Joe Coomer
Amerikanisches Frühstück oder Wir sind hier nicht im Kino
Roman
Aus dem Englischen von Barbara Heller
FISCHER Digital
Joe Coomer wurde 1958 auf der Carswell Air Force Base in Fort Worth, Texas, geboren. Nach seinem Studium arbeitete er im Holzhandel.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Zwei Freunde, ein Leichenwagen und die schönste Frau der Welt – eigentlich kann danach im Leben nichts mehr schiefgehen ... Joe Coomer erzählt von der ersten, der verrückten, der großen Liebe.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-562184-4
Für Mark, Steve, Rusty, Zeke und Joe
Ich wache jeden Morgen mit einer Erinnerung auf. Lange bevor ich das Tageslicht sehe oder irgend etwas rieche, höre oder spüre, bevor ich auch nur mein eigenes Atmen wahrnehme, denke ich an gestern oder an letztes Jahr. Heute fand ich mich beim Aufwachen um vier Jahre zurückversetzt, lag noch hinten in unserem Leichenwagen, auf der langen, kalten Januarfahrt nordwärts, nach Decatur. Wir fuhren über den Natchez Trace Parkway. Es waren ein ruhiger, ereignisloser Nachmittag und Abend gewesen, gepflegte Wildnis über Hunderte von Kilometern, kein Verkehr, keine Tankstellen, nicht einmal ein Stuckey’s-Fast-food. Aber jetzt war es Mitternacht, und die Nacht war erfüllt von sich selbst, schwarz und mondlos. Es gab weder Verkehrszeichen noch Straßenmarkierungen, nicht einmal einen Mittelstreifen, noch irgendwelche Lichter. Fledermäuse flatterten uns vor die Scheinwerfer, und schließlich mußte Ford das Tempo drosseln. «Ein halbes Dutzend hab ich schon gekillt», sagte er. Moto saß neben ihm, ich selbst versuchte hinten ein wenig zu schlafen. Als ich merkte, daß der Wagen langsamer wurde, zog ich mich an der Lehne der Rückbank hoch. Ich sah mich im Rückspiegel, meine Zähne reflektierten den grünen Schein der Armaturenbrettbeleuchtung. Immer wieder segelten Fledermäuse aus dem Dunkel auf uns zu.
Ford wurde allmählich nervös. Auf der Highschool war er Ringer gewesen, aber die Fledermäuse machten ihn fertig. «Will jemand von euch fahren?»
«Nein.»
«Ich auch nicht.»
Er fuhr an den Rand, und wir stiegen aus, um Luft zu schnappen. In dem Sumpf unter uns sprang plätschernd ein Fisch. Steifbeinig gingen wir zum Kühler vor, um uns den Fledermausschaden anzusehen, aber es gab keinen: kein Blut, keine zarten Flughäute, keine Knöchelchen, nur ein unscheinbarer Nachtfalter, der noch schwach mit den Flügeln schlug, in dieser Januarnacht aus dem warmen Sumpf aufgestiegen, um am Kühlergrill unseres Autos zu sterben. Und dann zerriß ein kurzer, hoher Schrei von Ford die Nacht, als ein Blatt von einem Baum durch das Dunkel herabtrudelte, ins Scheinwerferlicht tauchte und vom Wind hoch- und fortgeweht wurde.
Wir lachten leise, alle drei, und stiegen wieder ein. Moto fuhr jetzt, Ford ging nach hinten, und ich setzte mich neben Moto, behielt die Straße im Auge und paßte auf, daß er nicht einschlief. Nach einer Weile machten wir ein paar Big Reds auf, und ich sagte: «Wer von seinen Freunden abgehängt wird, der trinkt den falschen Softdrink.»
Er sagte: «Ja» und «Ja, verdammt», ließ den Motor aufheulen und jagte den großen Leichenwagen über die lange, dunkle Straße. Und er und ich, wir zuckten kaum mit der Wimper, wenn wieder Fledermäuse auf uns zukamen.
Dann reißt die Erinnerung ab, wird zur Erinnerung einer Erinnerung, und ich finde mich im Hier und Jetzt wieder. Es ist Frühling. Ich habe bei offenem Fenster geschlafen, das erstemal in diesem Jahr, und die dünnen Vorhänge sind nach draußen geflattert und wehen dort im Wind, blähen sich und sinken herab, blähen sich und sinken herab. Vielleicht ist es doch noch zu früh, um das Fenster offenzulassen. Ich ziehe die Hand unter der Steppdecke hervor und fasse mir an die Nase. Sie ist kalt. Ich drehe mich auf die andere Seite und krieche etwas tiefer unter die Decke. Der Wind hat die Papiere vom Schreibtisch geweht, die ich gestern dort liegengelassen habe. Sie sind auf dem Dielenboden verstreut, eines ist sogar in den Flur hinausgesegelt. Bei jedem Luftzug winken sie mir mit ihren Ecken einen Gruß zu. Es ist Frühling. Die Luft, die von draußen hereinkommt, riecht nach nichts, und der Himmel bietet nichts als seine Bläue. Es ist, als hätte die Erde das Gedächtnis verloren. Ich denke über die Bläue nach, und plötzlich fällt mir ein, daß ich auch heute wieder die Morgendämmerung verschlafen habe, obwohl das Fenster nach Osten geht. Ich werde etwas dagegen tun müssen: nicht mehr so spät zu Bett gehen, damit ich früher aufwache. Morgen darf ich sie nicht verpassen. Sie ist im Frühling anders, heißt es, sie kommt in Wellen über die Hügel, und ich habe sie lange nicht mehr gesehen.
