Joe Coomer
Der Papagei, das Telefon und die Bibliothekarin
Roman
Aus dem Englischen von Barbara Heller
FISCHER Digital
Joe Coomer wurde 1958 auf der Carswell Air Force Basis in Fort Worth, Texas, geboren.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Lyman, 30 Jahre, Besucher unzähliger Collegekurse von Russisch bis Bogenschießen, hilft nachts gestrandeten Autofahrern weiter. Eines Tages erhält er überraschend Besuch in seinem Wohnwagen: Ein Papagei fliegt ihm zu, führt sich mit den Worten «lch bin ein Adler» ein und krempelt von da an Lymans Leben um.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-562185-1
Den Hunden gewidmet
Es war Winter geworden. Welke Blätter wirbelten vorüber und tippten gegen das rostige Drahtgeflecht der Fliegengittertür. Er saß hier jeden Morgen, nahe der offenen Tür, sah durch den Fliegendraht in seinen Garten und stellte sein Gedächtnis auf die Probe. Was hatte sich seit gestern verändert? Das Gitter zerlegte die Welt in Einzelteile, und er war überzeugt, daß er, wenn er jeden Morgen um dieselbe Zeit an derselben Stelle saß, eines Tages den Moment einfangen, den Punkt wahrnehmen würde, an dem die Zukunft sich von der Vergangenheit löste. An manchen Tagen schaute er so konzentriert, daß jenseits des Gitters alles verschwamm und nur noch ein sanftes Gefühl der Leere blieb. Das Geflecht dehnte sich aus, begann zu schweben, zu fließen, und schließlich fingen sich Fische darin, Fische mit glänzenden scharlachroten Kiemen. Dann spürte er ein verwirrendes Drängen, die Ahnung eines günstigen Moments ließ ihn erschauern, und seine Hand zuckte nach den Fischen, als hätte er sich verbrannt, als hätte er einen Stromschlag bekommen oder sich an einem Angelhaken geritzt. Fast hätte er seine Kaffeetasse fallen lassen.
Das spärliche Gras jenseits der Tür war braun, der verwitterte Lattenzaun grau und die Blätter so trocken, daß sie zu Staub zerfielen, wenn sie über den Boden trudelten. Es ist Winter geworden, dachte er, aber wann?
Da kam der Papagei. Er landete auf dem Türgriff, ließ sich gleich darauf wie ein Stein auf eine darunter gespannte Schnur fallen, verharrte dort mit dem Kopf nach unten und schaute in die Küche. Einen Moment lang war Lyman so verblüfft, daß er glaubte, nicht der Papagei, sondern er selbst hinge mit dem Kopf nach unten. Er öffnete den Mund. Der Vogel öffnete den Schnabel. Das Gelb und Grün seines Gefieders stach geradezu unverschämt gegen das Grau des Gartens ab. Aber auch er war verwittert: An seiner Brust war ein Büschel Flaumfedern ausgerissen, zwischen seinen Augen klebte Blut, und von einem Flügel stand eine abgeknickte Feder zum Schnabel hoch, so daß es aussah, als wollte er sich am Kinn kratzen. Lyman wollte den Moment festhalten, wehrte sich gegen das allzu Naheliegende, konnte dann aber doch nur stottern: «L-L-L-Lora, willst du ein …»
«Halt die Klappe!» kreischte der Vogel.
Sofort war Lyman von seiner Echtheit überzeugt. Als der Papagei jedoch nichts weiter von sich gab und auch nicht davonflog, wurde er wieder unsicher. Gebannt starrte er auf das leuchtendgrüne Gefieder, die gelben Augen, das Baumeln des Vogelkörpers im Wind. Er fragte noch einmal: «Lora, willst du ein …»
«Halt die Klappe!»
Das schrille Krächzen traf Lyman wie eine Ohrfeige. Der Moment, der Moment, der Moment, dachte er, doch der Papagei unterbrach seine Gedanken erneut. Er kletterte auf den Türgriff zurück und riß mit dem Schnabel dreieckige Löcher in den Fliegendraht. Seine Nackenfedern sträubten sich, und er zog den Kopf ein. Dann wandte er sich Lyman direkt zu.
«Ich bin ein Adler», sagte er und noch einmal: «Ich bin ein Adler.»
Lyman war sprachlos. Er nickte bedächtig und stellte seine Kaffeetasse auf den Boden. Dann stand er auf, ging zur Tür und öffnete sie vorsichtig. Der windzerzaustc Vogel umklammerte mit dem Schnabel die Türkante, schwang erst den einen, dann den anderen Fuß um die Kante herum auf den inneren Türgriff und ließ die Kante wieder los. Lyman schloß die Tür behutsam und trat beiseite.
Lange Zeit hatte es nur die Hunde gegeben, die er begrub. Die Scheinwerfer seines Streifenwagens und der vorüberfahrenden Autos warfen seinen Schatten in voller Größe in die Nacht am Straßenrand, seinen Schatten, der flache Gräber aushob, für die Kadaver zerschmetterter, aufgeschlitzter, in Stücke gerissener Tiere.
Lyman begann sich Notizen zu machen. Auf einen Block des Texas State Department of Highways schrieb er in kleiner, sauberer Schrift die Aussprüche des Papageis: «Halt die Klappe!» Darunter: «Ich bin ein Adler.» Und darunter: «Selbst ist der Mann.» Der Papagei hatte es viele Male zu ihm gesagt, mit einer Gewißheit, wie Lyman selbst sie nie gespürt hatte. Der Vogel schien seiner Sache sicher zu sein.
