Joe Coomer
Rosinante oder Die Liebe zum Meer
Roman
Aus dem Englischen von Barbara Heller
FISCHER Digital
JOE COOMER wurde 1958 in Fort Worth, Texas, geboren. Nach seinem Studium arbeitete er im Holzhandel.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Drei Frauen und der häßlichste Hund der Welt haben Unterschlupf auf einem Hausboot gefunden. Doch dann holt sie die Vergangenheit ein ...
Joe Coomer hat wieder ein Buch über die etwas schrägere Variante des Lebens geschrieben.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-562186-8
Den Frauen gewidmet
Allmächtiger, himmlischer Vater, … Laß mich auf Green Gablers bleiben, und bitte laß mich ein hübsches Mädchen werden.
Mit vorzüglicher Hochachtung
ANNE SHIRLEY
(L.M. Montgomery: Anne auf Green Gables)
*
GLINDA: Bist du eine gute Hexe – oder eine böse Hexe?
DOROTHY: Wer, ich? Wieso? Ich bin überhaupt keine Hexe.
(Noël Langley, Florence Ryerson, Edgar Allan Wolfe:
Der Zauber von Oz, Drehbuch)
*
Was schläfst du?
(Buch Jona 1,6)
ICH ENTDECKTE IN MIR EINE LIEBE zu bewegtem Wasser, als die zurückweichende Flut sich am breiten Bug eines alten Bootes teilte und an ihren Ausläufern Tang mit sich führte, einen toten Vogel und ein dunkelbraunes Blatt. Eine Liebe, die mir notwendig schien: der Strömung nahe zu sein, der grünen Dünung und dem einsetzenden Gurgeln. Ich hatte geglaubt, nie wieder lieben zu können, nie wieder etwas anderes lieben zu können als die Erinnerung an meinen Mann, und so schämte ich mich und kam mir seltsam vor, als ich dort mit meiner Tasche über der Schulter und einem Kätzchen im Mantel auf der Pier kniete, ins Wasser des Hafens von Portsmouth hinabsah und einen Augenblick lang nicht traurig war. Er war an Weihnachten gestorben, vor neun Wochen.
Das Kätzchen miaute und versuchte, zwischen meinen Brüsten wie an einem Enternetz hochzuklettern. Ich zog es hervor, wandte aber die Augen nicht vom Wasser, bis ich es Nase an Nase hatte, runde Pupille an Pupillenschlitz. «Hier bleiben wir eine Weile», sagte ich zu ihm. Ich hatte es an einer Raststätte in West Virginia gefunden. Es hatte noch keinen Namen, aber ich dachte an Peytona Pawtucket – kurz PP –, zwei Kleinstädte nicht weit von dort, wo ich gelebt hatte. Jonah hatte Katzen nicht gemocht, und als ich das Kätzchen sah, war mir plötzlich der Gedanke gekommen, daß ich es mitnehmen konnte, ohne mich Vorwürfen auszusetzen. Das Kätzchen konnte nichts dafür, daß Jonah gestorben war. Es war, so machte ich mir klar, Jonahs Schicksal gewesen. Aber vielleicht hatte ja das Kätzchen meinen Mann irgendwie getötet, damit ich es aus seiner Not und Verlassenheit erlösen konnte. Vielleicht war Jonah deswegen gestorben. Wäre er an der Raststätte dabeigewesen, ich hätte nicht im Traum daran gedacht … Aber das war nur wieder ein Hirngespinst, das meiner Wut entsprang. Ich nahm es meinem toten Mann noch immer übel, daß er gestorben war. Ich bin mit Schuldzuweisungen schnell bei der Hand, und für etwas so Ungeheuerliches wie Jonahs Tod mußte es doch einen Schuldigen geben.
Ich schob den knochigen, sehnigen Körper des Kätzchens wieder unter meinen Mantel, stand auf und ging in der Märzkälte zum Auto zurück. Ich war ostwärts gefahren, bis ich am Meer gestrandet war, und dann nordwärts die Küste entlanggeplätschert, bis ich mir sagte, daß es eigentlich keinen Grund gab, sie wieder zu verlassen. In der ersten Nacht hatten wir uns etwas gegönnt, die Katze und ich: Wir hatten im Portsmouth Sheraton übernachtet, in einem Zimmer, aus dem man über eine monumentale Salzpyramide hinweg auf den Fluß sah, den gezeitengeplagten Piscataqua, in dessen Mündung der alte Hafen liegt. Auf der Straße hatte ich eine alte Frau gefragt, wozu das viele Salz gut sei. Später erfuhr ich, daß es schlicht Streusalz war. Die Frau aber hatte mich traurig angesehen und erklärt: «Ja, wissen Sie, wenn es stark regnet und zuviel Frischwasser ins Meer fließt, geben wir Salz dazu, damit die Fische nicht verenden.»
Ich entdeckte in mir eine Liebe zu bewegtem Wasser, als ich in der Strömung des Caudel Run kniete, eines Bachs hinter unserem Haus in Kentucky, dessen Wasser, klar und kalt wie meine Angst, über schwarze Schieferstufen stürzte, sich in weißen Tümpeln des Schmerzes sammelte und meine Füße taub, meine Haut blau werden ließ. Ich konnte es in meinen Händen halten und zum Mund führen.
Am Morgen hatte ich dem Kätzchen einen anderen Namen gegeben: Piscataqua. Es hatte ein paar Fasern aus dem Teppich gekratzt und unter einen Stuhl gemacht. Ich säuberte die Stelle, versteckte die Katze im Badezimmer und ließ mir Eier und Milch aufs Zimmer bringen. Wir aßen am Fenster und schauten dem Treiben der Möwen zu, die über dem Fluß hinter einem Boot herflogen. Im Zimmer war es warm, aber ich sah, daß es draußen kalt war, kalt auf der Straße und kälter noch am Wasser. Ich packte mich warm ein und schob mir Piscataqua zwischen Bluse und Pullover, wo sie mir auf den Bauch rutschte und bald einschlief. Als ich ins Freie trat, wurde mir bewußt, daß ich nichts zu tun hatte. Ich hätte zwar dies und jenes zu erledigen gehabt, auch Dinge, die andere von mir erwarteten, aber außer atmen war nichts wirklich notwendig.