Ich schaue auf die Uhr – eine Minute vor acht – und bereite mich seelisch auf die acht Schläge vor, nicht von der Digitaluhr hier im Schlafzimmer, sondern von Grandpas monströser Kaminuhr im Wohnzimmer. Diese zyklopenhafte Uhr – sie hat ein Mahagonigehäuse mit schrägen Seiten – läßt keine Gelegenheit aus, ihre markerschütternden Schläge erschallen zu lassen: zur vollen Stunde, zur halben, zu den Viertelstunden, manchmal auch nur zum Spaß, denn es ist eine alte Uhr. Sie muß für einen Schwerhörigen gebaut worden sein. Wenn sie loslegt, erzittert das ganze Haus, und ich habe ein volles Jahr gebraucht, um nicht mehr davon aufzuwachen. Morgens nervt sie mich auch jetzt noch ein bißchen. Mich stört fast jedes Uhrengeräusch. Als Armbanduhr hatte ich immer eine Digitaluhr, bis mein Vater mir dieses Sporttaucherding geschenkt hat, wasserdicht bis sechzig Meter. Was er sich dabei gedacht hat, weiß ich nicht, mitten in Kentucky kann man damit nicht viel anfangen. Tiefer als bis auf den Grund des Spülwassers in meiner Küche kommt sie nie. Das ärgerliche an der Uhr ist, daß sie wie ein Metronom tickt, als sollte man fortwährend an irgend etwas erinnert werden. «Ja, ja, ist ja gut, verdammt noch mal!» möchte man sagen. Manchmal lausche ich dem Ticken eine geschlagene halbe Stunde lang und merke erst dann, daß ich mich die ganze Zeit mit nichts anderem beschäftigt habe als mit eben diesem Ticken. Jetzt bereite ich mich also seelisch auf die acht Schläge vor, rolle mich unter der Decke ganz eng zusammen, und los geht’s: GONG GONG GONG GONG GONG GONG GONG GONG. Das Haus zittert, ächzt und knarrt, der Wind frischt einen Moment lang auf, und es dauert ein paar Minuten, bis mir wieder warm wird.
Inzwischen scheint sich der Morgen wieder an sich zu erinnern. Ein Spatz kommt aufs Fensterbrett geflattert und flattert wieder davon, auf der Straße fährt ein Auto vorbei, und ich höre Zeke seinen Plastiknapf über den Betonboden der Veranda schieben. Gleich wird er an meinem Fenster auftauchen, die Pfoten auf dem Sims, die lange schwarze Schnauze schnuppernd, dann ein Winseln, aus seinem leeren Bauch heraus. Er ist wirklich der schönste Hund, den ich je gekannt habe, eine Promenadenmischung, eine Kreuzung zwischen Labrador und Schäferhund, schwarz und kräftig gebaut, ein kluges Tier. Er war Grandpas Hund, und jetzt ist er mein Hund – unser Hund, ein alter, schwarzschnauziger, zwischen den Beinen schnüffelnder, Beine bespringender Drei-Generationen-Hund.
Da ist er. Er klatscht seine überdimensionalen Pfoten auf den Sims (der mittlere Zeh links ist gebrochen und zeigt der Welt permanent den Stinkefinger) und legt die Schnauze dazwischen. Seine Nüstern blähen sich und fallen wieder zusammen, blähen sich und fallen wieder zusammen, und dann kommt das Winseln. Ich setze mich im Bett auf, und augenblicklich überzieht eine Gänsehaut meine Oberarme. Ich schnuppere an meinen Achselhöhlen – die alte, tierhafte Neugier –, weil ich herausfinden will, wieso er so sicher ist, daß ich da bin und sein Winseln höre. Um zu testen, ob er es nur errät, schlüpfe ich wieder unter die Decke, aber die Sprungfedern quietschen leise, Zeke wird ungeduldig und bellt, vielleicht das einzige Mal an diesem Tag, und da meine Tarnung aufgeflogen ist, werfe ich die Decke ab und setze mich auf.
«Okay, okay», sage ich. Ich höre ihn auf dem Boden aufkommen. Dann aber, statt des Geräuschs, das er macht, wenn er hinten ums Haus herum zur Veranda stürmt, um an der Fliegengittertür zu kratzen, ertönt ein kurzes Getrappel, und als ich zu ihm hinsehe, steht er schwankend auf dem Fensterbrett wie der Vogel vorhin, die vier Riesenpfoten in einer exquisiten Hundeballettfigur dicht beieinander, bis er schließlich herunterfällt, weil er sich, was seine Standfläche betrifft, verschätzt hat. Ich stehe auf und gehe zu ihm. Meine Füße sehen aus wie die der Hexe in dem Musical Das zauberhafte Land, nachdem das Haus über ihr eingestürzt ist: Die Zehen biegen sich nach oben, weg von dem kalten Boden. Ich streichle Zeke den Kopf, den er sich angestoßen hat, und er rappelt sich wieder auf, noch ein wenig benommen. Während ich die Vorhänge hereinziehe und das Fenster schließe, dreht er ein paar Runden durchs Zimmer. Neben dem kalten Gasofen vollführt er zwei Pirouetten, legt sich dann hin und wartet, bis ich soweit bin. Ich schlüpfe in die kalte Ziehharmonika-Jeans von gestern, stoße ein Fis aus, als der Reißverschluß mir wie ein Eiszapfen über den Bauch fährt, und denke daran, daß ich heute Wäsche waschen muß. Ein T-Shirt (Campus-Underdog), ein alter Pullover, dicke Socken und meine Turnschuhe, dann bin ich fertig.