Lyman machte eine Polaroidaufnahme von ihm, als er auf der Lehne eines Küchenstuhls saß – eine einzige nur, weil der Vogel beim Aufzucken des Blitzlichts einen durchdringenden Schrei ausstieß und pfeilgerade gegen die Kühlschranktür flog. Er schien nicht gut zu sehen. Lyman merkte, wie angestrengt er schaute, wie er sein Blickfeld einengte, es erst mit dem einen, dann mit dem anderen Auge versuchte. Ab und zu hatte er etwas gesagt, und auch Lyman hatte mehrmals zum Sprechen angesetzt, doch jedesmal war sofort das schrille «Halt die Klappe!» oder das noch irritierendere «Selbst ist der Mann» ertönt. So schwieg er, bewegte sich langsam und hielt gebührenden Abstand von dem frappierenden Grün und dem schräggelegten Kopf. Trotzdem trat der Vogel auf seiner Lehne jedesmal unruhig von einem Fuß auf den anderen, wenn Lyman die Küche durchquerte. Lyman schloß die Tür, zog die Vorhänge zu und löschte die Lampe über dem Tisch, um das große geflügelte Tier zu beruhigen. Er wußte, daß man Käfige mit Tüchern zuhängte, wenn die Vögel darin schlafen sollten. Die Dunkelheit tat ihre Wirkung. Beide wurden schläfrig. Der Vogel senkte den Schnabel, um eine Feder zu putzen, und Lyman schüttete gähnend seinen Kaffee ins Spülbecken. Wahrscheinlich will er etwas fressen, dachte er. Was frißt ein Tropenvogel? Er sah im Schrank nach und stellte eine Schale mit einer bunten Mischung zusammen: Captain-Crunch-Frühstücksflocken, Salzbrezeln, Käsecracker, Zwiebel- und Knoblauchcroûtons. Dann trat er vorsichtig an den Tisch und schob die Schale über die Resopalplatte zu dem Papagei hin, der in der anderen Ecke des Raumes noch immer auf seiner Lehne saß. Sofort hüpfte der Vogel auf den Tisch, und Lyman schrak zusammen. Das Tier beäugte die Croûtons und Salzbrezeln aus nächster Nähe, und ein vierzehiger Fuß, fast eine Hand, streckte sich zögernd vor, ergriff eine Brezel und führte sie zum Schnabel. Der Schnabel ließ sie wieder in die Schale fallen, und der Vogel kehrte mit einem kurzen Hüpfen und Flattern auf seinen Stuhl zurück.
«Was dann?» fragte Lyman.
Der Papagei sah zu ihm auf, und Lyman registrierte plötzlich, daß er ihm nicht ins Wort gefallen war.
«Du hast mich gar nicht unterbrochen.»
Der Vogel hob eine lange Kralle zwischen die dicklidrigen Augen und kratzte an dem Schorf. Lyman ging zum Kühlschrank, öffnete die Tür und bückte sich, um zu sehen, was er ihm sonst noch anbieten konnte. Da hörte er über sich rasches, heftiges Flügelschlagen, und sofort dachte er nur noch an die langen Krallen und den dicken, gekrümmten Schnabel. Er schrie auf, duckte sich tiefer und bedeckte den Kopf mit den Armen. Der Papagei schrie ebenfalls, schrie im Flug, während er herabsegelte, schrie aus dem Dunkel nach der Vierzigwattbirne hin.
«Gib dem Papagei auch was!» kreischte er und landete auf einem Rost im Kühlschrank. Lyman spähte unter den Armen hervor, die Augen zusammengekniffen, bereit, sich erneut zu schützen. Der Vogel durchstöberte den Kühlschrank, schob mit Kopf und Schnabel Flaschen beiseite, kletterte von Rost zu Rost. Hinter einer Milchtüte entdeckte er eine Pflaume, die er mit Fuß und Schnabel vorsichtig untersuchte.
«Okay», sagte Lyman, «schon verstanden.» Er griff um die andere Seite der Milchtüte herum nach der Pflaume, zeigte sie dem Papagei und legte sie auf den Tisch. Der Vogel folgte ihm, durchquerte die Küche diesmal jedoch auf dem Boden. Er watschelte über das Linoleum, hüpfte auf einen Stuhl und von dort auf den Tisch. Lyman trat beiseite, und der Vogel begann zu fressen. Ein warmer, wohliger Schauder durchlief Lyman, als er das fremde Wesen auf seinem Küchentisch eine Pflaume verzehren sah.
«Selbst ist der Mann» und «Ich bin ein Adler», sagte er, konnte dem Vogel jedoch keine Antwort entlocken. Er mußte herausfinden, wem der Papagei gehörte. Bestimmt vermißte ihn jemand. Wer hatte ihm so überspannte Dinge beigebracht? Er nahm noch zwei Pflaumen aus dem Kühlschrank, wusch sie gähnend und legte sie an den Tischrand. Das würde wohl bis zum Nachmittag reichen. Einen Käfig hatte er nicht, aber dann fiel ihm ein, daß der ganze Wohnwagen als Käfig dienen konnte. Es würde ohnehin nur für den einen Tag sein. Er schaute dem großen grünen Vogel noch eine Weile beim Fressen zu und spürte dabei das gleiche wohlige Gefühl wie zuvor, doch da er eine lange Nacht hinter sich hatte, machte er schließlich die Küchentür zu und ging in sein Schlafzimmer am anderen Ende des Wohnwagens. Kurz vor dem Einschlafen kam ihm wieder in den Sinn, was der Vogel als letztes gesagt hatte, und er schrieb es noch mit auf die Liste: «Gib dem Papagei auch was.»
Er träumte, daß ein Papagei in seiner Küche war und daß der Vogel seinen Namen rief.
Als Lyman am Nachmittag um halb drei erwachte, dachte er nicht an den Papagei, sondern an Fiona und an das, was sie zu ihm gesagt hatte. Sie arbeitete in der Bibliothek auf dem Nordwestcampus des Tarrant County Junior College. Ehe Lyman abends zur Arbeit fuhr, machte er dort oft seine Hausaufgaben. Lange bevor sie kam, hatte er das schon gemacht. Ihre Worte waren ein hitziges Flüstern gewesen, das seine Ohrwindungen durchpustete und ihm ein Gefühl vermittelte, als würde sie ihm das Hemd in die schon zugeknöpfte Hose stopfen: «Lyman, unter diesem Rock gehen meine Beine auf wundersame Weise in meinen Hintern über.»
