«WIR MÜSSEN UNSERE KINDER BEREIT MACHEN FÜR DIE HERAUSFORDERUNGEN DER ZUKUNFT!»
Die Schule ist für unsere Kinder eine Vorbereitung auf eine Arbeitswelt, wie sie in zehn, zwanzig Jahren aussehen wird. Wir können diesen Anforderungen der Zukunft nicht mit Bildungskonzepten von gestern begegnen. Das ist keine Panikmache, das ist verantwortungsvolle Vorbereitung. Darum fordert der Bildungsexperte Andreas Pfister in seinem Debattenbuch eine «Matura für alle». Mit einer allgemeinen Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr sollen alle eine Chance auf gute Bildung erhalten, auch die, die sich selbst von Bildung ausschliessen – wie einst der Geissenpeter.
Andreas Pfister (1972) arbeitet als Gymnasiallehrer, Bildungsjournalist und freier Autor. Er unterrichtet die Fächer Deutsch und Medien. Für die Fachzeitschrift «Gymnasium Helveticum» betreut er den Bildungsticker. Er hat in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften Artikel zu Bildungsthemen publiziert. 2011 gab er den Sammelband «Das Gymnasium im Land der Berufslehre» heraus. 2015–17 leitete er den Bildungsblog des «Tages-Anzeigers».
Aufgewachsen ist Andreas Pfister auf dem elterlichen Bauernhof im Kanton Freiburg. Nach der Sekundarschule machte er ein Welschlandjahr, dann das erste Lehrjahr als Zimmermann. Darauf wechselte er ans Gymnasium. An der Universität Freiburg studierte er Germanistik und Histoire Contemporaine. 2005 promovierte er in Literaturwissenschaft. Heute lebt er mit seiner Familie in Zürich.
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Umschlaggestaltung und Satz: Lynn Grevenitz, Kulturkonsulat,
Hamburg, www.kulturkonsulat.de
Lektorat: Vanessa Sonder, Zürich
E-Book: CPI books GmbH, Leck
ISBN: 978-3-9524924-4-4
Vorwort
01 61,9 – Von der Schulpflicht zur Maturitätspflicht
02 Duale Besonderheiten
03 Megatrends der Gegenwart
04 Von der Chance zur Pflicht
05 Bildungsferne
06 Selbstexklusion
07 Die neue Sprache der Ausgrenzung
08 Das Geissenpeter-Syndrom
09 Reflexion statt Reflex
10 Handwerk des Denkens
11 War for Talents
12 Zwei Stufen
13 «Die braucht es auch»
14 Prinzessinnen- und Königsweg
15 Vom Nutzen des Unnützen
16 Diskursanalyse im Arbeitsmarkt
17 Jugend ohne Lobby
18 Bildungsmythen im Faktencheck
19 Orchideen- und MINT-Fächer
20 Finanzielle Bildungslücke
21 Geld und Geist
Nachwort
Endnoten
Literatur
Ich schlage eine Matura für alle vor. Alle Jugendlichen in der Schweiz sollen entweder eine gymnasiale Maturität, eine Berufs- oder Fachmaturität erlangen.
In unserer Wissensgesellschaft steigen die Anforderungen. Deshalb brauchen wir eine neue Bildungsoffensive. Wir müssen unsere Jugendlichen bereit machen für die Herausforderungen der Zukunft. Denn: Nachobligatorische Bildung, verstanden nur als Chance, genügt nicht. Auch Weiterbildung reicht nicht. Es braucht einen Ausbau der Grundbildung. Nur dank solider Bildung können unsere Jungen souverän über ihr Leben bestimmen. Bildung ist mehr als ein Mittel zum Zweck. Bildung führt den Menschen zu sich selbst. Sie befreit und bereichert.