Ich fühlte mich, als wäre ich geflohen. So hatte ich es bisher nicht genannt, aber eine Flucht war es doch gewesen, durch einen Tunnel, über Mauern. Ich war mit einer Menge Bargeld von zu Hause fortgegangen, um beim Tanken oder im Restaurant nicht mit Kreditkarten zahlen zu müssen, durch die man mich hätte aufspüren können. Ich hatte Schuldgefühle. Meinen Eltern hatte ich einen Zettel hinterlassen, auf dem stand, daß ich für ein paar Tage wegfahren würde, aber da hatte ich schon gewußt, daß ich gar nicht die Absicht hatte zurückzukommen. Ich hatte sogar einen Immobilienmakler aufgesucht, um das Haus zum Verkauf anzubieten. Irgendwann würde ich meine Mutter anrufen. Ich tat meiner Mutter und meinem Vater unrecht, denn ich floh nicht vor ihnen, sondern vor Jonahs Eltern, den Montagues. Aber wenn ich meinen Eltern sagte, wo ich war, würden Richard und Mary es unweigerlich herausbekommen. Sie waren gierig, und ich hatte nicht mehr die Kraft, mich gegen sie zu wehren. Jonah war ihr einziges Kind gewesen, und nach seinem Tod hatten sie sich von meinen Erinnerungen genährt. Seit dem Unfall war ich jeden Tag mit ihnen zusammengewesen. Jeden Tag fuhren sie die fünfzig Kilometer, angeblich um mir Gesellschaft zu leisten, aber bald merkte ich, daß sie Aasgeier waren und ich ihre letzte Hoffnung auf Nahrung, der einzige Kadaver in der endlosen Weite einer Wüste, und daß sie nicht von mir ablassen würden, bis meine Knochen bleich und hohl waren. Sie schienen keine eigenen Erinnerungen zu haben. Mary wusch Jonahs sämtliche Kleider, auch die sauberen, und durchsuchte die Taschen nach irgendwelchen Fitzelchen, zu denen ich vielleicht etwas erzählen konnte. Ein Kinokartenabriß war eine wahre Fundgrube für sie, und in ihrem Kummer quälten sie mich mit endlosen Fragen: «Wie war der Film? Hat er Jonah gefallen? Habt ihr euch Popcorn gekauft? Wo habt ihr gesessen? Hat Jonah gelacht? Sag mir, an welchen Stellen er gelacht hat. Wir könnten uns das Video ausleihen und es zusammen anschauen, dann könntest du uns sagen, an welchen Stellen er gelacht hat.» Ich ertappte Richard dabei, wie er auf dem Dachboden meine Briefe an Jonah und Jonahs Briefe an mich las. Ich ging fort, am Tag nachdem Mary mich über den Rand ihrer Tasse hinweg angesehen, in ihren Kaffee gepustet und gesagt hatte: «Im Krankenhaus, bevor er starb, als wir schon wußten, daß er sterben würde, da hätten wir die Ärzte bitten sollen, ihm Sperma abzunehmen. Wir hätten es einfrieren lassen können. Dann hättest du immer noch ein Kind von ihm bekommen können.» Ich ging fort. Ich habe ihn auch geliebt.
Ich drehte mich um – Richard und Mary waren nicht hinter mir her – und schlug den Weg zum alten Ortskern von Portsmouth ein. Ich war schon einmal hiergewesen: Als Studentin hatte ich auf den Isles of Shoals, acht Kilometer vor der Küste, an einem Feldarchäologiekurs teilgenommen. Zwei Wochen lang hatte ich einen Fischereihafen aus dem siebzehnten Jahrhundert freigelegt. Die Fähre zu den Inseln ging von Portsmouth ab, und ich hatte oft Gelegenheit gehabt, durch die Straßen der Stadt und am Wasser entlang zu wandern, Strawberry Banke zu besichtigen (der alte Name von Portsmouth; heute ein Freilichtmuseum mit historischen Bauten, nicht weit vom Prescott-Park), in einem der vielen Cafés und Restaurants zu sitzen, in Antiquariaten und Antiquitätenläden zu stöbern. Den größten Teil meiner freien Zeit aber verbrachte ich mit den Augen auf dem Wasser und schaute einfach nur den Gezeiten und den Schiffen zu. Das hatte mich auch hierher zurückgeführt. Und obwohl mir klar war, daß ich anfangen mußte, mich nach einer Wohnung umzusehen, trugen meine Füße mich wieder zu den Piers am Fluß hinunter. Ich wollte die Sonne auf dem Wasser glitzern sehen. Vor dem Moffat-Ladd House überquerte ich die Straße, ging durch eine kleine Grünanlage zur Ceres Street – Geschenkläden des zwanzigsten Jahrhunderts in Lagerhäusern aus dem achtzehnten Jahrhundert und gegenüber die Schlepper – und folgte der steil ansteigenden Bow Street. Auch hier standen Backsteinlagerhäuser am Wasser, in denen jetzt Restaurants und Boutiquen untergebracht waren.
Portsmouth wirkt wie durchtränkt vom Alter, abgenutzt von Berührung und Atem. Die Straßen führen wie Trampelpfade zum Fluß hinunter und folgen dann seinem Ufer. Hier ist die Stadt ruhig und gemütlich, ist unbewußt und selbstverständlich in die Landspitze gebettet wie die Knöchel in meine Finger. Was aus Backstein besteht, ist rot, was aus Holz besteht, ist weiß, und was aus Stein besteht, ist granitgrau. Pflastersteine und Türschwellen sind ausgetreten, gehöhlt wie wartende Hände. Sprossenfenster wölben ihre Scheiben zum Fluß hin, verzerren das Innere der Räume. Geschäfte und Cafés sind klein, ihr Mobiliar ist bunt zusammengewürfelt, mit halbleeren Regalen und lichtlosen Winkeln. Patinaschichten, ausgebleichte Tapetenschichten auf rauhem Putz, Holzdielenflächen, alles glattgeschliffen wie ein Spazierstockgriff. Hinter den Ladentischen – wenn keine Kunden da sind – lesende Verkäuferinnen, Katzen auf ihrem Schoß, zu ihren Füßen Hunde. Über ihnen kupferne Dachgauben, geformt als Rahmen für Gesichter, die aufs Meer hinausschauen. Roststreifige Schieferdächer, Metallplattformen, spitze Türmchen: Dächergewirr, unter sonnenbeschienene Türme alter Kirchen geduckt.
Ich ging pfeifend an der St. John’s Church mit ihren ebenerdigen Grabgewölben vorbei, überquerte die Daniel und die State Street und hatte schließlich den Prescott-Park mit seinem freien Blick über den Fluß vor mir.
Das letzte Mal war ich im Sommer in Portsmouth gewesen, und in den Straßen hatte es von Touristen gewimmelt, doch jetzt, Anfang März und um acht Uhr morgens, war ich allein im Park. Der Wind, der vom Meer her durch die Hafeneinfahrt wehte, blies Muster in das kahle Geäst der Bäume und kräuselte die Oberfläche des Flusses. Ich stützte mich auf das Geländer der Kaimauer und blickte in das grüne, aber helle Wasser hinab, blickte durch Lichtscherben und einzelne Blätter an der Oberfläche in die Strömung darunter, die sich jetzt aus ihrer Erschlaffung zu lösen begann. Hummerbojen, eben noch mit gebrochenen Hälsen im Wasser dümpelnd, schwangen hoch, nahmen den Sog auf. Boote zerrten an den Leinen, die sie an der Pier festhielten, und die Pier selbst driftete rostig ächzend soweit seewärts, wie ihr Pfahlwerk es erlaubte. Alles Wasser wurde aus dem Fluß abgezogen. Das geschah etwa alle sechs Stunden, Ebbe und Flut, das große Kommen und Gehen, dieses Erschauern der Erde, ein langsames, reinigendes Beben, ewig wiederkehrend. Die Gezeiten waren hier besonders stark, die Strömungsgeschwindigkeit betrug sechs Knoten, der Tidenhub zwei Meter siebzig. Eine lebendigere Landschaft hatte ich nie gesehen. Es war, als säße die Haut der Erde so lose wie die einer Katze. Würde der kleine Fluß hinter unserem Haus in Kentucky plötzlich kehrtmachen, einmal so schnell bergauf eilen, wie er sonst abwärts strömt, und dabei zweieinhalb Meter steigen und fallen – die ganze Menschheit käme herbei und ließe sich an seinem Ufer nieder, in der Hoffnung, es möge sich noch einmal wiederholen.