Lyman war leicht zurückgewichen, hatte den Finger ins Ohr gesteckt und gefragt: «Warum sagst du mir das?»
«Weil es allen anderen längst klar ist.» Dann hatte sie sich aufgerichtet und war an die Ausleihtheke zurückgegangen. Was hatte sie gemeint?
Das Telefon klingelte und klingelte. Lyman schaute zu dem Apparat auf seinem Nachttisch, aber der schwieg. Da fiel ihm der Papagei wieder ein. Nie waren die Dinge, wie sie schienen. Er pinkelte, und wieder klingelte das Telefon, ein dreimaliges kurzes «brrriinggg». An der Küchentür hielt er kurz inne, öffnete sie dann langsam und überflog mit einem raschen Blick den Bogen, den sie freigab, konnte den Vogel aber nirgends entdecken. Da tauchte der Kopf des Papageis über dem Rand des Spülbeckens auf, wo er aus einer schmutzigen Cornflakes-Schale Wasser getrunken hatte.
«MA17», sagte er und kletterte heraus.
«MA17?» fragte Lyman zweifelnd.
«MA17», versicherte der Vogel.
Lyman schrieb es auf. Dann sah er sich in der Küche um und entdeckte überall lange, kreidige Kotstreifen, die an die Perlenschnur-Türvorhänge der sechziger Jahre erinnerten. Erstaunlich viel Kot für einen Vogel, dachte er. Von jedem nur denkbaren Platz, an dem ein Vogel sitzen konnte, war es herabgetropft, die Kühlschranktür hinab, die Stuhllehnen und Schränke, sogar vom Türgriff, auf dem Lymans Hand jetzt lag. Die Salzbrezeln und Frühstücksflocken aus der Schale und die Pflaumenreste lagen auf dem Tisch verstreut. Der Papagei flog auf, landete auf der Dunstabzugshaube und schiß in Lymans Bratpfanne.
«So geht das nicht», sagte Lyman, empfand in der physischen Gegenwart des Tieres aber auch jetzt wieder ein fast komisches körperliches Wohlgefühl. Es gefiel ihm, den Vogel koten zu sehen. Sie sahen sich eine Weile an, dann befeuchtete Lyman den Zipfel eines Geschirrtuchs und näherte sich dem Vogel, um ihm das getrocknete Blut zwischen den Augen fortzuwischen. Als das Tuch nur noch wenige Zentimeter von der Wunde entfernt war, breitete der Papagei die Flügel aus, sein Kopf schoß vor, und aus Lymans Daumenkuppe quoll frisches Blut. Lyman fuhr zurück, umschloß den Daumen schützend mit der heilen Hand und rief gleichzeitig: «Verdammt noch mal!»
Der Vogel schrie zurück: «Verdammter, mieser Arschkriecher!»
Zum ersten Mal lächelte Lyman den Vogel breit an. «Wem gehörst du?» fragte er. Er betrachtete den verletzten Daumen, hielt ihn unter den Wasserhahn und dachte besorgt an Tollwut. Er mußte einen Käfig besorgen, soviel stand fest. Er verband die Wunde, überlegte, ob er den letzten Ausruf des Vogels notieren sollte, entschied sich dagegen, tat es dann aber doch. Das Wort «Arschkriecher» hatte er noch nie geschrieben, aber vielleicht würde es ihm helfen, den Besitzer des Papageis ausfindig zu machen. Neben «MA17» schrieb er: «Könnte das sein Name sein?» Vielleicht war er bei einem wissenschaftlichen Experiment entwischt. Die Möglichkeit, daß er aus tropischen Regionen nordwärts geflogen war, schloß Lyman aus, da er nichts Spanisches oder Portugiesisches von sich gegeben hatte.
«¿Habla español?» fragte er ihn. Der Papagei antwortete nicht, verrenkte sich auf der Dunstabzugshaube aber so, daß er Lyman mit dem Kopf nach unten anschauen konnte. Lyman nahm es für ein Nein. Er kam zu dem Schluß, daß er nichts anderes tun konnte, als ein Inserat in den Star-Telegram zu setzen. Vielleicht hatte auch schon jemand eine Suchanzeige aufgegeben. Eines war allerdings sicher: Wer Anspruch auf den Vogel erhob, würde ihn erst einmal genau beschreiben müssen.
Doch Lyman konnte sich den Menschen hinter diesem Tier nicht vorstellen. Er schaute noch einmal auf seine Liste und warf ab und zu einen Seitenblick auf den Papagei, um sicherzugehen, daß er nicht im nächsten Moment angegriffen wurde. Ich bin ein Adler. Wie absurd und wie wunderbar, so etwas von sich selbst zu sagen. Lyman sprach es laut aus: «Ich bin ein Adler.» Dann wiederholte er es im gewichtigen Tonfall des Vogels: «Ich bin ein Adler.» Er merkte bereits, daß er sich gut fühlte, wenn er es sagte. Er wiederholte es noch etliche Male, betonte dabei zuerst das «Ich», dann das «Adler» und senkte die Stimme schließlich zu einem Flüstern, als handelte es sich um ein Geheimnis. Wieder warf er einen Blick auf den Vogel. Der Papagei hatte einen Fuß hinter dem Kopf und glättete sich die Nackenfedern. Lyman nutzte die Gelegenheit, machte die Kühlschranktür einen Spalt auf und holte rasch die letzte Pflaume heraus. Er wusch sie und rollte sie in die Mitte des Küchentischs. Der Vogel schaute ihm zu, rührte sich aber nicht von der Stelle.