Der Vorschlag einer Maturitätspflicht ist durch meine Tätigkeit als Bildungsjournalist, insbesondere durch die Medienschau für den Bildungsticker des VSG1, das Bloggen für den Tages-Anzeiger2 und meine Arbeit als Lehrer entstanden. Aus diesen Tätigkeiten ergibt sich ein Überblick über die bildungspolitischen Diskussionen in diesem Land, und zwar über alle Stufen hinweg, in den verschiedenen Sprachregionen und Kantonen. Im Fokus dieses Buchs steht der Bildungsdiskurs, also die Art und Weise, wie wir über Bildung schreiben, sprechen – oder auch schweigen.
Im Umfeld der Zürcher Aufnahmeprüfung ans Gymnasium 2017 publizierte der Tages-Anzeiger das Interview «Ich plädiere für eine Matura für alle»3. Zuvor war im Bildungsblog4 der Vorschlag einer Matura für alle erstmals publiziert worden. Seither wird die Idee kontrovers5 diskutiert.
In diesem Buch wird die Matura für alle erklärt und begründet. Die Forderung nach dieser Bildungsoffensive schreibt sich ein in die Tradition von Erneuerungsschritten im Schweizer Bildungswesen – wie es zuvor die Gründung der Volksschule tat sowie auch die Öffnung der höheren Bildung und die Erfolgsgeschichte von Berufsmaturität und Fachhochschulen.
Heute gilt es, die nachobligatorische Schulzeit zu reformieren und zukunftstauglich zu machen. Im Kern beinhaltet das eine Ausweitung der Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr. Mit dem Schritt von der Chance zur Pflicht sollen alle erreicht werden, auch die Bildungsfernen, die sich selbst von Bildung ausschliessen – wie einst der Geissenpeter. Das Geissenpetersyndrom überwinden heisst die Selbstexklusion überwinden. Dazu braucht es die allgemeine Maturitätspflicht.
Der Eigenwert der Bildung, der Arbeitsmarkt und die Chancengerechtigkeit verlangen es gleichermassen: Das Recht auf Bildung muss für alle gelten. Dieses Buch möchte dazu beitragen – für unsere Jugendlichen, für unsere Zukunft.
01 | 61,9 – VON DER SCHULPFLICHT ZUR MATURITÄTSPFLICHT |
Dieses Buch plädiert für eine Matura für alle. Damit ist gemeint, dass alle Jugendlichen in der Schweiz einen der drei Maturitätstypen erlangen, die wir heute kennen: die gymnasiale Maturität, die Berufsmaturität oder die Fachmaturität. Gegenwärtig ist das Erlangen dieser Maturitätstypen freiwillig. Das soll sich ändern. Die Schulpflicht soll neu eine der drei Maturitäten beinhalten. Damit wird die obligatorische Schulzeit bis zum 18. Lebensjahr verlängert.
Das heisst nicht, dass alle ans Gymnasium müssen. Es heisst auch nicht, dass man bis 18 in die Schule muss. Der Schulbesuch kann weiterhin an der Berufsschule und während der Lehre stattfinden.
Der Vorschlag einer Matura für alle folgt drei Grundsätzen: Erstens soll die gymnasiale Maturaquote erhöht werden. Es sollen und können mehr Jugendliche in diesem Land eine gymnasiale Maturität erlangen – und zwar unter Beibehaltung des bisherigen Niveaus. Zweitens soll die Berufsmaturität nicht länger einem kleinen Anteil von Lehrlingen vorbehalten sein, sondern flächendeckend für alle Lehrlinge eingeführt werden. Für Lehrlinge mit besonderen Bedürfnissen braucht es wie bisher besondere Lösungen. Drittens soll daneben die jetzt noch recht schmale Fachmaturität ausgebaut werden.
Diese Grundsätze stärken beide Bildungswege, sowohl das Gymnasium als auch die Lehre.1 Die generelle Maturitätspflicht soll auch dazu beitragen, die Kluft zwischen den Bildungswegen zu verkleinern.