Ich werfe die Decke übers Fußende und hebe die heruntergewehten Papiere auf. Zwei von ihnen tragen Zekes erdige Pfotenspuren, ihre hundenotarielle Beglaubigung, und ich bin ein bißchen stolz darauf. Eine subtile Bestätigung, im Moment weit wichtiger als das Diplom der University of Kentucky mit dem goldenen Siegel an der Wand über meinem Schreibtisch. Es hängt seit einem knappen Jahr dort, nachdem ich vier Jahre gebraucht habe, um es zu erwerben. Nicht daß ich nicht stolz darauf wäre, nur war der Erwerb des Diploms wesentlich vielversprechender als sein Besitz jetzt. Könnte ich mein Wissen auf ein paar Dinge anwenden, ich wäre wahrscheinlich ein zufriedener Platon oder sonst jemand – aber was soll’s. Manchmal könnte ich mich ohrfeigen, weil ich die Dinge so klar sehe. Ich bin zu streng mit mir. Ich bin schwer zu umgehen, sage ich mir, ganz allein in diesem großen alten Haus.
Das wird wieder so ein Tag, denke ich, als ich am Schreibtisch stehe. Ich werde mir wieder überallhin folgen.
Schnell den Flur hinunter, zum Pinkeln und auf ein Schaudern – ein Hinweis auf den Wärmeverlust –, dann gehen Zeke und ich in die Küche. Ich bin noch jung genug, um mir zu wünschen, es wäre schon jemand dort; sie ist so schrecklich leer. Ich schalte das Licht an, doch es dauert ein paar Sekunden, bis die beiden ringförmigen Leuchtstoffröhren all den Strom aufnehmen können. Wahrscheinlich jage ich ihnen eine Heidenangst ein. Sie werfen ein erschrockenes weißes Licht auf den Kühlschrank, den Herd und die Küchenschränke. Die Schränke sind mindestens ein halbes dutzendmal weiß gestrichen worden und lassen sich schwer öffnen. Ich nehme eine gußeiserne Pfanne heraus – eine von denen, die einem schier das Handgelenk brechen, wenn sie voll Bratensoße sind und man sie vom Herd nimmt – und fange an, die Eier zu braten. Zeke mag seine drei gern gebraten und frißt sie, wie ein Mensch frische Austern ißt. Ich mache zuerst seine und stelle sie zum Abkühlen beiseite, dann meine beiden. Dazu eine Scheibe Toast und ein Glas Milch. Amerikanisches Farmerfrühstück mit Hund. Ich stelle die Eier auf den Tisch, meine zum Essen, Zekes, damit sie noch etwas abkühlen. Der Tisch stammt aus den späten vierziger Jahren – Resopalplatte und verchromte Beine, wie man es damals hatte. Den alten Eichentisch soll meine Großmutter, die ich nie gekannt habe, weggeschenkt haben, und als der neue kam, rief sie: «Keine Tischdecken, keine Weinflecken mehr!» Beim Frühstück kratze ich oft geistesabwesend mit der Gabel den jahrzehntealten Dreck zwischen Resopal und Chromeinfassung hervor. Zeke winselt tief aus dem Bauch heraus. Ich halte ihm mit der Gabel ein Ei hin, er schnuppert daran, und ich sage: «Siehst du?» Ja, er findet auch, daß es noch zu heiß ist, und ich lege es auf den Teller zurück. Ein ungeduldiger Hund, aber vernunftbegabt und kompromißfähig. Ich schaue zum Fenster hinaus und denke, daß dieser Hund einen hervorragenden Schlichter bei Tarifkonflikten abgeben würde.
Veranda und Auffahrt bieten heute ihren charakteristisch verschwommenen Anblick. Das Sprossenfenster, durch das ich hinausschaue, ist so alt wie das Haus selbst, siebenundsechzig Jahre, die Scheiben sind oben papierdünn und unten mehr als einen halben Zentimeter dick. Das Glas ist voller Wellen und Blasen, und wie jeder Wasserlauf fließt es wirklich und wahrhaftig ins Meer. Ich gebe Zeke eine von seinen Austern. Das Verandageländer beschreibt Wellenlinien, und die Garage jenseits der Auffahrt neigt sich bedrohlich nach links – ein Lastkahn, in Seetang versunken. Die ganze Welt steht unter Wasser, mich selbst hat eine eingeschlossene Luftblase gerettet. Neben der Garage, umgeben von verdorrten Sonnenblumenstengeln, starrt mich der Leichenwagen an, ausdruckslos wie ein toter Fisch. Fast bin ich versucht, mich zu entschuldigen.