Lyman machte einen Umweg zur Tür, und als er im Hinausschlüpfen lautes Flügelschlagen hörte, begann sein Herz zu hämmern. Er ging den Flur hinunter, vorbei an seinem Wohnzimmer und dem Raum mit seinen Trophäen. Im Schlafzimmer nahm er einen seiner zehn fluoreszierenden orangegelben Overalls vom Haken, stieg hinein und zog den Reißverschluß hoch. Auch seine Mütze war aus fluoreszierendem Material, orange mit einem langen gelben Schirm. Er hatte noch viel zu tun, bevor um zehn sein Dienst begann. Als die Fliegengittertür zufiel, hörte er wieder das Telefon klingeln. Er bezwang den Impuls umzukehren und ging weiter.
Vor zwölf Jahren, mit achtzehn, hatte er eine lange, fast völlig ergebnislose Suchaktion nach seinen Verwandten unternommen. Nach dem High-School-Abschluß hatte er von den Behörden seine Akte angefordert und mehrere Kopien erhalten: von dem Bericht des Leichenbeschauers, dem Unfallbericht der Polizei und dem Bericht eines Beamten über den fehlgeschlagenen Versuch, Verwandte seiner Eltern ausfindig zu machen. Auch vier Schwarzweißfotos im Format zwanzig mal fünfundzwanzig Zentimeter waren dabeigewesen: zwei von dem Autowrack und je eines von seiner Mutter und seinem Vater, Nahaufnahmen ihrer starren, wächsernen Gesichter vor rostfreiem Stahl. So leblos waren die Gesichter, so fern, daß er sich nicht darin erkennen konnte. Er berührte mit den Fingerspitzen seine Wange, er berührte die glatten, glänzenden Fotos, aber er fühlte keine Ähnlichkeit.
Es war ein Autounfall gewesen. Dem Polizeibericht zufolge war der rechte Vorderreifen geplatzt. Auf einem schnurgeraden Abschnitt des westlichen Highway von Fort Worth war die Chevrolet-Limousine, Baujahr 1955, von der völlig ebenen Fahrbahn abgekommen, hatte einen Stacheldrahtzaun durchbrochen und war von dem einzigen Baum weit und breit von der Stoßstange bis zum Rücksitz aufgerissen worden. Der Rumpf seines Vaters lag zusammen mit dem Motor auf dem Rücksitz, die Beine hingen verkrümmt unter dem Armaturenbrett. Seine Mutter hatte, als sie durch die Windschutzscheibe flog, ihre Schuhe auf dem Boden und ihren Dünndarm straff gespannt zwischen der Antenne und einem Ast zurückgelassen. Er, Lyman, war ebenfalls herausgeschleudert worden, und man fand ihn verletzt und blutend. Sein Alter wurde auf drei Monate geschätzt.
Das einzige Ausweispapier, das in dem Wrack gefunden wurde, war der einen Monat zuvor in Fort Worth ausgestellte Führerschein seines Vaters. Er hieß Edward Lyman, war einsfünfundsiebzig groß und hatte braune Augen und braunes Haar. Als Adresse war ein Motel in Fort Worth angegeben. Im Handschuhfach lagen drei Quittungen, eine von dem Motel, die anderen von einem Lebensmittelgeschäft und einer Tankstelle, alle in Fort Worth. Sein Vater hatte das Auto zwei Tage, nachdem sie sich in dem Motel eingemietet hatten, auf einem Gelände am Jacksboro Highway für zweihundertfünfundachtzig Dollar gekauft. Er hatte bar bezahlt. Der Wagen war erst fünf Jahre alt, aber schon über hundertsechzigtausend Kilometer gefahren. Es war kein anderes Auto in Zahlung gegeben worden. Bei den polizeilichen Ermittlungen konnten weder ein Arbeitsplatz, noch die vorherige Adresse, noch Verwandte ausfindig gemacht werden. Seine Mutter war in dem Bericht des Leichenbeschauers als «Mrs. Lyman» aufgeführt, obwohl kein Beweis dafür vorlag, daß sie verheiratet gewesen waren. Man hatte ihre Fotos an Suchdienste im ganzen Land geschickt, aber keine Antwort erhalten.
Der Beamte, der die Untersuchung geleitet hatte, war inzwischen gestorben, aber der Leichenbeschauer lebte noch. Lyman ging zu ihm und legte ihm seinen Bericht vor, doch der Mann konnte sich nicht mehr an den Fall erinnern. «Bei den vielen Toten …», sagte er. «Tut mir leid.»
Im Weggehen fragte Lyman, von Scham fast überwältigt: «Werden in solchen Fällen auch gynäkologische Untersuchungen durchgeführt? Ich meine, hat man überprüft, ob die Frau schon mal entbunden hatte? Ich sehe den beiden nämlich gar nicht ähnlich. Die Polizei hat nichts über mich herausgefunden, keine Verwandten, nichts. Vielleicht bin ich gestohlen worden.»
Der Coroner sah sich die Fotos noch einmal an. Lyman merkte, daß er versuchte, die Sätze im Kopf zu konstruieren, bevor er das erste Wort aussprach.
«Ich bin einssiebenundsiebzig groß», sagte Lyman schließlich. «Der Mann war einsfünfundsiebzig. Mein Haar und meine Augen sind zwar braun, aber das ist ja nichts Ungewöhnliches.»
Endlich sprach der Arzt, und die Worte kräuselten sich aus seinem Mund wie Rindenschuppen vom Stamm einer Platane. «Das arme Mädchen war Ihre Mutter, mein Junge. Wahrscheinlich war sie jünger, als Sie jetzt sind, als sie starb. Und daß die beiden anders aussehen als Sie, kommt daher, daß sie tot sind, vor allem aber daher, daß sie nicht Sie sind.»