38.1 Prozent aller Jugendlichen in der Schweiz haben im Jahr 2016 die Maturität erlangt. 20.2 Prozent die gymnasiale Maturität, 15.1 Prozent die Berufsmaturität und 2.9 Prozent die Fachmaturität.2 Die anderen 61,9 Prozent haben keine Maturität. Dies, obwohl sie das genau gleiche Recht auf Bildung haben und obwohl die Anforderungen des Arbeitsmarkts auch für sie steigen. Mit der Maturapflicht für alle wird das Bildungsniveau in der Schweiz generell angehoben. Dabei werden die drei verschiedenen Maturitätstypen beibehalten. Die Unterschiede in der Ausrichtung und dem Niveau des jeweiligen Maturitätstyps bleiben bestehen. Für die Berufs- und Fachmaturität kann eine Binnendifferenzierung eingeführt werden, zum Beispiel in ein Niveau A und ein Niveau B, analog zur Sekundarstufe I.
Warum fordere ich eine Matura für alle? Bildung hat einen Eigenwert, Bildung im humanistischen Sinn ist für den Menschen da. Sie ist und vermittelt eine Kultur, die wir unseren Kindern weitergeben wollen. Eine neue Bildungsoffensive soll mithelfen, unsere Jugendlichen besser auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten. Die Maturapflicht ist eine Pflicht für den Staat, für die Jugendlichen aber eine Chance. Sie sollen ungeachtet ihrer sozialen Herkunft und ihres Elternhauses teilhaben an Bildung.
Eine verlängerte Schulpflicht schlägt man nicht leichtfertig vor. Der Ausbau des Schulobligatoriums in der heute noch nachobligatorischen Schulzeit ist ein Eingriff in die bisherige Wahlfreiheit. Wenn dieses Buch trotzdem eine Maturapflicht vorschlägt, dann im Dienste jener Wahlfreiheit, zu der erst eine ausgebaute Schulpflicht befähigt. Die Schul-bzw. Maturitätspflicht ist höher zu werten als die vermeintliche Freiheit, nach elf Jahren nur noch einen Tag pro Woche in die Schule zu müssen. Die Unfreiheit, die sich aus mangelnder Bildung ergibt, verschärft sich mit den wachsenden Anforderungen der Arbeitswelt und der schleichenden Erosion der Chancengerechtigkeit.
Immer wieder stösst man auf die alte Frage: Was kann man tun für mehr Chancengerechtigkeit? Alle, die wollen, können bei entsprechenden Leistungen an höherer Bildung teilhaben. Zwingen jedoch kann man niemanden. Das sprichwörtliche «Zwingen zum Glück» ist allen zuwider. Aber das mit dem Wollen ist so eine Sache. Das wussten die Gründer der Volksschule vor rund zweihundert Jahren nur zu gut. Aus diesem Grund gibt es heute nicht nur eine Schulchance, sondern eine Schulpflicht. Der Schritt zur Maturitätspflicht stellt darum in seiner Stossrichtung nichts Neues dar. Er steht in einer ehrenwerten Tradition: der Tradition der Schulpflicht. Neu soll diese vom 15. bis zum 18. Lebensjahr ausgedehnt werden. Wie die Schulpflicht zur Selbstverständlichkeit geworden ist, soll dies auch die Maturitätspflicht werden. Als Fortsetzung dieser Tradition will der Vorschlag einer Matura für alle eine Erneuerung, und zwar auf dem Weg, den wir längst eingeschlagen haben.
Erst-August- und andere Reden betonen unverdrossen die Notwendigkeit von Bildung für den Wohlstand der Schweiz.3 Doch im Bildungswesen weht heute ein rauer Wind. Bildungsexpansionen sind einem Bildungsabbau gewichen. Bildungs- und Eliten-Bashing ist beliebt. Belächelt werden Bildungsinhalte, die angeblich nichts nützen: Literatur, Kunst und Kultur, Mathematik, die nicht direkt anwendbar ist. Dass es zum Wesen von Kultur gehört, im engeren Sinn nichts zu nützen,4 davon will man nichts hören.