Aber ich bin derjenige, der gefangen ist. Das erste, worüber ich nachdenke, wenn ich einmal damit anfange, ist gewöhnlich der Leichenwagen. Es ist alles so unendlich lange her, und natürlich ist jetzt nichts mehr daran zu ändern. Auf die eine oder andere Art habe ich sie tatsächlich alle überlebt: den Leichenwagen, Ford, Moto, Grandpa und sogar Mary. In den letzten dreieinhalb Jahren hatte ich zum Kämpfen nur noch mich selbst. Und jetzt geht es mir, denke ich, wirklich gut. Ich fühle mich wohl. Es macht mir nichts mehr aus.
Ich spieße Zekes restliche zwei Eier auf und halte sie ihm hin, er schlingt sie hinunter und fährt sich mit der Zunge um die ganze Schnauze herum, so wie man mit dem Finger am Gummizug einer Badehose entlangfährt. Er geht zum Herd, dreht wieder zwei enge Hundepirouetten und legt sich dann hin, verschraubt sich fest mit der Erde. So schön er ist, so alt und müde ist er auch, er wird allmählich langsamer, während ich jetzt, gerade jetzt, nach und nach wieder Mut fasse. «Komm», sage ich, und er springt auf, folgt mir zur Tür hinaus auf den Hof, und wie durch ein Wunder – wir sind ehrlich erstaunt und sehen uns dümmlich grinsend an – ertrinken wir nicht.
Wir entschieden uns für die University of Kentucky, Moto, Ford und ich, weil sie weit weg von Fort Worth war und weil wir uns unter der Adresse meines Großvaters in Decatur dort immatrikulieren konnten und so in den Genuß ermäßigter Studiengebühren kamen. Dann, als wir herausfanden, daß es keine vernünftige Möglichkeit gab, von Decatur nach Lexington und zurück zu kommen, kauften wir ihn, den Leichenwagen, für zweihundert Dollar pro Person. Es war ein wunderbares Fahrzeug: ein 6-Liter-Motor unterm Deckel, wie Moto (unser Mechaniker-As) die Kühlerhaube nannte, und alle möglichen Anlasser, Lichtmaschinen und Vergaser, alles, was man so braucht. Hinten konnte man sich, wenn man wollte, in voller Länge ausstrecken und schlafen – zum Glück, denn von Fort Worth nach Lexington und zur Universität in Kentucky sind es eintausendvierhundertdreiundvierzig Kilometer. Es roch nicht etwa schlecht in dem Wagen, falls Sie das glauben. Wir säuberten ihn gründlich und montierten neue Reifen. Es war ein achtundsechziger Cadillac, schwarz mit schwarzen Gardinen, nur mit der Lackierung stimmte etwas nicht: Sie hatte etwas Irisierendes, wie ein Ölfilm auf nasser Straße. Für unsere Big Reds baute Moto eine Kühlbox in Form eines Kindersargs, was zugegebenermaßen etwas makaber war. Um schneller über verstopfte Kreuzungen zu kommen, hatten wir stets eine alte Chauffeursmütze dabei. Niemand macht einem Leichenwagen die Vorfahrt streitig, und kein Polizist hielt uns je an, auch wenn wir noch so schnell fuhren. Wahrscheinlich ein ungeschriebenes Gesetz. Die Ehrfurcht vor den eilig Dahinscheidenden. Die düstere Chauffeursmiene, die Moto aufsetzen konnte, machte einen fix und fertig. Wer seit einer halben Stunde an einer Kreuzung festsaß, mochte im ersten Moment stocksauer sein, wenn Moto an ihm vorbeizog, aber sobald er seine Unterlippe sah, die wie ein Steak herabhing, stellte er sich vor, Moto hätte Romeo und Julia hinten drin. Ich habe mich immer gefragt, ob Julia schwanger war, als sie starb. So etwas nennt man Tragik. Aber ich schweife ab.
Jedenfalls ist es jetzt gegen Mittag, und wir sitzen im Auto, vor viereinhalb Jahren, im Januar, und biegen in die vereiste Schotterstraße zur Farm meines Großvaters ein. Die Farm ist ungefähr siebzig Kilometer von der Universität entfernt, und seit Ende des Herbstsemesters, als Moto, Ford und ich auf der Heimfahrt bei ihm Station machten, habe ich Grandpa nicht mehr gesehen. Wir müssen die lange Zufahrt die Anhöhe hinauf im Leichenwagentempo nehmen, sie ist von tiefen Traktorfurchen durchzogen, und aus dem gefrorenen Matsch ragen steinerne Eisberge auf.
«Gleich verlieren wir den Auspufftopf», sagt Moto. «Wir sind alle drei noch Jungfrau, und jetzt verlieren wir auch noch die Auspuffanlage.» Er sagt es ganz kühl und beiläufig, aber Ford erschrickt ein bißchen. Auf der Highschool hatte Ford ein Auto, von dem ständig der Auspufftopf abfiel, so daß man ihn schon auf drei Kilometer Entfernung hörte. Er war überzeugt, daß die Mädchen nur deshalb nichts von ihm wissen wollten.
«Fahr um Gottes willen langsamer, Hart», sagt er und wischt sich die Hände an seinen Jeans ab.
Ich sitze am Steuer. Mein Vater heißt auch Hart. Er ist derjenige, der nach dem Dichter Hart Crane genannt worden ist, nicht ich. Ich wurde nach meinem Vater genannt.
