, dann bleibt es eben bei Mose. Es ist ja auch ein schöner, respektabler Name.»
«Nadine?»
«Ja, Mose?»
«Wie wär’s mit essbaren Gummibändern, mit denen man dicke Sandwiches zusammenhält? Hast du schon mal aus Versehen auf so einen verzierten Zahnstocher gebissen?»
«Würdest du mir einen Gefallen tun, Mose, mein Lieber? Könntest du die Unterschriftenliste hier in alle Häuser an der Allee bringen?»
«An welcher Allee?»
«An unserer.»
«Der Worth Row?»
«Ich nenne sie eben so, Mose. Ich möchte, dass jeder hier freitagabends seinen Rasen mäht, damit am Samstag, wenn wir die meiste Kundschaft haben, alles ordentlich aussieht.»
«Ist gut, Nadine. Soll ich die Liste auch in die Häuser bringen, in denen keine Antiquitätenläden sind?»
«Ja.»
«Und was ist mit Mrs. Martins Haus?»
«Das kannst du natürlich auslassen, Mose, es gehört ja jetzt der Bank. Ich hab ihnen schon geschrieben, ob sie nicht meinen, dass es in ihrem eigenen Interesse wäre, ihr Eigentum instand zu halten.»
«Mr. Haygood wird nicht gerade begeistert sein, wenn ich komme.»
«Mr. Haygood ist Geschäftsmann, Mose, er wird den Nutzen, den wir davon haben, schon sehen. Wir sitzen schließlich alle im gleichen Boot. Wir müssen stolz auf unsere Straße sein, dann kommen unsere Kunden auch wieder.»
«Mr. Haygood denkt daran, einen Stand in diesem neuen Antikmarkt zu mieten.»
«Dieser Verräter! Allein schon die Idee! Da fehlt doch jegliche Atmosphäre, das ganze Flair, das die Gegend hier hat, alles Historische. Wie soll ein Kunde Vertrauen zu einem Händler fassen, der seine Ware in einen Großmarkt wirft und sie von einem anonymen Angestellten verkaufen lässt?»
«Ich behalte meine Sachen gern im Auge», sagte Mose.
«Eben. Und jetzt geh. Ich möchte Unterschriften, keine Versprechungen. Und sammel bitte auch die Beiträge für die Anzeige im Star Telegram für diesen Monat ein. Hundertzwölf fünfzig pro Kopf und keine Ausreden.»
«Ist gut, Nadine.»
8.51 Mose kommt mit einem Klemmbrett in der Hand aus Nadines Haus. Wetten, das hat etwas mit mir zu tun. Ich weiß noch nicht, wer hier Lügen über mich verbreitet. Wieder dieses infernalische Gehämmer aus der Tischlerei. Ich glaube, er baut Särge.
Mose klopfte dreimal an Verdas Tür, doch Verda kam nicht, denn sie starb auf dem Zypressenboden ihres Ladens, starb inmitten von Dutzenden zerbrochener Figuren: zerschmetterten Hummel-Figuren, Heubach-Porzellan in Scherben, gliederlosen Klavierschmuck-Babys, Tänzerinnen ohne Füße, Hunden ohne Schwanz, einem New-Martinsville-Eichhörnchen, das jetzt statt an einer Kristalleichel an der Nase eines Kolonialsoldaten aus Biskuitporzellan knabberte. Im Fallen hatte Verda ein Bord voll weißer Salz- und Pfefferstreuer leer gefegt, eine kleine Vitrine mit Occupied-Japan-Ware umgestoßen, sie war gegen das Schränkchen mit den Figuren gesunken und schließlich selbst im Friedhof ihres Ausstellungsraums gelandet, eine Hand in die Brust gekrallt, in der anderen einen Stengl-Vogel, den sie aus der Luft aufgefangen hatte. Sie stöhnte leise, als sie merkte, dass ihr die scharfen Kanten von einem Dutzend Nippes ins Fleisch schnitten, dann versuchte sie sich den Namen Jesu in Erinnerung zu rufen, und dann verlor sie das Bewusstsein. Auf der anderen Seite des Raumes nickte eine französische Ährenleserin aus Porzellan bei jedem Klopfen an der Tür ein Oui.
9.02 Mazelles Mann mäht seinen Vorgarten. Als ich mein Geöffnet-Schild umgedreht habe, haben Tradio und sein Männerfreund so getan, als gäbe es mich gar nicht. Aber es gibt mich.
9.08 Wetter – ziemlich mild.
9.10 Mr. Postlethwaite gießt seine Blumen.
9.11 Mose, immer noch mit seinem großmächtigen Klemmbrett, steht in Mazelles Vorgarten und unterhält sich mit ihrem Mann. Ich habe genau gesehen, wie sie zu mir herübergeschaut haben. Ich bin mir sicher, dass es Mazelle war, die gestern ins Telefon geatmet hat, als ich nach dem ersten Läuten abgenommen habe und niemand sich gemeldet hat. Da habe ich gesagt, meine Leitung wird abgehört, bleiben Sie dran, damit wir Sie erwischen, und irgendjemand hat okay gesagt. Bestimmt Mazelle.
9.16 Auto kam die Straße herauf, sehr schnell, hat am Ende gewendet und ist wieder verschwunden, ohne bei irgendwem zu halten.
9.18 Dieser Große Indianer hat Wäsche aufgehängt. Macht kein Geheimnis aus seinen Unterhosen. Mit Flecken und allem Drum und Dran.