Doch der angebliche Gegensatz von Schule und Wirtschaft, von humanistischer Bildung und Entfremdung in der Fabrik, ist hochgradig konstruiert. Ob zu Zeiten Humboldts, während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert oder in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts – es waren nie Idealismus und Humanismus allein, welche die Bildung förderten. Immer war die Wirtschaft ganz entscheidend mitbeteiligt an den jeweiligen Bildungsexpansionen. Der Unterschied zu früher liegt darin, dass der Bildung heute die Unterstützung aus der Wirtschaft wegbricht. Es ist leichter geworden, hochqualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland zu holen. Damit wird die Dringlichkeit geschmälert, den inländischen Nachwuchs zu bilden.
Nicht selten stösst der Vorschlag einer neuerlichen Bildungsexpansion auf Verwunderung. Die Berufsbildung hat sich in den letzten Jahrzehnten stark entwickelt. Wo also liegt das Problem? Gerade in der Schweiz mit ihren durchlässigen Bildungswegen! Hat sich nicht alles längst in Minne gelöst?5 Man verweist auf all die Möglichkeiten, sich später weiter und höher zu bilden, und hält es offenbar für richtig, bei der Grundbildung beim Status quo zu bleiben. Obwohl dieser historisch gewachsen ist, sieht man sich an einer Art Endpunkt angelangt, von dem aus keine weiteren Verbesserungen möglich sind. Das Bildungspotential der Bevölkerung gilt für viele als ausgeschöpft,6 jede Erweiterung der Bildung stellt für sie eine Senkung des Niveaus und eine Inflation der Titel dar.
Verschiedene Umfragen versuchen, die Meinung der Bevölkerung zum Thema zu eruieren. Ob solche Umfragen sinnvoll sind in einer Bevölkerung, die mehrheitlich keine Maturität gemacht hat, ist fraglich. Trotzdem sei hier die Umfrage der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung SKBF erwähnt.7 Befragt hat man Ende 2015 6 000 Schweizerinnen und Schweizer zur gymnasialen Maturitätsquote. Auf die Frage «Was denken Sie über die Anzahl gymnasialer Maturanden?» antworten 54 Prozent: «Es sind zu viele.» 40 Prozent halten die Anzahl für gerade richtig. Nur 6 Prozent finden, es gebe zu wenige. Werden die Befragten über die tatsächliche Maturitätsquote informiert, finden sie noch 45 Prozent zu hoch. Für ebenfalls 45 Prozent ist sie dann gerade richtig und für 10 Prozent zu niedrig.
Triumphierend wird in verschiedenen Medien die Mehrheit zitiert,8 für die es zu viele Gymnasiasten gibt. Dabei wäre bemerkenswert, dass eine Mehrheit die gymnasiale Maturitätsquote als richtig oder zu niedrig einstuft, wenn man weiss, wie hoch sie ist. Auch Akademiker sind überwiegend der Meinung, es gebe zu viele Gymnasiasten. Nur 8 Prozent von ihnen wünschen sich eine höhere Akademikerquote.
Ein ähnliches Umfrageergebnis macht 2016 die Runde: Dort finden 59 Prozent der Befragten, es gebe in der Schweiz zu viele Maturanden im Verhältnis zu den Lehrlingen.9 Als Schlagzeile fungiert das Zitat eines Politikers: «Schon heute fehlen uns Elektriker oder Bäcker.» Der zitierte Nationalrat schiebt nach: «Gleichzeitig gibt es immer mehr Akademiker, die keinen Job finden.» Nicht in die Schlagzeile schafft es eine andere Politikerin: «Es gibt mit Sicherheit nicht zu viele Gymnasiasten. Sonst würde die Schweiz ja nicht gezwungen sein, Fachkräfte aus dem Ausland zu holen.»