Ein Dröhnen von Stahl auf Stahl klang von Seavey’s Island und der Marinewerft herüber. U-Boote lagen dort zu beiden Seiten einer Pier. Auf ihrem gewölbten schwarzen Rumpf standen Männer, zogen an Leinen, gestikulierten, Männer, die wußten, was sie zu tun hatten.
Ein Hummerboot kam durch die Durchfahrt zwischen Pierce’s Island und dem Prescott-Park gezuckelt, fuhr an mir vorbei und steuerte auf eine Boje am Rand des Hauptfahrwassers zu, nahe der winzigen Insel Four Tree Island. Ein Mann in einer gelben Latzhose legte den Bug in die Strömung und drosselte die Geschwindigkeit so, daß das Boot stillstand. Er beugte sich über Bord, zog die Boje hoch und wickelte ihre Leine um eine kleine Winde. Gischt sprühte auf, und bald tauchte längsseits ein rechteckiger Metallkäfig aus dem Wasser, den der Mann mit behandschuhten Händen an Bord hob. Er faßte hinein, nahm einen winkenden Hummer heraus und warf ihn zu meiner Bestürzung ins Wasser zurück. Drei weitere Hummer folgten, dann versah der Mann den Korb mit neuen Ködern und warf ihn wieder über Bord. Ich fragte mich, ob der Hummerfang nicht nur ein Erwerbszweig, sondern auch ein Sport war. Der Wind, der gegen die Strömung wehte, trug den Geruch der Köder zu mir herüber, und ich ging am Geländer entlang weiter.
Die Gangway zum öffentlichen Anlegeplatz von Portsmouth führte auf eine Pier hinunter. Nur Schiffseigner und Gäste hatten hier Zutritt, aber das Wachhäuschen war leer, und so schlich ich mich über die Aluminiumrampe auf die grünen Bohlen hinunter. Die meisten Liegeplätze waren leer. In Ufernähe nisteten zwei kleine Segelboote, und weiter draußen lag ein Hummerboot mit dem Heck zur Pier. Ich ging an der Elizabeth Ann II vorbei bis ans Ende der Pier, ließ mich auf die Knie nieder, hielt mit einer Hand das Kätzchen fest und tauchte die andere ins Wasser. Ich konnte kaum fassen, wie kalt es war, kälter als Eiscreme an den Zähnen. Ich riß die Hand zurück, wobei ich mir mit den bereits blau angelaufenen Knöcheln ins Gesicht schlug. Unvorstellbar, daß es in so extremer Kälte Leben gab; vielleicht hatte der Hummerfischer tote, erfrorene Hummer ins Wasser zurückgeworfen. Ich wischte mir die Fingerspitzen am Mantel ab und schnupperte daran. Es war ein markanter Geruch, kräftig, stechend wie sumpfige oder lehmige Erde oder eher wie das, was darin verrottet, wie Fell und Haut, Urin und Tod, doch hinter all dem, darüber und es zugleich durchdringend, war etwas Sauberes. Ich schöpfte eine Handvoll Wasser, ertrug den nadelspitzen Schmerz und sah, wie klar es war, anders als der Fluß selbst, klar und reglos, so klar wie die Linien meiner Handfläche, als würde es ohne den Rest des Meeres nicht existieren. Ich kippte es zurück.
Ein schrilles Pfeifen ertönte, und als ich aufschaute, sah ich zwei Schlepper, die ein riesiges Schiff um Henderson Point auf Seavey’s Island herummanövrierten. Im Sheraton hatte ich in einem Führer gelesen, wie die großen Schiffe bei Stillwasser, also bei Hoch- oder Niedrigwasser, flußauf- und flußabwärts gelangen. Beladene Schiffe laufen bei Hochwasser ein, damit ihr Kiel die Felsen nicht berührt, leere Schiffe laufen bei Niedrigwasser aus, damit ihr Decksaufbau die Brücken nicht berührt. Während ich noch zuschaute, wie die Schlepper das Schiff um die enge Biegung bugsierten, hob mich ein Hornsignal von der Memorial Bridge über mir fast von den Planken und erweckte Piscataqua zwischen meiner Bluse und meinem Pullover zum Leben. Sie kletterte wie ein Beuteltier an meiner Bluse hoch, streckte den Kopf aus meinem Mantel, und wir sahen uns das Schauspiel gemeinsam an. Nach wenigen Augenblicken senkten sich vor den Autos auf der Brücke Schranken herab, und das mittlere Brückensegment schwebte an Stahltrossen langsam in die Höhe. Die Schlepper, in ihrer knappen, klagenden Sprache aus Luft abwechselnd pfeifend und tutend, dirigierten das Schiff scheinbar millimetergenau zwischen den Zwillingstürmen der Brücke hindurch und weiter flußaufwärts, den beiden anderen Brücken entgegen, die den Piscataqua zwischen Portsmouth, New Hampshire, und Kittery, Maine, überspannen. Das Schiff kam aus Venezuela, und keine Menschenseele war an Bord zu sehen. Ich konnte mir nicht vorstellen, was es geladen hatte, aber ich freute mich über das Vorrecht, es nach so langer Fahrt begrüßen zu dürfen.
Ich stand auf und ging über die Pier zurück. Im Vorbeigehen schaute ich in die Cockpits des Hummerbootes und der beiden Segelboote, um zu sehen, ob es Geheimnisse darin gab. Dann wanderte ich ans Nordende des Parks, blieb mindestens eine Stunde unterhalb eines auf Pfählen über den Fluß gebauten Restaurants namens Smarmy Snail stehen und schaute zu, wie das Wasser abfloß. Es ließ Pfützen und Schlamm zurück, ausgebleichte Entenmuscheln, Autoreifen, gesplittertes Holz und Reste zweier Korbreusen, und es sank weiter und gab ein zerfetztes Nylonfischernetz frei, das wie ein vergessenes Gespinst an den Pfählen klebte. In seinen Maschen hingen Plastikflaschen und Stücke einer Styroporboje. Mir fiel kein Wort ein, das ich in mein Gespinst hätte einweben können, um Jonah zu retten.