9.22 Ich stand gerade am Fenster. Ich habe nicht hingeschaut, aber er (Tradios Männerfreund) war einfach nicht zu übersehen, als er auf seine Kühlerhaube gesprungen ist und die Arme zu mir herübergeschwenkt hat. Schade, dass ich meinen Fotoapparat nicht dahatte.
9.25 Dauernd schaut Mrs. Haygood aus dem Fenster, damit ihr ja nichts entgeht, was ich mache.
9.26 Aura scheint Kundschaft zu haben. Niemand, den ich kenne. Zu mir wird sie die Frau wohl kaum herunterschicken. Sie weiß, dass ich bessere Sachen habe.
Mazelle führte das Geschäft, und Mazelles Mann, der inzwischen im Ruhestand war, kümmerte sich um den Garten. Er trug sich in Nadines Liste ein, weil er den Rasen sowieso jeden Tag mähte. Das Sainte-Augustine-Gras musste im Zaum gehalten werden. Nach vierzig Jahren als Fahrer für drei verschiedene Fleischereibetriebe war das fast seine einzige Beschäftigung. Er hatte im Laufe seines Berufslebens drei Millionen Kilo Steaks, Koteletts, Hamburger und Hackfleisch zu den Restaurants von Fort Worth gefahren. Er wusste, welche von ihnen nur kontrolliertes Fleisch von Angusrindern und welche Knorpel und Sehnen nahmen. Nicht ein einziges Mal hatte er auch nur einen Hamburgerbelag mitgehen lassen, nur hie und da hatte er sich ein paar Pfund Fleisch für seine hungrigen Kinder ausgeliehen. Vier Kinder – die Jüngste machte gerade ihren Magister an der University of Texas. Ihre Mutter hatte eine Bibliothekarin aus ihr gemacht. Bücher, Bücher, Bücher. All die Jahre hatte er Fleisch geschleppt, und jetzt schleppte er seit zehn Jahren Bücherkisten. Seine Frau verkaufte Bücher, er trug sie vom Auto ins Haus, von einem Raum in den anderen. Die Registrierkasse bediente er nie, Fragen von Kunden beantwortete er selten. Ihm waren die schweren Dinge im Leben vorbehalten. Vier Kinder. Brave Kinder, aber aufreibend. Nie ein richtiger Urlaub, nie ein anständiges Auto, nie Steaks zum Mittagessen. Er und Mazelle wohnten in der Küche, dem hintersten Raum in dem Dreizimmerhaus. Wo die meisten ihrer Nachbarn einen Küchentisch und einen Schrank hatten, standen bei ihnen ein schmales Bett und ein Nachttisch. In den beiden anderen Räumen wohnten die Bücher.
Als er fertig war, schob er den Rasenmäher wieder in den Schuppen hinter dem Haus. Auch hier stand alles voller Bücher. Eine Ecke aber gehörte ihm, für seine Gartengeräte, einen Karton mit Schildmützen von verschiedenen Restaurants und seine Sammlung. Mazelles Bücherleidenschaft oder auch das begeisterte Sammeln von Porzellanaffen, alten Uhren und Sektquirlen, von dem die Straße lebte, waren ihm schwer verständlich. Was ihn mit Stolz erfüllte, war seine Sammlung von vier Kindern, jedes anders, jedes einzig in seiner Art. Sie kamen oft zu Besuch und ließen das Telefon nicht stillstehen. Hier aber, in seiner Schuppenecke, hatte er noch eine andere Sammlung. Vom ersten Tag seiner Tätigkeit als Fahrer an hatte Mazelles Mann jeden Gegenstand aufbewahrt, der ihm einen platten Reifen beschert hatte: jeden Nagel, Mesquitedorn und Kaninchenknochen, jede Reißzwecke, Schraube und Niete. Er hatte sie alle mit einem Tropfen Gummilösung auf einem Brett befestigt, eine Ansammlung von Zufällen, jenen seltenen Momenten, wenn sich ein spitzer Gegenstand in einen runden bohrte und alles zum Stillstand brachte. Es war eine Sammlung, zu der er nichts aus eigenem Willen hinzufügen konnte. Jeder Gegenstand stellte sich bei hundert Stundenkilometern und mit dem Druck und Kitzel potentiellen Unfalls oder Todes ein. Einmal war er mit dem Vorderrad über eine Gürtelschnalle gefahren und von der Straße abgekommen. Der Laster hatte sich überschlagen, und zwölf Schweinerümpfe hatten sich durch die Ladeklappe davongemacht. Wenn seine Reifenpannen gottgewollt waren, so dachte Mazelles Mann, dann konnte Gott nicht viel zu tun haben – aber man wusste ja nie, was andere glücklich machte. Wie beim Klang von Musik, die sich zu einem Höhepunkt aufschwingt, lief ihm ein kalter Schauder über den Rücken, wenn ein Mechaniker den schimmernden Eindringling mit der Spitzzange aus der Umklammerung des heißen Gummis zog. Fünfundachtzig Reifenpannen in fünfzig Jahren – er wusste genau, wo und wann jede passiert war, als wären es seine Kinder.