Das Lebensmittelgeschäft und die Tankstelle, von denen die Quittungen im Handschuhfach stammten, existierten nicht mehr, das Motel, das auch damals schon billig gewesen sein mußte, hatte mehrfach den Besitzer gewechselt. Keines der Gästebücher war älter als fünf Jahre. Der jetzige Inhaber erklärte Lyman, daß nie ein berühmter Gast dort übernachtet und man deshalb keine Veranlassung gehabt habe, die alten Bücher aufzuheben. Lyman hatte gehofft, wenigstens einen Blick auf die Unterschrift seines Vaters werfen zu können. Man konnte ihm nicht einmal ungefähr sagen, in welchem Zimmer seine Eltern gewohnt hatten. Es war ein klassisches Motel, mit halbkreisförmig zum Highway hin angeordneten Wohneinheiten, zu denen jeweils eine Garage gehörte. Lyman bedankte sich, ging zu dem runden Kies- und Kakteen-Steingarten in der Mitte des Areals und faßte ein Zimmer nach dem anderen ins Auge. Über jeder Tür hing ein Schild mit einer schablonengemalten Nummer, an jedem Fenster eine graue Klimaanlage. Lyman kam zu dem Schluß, daß seine Eltern auf der Flucht gewesen sein mußten, daß sie in der Eile des Aufbruchs nicht einmal mehr Zeit gehabt hatten, seine Geburtsurkunde einzustecken. Wohin sie unterwegs gewesen waren, als der Unfall passierte, war unbekannt.
Da es nun niemanden mehr gab, den Lyman fragen konnte, hatte er sich einen Metalldetektor geliehen und war zu der Unfallstelle gefahren. Der Highway war inzwischen ausgebaut worden, und der Baum war verschwunden. Auf den Fotos sah Lyman, daß der Wagen fast die ganze Rinde vom Stamm gerissen hatte. Mit Hilfe des noch vorhandenen Stacheldrahtzauns und der genauen Maßangaben des Polizeiberichts konnte er jedoch die ungefähre Position des Wracks bestimmen. Er bewegte den kreisförmigen Detektorkopf knapp über dem Boden hin und her und wartete gespannt auf den Dauersummton, der das Vorhandensein von Metall in der Erde anzeigte. Nahe einer flachen Mulde förderte er Chromstücke zutage, eine Scheinwerferfassung und dazwischen viel zerbrochenes Glas. Er grub an der Stelle weiter und siebte die trockene Erde durch ein Stück groben Rupfen. Der Staub wehte unter dem Stoff fort, und zurück blieben Glas und Kunststoff, weiß, gelb und rot. Ab und zu unterbrach Lyman seine Arbeit und blickte über die Böschung zum Highway hinüber, sah die vorbeirasenden Autos, sah all das Anonyme, Zerbrechliche, Nichtsahnende. Er suchte den ganzen Tag und beim Schein einer Taschenlampe bis weit in den Abend hinein und kehrte dann in das Heim zurück, in dem er lebte, mit Bruchstücken beladen, die noch von Farbe und Reflexen glänzten.
Obwohl es ihm schwerfiel, fuhr Lyman ins Einkaufszentrum und betrat eine Tierhandlung. Das große Angebot an Papageienartikeln bestürzte ihn. Er kaufte einen Käfig, eine Schachtel Papageienfutter und nach kurzer Überlegung noch einen Schaukelring, den man im Käfig aufhängen konnte. Die Vogel-Multivitamin-Drops, die Papageien-Honigcracker und die Papageien-Biskuits ließ er liegen. Er fragte nach einem Buch über Ernährung und Pflege von Papageien, doch Bücher gab es in dem Geschäft nicht. Wahrscheinlich würde er am Abend in der Collegebibliothek etwas zu diesem Thema finden. Das Futter schien eine Art besonders gesundes Müsli zu sein, eine Mischung aus Sonnenblumenkernen, Erdnüssen, Haferflocken, Mais, Hirse und sogenannten Papageienperlen, bestehend aus einer langen Liste von gemahlenen, gepreßten, geschroteten und geformten Zutaten, die man sonst vermutlich aus der Mühlentür gefegt hätte. Die Anweisung auf der Schachtel war einfach: «Täglich füttern. Futternapf stets gefüllt halten. Vor dem Nachfüllen leere Hülsen aus dem Napf pusten. Mehrmals wöchentlich können geringe Mengen rohes oder gekochtes Obst oder Gemüse verabreicht werden. Zuviel Obst oder Gemüse kann in Einzelfällen zu Durchfall führen.» Das konnte Lyman nur bestätigen. Offenbar war sein Papagei einer dieser Einzelfälle.
Das Mädchen an der Kasse hielt einen Welsh-Corgi-Welpen im Arm. Sie tippte Lymans Einkäufe ein und fragte: «Haben Sie einen Papagei geschenkt bekommen? Sie sehen aus wie ein Neuling.»
«Nein», erwiderte Lyman, «ich hab ihn gefunden. Das heißt, er ist mir zugeflogen.»
«Möchten Sie einen Zettel an unser Schwarzes Brett hängen?» Das Mädchen zeigte auf eine Korktafel mit den Kopien von Fotos entlaufener Hunde und Katzen und Suchanzeigen, in denen Belohnungen angeboten wurden. Sie gab Lyman eine Karteikarte. «Schreiben Sie einfach Ihre Telefonnummer und eine kurze Beschreibung drauf, ich mach dann den Aushang für Sie. Vielleicht ist ja eine Belohnung ausgesetzt; manche Papageien sind ziemlich wertvoll.»
Lyman sah das Mädchen, dann die Karteikarte, dann den Welsh Corgi an. Der Anblick der Hunde, Katzen und Kaninchen in dem Geschäft hatte ihn zutiefst bedrückt, als er von Käfig zu Käfig gegangen war. Er hatte versucht, ihnen nicht in die Augen zu sehen. Die Hartnäckigkeit des Mädchens, ihr Drängen, die glänzenden Augen des Corgis irritierten ihn. «Hören Sie», sagte er, «ich nehm die Karte mit, füll sie zu Hause aus und bring sie wieder her.»