Ist der Einsatz für höhere gymnasiale Maturitäts- und Akademikerquoten ein Kampf gegen Windmühlen? Eins wird jedenfalls deutlich: Trotz der allgegenwärtigen Diskussion um den Fachkräftemangel und die Einwanderung von Hochqualifizierten bleibt man in der Schweiz dabei: Man will nicht mehr Akademiker. Man setzt hierzulande auf den dualen Weg, auf die Fachhochschulen und die höhere Berufsbildung.
Dass gymnasiale Bildung in bildungsfernen Milieus in Frage gestellt wird, kann man ein Stück weit nachvollziehen. Weshalb sollten sie einen Bildungsweg wertschätzen, wenn sie nicht daran teilhaben? Die Bereitschaft, ein Bildungssystem öffentlich zu finanzieren, funktioniert nur so lange, wie es sein Versprechen einlöst, für alle da zu sein. Aber genau das ist trotz aller Bildungsexpansionen nicht wirklich eingetreten. Noch immer studieren vor allem jene, deren Eltern ebenfalls studiert haben. Die soziale Mobilität ist zwar auf dem Papier gewährleistet, doch in der Realität funktioniert sie schlecht. Die Milieus bleiben unter sich, man geht sich mehr oder weniger höflich aus dem Weg. Wer dereinst studieren wird und wer nicht, das regeln nach wie vor überindividuelle Mechanismen, an die man in einer modernen Gesellschaft im 21. Jahrhundert nicht gern erinnert wird.
02 | DUALE BESONDERHEITEN |
Der Vorschlag einer Matura für alle berücksichtigt das gewachsene Schweizer Bildungssystem und knüpft daran an. So lässt sich die bisherige Berufsmaturität im Nachhinein als – sehr erfolgreichen – Anfang mit Freiwilligen lesen, der jetzt auf alle anderen übertragen werden soll.
Die drei heute bestehenden Maturitätstypen lassen sich vom schulischen Niveau her grob auf zwei Stufen verteilen: Auf der oberen Stufe steht die gymnasiale Maturität, auf der unteren stehen die Berufs- und die Fachmaturität. Dieser Niveauunterschied soll nicht eingeebnet werden. Er bleibt auch im jeweiligen Namen ersichtlich.
Auch mit einer Matura für alle werden in der Schweiz nicht alle Jugendlichen die gleiche Schule durchlaufen. Und es werden nicht alle den gleichen Abschluss machen. Kinder und Jugendliche sind unterschiedlich, und sie werden im Laufe ihrer Schulzeit immer unterschiedlicher. Diesem Umstand soll die Bildung Rechnung tragen. Deshalb soll es nicht eine einzige Maturität für alle geben, sondern drei.
Die Matura für alle ist ein Vorschlag, dessen konkrete Ausgestaltung verschiedene Formen annehmen kann. Die einfachste Variante ist die Erweiterung der bestehenden Maturitätsformen. Als Richtwert kann man je von einem Drittel ausgehen: ein Drittel gymnasiale Maturität, ein Drittel Berufsmaturität, ein Drittel Fachmaturität. 10 Prozent der Jugendlichen erhalten eine Sonderförderung. Innerhalb der einzelnen Maturitätstypen muss sich nicht viel ändern. Die GymnasiastInnen besuchen weiterhin vollzeitlich die Schule, ganz wie die FachmittelschülerInnen. Die BerufsmittelschülerInnen können wie bisher wählen zwischen BM1 und BM2. Noch flexiblere Modelle sind derzeit in Entstehung.1
Gegenwärtig besuchen die Lehrlinge im System BM1 während zwei Tagen die Berufsschule. Im Modell BM2 gehen sie nur einen Tag hin und hängen ein Jahr Schule an die Lehre an. Das System BM2 ist meist sinnvoller, weil dabei die Doppelbelastung von Schule und Lehre im Rahmen bleibt. Man setzt daher besser auf das System BM2 und entwickelt dieses weiter.