Seine Stimmung änderte sich schlagartig, als Mrs. Haygood im Garten erschien (sie hieß Dorothy, doch Mr. Haygood bestand darauf, dass Mazelles Mann sie Mrs. Haygood nannte). Die Grundstücke in der Worth Row waren klein, und die Häuser standen keine vier Meter voneinander entfernt. Um einen ertragreichen Garten anlegen zu können, hatten Mrs. Haygood und Mazelles Mann den Zaun zwischen ihren Grundstücken entfernt. Sie waren seit vierunddreißig Jahren Nachbarn und hatten ihren Garten dreiunddreißigmal mit Erfolg bestellt. Anfangs hatten Mazelle und Mr. Haygood sich noch daran beteiligt, doch in den letzten dreißig Jahren hatten sich Mazelles Mann und Mrs. Haygood allein um das Gemüse und die schmückende Blumeneinfassung gekümmert. Sorgfältige Planung und harte Arbeit versetzten sie in die Lage, nicht nur die eigene Familie, sondern auch die meisten ihrer Nachbarn mit Nahrung zu versorgen. Der Boden war erstaunlich fruchtbar, und sie hatten nicht an Humus und Dünger gespart, um seine Produktivität zu erhalten. Der Garten war ihre größte Freude.
Mazelles Mann hob eine Gurke auf und hielt sie wie ein Kind in den Händen. «Sehen Sie mal, Mrs. Haygood», sagte er.
Sie stieg über eine Reihe Bohnen hinweg, bereits die zweite Kultur dieses Jahres, und bog zwei Hibiskussträucher auseinander, um sich neben ihm niederzukauern. «Nanu, vor drei Tagen war sie noch nicht größer als eine Maus!» Sie legte die Hand auf die knotige dunkelgrüne Haut und spürte deren Wärme und Elastizität. Ihr Handgelenk ruhte auf seinem. Er blickte auf den Boden zu Mrs. Haygoods nackten Füßen. Erde quoll zwischen ihren braunen Zehen durch. Da sah er etwas. Er nahm eine Hand von der Gurke und fasste unter ihr Baumwollkleid. Mrs. Haygood schloss die Augen. Mazelles Mann beugte sich tiefer herab, blinzelte. Eine Murmel? Zwischen Mrs. Haygoods Füßen. Nein, es war ein Auge, das ihr unter den Rock sah.
«Rücken Sie mal ein Stück zur Seite, Mrs. Haygood.»
«Bitte?»
«Da steckt was in der Erde.»
Mazelles Mann schob einen Erdklumpen beiseite, bohrte den Finger in den Boden und schnippte das Glasauge heraus.
«Sehen Sie sich das an», sagte er.
«Das ist ja schrecklich!», flüsterte Mrs. Haygood.
«Es hat einen Sprung am Rand. Ein blaues Auge. Ob das jemand verloren hat? Hinten ist es konkav. Ich dachte immer, die sind rund. Mein Gott, Mrs. Haygood, wenn wir sehen könnten, was dieses Auge alles gesehen hat!»
«Es hat gar nichts gesehen», erklärte Mrs. Haygood lakonisch.
«Ich mach es sauber und zeig es Mazelle.»
«Ich gieße inzwischen weiter.»
Mazelles Mann trug das Glasauge in die Küche und spülte es ab. Dann ging er mit dem Auge auf der offenen Handfläche in den Buchladen. «Sieh mal, was ich im Garten gefunden hab.»
Mazelle schaute auf seine Hand hinab, sah das blaue Auge, das fleckige Weiße, die feinen roten Aderchen. Sie wankte, konnte sich aber an einem der Regale festhalten. «Warum zeigst du mir das?», fragte sie.
«Nur so. Ich hab’s gerade gefunden.»
«Tu das weg. Ich weiß nicht, warum du mir so etwas zeigst.» Und sie rollte davon, schob sich auf einer fahrbaren Leiter die Regale entlang.
Mazelles Mann blickte selbst in das Auge und sah in der dunklen Pupille sein Spiegelbild. Er drehte das Auge zwischen den Fingern, damit sich auch das Spiegelbild drehte, doch es rührte sich nicht von der Stelle. Da wackelte er mit dem Kopf und fand auf diese Weise, was er gesucht hatte.
9.35 Mrs. Haygood und Mazelles Mann wieder im Garten zugange. Schamlos. Ich kenne ihre Lebensgewohnheiten so gut, dass mir nichts von dem, was sie tun, entgeht.
9.40 Aus dem hinteren Fenster sehe ich, dass bei Marshall und Aura eine Latte von dem Zaun, den sie gezogen haben, um ihr Treiben vor mir zu verbergen, abgefallen ist.
9.42 Ich habe Tradio und seinen Männerfreund auf ihrer Vorderveranda fotografiert.
9.44 Auras Kundin ist wieder weg. Sie hatte alte Jeans und eine billige Bluse an. Sah aus wie jemand, den ich lieber gar nicht erst kennen lernen möchte.
9.49 Seit sie die Zeitung geholt hat, war Verda den ganzen Morgen nicht mehr draußen. Wahrscheinlich sind ihre Hosen zu eng.
9.51 Dieser Große Indianer fegt seine Veranda und den Bürgersteig. Jetzt hat er endlich sein Geöffnet-Schild umgedreht. Es geht schon auf zehn zu.