Es widerstrebte ihm, unfreundlich zu sein, aber daß das Mädchen und der Corgi ihm seine Schroffheit nicht übelnahmen, verdroß ihn. Beide lächelten liebenswürdig, als hätte er weder unhöflich noch ausweichend geantwortet. Das Mädchen sagte «Schön» und «Nett von Ihnen, daß Sie sich um den Vogel kümmern» und wandte sich dem nächsten Kunden zu. Im Hinausgehen seufzte Lyman erleichtert auf, weil er ihr keinen Scheck gegeben, sondern bar bezahlt hatte. Nicht daß er den Vogel seinem rechtmäßigen Besitzer nicht hätte zurückgeben wollen, aber er brauchte Zeit zum Nachdenken. Er sagte sich, daß er vernünftigerweise erst einmal nachsehen mußte, ob nicht schon eine Anzeige erschienen war, und kaufte deshalb auf dem Heimweg außer Obst – Orangen, Äpfeln und Bananen – auch eine Zeitung.
Lymans Wohnwagen stand aufgebockt auf einem Gelände innerhalb von Ring 820, dem Highway, der um Fort Worth herumführte, und war nur eine Straße vom Ring entfernt. Er war alt, ein richtiger Caravan, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aus Flugzeugaluminium gebaut und stromlinienförmig wie ein Tragflügel. Es sah aus, als wäre der ganze Wohnwagen aus einem riesigen Flugzeugflügel ausgestanzt worden. Als Fenster hatte er Bullaugen, nur vorn und hinten waren Cockpitfenster, die man mit einer Aluminiumklappe verschließen konnte. Die einzige Außentür, durch die man am breiteren Ende des Wagens in die Küche gelangte, war an den Ecken abgerundet und machte den Eindruck, als sei nur eine Stewardeß berechtigt, sie zu öffnen. Die rostige Anhängerkupplung und die rissigen Reifen waren noch vorhanden, nur schwebten die Reifen, da die Achsen auf Betonblöcken lagerten, in der Luft. Lyman hatte den Wohnwagen an Ort und Stelle gekauft, und schon der Vorbesitzer hatte ihn an Ort und Stelle gekauft, von einem Mann, der ihn gleichfalls an Ort und Stelle gekauft hatte. Zehn Jahre wohnte Lyman jetzt darin, und er hatte keine Ahnung, wie lange der Wagen vorher schon dort gestanden hatte.
Die Küchentür ging auf den Garten hinaus. Lyman parkte zwischen Tür und Zaun. Es war bereits fünf Uhr nachmittags, und bis zu seinen Kursen – Russisch und Bogenschießen – blieb nicht mehr viel Zeit. Als erstes lud er den Käfig aus. Er stützte ihn auf der Hüfte ab und öffnete die Tür. Der Papagei saß auf dem Boden, gegen die Tür zum Flur gelehnt, als wollte er sie aufdrücken, und einen panischen Moment lang glaubte Lyman, er sei tot. Dann merkte er, daß er nur schlief, und als die Fliegengittertür zuschlug, öffnete sich das ihm zugewandte Auge einen Spalt. Lyman nahm den Käfig aus dem Karton und füllte die Näpfe mit Futter und Wasser. Der Papagei schaute ihm aus dem einen Auge zu, in jeder anderen Hinsicht war er nach wie vor tot. Der Käfig stand jetzt mitten auf dem Resopaltisch mit den Chromfüßen. Lyman hängte den Schaukelring hinein, machte die Tür weit auf und sagte: «Rein mit dir.» Der Vogel rührte sich nicht. «Hör mal, ich muß jetzt los. Du gehst besser da rein.» Der Vogel beugte sich vor und spazierte dann an der Bodenleiste entlang unter einen Stuhl, wo es dunkler war. Lyman schnitt eine Orange und eine Banane klein und legte sie in den Käfig. Schon jetzt sah er, daß der Käfig wahrscheinlich zu klein war; mit seinen etwa vierzig Zentimetern Länge würde der Papagei nur geduckt auf der Stange sitzen können. Lyman überlegte, ob er Handschuhe anziehen und den Vogel einfangen sollte, aber er fürchtete, ihn oder sich zu verletzen, ganz abgesehen davon, daß die Küche dabei womöglich noch mehr mit Kot und Blut beschmutzt wurde. Sie sah verheerend aus, aber er hatte jetzt keine Zeit, sie zu säubern, und erst recht nicht, den Vogel in den Käfig zu befördern. Er kauerte sich auf den Boden, auf Augenhöhe mit dem Vogel, und sagte: «Okay, ich geh jetzt. Warum sagst du nicht ‹Halt die Klappe›?» Der Papagei nickte rhythmisch und trat von einem Fuß auf den anderen.
«Die Fittiche haben, sagen’s weiter», sagte er feierlich.
Lyman sprang auf, um seinen Notizblock zu holen, und stieß mit dem Kopf gegen die Tischkante. «Sag das noch mal», forderte er den Vogel auf. Er nahm den Block und ließ sich wieder auf die Knie nieder. «Sag das noch mal. Wie war das?» Er hoffte, der Vogel würde fortfahren zu sprechen, aber er fuhr nur fort, sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen zu verlagern und wie zu einer unhörbaren Musik zu wippen. Lyman kritzelte die Worte auf den Block, voll Staunen über ihre Rätselhaftigkeit, fast überwältigt von dem klaren, feierlichen Tonfall. Aber er mußte fort. Er holte seine Bücher aus dem Schlafzimmer, schob den Notizblock und das Foto von dem Papagei in die Gesäßtasche und schloß die Tür zum ersten Mal in seinem Leben ab.