Als weitere Variante könnte eine BM3 eingeführt werden. Das Schuljahr, das im Modell BM2 am Ende der Lehre absolviert wird, kann, weil es künftig alle absolvieren, auch am Anfang der Lehre stehen. Einiges spricht dafür, gerade in wissensbasierten Berufen. Viele Lehrlinge benötigen zuerst eine theoretische Grundlage, um darauf aufbauend das Praktische erlernen und anwenden zu können. Mit der Variante BM3 wäre es auch denkbar, das erste Jahr gemeinsam mit anderen Maturitätstypen zu absolvieren. Der Entscheid für eine Lehre oder das Gymnasium könnte so nach hinten verschoben werden. Es kann hier eine zusätzliche Flexibilität und Durchlässigkeit zwischen den Bildungswegen geschaffen werden. Diese Variante hat bisher wenig Beifall gefunden.2 Trotzdem erwägt das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI, einzelne Kantone in Form von Pilotversuchen damit starten zu lassen.
Die praktische Bildung könnte auch erst auf tertiärer Stufe erfolgen. Einen Vorschlag für eine Lehre auf tertiärer Ebene hat 2010 Avenir Suisse unterbreitet.3 Die Lehre erst auf tertiärer Stufe beginnen zu lassen, bietet den Vorteil, dass noch grössere Durchlässigkeit zwischen den Maturitätstypen geschaffen wird, dass der Entscheid zwischen Lehre (auf tertiärer Stufe) und akademischem Weg noch später gefällt wird. Der Nachteil liegt darin, dass praktisch begabte und interessierte Jugendliche lange warten müssen, bis sie arbeiten können.
Für die Berufs- und Fachmaturität bietet sich eine Binnendifferenzierung an, so wie wir das heute auf der Sekundarstufe I kennen. Das heisst, man kann eine nach Niveau abgestufte Berufsmaturität A oder B erlangen. Das ergibt eine doppelte Abstufung: die erste zwischen der gymnasialen Maturität einerseits, der Berufs- und Fachmaturität andererseits. Die zweite innerhalb der Berufs- bzw. Fachmaturität.
GYMNASIALE MATURITÄT | |
BERUFSMATURITÄT, FACHMATURITÄT | NIVEAU A |
NIVEAU B |
Die Matura für alle hält fest an der Leistungs- und Wettbewerbsorientierung der Bildung. Dabei sucht sie die Balance zwischen Differenzierung und Integration. Das Konzept einer Matura für alle ist nicht das einer Einheitsschule. Für die Sekundarstufe I, manchmal auch II, werden immer wieder integrierte Modelle gefordert.4 So verlangt man zum Beispiel, das Gymnasium einer Einheitsschule zu opfern. Dagegen ist einzuwenden, dass das Schweizer Bildungssystem nicht nur der Chancengerechtigkeit verpflichtet ist, sondern auch der Leistung und Exzellenz. Wir wollen beides: sowohl Leistung als auch Chancengerechtigkeit. Aktuelle Reformen auf der Sekundarstufe I arbeiten weiterhin an dieser Vereinbarkeit. Vielleicht können progressive Mischformen eine Weiterentwicklung der hier vorgeschlagenen Matura für alle darstellen. Jedenfalls soll die Tür zu integrierten Modellen offenbleiben.
Heute sieht die Gesellschaft die Maturität als eine Art Gütesiegel, um schulisch Starke auszuzeichnen. In der Primarschule ist der soziale Gedanke, Kinder nicht mit dem Stempel «Sonderschüler» auszugrenzen, weitgehend Realität geworden. Auf diesen Fortschritt sind wir stolz.
Von der Sekundarstufe II hingegen wird nicht Integration, sondern Differenzierung erwartet. Besonders auffällig ist dabei, dass dieser Wechsel als natürlich, logisch oder normal empfunden wird, gemäss der Idee: Solange sie Kinder sind, sollen sie alle zusammen zur Schule. Je älter sie werden, desto stärker unterscheiden sie sich.