9.59 Mose wollte mit seinem großmächtigen Klemmbrett schon an meinem Haus vorbei, aber ich habe ihn auf mein Grundstück gerufen. Was will Nadine denn jetzt wieder, habe ich ihn höflich gefragt. Nichts, hat er gesagt (das sagt er immer), sie möchte nur, dass freitags alle ihren Rasen mähen, damit die Straße am Samstagvormittag ordentlich aussieht. Ich habe mir das Klemmbrett zeigen lassen, und tatsächlich: Er hat ausnahmsweise einmal die Wahrheit gesagt. Ich habe ihn rundheraus gefragt, ob sie aus irgendeinem Grund wollen, dass ich da nicht mitmache. Nein, nein, Effie, sagt er, als würde ich mich sofort in ihn verlieben, wenn er bloß meinen Namen ausspricht. Ich wollte gerade zu Ihnen, sagt er. Ich wollte nur nicht auf Ihren Rasen treten. Ich wollte erst an Ihrem Weg abbiegen. Bevor er mir noch mehr Lügen auftischen konnte, habe ich ihm den Stift aus der Hand genommen und unterschrieben. Nur weil ich hier das beste Grundstück habe und nur weil ich bessere Qualität verkaufe, braucht Nadine noch lange keine Geheimnisse vor mir zu haben, das können Sie ihr ruhig sagen, habe ich zu ihm gesagt. Er fing an zu winseln und sagte, Nadine will Sie doch gar nicht von irgendetwas ausschließen, Effie. Ich soll außerdem Ihren Anteil an der Star Telegram-Rechnung für diesen Monat kassieren. Ich wollte nicht an Ihrem Haus vorbei. Aber an Mrs. Martins Haus sind Sie vorbei, habe ich gesagt, ich hab’s genau gesehen. Das konnte er nicht abstreiten, und er antwortete: Aber da wohnt doch niemand, Effie. Da sagte ich ihm, dass die Bank sich meiner Meinung nach an den Anzeigenkosten beteiligen sollte. Aber die haben doch da kein Antiquitätengeschäft, hat er gesagt. Er macht mich ganz krank. Das Anwesen behält doch nur durch unsere Läden seinen Wert, habe ich ihm erklärt, als hätte ich es mit einem Schwachsinnigen zu tun. Er hat gezittert, weil ich dabei mit dem Fuß aufgestampft habe. Dieser Feigling. Dann sagte er, kann ich jetzt das Geld für die Anzeige haben, Effie? Ich dachte schon, er fängt gleich an zu weinen. Ich zahle, wenn die Bank ihren Anteil zahlt, das habe ich ihm ein für alle Mal klargemacht. Er darauf: Wenn Nadine Ihren Anteil nicht bekommt, nimmt sie Ihr Geschäft nächsten Monat aus der Anzeige raus. Ich schreibe das hier auf, damit die Polizei Bescheid weiß, wenn ich tot aufgefunden werde. Als Mose weg war, habe ich bei der Polizei angerufen und darum gebeten, mein Haus heute Nacht unbedingt zu bewachen. Das Ganze war schließlich keine «Halluzination» von mir. Ich schreibe es genauso auf, wie es gewesen ist.
10.14 Die Postlethwaites in Jogginganzügen mit dem Auto zum Einkaufszentrum. Ich möchte wissen, wie sie es schafft, dass ihre Turnschuhe so weiß bleiben, aber danach fragen würde ich sie nicht für alles Wedgwood der Welt. Sie machen ihren Laden fast nie mehr auf. Ich schicke meine guten Kunden nicht mehr hin.
Die Postlethwaites, Louise und Arlen, besitzen und betreiben das Geschäft Empire-State-Building-Art-déco-Antiquitäten, verbringen neuerdings jedoch mehr Zeit in der Ridgmar and Hulen Mall als in ihrem Laden. Sie sind süchtig nach den Entwicklungsmaschinen im Schaufenster des Schnellservice-Fotogeschäfts. Stunde um Stunde sitzen sie davor und schauen zu, wie sich die Fotos wildfremder Familien aus den Maschinen schieben: Geburtstage, Hochzeitsfeiern, Ferien, Büropartys, Bilder von Autos, Katzen, Wohnungen, Babys. Beide Postlethwaites sind bereits über siebzig, aber diese Vielfalt des Lebens anderer Leute, dieser Hauch von weiter Welt nimmt sie völlig gefangen. Sie deuten mit dem Finger, sie lächeln – sie können gar nicht anders. Sie bleiben sitzen, bis die Fotos von einem Dutzend Filmen aus der Maschine geglitten sind, dann gehen sie im Imbissbereich des Einkaufszentrums essen, kommen zurück und sehen sich noch ein paar Dutzend Filme an. Sie wissen nie, wohin sie reisen, wen sie sehen, zu welcher Familie sie, und sei es noch so flüchtig, gehören werden. Der einzige Nachteil ist, dass die Bilder verkehrt herum herauskommen. Manches muss umgedeutet werden: Ein Stirnrunzeln ist in Wirklichkeit ein Lächeln, der Himmel ist normalerweise nicht grasgrün.
10.16 Tradio und sein Männerfreund sind wieder hineingegangen. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass der Schuss, von dem das Loch in meinem vorderen Fenster stammt, von ihrer Veranda kam. Die Polizei sagt, das kann bei dem Winkel nicht sein. Ich weiß nur, dass ich die Kugel direkt zwischen die Augen bekommen hätte, wenn die Vorhänge sie nicht abgefangen hätten. Die Polizei hat gemeint, ich kann von Glück sagen, dass es nur eine Luftgewehrkugel war.
10.19 Gerade hat Tradio oder sein Männerfreund durch das Rollo zu mir herübergeschaut. Die Lücke zwischen den Lamellen sah genau wie ein Auge aus. Die großen Geheimagenten. Ich sollte Tradio mal nach der Unterwäsche fragen, die ich ihm damals zu Weihnachten geschenkt habe.
10.21 Mr. Haygood hat eine Menge Einkäufe gemacht. Nadine hat natürlich alles genau registriert. Ich habe zufällig in dem Moment hinausgeschaut. Nadine informiert Mr. Haygood über alles, was ich mache, und erfindet noch einiges dazu.