Ich fahre also mit dem Fuß auf der Bremse weiter, und Ford und Moto entspannen sich etwas. Wir hatten zwei Prioritäten, als wir im Herbst auf die Universität kamen: Jungfräulichkeit und Studentenverbindung. Vom einen wollten wir weg, zum anderen wollten wir hin. Es gibt nichts Neues unter der Sonne, werden Sie denken, ich weiß. Aber das denken nur die Nicht-Jungfrauen unter Ihnen. Wir wurden auf Probe in eine Studentenverbindung aufgenommen, und so blieb nur noch die Sache mit der Jungfräulichkeit. Vor uns lagen dreieinhalb Studienjahre, wir hatten also noch jede Menge Zeit. Wir dachten, wir könnten in diesem Semester sogar ein bißchen studieren. Der Druck war weg.
Schneereste lagen unter Büschen und Bäumen und am rechten Fahrbahnrand. Grandpa machte im Sommer Heu, um im Winter das Vieh, das er züchtete, damit zu füttern. Ich sah ihn jetzt auf halber Höhe des ersten «Berges» hinter dem Haus. Die Berge waren eigentlich nur Hügel und Buckel, aber davon wollte Grandpa nichts wissen. Er erzählte jedem, er besitze hundertzwanzig Hektar Berge. Er saß auf seinem Traktor, den Anhänger voll Klee, und hielt von Zeit zu Zeit an, um bei einer Gruppe weißgesichtiger Hereford-Rinder ein oder zwei Ballen abzuladen. Als er uns sah, winkte er uns zu, und da ich wußte, daß er gleich nachkommen würde, gingen wir, als wir am Haus angelangt waren, einfach hinein.
Es war warm drinnen, in jedem Raum gab es einen Gasofen. Grandpas kleiner Weihnachtsbaum stand noch da, eine dürre Kiefer, vielleicht der Wipfel eines größeren Baumes. Ich schloß sie sofort ins Herz. Sie war mit einer zahnlückigen Popcornkette und drei roten Glaskugeln geschmückt, Überlebenden aus Grandmas Zeiten, mit Büroklammern befestigt. Der Baum färbte sich bereits braun, und der Boden darunter war von Nadeln übersät. Moto trug die Kindersargkühlbox auf der Schulter ins Haus, und wir gingen in die Küche, um uns nach etwas Eßbarem umzusehen. Moto und ich stürzten uns auf eine unangebrochene Packung Reis-Krispies, und Ford ließ sich zu einem Ei herab, nachdem ich ihn davon überzeugt hatte, daß das Fehlen einer Teflonbeschichtung in der Pfanne kein unüberwindliches Hindernis sei und daß braune Eier genauso gut schmeckten wie weiße. Das war etwas, was ich den beiden voraus hatte. Ich war jahrelang jeden Sommer bei Grandpa gewesen, und vom Landleben verstand ich etwas. Ich saß bereits über meiner zweiten Portion Reis-Krispies, als Moto endlich den ersten Löffel in den Mund schob. Da kam Grandpa herein. Er sah selbst wie ein Puffreiskorn aus, braungebrannt noch im Januar, rotwangig und voll Saft und Kraft. Die Kälte hatte ihm Tränen in die dunklen Augen getrieben, und die Adern in seiner Nase leuchteten rot. Er rieb sich die Augen, fuhr sich mit der Hand über die weißen Bartstoppeln und sagte: «Jungs!»
Irgend etwas am Anblick eines Raumes voll essender Jungen belustigte ihn ungeheuer. Er verzog das Gesicht zu einem Grinsen und brach schließlich aus unerfindlichen Gründen in Gelächter aus, und ich fragte mich wieder, ob er etwas wußte, was andere nicht wußten. Neben dem traurigen Weihnachtsbaum blieb er stehen, zupfte ein Popcorn ab, steckte es in den Mund und fing an zu brüllen, alles im selben Augenblick.
Ich verstand kein Wort. Mir wurde plötzlich klar, daß der arme Weihnachtsbaum erst dann wegkommen würde, wenn die Popcornkette aufgegessen war. Was würde Grandpa mit den drei roten Kugeln machen, wenn alle Nadeln abgefallen waren, das Popcorn verdaut und der klägliche Stamm verheizt? Solche Dinge kamen mir bei Grandpa jedesmal in den Sinn, doch kaum war ich fort, vergaß ich sie wieder. Im folgenden Semester kam ich aus dem einen oder anderen Grund alle paar Wochen ein- oder zweimal auf die Farm, aber ich kann mich nicht erinnern, wann der Weihnachtsbaum aus seiner Ecke verschwand. Ich weiß nur noch, daß irgendwann ein Kleiderständer seinen Platz einnahm, denn im Sommer darauf stand er dort, und er steht noch heute da. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr mir das zu schaffen macht – daß ich nicht weiß, wann genau Grandpa diese verdammte tote Kiefer aus dem Haus geschafft hat. Dieser Zeitpunkt ist für immer verloren, und manchmal empfinde ich das so stark wie den Verlust des alten Mannes selbst.
Er setzte sich mir gegenüber an den Resopaltisch und stieß seufzend einen Schwall Luft aus, gab Moto einen Klaps auf den Nacken, ließ die Hand dort liegen und schüttelte Moto durch, so heftig, daß sein Kopf hin und her schleuderte. Moto hatte gerade einen Löffel voll Reis-Krispies in den Mund geschoben, und der Löffel klapperte gegen seine Zähne. Endlich ließ Grandpa ihn mit einem «Wie geht’s, Junge?» und einem weiteren Klaps auf den Nacken los.