Von der Terrasse des Smarmy Snail führte eine Treppe zu einer weiteren Pier hinunter, einem Privatanleger, an dem zwei größere Schiffe festgemacht waren. Ich hatte ihn schon am Abend zuvor erkundet. Ich betrat den verglasten Speisesaal des Restaurants, bestellte eine Tasse heißen Tee, setzte mich mit dem Gesicht zur Sonne an einen Tisch und schaute auf die Schiffe hinab. Weiter flußabwärts lag das ehemalige Gefängnis, ein viktorianischer Bau, den die Marine jetzt als Lagerhaus benutzte. Ich stellte mir vor, wie die Gefangenen einst sehnsüchtig aufs Meer hinausgeblickt hatten. Es war warm in dem Restaurant, und Piscataqua begann laut zu schnurren. Ich legte zwei Dollar auf den Tisch und ging mit meinem Tee auf die Terrasse hinaus. Das eine der beiden Schiffe an der Pier schien eine Art Arbeitsboot zu sein. Es hatte Tauwerkrollen an Bord, Eimer und Plastikwannen, Netze auf einer riesigen Rolle. Gegenüber lag eine alte Motoryacht, etwa fünfzehn Meter lang, poliertes, in der Sonne glänzendes Mahagoni, am Heck die Aufschrift Rosinante und Palm Beach, Fl. An Bord spritzte eine noch ältere Frau in grell orangefarbenen Gummischuhen und einer Jacke von gleicher Farbe das Deck ab. Als sie ein paar Schritte weiterging und sich vorbeugte, um mit einem Schwamm die Holzteile abzuwischen, sah ich an einem der vielen Fenster des Kajütaufbaus ein kleines Schild lehnen. Zuerst las ich Schiff zu vermieten, aber dann sah ich, daß es Zimmer zu vermieten hieß. Am Abend zuvor hatte ich das Schild von der Pier aus nicht gesehen. Es war so aufgestellt, daß die Gäste des Restaurants es lesen konnten. Ich überlegte einen Augenblick und rief dann etwas befangen: «Zimmer zu vermieten?»
Die Frau hörte mich nicht. Vielleicht hatte sie ja ein Zimmer in ihrem Haus zu vermieten, vielleicht gab es auf dem Schiff gar kein Zimmer. Ich suchte nach weiteren Anzeichen dafür, daß es sich um ein Hausboot handelte. Stromkabel führten von der Pier zu einer Steckdose am Sockel der Kajüte. Alle Fenster und Bullaugen hatten Vorhänge. Auf dem Dach des Kajütaufbaus war eine kleine Klimaanlage, ähnlich der eines Wohnmobils. An einer Leine hingen verwitterte Wäscheklammern, die wie tote Spatzen aussahen.
«Zimmer zu vermieten?» rief ich noch einmal.
Die Frau richtete sich langsam auf und schaute zum Geländer der Memorial Bridge hoch, zehn, zwölf Meter über ihr.
«Hier!» rief ich und hielt aus irgendeinem Grund meine Teetasse hoch.
Sie sah zu mir herüber, legte die Hand ans Ohr und ging mit spritzendem Schlauch weiter. Ihre Haut war, falls überhaupt möglich, noch weißer als Elfenbein, so durchscheinend, daß sie wie glasiertes Steingut wirkte. Dann merkte ich, daß ihr Gesicht deshalb so zu glänzen schien, weil ihr Haar bläulich schimmerte wie ein Fernsehschirm. Selbst auf die Entfernung konnte ich die Knochen ihrer Hand und das blaue Aderngeflecht darüber erkennen. Sie ging mit offenem Mund um die Kajüte herum und drehte das Wasser ab. Dann rief sie: «Was?» zu mir herüber, mit so kräftiger Stimme, daß mir der heiße Tee übers Handgelenk schwappte.
«Zimmer zu vermieten?» fragte ich noch einmal und zeigte auf das Schild. «Ist das Zimmer noch frei?»
«Ja, ja», nickte sie, «da steht’s ja.»
«Ich suche ein Zimmer.»
«Na, dann komm, schau’s dir an», rief sie und schwenkte den Arm. Ich stellte die Tasse auf das Geländer und ging die Treppe hinunter, die bei ablaufendem Wasser immer steiler wurde. Die Pier hob und senkte sich mit dem Wasser – sie glitt an Eisenringen an ihren Pfählen auf und ab und blieb auf diese Weise stets auf gleicher Höhe mit den Schiffen. Die Treppe rollte bei Flut auf ihren Gummirädern weiter in die Pier hinaus und bildete so einen flacheren Winkel, während sie bei Ebbe steiler hinabführte. Als ich die Gangway zu der Yacht hinaufstieg, streckte die alte Frau mir die Hand entgegen. Ich ergriff sie so behutsam, als würde ich einen Vogelflügel berühren, und setzte meine Schuhsohle auf eine Messingplatte mit der Aufschrift ELCO. Ich spürte, wie das Schiff sich unter meinem Fuß bewegte. Es gab kaum merklich nach, so daß ich das Gefühl hatte, auf ein lebendes Wesen zu treten. Ich schauderte. Ich stieg auf das Deck hinunter und sah mich nach einem Halt um. Die Frau hielt noch immer meine Hand, klopfte mir mit dem Zeigefinger dreimal auf den Handrücken und fragte: «Kannst du schwimmen, Schätzchen?»
«Ja.»
«Ich hätte dich fragen sollen, bevor du an Bord gekommen bist. Schwimmwesten sind übrigens in den Deckschapps vorn und achtern, Feuerlöscher in Kajüte, Maschinenraum, Kombüse und unter dem Sonnensegel achtern.»
Sie war mager, und ihre Nase war so schmal, daß sie zerbrechlich wirkte. Ihre Haut aber war nicht schlaff, sondern entspannt, so als würde sie an etwas anderes denken als an Haut.
Zu den aufdringlichen und besonders unfeinen Angewohnheiten, die ich mir im Laufe meiner Tätigkeit als Archäologin zugelegt habe, gehört mein Interesse für Zähne: Vorbiß, Rückbiß, Karies, Füllungen und so weiter. Der alten Frau fehlten die beiden oberen Augenzähne, die Eckzähne, die auch bei archäologischen Schädelfunden häufig fehlen und die man oft in Abfallgruben findet. Sie haben nur eine einzige lange Wurzel. Das Gebiß der Frau mußte einen unverwechselbaren Abdruck hinterlassen. Sollte sie ein Vampir sein, dachte ich, hat sie sich den Beweis dafür ziehen lassen.
Sie schob die Tür zu der vielfenstrigen Kajüte auf und stieg über die hohe Schwelle. «Das da ist der Bilgepumpenschalter. Ich laß ihn immer auf Automatik.» Sie zeigte auf einen Kippschalter neben dem Steuerrad. Die Kajüte lag als einziger Wohnraum oberhalb des Decks. Es gab eine Eckbank und davor einen Tisch, der in Eßhöhe auf einem Messingsockel befestigt war. «Okay, soweit das Sicherheitstraining. Das Zimmer ist unten.» An einer Toilette und der Tür zum Maschinenraum vorbei stieg ich nach ihr fünf Mahagonistufen in eine Kabine hinunter, die das hintere Drittel des Schiffs einnahm. Backbords und steuerbords befanden sich je eine Koje und im Heck eine Frisierkommode mit einem großen Spiegel. Am Kopfende jeder Koje stand ein Kleiderschrank. Wände und Decke waren mit tiefrotem Mahagoni getäfelt.
«Du würdest dir die Kabine mit Chloe teilen. Im Moment ist sie bei der Arbeit. Du hättest dann die Koje hier, die Hälfte der Frisierkommode, dieses Schapp, Badbenutzung natürlich und Küchen- und Kajütenbenutzung. Die Kombüse liegt vor der Kajüte, den Niedergang hinunter, meine Kabine liegt vor der Kombüse.»
Sie zeigte mir, wie man zwischen den beiden Kojen einen Vorhang zuziehen konnte, wenn man für sich sein wollte.