10.24 Das leer stehende Haus nebenan lädt streunende Hunde geradezu ein. Einer, ein riesengroßer, liegt gerade im Vorgarten.
Er hoffte, die Post würde kommen, bevor er zur Arbeit musste. Er kannte keinen süßeren Genuss in seinem Leben als zum Briefkasten an der Straße zu gehen, direkt in Effies Blickfeld, die Umschläge zu öffnen, während er langsam zurückschlenderte, und dann beim Lesen eines der Briefe einen Schrei auszustoßen, sich ans Gesicht zu fassen, sich ein- oder zweimal um die eigene Achse zu drehen und, immer noch schreiend, ins Haus zu stürmen. Ob es sich bei dem Brief um eine Mahnung, um Werbung oder um die Mitteilung eines Lotteriegewinns handelte, spielte dabei keine Rolle. Es ging ihm um die Vorstellung, wie Effie mit weit aufgerissenen Augen hinter ihrem Rollo stand und sich in wilden Spekulationen erging, wie sich ihr der Hals zuschnürte, weil sie nichts begriff. Doch die Post war nicht rechtzeitig gekommen. Er würde mit seiner Vorstellung bis zum Abend warten müssen.
Er forderte Arthur auf, schon in den Lastwagen zu steigen, und ging die Postkarten holen, die er letzte Woche aus der Gegend um Cleburne bekommen hatte. Er setzte seine RUF-TRADIO-AN-Mütze auf, zog sie sich nach Jagdfliegerart in die Stirn und sprang in den Wagen. Arthur war nicht darin. Er sah im Rückspiegel zu Effies Haus hinüber. Sie stand auf der Vorderveranda und goss zum fünften Mal an diesem Morgen ihre Blumen. Er drückte auf die Hupe. Warum konnte ein Mann von fünfzig Jahren nicht einfach in einen Lastwagen steigen, wenn man es ihm sagte? Er hupte noch einmal.
«Ich komm ja schon!», rief Arthur. Er hatte sich ein frisches Hemd angezogen und seinen Cowboyhut aufgesetzt. «Hör auf zu hupen, das ist ja schrecklich peinlich.»
«Was hast du denn so lange gemacht?»
«Ich hab mich nur ein bisschen gewaschen, Tradio. Die Leute mögen’s nicht, wenn man dreckig wie ein Schwein bei ihnen aufkreuzt.»
«Siehst richtig nett aus.»
«Danke.»
«Siehst aus wie eine französische Nutte.»
«Ach, das sagst du doch nur so.»
«Nein, Arthur, jetzt mal im Ernst, du siehst wirklich gut aus.»
«Man tut, was man kann, Tradio. Schau jetzt nicht zu ihr rüber, wenn wir aus der Einfahrt rausfahren.»
«Was?»
«Schau einfach nicht hin, das macht dich bloß wieder wütend.»
«Du warst doch derjenige, der auf der Kühlerhaube herumgehüpft ist und zu ihr rübergefuchtelt hat.»
«Na ja, ich hab gedacht, sie schämt sich vielleicht, weil sie uns dauernd beobachtet.»
«Die kennt nicht mal das Wort schämen, Arthur. Ich muss einfach hinschauen, ich kann nicht anders.»
«Nein!»
«Verflucht, da ist sie. An der Seite vom Haus, sie zupft an ihrem Rosenstrauch herum.»
«Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht hinschauen. Darauf hat sie doch bloß gewartet. Jetzt kann sie ja zufrieden sein.»
«Wir ziehen um. Ich halt das nicht mehr aus.»
«Das sag ich dir schon seit zwei Jahren.»
«Die Augen von der durchbohren einen richtig.»
«Irgendwie tut sie mir Leid», sagte Arthur. «Michael besucht sie nie. Wie würdest du dich da fühlen?»
«Reden wir von was anderem.»
«Okay, okay. Hast du gesehen, dass ich die Postkarten in der Reihenfolge geordnet hab, wie wir hinkommen?»
«Sehr schön, Arthur.»
«Tradio, ich nenn dich immer bei deinem Spitznamen. Ich weiß, dass du das magst. Warum nennst du mich nie Pastetenvögelchen?»
«Du bist ein Mann von fünfzig Jahren, Arthur.»
«Ja, ich weiß.»
«Nicht böse sein, Pastetenvögelchen.»
«Mich kann man mit so wenig glücklich machen.»
«Ich weiß.»
10.25 Tradio und sein Männerfreund sind zur Arbeit. Im Wegfahren haben sie beide direkt zu mir herübergeschaut. Als ich gerade mit meinen Rosen beschäftigt war, kam dieser Große Indianer angeschlichen und hat sich ein Hallo abgerungen, ein ganz besonders liebenswürdiges und übertrieben höfliches. Er will etwas von mir, aber er kriegt es nicht. Er fing wieder davon an, wie schön es in Oklahoma sei, und damit er aufhört, habe ich einfach gesagt, ich sei nie dort gewesen und würde auch nie hinfahren. Dann bin ich in meinen Vorgarten und habe mich um meine eigenen Angelegenheiten gekümmert.
Mr. Haygood kaufte, verkaufte und tauschte Spielzeug, ungeachtet des Schildes mit der Aufschrift UNARTIGE KINDER WERDEN GEFRESSEN in seinem Schaufenster. Seine Spezialität waren Schmiedeeisen-, Pressstahl- und Blechfahrzeuge zum Aufziehen aus der ersten Jahrhunderthälfte, dem goldenen Zeitalter. Seine Regale waren mit Bing-, Märklin-, Ives-, Arcade- und Marx-Raritäten angefüllt, viele in der Originalverpackung, Spielzeug, mit dem selten, wenn überhaupt je, gespielt worden war.