Er besuchte seit Jahren Kurse. Im Grunde hatte er seit seinem ersten Schuljahr nicht aufgehört zu lernen. Nach der High-School hatte er eine Berufsschule absolviert, was ihm zu der Stelle beim State Department of Highways verholfen hatte, und auch dann hatte er noch an Abendkursen teilgenommen: an der Texas Christian University, am Tarrant County Junior College und sogar beim Christlichen Verein Junger Männer und beim Roten Kreuz. Er hatte nie einen Abschluß angestrebt oder seine Studien auch nur planmäßig betrieben, sondern die Kurse nach Lust und Laune belegt, wie sie gerade angeboten wurden. Nach elf Jahren dieser ziellosen Studien hatte er einhundertfünfzig College-Anrechnungspunkte gesammelt, aber keinerlei akademischen Grad erworben. Er war ausgebildeter Schweißer, Installateur, Automechaniker, Texterfasser, Feuerwehrmann, Sanitäter, Korrekturleser, Polsterer, Elektriker, Metallarbeiter, Pilot und Baufahrzeugführer. Auch auf vielen anderen Gebieten besaß er Kenntnisse: im Reparieren von Uhren und Elektrokleingeräten, im Restaurieren von Möbeln und im Taxieren von Antiquitäten, im Kartenlesen, in der Computerdiagnostik, in der Steinmetzkunst, Navigation und Tischlerei, in Buchhaltung und anderem mehr. Außerdem konnte er spanische, französische, deutsche und japanische Redewendungen aussprechen, wenn auch mit deutlichem texanischem Akzent.
Dieses Semester fanden seine Kurse auf dem Nordwestcampus des Tarrant County Junior College statt. Er fuhr über die Ringstraße. Die Strecke war ihm so vertraut, daß er sich mitunter nicht einmal daran erinnern konnte, sie überhaupt gefahren zu sein. An jedem Punkt des Rings wußte er ganz genau, wo er sich befand. Am Marine Creek Boulevard fuhr er ab, winkte den Leuten vom Medi-vac-Rettungsdienst, die die Unterführung als Standquartier benutzten, zu und parkte vor dem College auf einem weiten Platz voll Autos, einem geometrischen Konglomerat von Linien, Winkeln und Karrees am Ufer eines kleinen, blauen Sees. Vor Jahren hatte er auf dem See einen Segelkurs gemacht, hatte Boote durch Untiefen gesteuert und sich gleich anschließend zu einem Schwimmkurs angemeldet, der mit dem Rettungsschwimmerschein abschloß.
Lyman kam selten zu spät und glitt ein wenig außer Atem auf seinen Kunststoffstuhl. Er hatte sich stets bemüht, vorbereitet zu seinen Kursen zu erscheinen, besonders zu den Sprachkursen. Mangelnde Vorbereitung lieferte ihn den Launen der Dozenten aus. Fast immer war Lyman älter als die übrigen Teilnehmer und empfand deshalb eine gewisse Verpflichtung, die Führung zu übernehmen, zumindest was den Arbeitseifer anbelangte. Das unerwartete Auftauchen des Papageis und dessen Versorgung hatten einige Zeit in Anspruch genommen, und Lyman hatte seine russischen Vokabeln nicht gelernt. Um nicht aufgerufen zu werden, versuchte er so auszusehen, als sei er in Gedanken versunken, und hoffte, ein Gesichtsausdruck, der einen Todesfall in der Familie nahelegte, würde ihn vor Fragen schützen. Zweimal nahm er, als die Dozentin ihm den Rücken zuwandte, den Schnappschuß aus der Tasche und betrachtete den Papagei.
Auf dem Bogenschießplatz, den man auf einem beleuchteten Parkplatz eingerichtet hatte, spannte Lyman die Sehne, hielt den Atem an und ließ los: Der Pfeil schwirrte ins gelbe Zentrum der Scheibe. Es war seit Kursbeginn sein erster Volltreffer, und er fügte diesem Erfolg noch drei weitere hinzu. Mit zitterndem Schaft blieben die Pfeile im Stroh stecken.
«Sie haben wohl heute eine Glückssträhne», sagte der Kursleiter, als er die Reihe der Teilnehmer abschritt.
Lyman zuckte lächelnd die Schultern und schüttelte den Kopf. Dann kam ihm eine Idee, und er sagte versuchshalber: «Ich bin ein Adler», worauf der Kursleiter laut lachte und ihm auf die Schulter klopfte.
Der Kurs war um acht zu Ende, und Lyman mußte erst um zehn zum Dienst. Die Zeit dazwischen verbrachte er wie üblich in der Bibliothek. Er wußte, daß er Russisch nachholen mußte, konnte aber der Versuchung nicht widerstehen, im Schlagwortkatalog unter «P» bis «Papagei» zu blättern. Er wollte möglichst viel über den Vogel, diesen Eindringling, erfahren. Als er sich gerade die Signaturen einiger Titel notierte, spürte er, daß sie auf ihn zukam. Es war das gleiche Gefühl wie beim Prüfen von Zündkerzen, wo er jeden Moment auf einen Schlag gefaßt war. Dann drückten vier Fingerspitzen sich sacht in sein Kreuz, und er fuhr hoch.
«Hallo, Lyman», sagte sie.
«Hallo.» Er hatte einen Kloß im Hals.
«Was suchst du denn?» Fiona lehnte sich vor ihm an den Katalogschrank.
«Woher weißt du überhaupt, wie ich heiße?» fragte er und schloß die Schublade.
Sie bohrte ihm den Zeigefinger in die Brust, dort wo an seinem Overall sein Name in Marineblau auf einem weißen Rechteck aufgenäht war.
«Ach so.»