«Rauchen ist an Bord verboten. Die Miete beträgt fünfzig Dollar pro Woche. Wenn du leicht seekrank wirst, dann ist das hier nicht das Richtige für dich: Die Schnellboote machen manchmal ziemliche Wellen. Wenn du religiös bist, kein Problem, aber behalt’s für dich. Trinkst du?»
«Nein, eigentlich nicht.»
«Schade, ich schon. Fluchst du?»
«Manchmal.»
«Ist an Bord genehm. Manchmal ist es hier kalt oder heiß. Jammerst du viel?»
«Ich hab einen warmen Pullover.»
«Kannst du zweihundert pro Monat zahlen?»
«Ja, kann ich.»
«Möchtest du zusammen mit Chloe und mir hier wohnen? Ich glaube, man kann’s ganz gut aushalten mit uns. Chloe ist ein bißchen dick und ziemlich neugierig, aber sie ist in Ordnung. Sie wohnt seit drei Monaten hier, und es gefällt ihr. Sie zahlt auch zweihundert. Ich selber zahle achthundert pro Monat für den Liegeplatz, ihr kommt also ganz gut weg. Ich würde euch nicht übers Ohr hauen.»
«Nein, nein!» Ich nickte. «Klingt okay.» Ich hörte das Wasser um den Rumpf des Schiffes gurgeln und spürte, wie die Fender gegen die Pier stießen.
«Männer …», fuhr sie fort und verstummte wieder.
«Ja?»
«Du bist jung.»
«Ja, aber ich bin nicht …»
Aber sie hatte sich schon umgedreht und meine Worte nicht gehört. «Sind doch was Nettes, oder?» sagte sie und wandte sich lächelnd wieder zu mir um. «Versuch nach elf Uhr abends leise zu sein, und denk dran: Wir befinden uns auf einem Schiff – es schaukelt.»
Am Kajütentisch schrieb ich einen Scheck über eine Monatsmiete aus. Sie hieß Grace. Dann machte ich mich auf, um mein Gepäck zu holen. Als ich auf das Deck hinaustrat, fragte ich: «Und was ist, wenn das Schiff ausläuft?»
«Die Rosinante hat diese Pier seit Jahren nicht mehr verlassen, Schätzchen. Seit Sweet George gestorben ist.»
Ich schwieg. Meine Augen flüsterten den Namen.
«Sweet George war mein Mann.» Sie wandte sich wieder ab und stieg den Niedergang zur Kombüse hinunter. Ich schob die Tür hinter mir zu und schauderte von neuem, als ich über den fünfzehn Zentimeter breiten Spalt stieg, der zwischen Schiff und Pier gähnte.
Erst am nächsten Morgen machte ich mir klar, daß ich ja einen Scheck ausgestellt hatte, und als ich ihn zurückhaben und Grace dafür zweihundert Dollar in bar geben wollte, hatte sie ihn bereits eingelöst. Ich wollte kein Aufhebens davon machen, aus Angst, sie könnte mißtrauisch werden, und teilte der Bank meine neue Adresse mit, bat aber darum, sie nicht weiterzugeben. Ich hatte meine Mutter auf meinem Zettel zwar gebeten, meine Post zu holen, aber ich konnte nicht ausschließen, daß Richard und Mary den Briefträger abfingen und ihn auszuquetschen versuchten.
Am Nachmittag zog ich an Bord der Rosinante. Ich war so glücklich wie seit Monaten nicht mehr. Ich hatte gehofft, eine Wohnung zu finden, von der aus ich zu Fuß ans Wasser konnte, doch der Gedanke, auf dem Wasser selbst zu wohnen, war mir gar nicht gekommen. In schnellen, kurzen Sprüngen, zwischen denen ich immer wieder in Panik meine Kleider nach Piscataqua durchsuchte, hastete ich zum Sheraton, packte meine Taschen, warf sie in den Kofferraum meines Wagens und raste zum Prescott-Park zurück, als könnte ich das Zimmer wieder verlieren, wenn ich mich nicht beeilte. Piscataqua hatte es sich kaum auf der Kopfstütze bequem gemacht, als ich ihre Krallen auch schon wieder aus der Polsterung zog. Ich schulterte meine drei Taschen und den Rucksack, beschloß aber, meine Werkzeugkiste mit den Kellen, Pinseln und Zahnsonden im Auto zu lassen.
Die Unterbringung des Wagens selbst würde das größte Problem sein. Ich mußte irgendeine Lösung finden. Der Gedanke an die Parkmünzen, die er mich kosten würde, oder an den Preis für einen Dauerplatz in einem Parkhaus trieb mich zur Verzweiflung. Ich war noch nicht daran gewöhnt, Geld zu haben. Jonah und ich hatten Monat für Monat die Hypothek auf unser altes Farmhaus und die zwanzig Morgen Land darum herum abgetragen, ganz zu schweigen von den Autoraten und den laufenden Rechnungen. Paradoxerweise hatte sein Tod mich finanziell unabhängig gemacht. Seine Krankenversicherung hatte eine Unfalltodklausel über zwanzigtausend Dollar enthalten, und von der Versicherung bei der Bank hatte ich nicht nur beide Autos, sondern auch den Rest der Hypothek abbezahlen können. Ich besaß ein Vermögen von insgesamt über hundertfünfzigtausend Dollar, davon dreißigtausend in bar, und ich schuldete niemandem einen Penny. Nur einen Mann hatte ich nicht mehr.
Ich warf fürs erste eine Münze in die Parkuhr und polterte dann über den Plankenweg, der um das Smarmy Snail herum auf die Terrasse führte, stieg die Treppe hinab und ging über die Pier zur Gangway der Rosinante. Ich klopfte vorsichtig an die Glasscheibe der Tür. Als niemand kam, trat ich ein und wäre fast über das Süll gestolpert. Da ich mit allen Taschen gleichzeitig nicht den Niedergang hinunterkam, warf ich sie eine nach der anderen hinab. Ich zog den Vorhang zurück, der den Raum in zwei Teile teilte, räumte meine drei Schubladen in der Frisierkommode ein und hängte Blusen und ein Kleid in meinen Schrank. Unter meiner Koje gab es noch weitere Schubladen, in denen ich meine Papiere und Notizbücher verstaute. Auf ein Bücherbord über der Koje, unterhalb einer Reihe von drei Fenstern, stellte ich meine Feldhandbücher und ein paar Lehrbücher, die mir besonders wichtig waren. Die Toilette war die kleinste, die ich je gesehen hatte, eine Puppenporzellanschüssel mit einer Mahagonibrille. Über dem winzigen Eckwaschbecken aus Messing waren vier schmale Borde angebracht, und ich legte Seife und Zahnbürste hinter die niedrigen Streben. Auf der Suche nach einer Badewanne oder Dusche öffnete ich die Tür zum Maschinenraum, sah aber nur einen riesigen Dieselmotor und befürchtete schon, in den nächsten Wochen täglich zum CVJM zu müssen. Ich ging durch den halbmeterbreiten Flur in die Toilette zurück, schloß die Tür und verriegelte sie, knöpfte mir die Hose auf und ließ mich nieder, wobei Piscataqua zu Boden fiel. Auf der kühlen Mahagonibrille sitzend, beobachtete ich das Spiel von Piscataquas Ohren, schaute dann auf und entdeckte knapp unter der Decke einen Duschkopf, der direkt auf mich zeigte. Hier duschte man also auch. Zwischen meinen Füßen befand sich ein Abfluß im Boden. Ich war, gelinde gesagt, überrascht. Ich sah mich nach dem Toilettenpapier um und fand es unter den Rand des Waschbeckens geklemmt, der einzige Platz im Raum, an dem der Sprühregen aus der Dusche es nicht erreichen konnte. Als ich die Beine spreizte, um mich abzuwischen, stieß ich mit einem Knie gegen das Abflußrohr des Waschbeckens und mit dem anderen gegen die Wölbung des Schiffsrumpfes. Es gab kaum genug Platz zum Pinkeln, geschweige denn, um sich beim Duschen umzudrehen. Schon bald aber lernte ich die Zweckmäßigkeit der Raumausnutzung auf einer Yacht schätzen. Als ich aufstand und mich umdrehte, mußte ich wie ein Aufziehsoldat die Arme seitlich anlegen. Einen Spülhebel am Wasserkasten gab es nicht, weil es gar keinen Wasserkasten gab, doch aus dem Sockel der Toilettenschüssel ragte ein langer Messingarm mit einem glänzenden Knauf, der wie ein von Menschenhänden blankgeriebener Glücksbringer aussah. Ich bewegte ihn auf und ab, einmal langsam und dann, als ich den Sog spürte, schneller, und erzielte damit die gewünschte Wirkung: Die Schüssel leerte sich und lief wieder voll Wasser. Es würde mir schwerfallen, die Befriedigung zu erklären, die ich dabei empfand.