«Gut, Mr. Scatter, bestens.»
Grandpa verschränkte für etwa eine Sekunde die Arme auf dem Tisch und faßte Ford ins Auge, und während Ford schleunigst die Gabel hinlegte und irgend etwas davon murmelte, daß es ihm ebenfalls sehr gutgehe, langte Grandpa mit beiden Händen zu ihm hinüber und versetzte ihm links und rechts eine Ohrfeige. Dann stützte er sich wieder auf die verschränkten Arme. Es kam natürlich nur darauf an, daß man seine Augen beobachtete. Ich wußte das, hatte es immer gewußt. Aber dann schloß ich messerscharf, daß er mir nichts tun konnte, solange seine schwere Brust auf diesen Flügeln ruhte, die er Arme nannte. Und kaum hatte ich das erkannt, hakte er den Fuß um meinen Knöchel und riß mich komplett unter den Tisch.
«Du lieber Himmel, Grandpa, mir geht’s auch gut!» rief ich, und er schob seinen Stuhl zurück, schaute zu mir unter den Tisch und seufzte.
«Bist ein guter Junge, Hart, hast mir gefehlt. Wie war’s an Weihnachten?»
«Auch gut, Grandpa. Mom ist sauer auf dich, weil du nicht gekommen bist.»
Ich rieb mir den Hinterkopf, den ich mir an der Stuhlkante angeschlagen hatte. Als ich aufstand, stemmte auch Grandpa sich wieder hoch, auf dem Gesicht dieses unentwegte Lächeln.
«Tja, ich hab mich hier nun mal um einiges zu kümmern. Man kann nicht einfach nach Texas fahren und hundert Stück Vieh mit den besten Wünschen zurücklassen.»
«Nein, kann man nicht. Unmöglich», sagte Ford.
«Auf keinen Fall. Ausgeschlossen», sagte Moto.
Man sieht, die beiden waren richtige Klugscheißer, ohne jede Ehrfurcht vor dem Alter, und sie wußten, daß man von Grandpa, wenn er einen mal erwischt hatte, nicht mehr allzuviel befürchten mußte. Sobald man ihm gesagt hatte, daß es einem gutgehe oder warum es einem nicht gutgehe, wurde er sanft wie ein Lamm.
Man sieht, Grandpa wußte, wie man zwei Klugscheißer-Erstsemester ohne jede Ehrfurcht vor dem Alter in tödliche Verlegenheit bringt. Er sagte dauernd solche Sachen zu Moto und Ford, zu mir aber nie, und er schimpfte mit ihnen herum, nicht aber mit mir. Ich konnte im selben Raum sein, wenn er sich seinen Spaß mit ihnen machte, aber er schaute dabei nie zu mir her. Als könnte meine Mutter sonst irgendwie Wind davon bekommen. Ford und Moto waren seine Freunde, aber ich war sein Enkel, und einem Enkel gegenüber machte man keine Anspielungen auf Masturbation. Wären Moto und Ford nicht gewesen, Grandpa und ich hätten uns wohl kaum näher kennengelernt. Aber sie waren da, oft sogar, und dadurch kam ich ihm, glaube ich, so nahe wie wohl niemand vorher. Ich war sein Enkel und dank Ford und Moto ein Freund, den er eben nur nicht ansah. Er konnte mich lieben und mir zu verstehen geben, daß er auch nur ein Mensch sei. Aber manchmal war es schon seltsam. Er erwartete von mir, daß ich mich ebenso benahm. Kurz vor Weihnachten kam ich einmal in die Küche, um mit ihm Abend zu essen. Moto und Ford waren noch draußen. Als ich mich auf den Stuhl setzte, streifte ich eine Gabel, die über die Tischplatte hinausragte, und sie segelte im hohen Bogen durch die Küche. Ich sagte: «Ach verdammt, ich Arschloch», und er sah von seinem Hamburger auf und schaute mich an, als würde er mich nicht erkennen, als wäre ich die übelste Dreckschleuder, die ihm je ins Haus gekommen sei. Es war ein schrecklicher Blick, und ich fühlte mich den ganzen Abend mies. Wären Moto und Ford dabeigewesen, wäre das ganze nur spaßig gewesen, und vielleicht hätten wir ein Gabelschleudermatch veranstaltet. Grandpa hatte für jeden, den er kannte, seine ganz speziellen Verhaltensregeln, und ich fiel zufällig in zwei Kategorien gleichzeitig. Ich mußte auf der Hut sein.
Jetzt aber waren Ford, Moto, Grandpa und ich alle beisammen, und «Rotzlöffel» war ein erlaubter Ausdruck. Ich schenkte Ford und Moto ein Glas Big Red ein, als Balsam für ihre verletzte Seele, und sagte: «Es gibt nichts Gutes oder Schlechtes, erst Big Red macht es dazu.» Das möbelte sie wieder auf.
«Alter Sadist», sagte Moto zu Grandpa.
«Quatsch», sagte Grandpa, stand auf und briet Ford noch ein Ei mit Schinken. Moto und mir schüttete er den Rest Reis-Krispies in unsere Schalen. Um uns zur Eile anzutreiben, erzählte er uns von einem Ochsen mit einem eitrigen, schon fast aufgeplatzten Auge, eine Geschichte, die fabelhaft zu den Reis-Krispies paßte. Nachdem Moto liebevoll das letzte Krispie aus seiner Schale gefischt hatte, stand Grandpa auf und sagte: «Was habt ihr heute nachmittag vor, Jungs?»