Er fand sie auf nervtötende Weise attraktiv; zumindest schien sie das zu glauben. Soviel Unverschämtheit hatte er noch nicht erlebt. Er benutzte die Bibliothek seit über zehn Jahren, und Anfang des letzten Semesters hatte er sie zum ersten Mal gesehen, als sie mit einer roten Plastikanstecknadel an der Bluse hinter der Ausleihtheke stand: «Fiona – Bibliotheksassistentin». Darunter eine zweite Anstecknadel: «Bona fide Bücherwurm» und unter dieser eine dritte: «Kann ich Ihnen helfen?» Bei Fiona war das eher ein Befehl als eine Frage. Von Anfang an hatte sie sich ihm aufgedrängt, ein Verhalten, das er von einer Bibliothekarin am allerwenigsten erwartet hätte. Die Fähigkeit zu flüstern ging ihr ab. Versuchte sie es, kamen die Worte als ein schrilles Pfeifen heraus, und ringsum runzelte alles die Stirn. Lyman hätte ihr dann am liebsten Motoröl in den Hals gesprüht. Meist sprach sie in einem hastig-besorgten, vibrierenden Ton, so als versuchte sie, mit den Zähnen einen Revolver zu laden. Als sie sich ihm vorstellte, hatte sie gesagt, sie habe beschlossen, ihm gegenüber kein Blatt vor den Mund zu nehmen, zum Ausgleich für seine offensichtliche Verschlossenheit. «Ich will mich ja nicht wichtig machen», hatte sie gesagt, «aber ich hab schon kein Blatt vor den Mund genommen, bevor ich beschlossen hab, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, also war’s keine so große Umstellung.»
Lyman hatte genickt. «Ich will hier nur arbeiten», hatte er gesagt.
«Magst du Gespräche?» hatte sie zurückgeschossen. «Ich finde Gespräche genausogut wie Sex. Wenn du gern zuhörst – ich rede gern.»
So hatte es angefangen. Wenn Lyman jetzt in die Bibliothek kam, war sie, sobald er sich setzte, zur Stelle, faßte sich ans Kinn, strich sich das Haar hinter die Ohren, berührte die Kanten seines Buches. Ihre Familie lebte in Kalifornien, und in den acht Jahren seit ihrem Collegeabschluß war sie von Bibliothek zu Bibliothek gewandert und auf diese Weise im ganzen Land herumgekommen. «Ich tue für die Bücher, was ich kann», hatte sie gesagt, «und dann ziehe ich weiter.» Ihre Spezialität war das Instandsetzen beschädigter Bücher. Sie besserte zerrissene Seiten aus, und manche Bücher band sie völlig neu. Lyman war eingeschüchtert, irritiert und auch ein wenig fasziniert von ihr und ihrem Beharren auf einer Beziehung zwischen ihnen. Er fand, daß er nicht besonders gut aussah, und sie wußte von ihm nicht mehr als das, was sie ihm in der Bibliothek aus der Nase gezogen hatte. Um sie abzuschrecken, hatte er sich schüchterner gestellt, als er war, doch seine leisen, knappen Antworten hatten nur dazu geführt, daß sie sich näher zu ihm beugte und zu flüstern begann. Einmal hatte sie ihn in seinem Streifenwagen auf den Parkplatz einbiegen sehen, und daher wußte sie, daß er als Straßenwachtfahrer für das Highway Department arbeitete. Sie hatte ihn mit Fragen über seine Arbeit bestürmt und gebettelt, sie einmal mitzunehmen. Er hatte immer wieder abgelehnt, aber sie ließ nicht locker.
«Heute abend hab ich um halb zehn aus, da kann ich um zehn mit dir zur Arbeit. Ich hab Jeans zum Umziehen dabei.»
«Nein.»
«Warum nicht?»
«Weil es verboten ist.»
«Hast du gefragt?»
«Nein.»
«Das erfährt doch niemand.»
«Hör mal», sagte Lyman, «ich möchte dich nicht dabeihaben. Das ist mein Job und kein Spiel.»
«Tut mir leid, was ich da neulich abend von meinen Beinen gesagt habe. Ich dachte, es würde dich erregen, aber ich glaube, du bist unerregbar.»
«Bin ich nicht.»
«Was bist du nicht?»
«Unerregbar», zischte Lyman und prüfte mit einem raschen Blick, ob jemand zugehört hatte.
«Ich tu dir auch bestimmt nichts, ich setz mich ganz weit weg von dir. Ich stell’s mir eben schön vor, die ganze Nacht um die Stadt herumzufahren und Leuten aus der Patsche zu helfen.»
Lyman schüttelte den Kopf. «Das ist ja nicht alles. Jedenfalls kannst du nicht mitkommen.» Er schüttelte erneut den Kopf, ließ sie am Schlagwortkatalog stehen und ging in den Lesesaal. Er fand ein ganzes Regal mit Büchern über Käfigvögel, aber nur wenige Titel über Papageien. Er trug sie in eine Arbeitsnische und legte sie auf den Tisch. Dann nahm er sie wieder hoch und steuerte auf eine andere, abgelegenere Nische zu. Sein Leben lang hatte er versucht, zwar nicht berechnend, aber doch zumindest planvoll vorzugehen. Allerdings hatte er festgestellt, daß ihm das nicht immer gelang. Die einfachsten Ideen kamen ihm nicht, die augenfälligsten Hinweise entgingen ihm. In der zweiten Nische saß Fiona, in der Hand einen großen Bildband über Papageien.
«Ich war gerade dabei, den Buchrücken auszubessern. Du hattest die Karteikarten draußen liegenlassen. Woher dieses plötzliche Interesse an Papageien?»
Die Frau war eine Nervensäge. Lyman kniff die Lippen zusammen. «Woher wußtest du, daß ich hierher kommen würde?»
«Du kommst immer hierher, wenn du dich vor mir verstecken willst.» Sie lächelte, und ihre Oberlippe gab einen schmalen Streifen Zahnfleisch frei.
Lyman fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Einen Moment lang dachte er daran, daß er sie an den Schultern packen, sie gegen die Wand der Nische drängen und sein Gesicht auf ihres pressen könnte, doch dann hörte er auf, daran zu denken. Das Bild des Papageis brannte in seiner Gesäßtasche, in seinem Gehirn.
«Hast du dir einen Papagei zugelegt?» fragte sie. «Kann er sprechen?»
«Nein», flüsterte Lyman.
«Nein was?»
«Ich hab mir keinen Papagei zugelegt.»
«Willst du dir einen zulegen?»
«Hast du hier nichts zu tun?»