Da ich auch den Rest des Schiffes erkunden wollte, setzte ich das Kätzchen in die Toilette und schloß die Tür. Der Maschinenraum war groß, aber niedrig, weil er direkt unter der erhöhten Kajüte lag. Stromkabel liefen die Wände entlang, riesige Batterien standen in Reih und Glied, in einer Ecke war ein Generator, in einer anderen ein Werkzeugkasten. Die Mitte des Raumes wurde vom Motor selbst eingenommen, einem bedrohlich aussehenden grauen Ungetüm, von dem eine Welle zum Heck hinausführte. Man sah, daß der Motor in einwandfreiem Zustand war, weil er weder Rost- noch Öl- oder Schmutzflecken aufwies, aber man sah auch, daß er jahrelang nicht mehr benutzt worden war. Eine dicke Staubschicht bedeckte ihn, und an den Seiten hingen Spinnweben schlaff bis auf den Boden hinab. Die Treibriemen waren trocken und rissig.
Auf dem Kajütenboden lagen Schlingenteppiche: Sirenen auf Felsen, eine bewaldete Insel, ein Segelschiff, alles aus den dreißiger und vierziger Jahren. Die Eckbank hatte blaue Plastikbezüge. Die Vorhänge an den Schiebefenstern, von denen sich nur jedes zweite öffnen ließ, waren ebenfalls blau, nur heller, ausgebleicht und fleckig, ein Wasserfarbenhimmel. An der linken Seite des Raumes befand sich ein Mahagonisteuerrad mit einem Durchmesser von etwa sechzig Zentimetern, und zwischen ihm und der flachen, senkrechten Windschutzscheibe waren ein großer Messingkompaß und andere Instrumente angebracht. Zwei Steuerhebel trugen deutlich lesbar die Aufschrift vorwärts/rückwärts und Fahrtregler. Alles wirkte ganz einfach. Das einzige, was kompliziert aussah, waren drei moderne, über dem Kompaß an der Decke montierte Instrumente. Eines schien eine Art CB-Funkgerät zu sein, auf dem zweiten stand Loran, das dritte war ein Radargerät. Im Zündschloß steckte offensichtlich der Originalmessingschlüssel, glattgewetzt, aber stumpf durch mangelnden Gebrauch. Ich hätte am liebsten alle Gegenstände in dem Raum betastet, um festzustellen, wie sie sich anfühlten. Der Raum war so winzig und barg doch so viele Möglichkeiten. Ich spürte, wie sie kamen und gingen, wie sie im selben Augenblick, in dem sie auftauchten, wieder verschwanden.
An der rechten Seite der vorderen Wand führten ein paar Stufen im rechten Winkel in die Kombüse hinunter, die zu meiner Überraschung ganz modern eingerichtet war. Die Spüle hatte fast normale Größe, unter einem der Hängeschränke war eine Mikrowelle angebracht, und neben dem dreiflammigen Gasherd mit Backrohr war unter einer gefliesten Arbeitsplatte ein kleiner, aber moderner Kühlschrank eingebaut. Die Hängeschränke hatten Buntglastüren.
Ich inspizierte den Inhalt der Dosen in einem der Unterschränke und hatte gerade drei große Tafeln Schokolade entdeckt, als ich einen gedämpften Laut hörte, eine Art Blubbern, ein Schnarchen oder Gurgeln – einen Laut jedenfalls, den ein lebendes Wesen hervorgebracht hatte. Ich hatte geglaubt, allein auf dem Schiff zu sein. Grace hatte auf mein Klopfen nicht reagiert, und bis zu diesem Moment hatte ich keine Geräusche gehört. Ich richtete mich auf und tat ein paar Schritte. An Steuerbord befand sich eine zweite Toilette, an Backbord ein großes Schapp. Grace’ Kabine war von diesem Bereich durch eine Tür getrennt, die jedoch weit offenstand. Ich ging hinein. Zur Linken zwei Kojen übereinander, zur Rechten ein kleiner Schreibtisch mit Stuhl und eine eingebaute Frisierkommode. Der freie Raum zwischen der Stuhllehne und den Kojen war keinen halben Meter breit und wurde nach vorn noch schmaler. Ich blieb stehen und lauschte. Von draußen waren ab und zu die durchdringenden Schreie der Möwen zu hören, die mir in diesem Augenblick wie Warnschreie erschienen. Hin und wieder vernahm ich auch das leise Plätschern des Wassers gegen das Holz. Vielleicht hatte ja nur das Pfahlwerk der Pier geknarrt oder einer der Fender, die das Boot schützten. Doch dann hörte ich das Geräusch wieder und verlor fast die Nerven. Es war ein erstickter Kehllaut, ein keuchendes, vergebliches Speichelrasseln, ein verschleimtes, ächzendes Ausstoßen zäher Luft. In den beiden Kojen war niemand, unter dem Schreibtisch auch nicht. Durch vier Bullaugen, zwei an jeder Seite, fielen grelle Lichtstreifen in den Raum, hinter denen am anderen Ende, zum Bug des Schiffes hin, wie durch einen Schleier eine niedrige jalousieartige Tür zu erkennen war. Viel Platz konnte dahinter nicht sein. Die Tür selbst war nicht mehr als dreißig Zentimeter breit, ihr Messingknauf vom Gebrauch blankpoliert. Ich ging auf Zehenspitzen weiter, durch die Balken wirbelnder Staubpartikel hindurch, und faßte mit zitternder Hand nach dem Knauf. Ich kam mir sehr töricht und feige vor. Als meine Hand nur noch ein paar Zentimeter von dem Knauf entfernt war, hörte ich das Schniefen wieder, Lippen, die grotesk über zahnloses Zahnfleisch glitschten, ein Dutzend Trinkhalme, die den letzten Tropfen Blut aus einem Pappbecher sogen. Durch die Lamellentür drang kein Licht.