Es war ein erbarmungswürdiger Anblick: drei erwachsene junge Männer, die an einem Küchentisch sitzen und mit dem Nachgeschmack von Eiern und Reis-Krispies im Mund krampfhaft versuchen, sich etwas einfallen zu lassen, weil sie wissen, daß sie sonst den ganzen Nachmittag mit Heu, Rindern oder Stacheldraht zugange sein werden. Wir waren schlicht überfordert. Grandpa hatte wohlweislich abgewartet, bis das letzte Krispie aufgelöffelt war. Die achtzehn Stunden im Leichenwagen hatten uns zu willenlosen Arbeitstieren gemacht.
Ich sagte: «Also, um neun müssen wir im Verbindungshaus sein, Grandpa, aber bis dahin haben wir nichts weiter vor.»
Und Moto brachte die Sache zu Ende, tat, was getan werden mußte, und fragte: «An was haben Sie denn gedacht, Mr. Scatter?»
«Na ja», erwiderte Grandpa, «ich will euch ja nicht ausnutzen, Jungs, wo ihr nur mal hier reinschaut, aber (aber warum eigentlich nicht?) einer von meinen Ochsen ist durchgegangen, auf die Nachbarfarm, und der muß zurückgeholt werden. Wir vier und Zeke, wir werden alle zusammen ranmüssen, um ihn wieder durch das Loch zu kriegen, das er in den Zaun gerissen hat. Seid ihr dabei?»
Mitgefangen, mitgehangen. Ochsen in Menschengestalt. Eintausendvierhundert Kilometer von Texas rauf, um eine Kuh einzufangen. Ich hätte es wissen müssen. Das einzige, was Grandpa noch besser gefiel als essende Jungen waren arbeitende Jungen. «Es gibt nichts Traurigeres als einen Jungen, der nichts zu tun hat», pflegte er zu sagen. Es tat ihm in der Seele weh. Wenn er und ich samstags nach Decatur fuhren, um uns bei Spoonamore’s etwas zu essen zu holen, und er einen Jungen draußen sitzen und den Playboy lesen oder drinnen ein Bier schlürfen sah, dann schickte er ihn los, um irgend etwas für ihn zu erledigen, ihm, einem alten Mann, einen Gefallen zu tun. Ich hatte immer pure Bosheit dahinter vermutet, aber allmählich wird mir klar, daß er ehrlich überzeugt war, den Jungen einen Dienst zu erweisen, wenn er ihnen etwas zu tun gab. Moto, Ford und ich waren zwar keine solch bedauernswerten Wesen, wenn wir das Wochenende auf der Farm verbrachten, aber Grandpa erwies uns trotzdem immer irgendeinen Dienst. Diesmal war’s Küheeinfangen.
«Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was für einen Spaß mir das machen würde», sagte Ford.
«Auch ich kann die emotionale Befriedigung, die mir das bereiten würde, kaum in Worte fassen», schloß Moto sich an.
Ich wandte den Blick vom Fenster ab und sagte: «Höre ich Kühe muhen, oder ist es das Muhen meines Herzens?»
Lachsalven wie Anfälle von Erbrechen, während wir meinem tauben Großvater zur Tür hinaus folgten. Und los ging’s, Grandpa auf dem Traktor, wir drei hinten auf dem Anhänger, mit hinterherschleifenden Füßen. Ford sang: «Green acres is the place for me …», aber er sang es langsam und mit dunkler Stimme, wie zu einer Liebesszene in einer Seifenoper. Moto und ich kickten gefrorenen Kuhmist hoch. Der alte Traktor zog uns am Weiher und an der Tabakscheuer vorbei, über zwei Hügel und durch mehrere Gatter. Plötzlich kam es uns dreien vor, als hätte es aus dem grauen, feucht aussehenden Himmel zu regnen oder zu schneien angefangen. Wir streckten die Handflächen aus. Nichts. Doch dann spürten wir es wieder, rieben uns Arme und Nacken, und plötzlich stieß Moto einen Schrei aus und sperrte den Mund auf wie Charlie Brown, wenn er den Football mal wieder nicht erwischt hat. Er sprang ab, schlug sich auf den Nacken und zeigte völlig entgeistert auf Grandpa. Wir drehten uns um, und fast im selben Moment beugte Grandpa sich über den Kotflügel des Traktors und spuckte einen Strahl braunen Tabaksaft aus, den der Wind zu langen, spinnwebartigen Schlieren verwehte, die uns über die Nase und die geöffneten Lippen flatterten. Nach so etwas kann man sich das Gesicht gar nicht lange und gründlich genug abwischen. Ford und ich sprangen ebenfalls ab und gingen ein Stück vor Grandpa neben dem Traktor her.