Auf der Sekundarstufe II wird nicht von der Gefahr gesprochen, jemand könnte «nur» als Lehrling abgestempelt werden. Die Wertschätzung der Lehre als angebliche kulturelle Eigenart unseres Landes – was sie nicht ist – trägt dazu bei, dass man nicht befürchtet, mit «nur» einer Berufslehre diskriminiert zu werden. Solange die Berufslehre weit verbreitet ist, wird ihr Wert auch geschätzt.
BerufsmaturandInnen haben beim Abschluss bereits eine Berufsausbildung. Es ist möglich, auch ohne Studium direkt in die Arbeitswelt einzusteigen. Kein Studium aufzunehmen nach der Berufsmaturität, ist zwar nicht das Ziel, doch es muss nicht zwingend einen Verlust darstellen. Schon jetzt ist es so, dass weniger BerufsmaturandInnen ein Studium an einer Fachhochschule aufnehmen als GymnasiastInnen, die ein Studium an einer universitären Hochschule beginnen. Zwar ist dies angesichts des gegenwärtigen Mangels an Hochqualifizierten bedauerlich. Trotzdem muss eine Berufsmatura für alle nicht eine Fachhochschule für alle nach sich ziehen. Das ist keine verlorene Bildungsinvestition. Die jungen LehrabgängerInnen nehmen einen gut gefüllten Bildungsrucksack mit ins Leben, vielleicht ohne zu wissen, wann genau sie ihn brauchen werden.
Der Unterschied zwischen einem schulisch starken Berufsmaturanden und einem jungen Immigranten, der noch kaum Deutsch kann, soll nicht in Abrede gestellt werden. Niemand behauptet, das Anheben des allgemeinen Bildungsniveaus sei einfach. Das braucht eine Menge Ressourcen und zusätzliche Mittel. Die teilweise hohen Durchfallquoten in bestimmten Branchen sind ein ernst zu nehmendes Problem. Schon heute fragt es sich, wie die Lernenden auf das erforderliche Niveau gebracht werden sollen. Wenn dieses künftig weiter steigt, besteht die Gefahr, eine wachsende Gruppe von Leuten zurückzulassen. Dieses Problem lässt sich nicht einfach lösen. Doch grundsätzlich kann man dieser Gefahr nur durch einen Ausbau der schulischen Bildung begegnen.
Um mit den grösseren Niveauunterschieden in einer neuen, allgemeinen Berufsmaturität umzugehen, kann man Modelle aus der Volksschule übertragen. Eine weitere Möglichkeit neben Niveaustufen sind Leistungskurse. Die Binnendifferenzierung innerhalb einzelner Fächer ist dem Gymnasium nicht fremd. Beispielsweise in der Romandie hat eine Unterteilung des Fachs Mathematik in zwei Niveaustufen eine lange Tradition.
Es stellt sich die Frage, ob die neue Berufsmaturität B, die man auch praktische Maturität nennen kann, ebenfalls zum Studium an einer Fachhochschule berechtigen soll. Es gibt Gründe dafür und dagegen. Dagegen spricht, dass der Studienerfolg weniger sicher ist als mit einer Berufsmaturität A. Dafür spricht, dass LehrabgängerInnen mit einer Berufsmaturität B auf der tertiären Stufe eine neue Chance erhalten sollen. Auch einseitige Begabungen können besser zum Tragen kommen. Deshalb soll im Sinne von mehr Chancen auch die Berufsmaturiät B die Möglichkeit bieten, an einer Fachhochschule zu studieren.