Mrs. Haygood lehnte am Türpfosten des vorderen Zimmers, das als Laden diente, und seufzte.
«Weißt du, was mit dir los ist, Mrs. Haygood? Du leidest an Opticum recticus, einer Wucherung, die den Sehnerv mit dem Rektum verbindet, daher deine permanent beschissene Weltsicht», sagte Mr. Haygood. Er ölte gerade das Getriebe eines blauen Blechpanzers.
«Ich wollte dir nur sagen, dass Mose mit einer Unterschriftenliste hier war. Ich habe unterschrieben.»
«Wieso denn das?» Er knallte das Ölkännchen auf die Glastheke.
«Du weißt doch noch gar nicht, um was es geht.»
«Das brauch ich auch nicht zu wissen.»
«Nadine möchte, dass jeder freitags seinen Rasen mäht, damit die Straße für die Wochenendkundschaft ordentlich aussieht. Sie will erreichen, dass wir alle an einem Strang ziehen.»
«Ohne uns. Dauernd will sie hier alles bestimmen. Ich wohne auf meinem eigenen Grund und Boden und mähe den Rasen, wann es mir passt. Unterschreib so was nie wieder.»
«Seit wann mähst du den Rasen? Ich mähe ihn. Dich interessiert das doch überhaupt nicht.»
«Das hier ist mein Haus und mein Geschäft, also betrifft es mich auch. Und jetzt geh mir aus dem Weg, ich muss mal für kleine Jungs.»
Mrs. Haygood trat mit verschränkten Armen zur Seite und ließ Mr. Haygood vorbei. Kurz vor der Badezimmertür, den dunklen Penis bereits in der Hand, drehte er sich noch einmal zu ihr um und rief: «Was fällt dir wohl noch alles ein, Frau?» Dann wandte er sich wieder um und knallte die Tür zu.
Mrs. Haygood durchquerte langsam den Raum und wischte zwei Öltropfen weg, die auf die Theke gefallen waren. Sie tat das unbefugt, denn Mr. Haygood hatte ihr verboten, den Laden zu betreten, wenn er nicht da war. Aber sie kannte sein Geheimnis. Vor vielen Jahren schon hatte sie es gelüftet: die Falltür unter seinem Hocker, die steile Treppe zu dem Tunnel unten, die dunkle Kammer unter ihrem Garten.
10.39 Ich saß gerade auf der Veranda, als zwei Kunden, ein Junge und ein Mädchen, den Weg heraufkamen. Das Mädchen hatte eine große schwarze Tasche dabei, also folgte ich ihnen in den Laden, um sie im Auge zu behalten. Sie sahen höchst verdächtig aus. Ich wusste gleich, die sind nicht der Typ, der etwas kauft, und sagte deshalb auch nicht: Willkommen in Effies Winkel von Europa, wie ich es bei gut angezogenen Kunden mache. Sie sahen sich alles an, besonders die Sachen in den Vitrinen. Als das Mädchen ein Kammetui auf die Theke legte, sagte ich: Da hat jemand das Preisschild ausgetauscht. Sie war ganz entsetzt, dass ich meine Ware so genau kenne. Ich war’s nicht, sagte sie. Sie haben doch gesehen, wie ich das Etui genommen und auf die Theke gelegt habe. Ich sagte, ich sage ja nicht, dass Sie’s waren, Schätzchen, aber es kostet fünf Dollar mehr. Es ist aus Schildpatt. Der Junge (seine Jeans hatten ein Loch im Knie, und die Haare hingen ihm bis über die Ohren – wahrscheinlich einer von der Texas Christian University, nur nicht so gut angezogen wie die meisten von denen) nahm das Kästchen, sah sich das Preisschild an und sagte: Okay, Baby, ich zahl die fünf Dollar Aufpreis. Da sagte das Mädchen: Nein, das geht nicht, und sie stolzierten hinaus, ohne auch nur ein Danke, dass wir uns umsehen durften. Widerlich, wie viele Leute glauben, ein Antiquitätengeschäft sei ein Museum und nur zu ihrem Vergnügen da. Oh, meine Mutter hatte auch so eins oder Wenn ich gewusst hätte, wie viel das wert ist, hätte ich’s nicht weggeworfen – wie oft ich das schon gehört habe! Ich habe die Beschreibung der beiden, für den Fall dass sie noch einmal wiederkommen. Verda hat heute nicht einmal ihr Geöffnet-Schild umgedreht. Das Kammetui ist gut und gern fünf Dollar mehr wert, als auf dem Preisschild steht.