Auf dem dritten Hügel wartete Zeke auf uns, eine Hundesilhouette gegen den Himmel. Er hatte den längeren Weg am Bach entlang genommen, um nach Kaninchen oder anderem Getier Ausschau zu halten. Anscheinend hatte er nichts gefunden und begnügte sich jetzt mit uns. Als wir bei ihm angelangt waren, trat er neben Moto ins Glied. Genauso war es. Wir waren zwei Militärkolonnen, die in die Wüste vordringen. Mit ernsten Mienen, den Blick geradeaus, im Schutz des alten Ford 8N, unseres schweren Geräts, vorwärtsmarschierend, fest entschlossen, unsere Grenzen zurückzuerobern, unsere Zäune zu reparieren: Grandpa der tabakkauende grimmige Sergeant, Moto, Ford und ich die jungen Soldaten, patriotisch und, ja, auch ängstlich, nur ein Dummkopf wäre das nicht gewesen – wir hoben Steine auf, warfen sie in die Bäume, und Zeke, der tapfere, treue Munitionshund, der sich, wie jeder weiß, aufs Feld der Ehre stürzt, um Verwundete in Sicherheit zu bringen. Oder aber wir waren Ritter und Pilger auf der Suche nach dem Gral, einer heiligen Kuh.
Wir passierten einen vierten Hügel – oder Berg –, ein weiteres Gatter und eine Weide und erreichten endlich das Loch im Zaun, durch das der Ochse entkommen war. Grandpa fuhr Traktor und Anhänger an den Rand, und wir stiegen durch die Öffnung auf die andere Seite. Die Weide jenseits des Zauns war klein. Der Ochse stand ganz hinten. Er war noch jung, wahrscheinlich keine sechs Zentner schwer, ein gedrungener, großäugiger, weißgesichtiger Bursche, der uns unverwandt ansah. Ich kam mir jetzt nicht mehr wie ein Kreuzfahrer oder ein Soldat vor. Es war kalt; der Wind, der von den Hügeln pfiff, hob meine Augenlider an, und dicke Tränen quollen darunter hervor.
Wir setzten uns in Bewegung, ohne den Ochsen aus den Augen zu lassen. Plötzlich überlief ihn ein Schauer, vielleicht der Eiseskälte wegen, und er rannte den hinteren Zaun entlang, blieb stehen und rannte wieder zurück.
«Der wird uns Schwierigkeiten machen, der Hurensohn», flüsterte Grandpa.
Ford und Grandpa schwenkten nach links, Moto und ich nach rechts, und Zeke, der spürte, daß es endlich etwas zu jagen gab, lief geradeaus weiter. Als wir Menschen am hinteren Zaun angelangt waren, bewegten wir uns von zwei Seiten auf den Ochsen zu, der jetzt wie ein Sägebock dastand, breitbeinig, den Kopf gesenkt. Er nahm Zeke ins Visier. Noch ungefähr sechs Meter trennten uns von ihm, als er plötzlich in einem perfekten Ausfall zwischen uns hindurchpreschte, schnurstracks auf Zeke, unseren furchtlosen Abwehrspieler, zu. Zeke ergriff die Flucht und rannte, den Ochsen auf den Fersen, in weitem Bogen davon, schlug mehrere Haken und schüttelte ihn auf diese Weise ab. Erstaunlich, wie schnell ein Hund mit eingezogenem Schwanz laufen kann. Wir kamen von hinten heran und trieben den Ochsen auf das Loch im Zaun zu. Es war ganz einfach. Sobald er sich nach rechts oder links wandte, warfen wir die Arme hoch und brüllten. Moto konnte sich erst nach mehreren Anläufen dazu überwinden; er komme sich albern vor, sagte er, wie im Kino, wenn er einer Kuh ein «Ho!» zurufe. Aber er machte seine Sache gut. Als der Ochse einmal direkt auf ihn zustürmte und keinerlei Anstalten machte stehenzubleiben, wurde auch Moto klar, daß «Ho!» ein nützlicher und angemessener Ausruf war. Danach genierte er sich kein bißchen mehr und machte ausgiebig davon Gebrauch, ein paarmal sogar unnötigerweise, als das Tier weit von ihm entfernt war.
Endlich hatten wir den Ochsen an der Öffnung und rückten ihm brüllend, armeschwenkend und händeklatschend auf den Leib. Aber er scheute. Er hob den Kopf, schaute auf die andere Weide hinüber und scheute. Dann wandte er sich um, drehte sich buchstäblich im Kreis und stand Zeke Auge in Auge gegenüber. Zeke duckte sich schnell, stieß ein halbherziges Bellen aus, und als er merkte, daß er keine Chance hatte, trat er den Rückzug an. Darauf nahm der Ochse Moto ins Visier, der sich ebenfalls ein wenig duckte und dann ein «Ho!» stammelte, das der Ochse mit dem linken Vorderhuf in die Erde stampfte. Moto trat einen Schritt zur Seite, und der Ochse stürzte vorwärts, doch als er die Lücke in unseren Reihen erreichte, warf Ford sich auf ihn und klammerte Arme und Beine um seinen Hals. Es war ein großartiger Ringergriff. Das Tier blieb stehen und schüttelte sich, aber Ford ließ nicht locker, auch nicht, als er seitlich von seinem Rücken abrutschte, so daß sein Gesicht fast das des Ochsen berührte.
«Hilfe!» schrie er.
Moto streckte die Hände aus wie jemand, der verhindern will, daß man ihm etwas Heißes zuwirft, und rief: «Ho!» und noch einmal «Ho!».
«Nicht loslassen, Junge, wir haben ihn!» Grandpa lief um Ford und den Ochsen herum. «Helft ihm, Jungs! Halt ihn fest, Hart!»