«Ist jemand da drin?» fragte ich mit versagender Stimme.
Das Schniefen verstummte. Statt dessen vernahm ich jetzt ein Geräusch, als würde Draht über Korbgeflecht scheuern, dann einen dumpfen Schlag.
«Ich bin’s, Charlotte, die neue Untermieterin», sagte ich. «Ist alles in Ordnung?»
Keine Antwort. Ich umfaßte den Türknauf.
«Ich komm jetzt rein, ja?»
Nichts, nur weiter das Scheuern und dann ein Schnauben oder ein Furz, über Schleim streichende Luft. In meinem Kopf spulte sich wieder und wieder eine Filmszene ab, in der jemand sagt: «Vielleicht ist Sweet George gar nicht tot.» Ich drehte den Knauf, öffnete die Tür einen Spalt und hielt sie mit ausgestrecktem Arm fest, für den Fall, daß jemand mich über den Haufen zu rennen versuchte. Dann zog ich leicht an dem Knauf, ließ die Tür aufschwingen und sprang bis ans andere Ende der Kabine zurück, obwohl mir klar war, daß das Wesen hinter der Tür dem Tode nahe sein mußte. Drinnen war es dunkel. Erst sah ich gar nichts, aber nach einem Moment erkannte ich eine große Tauwerkrolle, Ankerleine vermutlich, mehrere alte Schwimmwesten und ein paar Pappkartons. Dann fiel direkt hinter der Tür, etwa aus der Höhe des Knaufs, ein ungefähr fünfzig auf fünfzig Zentimeter großes rotes Satinkissen mit staubigem Aufprall zu Boden.
«Hallo?» sagte ich.
Keine Antwort. Nach einer Weile hörte ich, wie ein großer, schwerer Leib sich langsam und asthmatisch aufzuraffen begann. Ein Ächzen ertönte, etwas Weißes, Haariges blitzte auf. Ich zog mit einem leisen, aber scharfen Laut die Luft ein, so als hätte ich ein Insekt verschluckt. Das sabbernde, erstickte Aufraffen wurde lauter und schrecklicher, und ich war nahe daran, davonzustürzen und mich zu übergeben, als mir dämmerte, daß das Haarige in vieler Hinsicht der Form eines Hundes glich, eines fetten, mopsgesichtigen Hundes, einer Bulldogge. Er war von einer Kiste heruntergesprungen, saß jetzt auf seinem Satinkissen und versuchte an seiner Nase vorbei den Blick auf mich zu richten. Seine Oberlippe war zu kurz, um seine Zähne zu bedecken, und die Zähne selbst konnten die Zunge nicht im Maul halten. Die Nase saß so hoch, daß der Schleim in die Augen laufen mußte. Aus dem Maul hingen Speichelfäden. Das Fell war nicht richtig weiß, sondern fahl wie ein Nikotinfleck. Das Tier verlagerte sein Hinterteil, und plötzlich sah ich zwischen seinen Beinen einen fünf Zentimeter langen, bloßliegenden, fast fluoreszierend rosafarbenen Penis unter dem Wulst des aufgeblähten Bauches glänzen. Ehe der Hund sich erneut bewegen konnte, rannte ich hinaus und schlug die Tür zu. Noch nie hatte ich mich so sehr vor einem Lebewesen geekelt. Hätte ich so leben müssen, ich hätte mich umgebracht. Als Archäologin hatte ich Dutzende von Hundegräbern freigelegt, aber vor keinem hatte mir auch nur annähernd so gegraut wie vor dem bloßen Atmen dieses Hundes. Schon bei der Vorstellung, wie er nieste oder aus seinem Wassernapf trank, schüttelte es mich. Ich schloß die Tür meiner eigenen Kabine und versuchte, nicht mehr an die Geräusche am anderen Ende des Schiffs zu denken.
Ich legte mich in meine Koje, setzte mir die kleine, trockene, stille Piscataqua auf die Brust und lauschte statt dessen auf die Geräusche, die mein Leben in diesem Raum begleiten würden. Es war, als läge ich auf einem Lebewesen, dessen Sinne ebenso angespannt waren wie meine. Das Schiff war ja tatsächlich einmal lebendig gewesen; soweit ich gesehen hatte, bestand es ganz aus Holz. Auf die leiseste Veränderung sowohl des Windes als auch des Wassers reagierte es mit Bewegungen, die ich ebenso spürte, wie ich es gespürt hatte, wenn Jonah sich neben mir im Bett bewegte. Es war ein Gefühl, als würde ich schweben, als sollte ich mich verwandeln, neu zusammengesetzt werden. Bei Ebbe wurde die Rosinante, von röhrenförmigen PVC-Fendern geschützt, mit einem Druck von vermutlich mehreren Tonnen gegen die Pier gedrückt. Bei Flut dagegen strafften sich die Leinen, die das Schiff mit den galvanisierten Klampen auf der Pier verbanden. Ich hörte sie knarren und die Planken des Schiffs träge ächzen, jede Halterung gab ihr eigenes Stöhnen von sich. Ständig war in der einen oder anderen Form Reibung vorhanden. Das Wasser, das vielleicht zehn Zentimeter von meinem Kopf entfernt am Rumpf des Schiffs entlangströmte, gurgelte und schwappte, und hin und wieder machte es ein klatschendes Geräusch. Nach einer Weile sprang irgendwo unter mir, unter dem Boden der Kabine, ein Elektromotor an, und außen am Rumpf ergoß sich Wasser in den Fluß. Es dauerte etwa dreißig Sekunden, dann schaltete sich der Motor wieder ab. Das Schiff hatte gepinkelt. Es war albern, aber ich mußte lächeln.
Auf der anderen Seite des Raumes, vor der Koje meiner Zimmergenossin, lag ein Haufen schmutziger Kleider auf dem Boden, fast alles Jeans und T-Shirts, aber auch ein riesiger BH, rosa Socken mit silbernen Sternen und ein Leopardenslip, ein Exemplar von wirklich großem Umfang. Zwischen die Bretter am Kopfende der Koje waren Fotos geklemmt. Eines zeigte einen bärtigen, ziemlich zerzausten jungen Mann in Latzhosen, ein anderes ein paar winzige Gestalten auf einer sehr weit entfernten Bühne, wahrscheinlich eine Rockgruppe. Ich dachte daran, in die Schubladen der Frisierkommode und in den Schrank zu schauen, ließ es dann aber bleiben. Sonst gab es in dem Raum kaum persönliche Dinge, keine Bücher oder Zeitschriften, keine Poster oder Briefe. Vielleicht hatte das Mädchen aufgeräumt, weil Grace das Zimmer zeigen wollte. Ich machte mir weiter keine Gedanken über sie; am Abend, wenn sie von der Arbeit kam, würde ich sie ja kennenlernen. Das einzige, was mich beunruhigte, war, daß Grace sie als neugierig bezeichnet hatte und ich zu diesem Zeitpunkt wenig Lust verspürte, die Geschichte meiner Ängste preiszugeben.