Das Leben von Howard Dog-in-His-Path hinterließ eine gewundene gelbe Spur wie ein Wasserschlauch, der zu lange im Gras gelegen hat. Howard stand auf seinem eigenen Schatten, als wäre er ein roher Hühnerhals. Seine nervöse Energie wirkte bei einem so großen Mann fehl am Platz. Die Leute scheuten vor ihm zurück. Kratzte er sich die Stirn, ging alles um ihn herum in Deckung. Hunde duckten sich, wenn er die Richtung wechselte. In seiner Kindheit hatte sich nicht einmal seine eigene Familie allzu nahe an ihn herangewagt, denn er konnte ja plötzlich sein Portemonnaie hervorziehen oder beschließen, sich zu kämmen. Jeden Morgen flammte von neuem die Nervosität in ihm auf. Es war, als würden Elritzen durch seine Adern schießen. Er konnte diesen Energiestrom nur dadurch bändigen, dass er ihn aufbrauchte, dass er sich schnell bewegte, schwere Sachen hob, aß. Meist riss er ganze Häuser ab. Er führte die Brechstange wie ein Skalpell und stemmte jedes Brett einzeln von dem zum Tode verurteilten Gebäude, zog die Nägel heraus und verkaufte die Holzstapel an Leute, die Restaurants einrichteten, an Dekorateure oder Handwerker. Einzelne Teile wie Eichenkommoden, Buntglasfenster, gedrechselte Pfosten und Türknäufe aus Messing nahm er mit in die Worth Row und verkaufte sie als Antiquitäten. Sein Vorgarten stand voll von Badewannen mit Klauenfüßen, Waschtischen und Resten von schmiedeeisernen Zäunen, zu denen sich hie und da ein Schornsteinaufsatz gesellte. Seine Kunden trafen ihre Wahl rasch, zahlten und gingen wieder. Howard lud die schweren Wannen ganz allein auf ihre Lastwagen, und sie fuhren schleunigst davon.
Zu einer Frau konnte er nur abends gehen, wenn er völlig erschöpft war. Die Frauen aber wollten tanzen. «Ich hab heute zu viele Badewannen geschleppt», sagte er dann. Worte, Gefühle, Kränkungen, und in ganz Texas gab es nicht genug Bier, um einen Mann von seiner Größe betrunken zu machen. So ging er nach Hause und legte sich schlafen, und im Laufe der Nacht stieg die Energie wieder in ihm auf, von neuem begannen seine Hände zu flattern, die Füße zuckten, als ginge er über heißen Boden, seine Augäpfel schossen hin und her wie in einer Flasche gefangene Wespen.
An diesem Morgen aber fühlte sich Howard Dog-in-His-Path nur ängstlich, nur schwermütig, nur alt. Ihm war, als sei er kleiner als am Tag zuvor. Die Spur, die er hinterlassen hatte, war zu schmal gewesen, zu trügerisch, als dass ihr jemand hätte folgen können. Und die Ladung nasser Kleider aus der Waschmaschine erschien ihm übermäßig schwer.
10.55 Mrs. Haygood saß auf ihrer Vorderveranda, aber als ich auf meine eigene Vorderveranda hinausging, verschwand sie im Haus. Als ob draußen nicht genug Platz für uns beide wäre. Das macht das schlechte Gewissen, davon bekommt man Angst vor anderen Leuten.
10.57 Penetranter Marihuanageruch von diesem Großen Indianer. Ich glaube, eine von seinen Badewannen schiebt sich klammheimlich über meine Grundstücksgrenze.
10.59 Die Lügnerin und Klatschtante Verda muss weggefahren sein, aber ich habe nicht gesehen, dass ihre Tochter sie abgeholt hätte. Die andere Tochter kommt überhaupt nie, höchstens alle drei bis vier Wochen.
11.02 Mose und Nadine sitzen auf Nadines Veranda, ganz nah beieinander, ungelogen, es sieht aus, als würden sie etwas furchtbar Wichtiges lesen. Eine Schande ist das, wie er sie anstiert, dabei ist er fast achtzig, und sie geht auf die sechzig zu. (Im Gegensatz zu anderen Leuten merke ich mir nicht, wie alt jemand genau ist.)
11.06 Mr. Haygood kam aus dem Haus, um die Zeitung zu holen. Dann stand er in seinem Vorgarten und sah in alle Richtungen, als hätte er sich verlaufen, aber zu mir hat er nicht herübergeschaut, obwohl ich gerade meine Topfpflanzen gegossen habe. Ich habe ihm zugerufen: Sie sind zu Hause, Sie Idiot. Da hat er hergeschaut und ein böses Gesicht gemacht.
11.10 Das Telefon hat ein einziges Mal geklingelt, aber es war niemand dran. Da will mich sicher jemand vom Laden weglocken, um ihn dann auszuräumen.
Aktennotiz
Memo
03.10.86
Bank of Fort Worth
An: Jack Besso, Direktor
Von: Steven Giles
Betr.: Worth Row 8
Jack, wir versuchen das Gebäude jetzt seit über zwei Jahren zu verkaufen, aber die Aussichten sind gleich null. Das alte Haus ist nur noch ein Rattennest. Die Hintertür ist eingetreten. Als ich letztes Mal dort war, hatten sich zwei herrenlose Hunde unter der Veranda eingenistet. Wir sollten überlegen, ob wir’s nicht abreißen lassen, um Steuern und Haftpflichtversicherung zu sparen. Oder wir stiften die Bruchbude einer gemeinnützigen Organisation, dann können wir sie abschreiben. Die Gegend ist ziemlich heruntergekommen, und ich hab Angst, eine Gasleitung könnte undicht werden, Kinder könnten hineingehen und sich verletzen, oder jemand wird von den Hunden gebissen etc. etc. Dieses eine Mal sollten wir den Verlust in Kauf nehmen.
Antwort: Steve, lass uns heute Nachmittag rasch rüberfahren und uns das Haus ansehen. Meine Eltern haben in der Straße ihre Möbel gekauft, als ich klein war.