03 | MEGATRENDS DER GEGENWART |
Die Notwendigkeit einer neuen Bildungsoffensive ergibt sich massgeblich aus den steigenden Ansprüchen der Arbeitswelt. Diese betreffen nicht nur die Hochqualifizierten, sondern auch die Berufslehre: die Automatikerin, den Laboranten, die Bauökologin. Die Entwicklung hin zur Wissensgesellschaft verlangt auf allen Ebenen nach mehr schulischer Bildung. Zum einen braucht es mehr Akademiker, zum anderen braucht es mehr Schule innerhalb der Lehre. Die Vertreter der Berufslehre nennen als Megatrends der Gegenwart unter anderem Globalisierung, Digitalisierung, Dienstleistungsgesellschaft, Upskilling, demografischer Wandel und Migration sowie Ressourcenknappheit beim Staat.1 Gefragt sind Fähigkeiten wie komplexe Probleme lösen, kritisches Denken, Kreativität, eigene Ideen generieren.2 Das heisst nun weder, dass alle studieren müssen, noch, dass die Lehre ausstirbt. Es heisst im Gegenteil, dass man unser Bildungssystem jenseits von ideologischen Grabenkämpfen weiterentwickeln kann – genau so, wie wir das immer schon getan haben.
Die Schweiz ist ein hochentwickeltes Land und weist einen hohen Internationalisierungsgrad auf. Nicht nur, was den Handel,3 sondern auch, was das Personal angeht. Die Wirtschaft rekrutiert ihre Fachkräfte zunehmend weltweit.4
Auch in der Bildung ist es nicht mehr möglich, mit der bisherigen Selbstverständlichkeit einen schweizerischen Sonderweg zu gehen. Es gibt in der Schweiz zunehmend internationale Firmen, die mit den Besonderheiten des hiesigen Bildungssystems nicht vertraut sind. Zum Problem kann das unter anderem dann werden, wenn ausländische Personalchefs Schweizer Abschlüsse aus der Berufslehre nicht kennen oder für minderwertig halten und lieber ausländisches Personal mit akademischen Abschlüssen einstellen. Umgekehrt besteht das Problem, dass Abschlüsse der Schweizer Berufsbildung im Ausland teilweise weder bekannt noch anerkannt sind. Seitens der Berufslehre will man diesem Problem insbesondere mit Informationskampagnen begegnen, zum Teil auch mit Umbenennungen der Schweizer Abschlüsse.
Ein Vorstoss, die höhere Berufsbildung mit neuen, dem Bologna-System entlehnten Titeln wie «Professional Bachelor» und «Professional Master»5 aufzuwerten, wurde vom Nationalrat angenommen, vom Ständerat aber abgelehnt. Eine Mehrheit will in der Berufsbildung keine akademisch klingenden Titel. Die Titelfrage entzweit die höhere Berufsbildung und die Fachhochschulen, und sie wird auch die Politik weiterhin beschäftigen.
Die Hoffnung, Informationskampagnen würden ausreichen, muss als reichlich optimistisch angesehen werden. Die Entscheidungsträger sind in diesem Fall zunehmend internationale Personalchefs. Das schönste Berufsbildungssystem bringt wenig, wenn es den Weg in internationale Top-Positionen erschwert. Angesichts der Kräfteverhältnisse ist ein gesunder Realismus gefragt bzw. eine pragmatische Bescheidenheit, die zu unserem Kleinstaat passt. Nicht zu unterschätzen ist die kulturelle Verankerung von Bildungswegen und -abschlüssen. Natürlich können ausländische Personalchefs informiert werden über unsere Schweizer Abschlüsse. Doch von der Information bis zur eigentlichen Verinnerlichung, Vertrautheit und Wertschätzung ist es ein weiter Weg. Im Zweifelsfalle ist davon auszugehen, dass ein HR-Manager nach seinem Bauchgefühl und seinen Emotionen urteilt. Und diese dürften eher dazu führen, dass er Leute mit vertrauten Ausbildungen und Titeln einstellt.
Ein weiterer Megatrend ist die allgegenwärtige Digitalisierung.6 Sie wird besonders in schlecht bezahlten Jobs als Bedrohung wahrgenommen.7 Im Alltag zeigt sich das zum Beispiel im langsamen Verschwinden der Verkäuferinnen und Verkäufer in den Supermärkten. Die Digitalisierung verändert die Produktionsweisen, Abläufe, Tätigkeiten und Anforderungen an die ArbeiterInnen.
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