Ich war von zu Hause fortgegangen, hatte meine Stelle aufgegeben. Außer Grace war ich der einzige Mensch auf der Welt, der wußte, wo ich war. Ich fühlte mich geborgen. Wenigstens ein kleines Stück meines Kummers hatte ich tausend Meilen entfernt zurückgelassen. Eine Illusion, ein angenehmer Gedanke, der über mir schimmerte wie die Lichtreflexe, die das Wasser durch die Fenster meiner behaglichen Kabine warf, meines stetig schaukelnden Heims.
Nach einer Weile setzte ich Piscataqua wieder in die Toilette und stellte ihr Wasser und etwas Futter hin. Ich hoffte, es würde ihretwegen keine Schwierigkeiten geben. Ich hatte sie Grace nicht absichtlich verheimlicht; ich hatte sie schlicht vergessen. Ich würde ihr ein Katzenklo besorgen müssen, damit sie nicht den Raum verdreckte. Im Freien war es noch zu kalt für sie.
Bevor ich zum Mittagessen in das Restaurant hinaufging, sah ich mich auf dem Deck der Rosinante um. Die Kajüte hatte zwei Türen, auf jeder Seite eine. Ein Tau zog sich an Relingstützen rings um das Deck. Ich stieg die zwei Stufen zu dem erhöhten Vordeck hinauf. Das Kombüsendach war leicht gewölbt, damit das Wasser ablaufen konnte. Die Vorderkajüte hatte ein Buntglasoberlicht, das ich von unten nicht gesehen hatte. Am Bug, über der Höhle des Löwen, befanden sich zwei Anker, ein großer Yachtsman- und ein kleinerer Danforth-Anker, und ein Spill zum Fieren und Hieven der Anker. Damals kannte ich die Namen der Anker noch nicht, doch in den folgenden Monaten übernahm ich das nautische Vokabular von Grace, die das Gesicht verzog, wenn ich «Küche» statt Kombüse oder «Bett» statt Koje sagte. Das Dach meiner Kabine war ebenfalls gewölbt. An einer ihrer Außenwände waren Vorratsbehälter und ein Rettungsfloß montiert, an der anderen eine Bank, die wie eine Kirchenbank aussah. Über dem Ganzen spannte sich an Messingpfosten ein Sonnensegel aus Persenningstoff, das bis über die sechs an Deck verschraubten Vierzig-Liter-Propangasflaschen reichte. Das Achterdeck war flach, mit einem Luk, das nach unten führte. Über dem Heckspiegel hing ein Beiboot an seinen Davits, ein Drei-Meter-Dingi. Es war ein glänzend poliertes Juwel, dieses kleine Boot, mit Klinkerbeplankung und einem unverdienten Namen – Dapple, wie Sancho Pansas Esel –, der in Blattgoldlettern an seinem Mahagoniheckspiegel prangte. Die Holzteile der Rosinante waren ebenfalls poliert, die Heckreling aus Messing dagegen war fast durchweg stumpf, wenn auch noch nicht zu Grünspan verwittert. Die vordere Deckhälfte bestand aus weiß gestrichenem Fiberglas, die hintere aus Teakholz. Es war ein schönes altes Schiff. Daß es auch ein robustes Schiff war, sollte ich noch erfahren.
Ich ging bis ganz nach vorn, lehnte mich gegen eine Relingstütze und blickte flußauf- und flußabwärts. Was Portsmouth so interessant machte, war neben seinen malerischen historischen Bauten und seiner Geschichte auch sein geschäftiger Hafen. Er war so klein, daß ich mir alles anschauen konnte, ohne mich erdrückt zu fühlen. Ich konnte einzelne Menschen beobachten, die auf ihren Schiffen hierhin und dorthin fuhren, mit der Flut aus- und später wieder in den Hafen einliefen, zwischen den Inseln durch und in die Buchten flitzten oder nahe dem Flußufer kreuzten, Menschen, die im Morgengrauen oder in der Abenddämmerung zur Arbeit kamen oder nach Hause fuhren. Ich hatte für die nächsten Monate keinen anderen Wunsch, als mich ganz diesem genauen Beobachten zu widmen. Es war nichts anderes als ein Spionieren, im Schutz meines Alleinseins, unter dem Deckmantel meines Unglücklichseins. Ich flüsterte mir Geheimnisse zu. Manchmal vermißte ich Jonah so sehr, daß ich mir selbst wie tot vorkam. Was mir aus diesem Zustand wieder heraushalf, war die Fähigkeit, einen Schmerz jenseits des augenblicklichen zu spüren, zu wissen, daß der Schmerz in Stufen des Verstehens kommt, daß unser Herz uns die nächste Stufe erst erreichen läßt, wenn wir uns auf der gegenwärtigen eingerichtet und genug Schmerz angesammelt haben. Ich entdeckte in mir eine Liebe zu bewegtem Wasser und glaubte, schon allein seine Bewegung, seine Substanz und sein Vorbeigleiten unter der Brücke, sein überzeugendes Argument ewiger Schönheit würden mich heilen. Doch dann erkannte ich, daß man erst untergehen muß, ehe man gerettet werden kann. Das Wasser unter mir war ständig in Bewegung, stand nie still. Auch ich würde nicht stillstehen, so hoffte ich, wenn ich so nahe am Wasser lebte. Schon seine Frische, strömend und kalt, gab mir ein Gefühl der Sauberkeit. Ich pfiff einer Möwe zu, die unter der Memorial Bridge durch und an mir vorbei dem Meer zu segelte. Ich winkte einem Jungen auf einem Schiff auf der anderen Seite der Bucht zu. Und ich weinte in die Flut hinab und flüsterte Namen in die Tiefe.
Der Vorschlag meiner Schwiegermutter hatte mich auch deshalb so aufgebracht, weil ich mir selbst Kinder von Jonah gewünscht hatte. Er aber hatte darauf beharrt, daß wir erst die Voraussetzungen dafür schaffen müßten, auch die finanziellen. Ich habe in den Jahren mit Jonah oft geweint, am meisten aber bei unseren Auseinandersetzungen über Kinder. «Wir müssen sie uns leisten können, Charlotte», sagte er. «Wieso sie?» entgegnete ich. «Normalerweise kommt immer nur eins auf einmal. Wir brauchen doch nicht schon am Tag seiner Geburt seine Studiengebühren auf der Bank zu haben.» – «Laß uns noch ein bißchen warten», sagte er. «Wir sollten nichts tun, was wir später bereuen. Bitte, laß mir Zeit, damit ich uns erst ein richtiges Zuhause schaffen kann.» Und ich gab nach. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich gewußt hätte, daß er sterben würde, wenn er nicht den Unfall, sondern eine tödliche Krankheit gehabt hätte. Vielleicht hätte er mich dann schwanger werden lassen. Oder ich hätte es nicht mehr gewollt. Jedenfalls blieb ich nach seinem Tod entsetzlich allein zurück, mit einem entsetzlich klaren Bewußtsein dessen, was hätte sein können, und dessen, was niemals sein würde. Ich weiß nicht, warum wir Menschen lieben, die uns etwas verweigern, aber meine Liebe zu Jonah war unbezähmbar.