Jack
11.15 Die Post ist gekommen, und ich habe dem neuen Briefträger gesagt, dass ich ihm dankbar wäre, wenn er die Klappe an meinem Briefkasten ganz zumachen würde. Das macht er nämlich nie. Der Tischler hat einen Brief bekommen, der ihn anscheinend ziemlich beunruhigt hat. Als er zu seinem Briefkasten ging, ist Nadine zu ihrem und hat ihm zugewinkt. Es sah aus, als hätte sie keine Strümpfe an. Ich bin über die Straße, um nachzusehen, ob die Klappe an Verdas und Tradios Kasten richtig zu ist. Bei Verda lagen die Wasserrechnung und ein handgeschriebener Brief aus Weatherford darin, wahrscheinlich von ihrer Freundin, die beinahe das Opalarmband bei mir gekauft hätte. In Tradios Kasten waren fünf oder sechs Postkarten, von Leuten, die in seiner Sendung etwas verkaufen wollen. Eins war ein Service aus Meißener Porzellan; die Karte habe ich mitgenommen, weil Tradio und sein Männerfreund sowieso nicht mit besseren Sachen handeln.
Der herrenlose Hund, der unter der Veranda von Nummer acht wohnte, wusste nicht, dass er ein herrenloser Hund war. Er pinkelte gern. Er hob sich gern eine kleine Portion für die nächste Stelle auf. Er wusste, dass in dem Autoreifen hinten im Garten nach einem Regen wochenlang das Wasser stand. Er wusste insbesondere, dass die Erde wie ein Ballon davongeschwebt wäre, hätte er sie nicht festgehalten, indem er auf ihr ging oder lag. Er versuchte deshalb, so wenig wie möglich hochzuspringen, denn frühere Experimente hatten damit geendet, dass der Boden von unten gegen seinen Körper schlug. Da niemand ihm einen Namen gegeben hatte, nannte er sich Selber, das nicht von jedem Gedanken Getrennte, doch wenn er die Worte «HAU AB» hörte, wurde er unruhig, als wären sie ein Teil von ihm, sein Fuß zum Beispiel. Gab es ein größeres Vergnügen als zu buddeln, so dass die Schnauze sich mit frischer Erde überzog? Vor allem, wenn man sich vorher satt gefressen hatte. Jeden Morgen gönnte er sich einen Appetithappen aus den winzigen Näpfen von Beißdie und Jatutsie von gegenüber. Ihr Wasser war im Nu aufgeschlabbert. Auch im Sägemehlhaus bekam man immer etwas, und montags und freitags stand der Müll an den Einfahrten. Insekten gab es praktisch das ganze Jahr über. Selber war seit zwei Jahren auf der Welt, aber es schien ihm, als sei er schon immer da gewesen. Die meiste Zeit hatte er unter der Veranda gewohnt. Früher waren noch mehr da gewesen. Andere. In seinem ersten Lebensjahr war das Loch im Gitter von Tag zu Tag kleiner geworden, in letzter Zeit aber war es gleich geblieben. Selber wog, was er wog, hörte, was er hörte, fraß, was er fraß, pinkelte, wenn er pinkelte, schiss, wenn keine Menschen in der Nähe waren, und war jetzt, jetzt, jetzt hungrig. Schmerz war Schmerz, Schlaf unter der Veranda war nicht Angst. Die Leute in Selbers Straße bewegten sich langsamer als die Menschen in anderen Straßen. Die alte Frau nebenan warf Steine auf sein Haus, wenn sie wusste, dass er da war. Jetzt musste er zum Sägemehlhaus und sich etwas zu fressen holen, aber schnell, dann bald würde überall außer unter der Veranda Wasser sein. Selber bildete sich nichts darauf ein, dass er schon Stunden vor den Menschen wusste, dass es regnen würde. Selber wusste es einfach.
11.25 Dieser Große Indianer wandert einfach so in seinem Garten herum. Sehr merkwürdig, dass er das an einem Freitag tut. Wahrscheinlich steht er unter Drogen.
Hunde kamen von Sägemehl bedeckt aus Carls Tischlerei, und deshalb betrat Nadine sie nicht. Doch Carl war stur. Er wollte ihr nicht sagen, was darin war, er wollte es ihr zeigen. Einmal hatte sie ihn gefragt, ob ihn ein Leben so voller Staub, so voller scharfkantiger leerer Schränke denn befriedige. Es war vor anderthalb Jahren gewesen. Er hatte auf ihrer Veranda gesessen und gesagt, im Gegensatz zu frisch gesägter Eiche rieche Sägemehl süß. Von dem Projekt aber, dem er sich damals schon verschrieben hatte, wagte er nichts zu sagen. Es befand sich ohnehin noch im Anfangsstadium. Sie liebte ihre Straße und die alten Häuser so sehr. Carl aber dachte an das Ende, und so war er zur Tat geschritten. Und schon bevor er anfing, wusste er, dass er für Nadine baute.
Er hatte das alte Haus in der Worth Row gekauft, weil er im hinteren Zimmer wohnen konnte und in den beiden anderen mehr als genug Platz zum Tischlern hatte. Anfangs hatte Nadine ihm gegrollt, weil er kein Antiquitätenhändler war, doch als er ihr eine Vitrine nach Maß gebaut und mit einer zusätzlichen Zeile auf seinem Ladenschild kundgetan hatte, dass er auch alte Möbel aufarbeite, hatte sie ihm verziehen. Es kam zwar nie dazu – er verlangte horrende Preise –, doch das Schild hielt Nadine bei Laune. Und er mochte eine Nadine, die bei Laune war. Jeden Tag schaute er aus dem vorderen Fenster, um zu sehen, was sie anhatte, stets etwas Altes, etwas aus hauchdünnen Stofflagen, etwas Fließendes. Er sehnte sich nach ihr, wie er sich nach der Maserung von Holz sehnte, mit der er am liebsten verschmolzen wäre.