Jana Ohlendorf
Ein bisschen Russland in China
Porträt der Stadt Harbin
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Einleitung
Dank
火 [huŏ] Feuer
冰 [bīng] Eis
土 [tǔ] Erde
水 [shuǐ] Wasser
木 [mù] Holz
金 [jīn] Metall
Good bye, Harbin , до свидания & 再见!
Harbiner & Harbinerinnen über Harbin
Impressum neobooks
Im mandschurischen Nordosten Chinas, fernab der östlichen Küstenmetropolen, liegt eine Stadt mit einer bemerkenswerten Geschichte und einer ganz eigenen Seele – Harbin.
Von Harbin ist es nicht weit bis in die sibirische Taiga und in die mongolische Steppe. Hier fallen die Temperaturen im Winter auf minus 30 Grad und hier baden die Menschen im Sommer an den sandigen Ufern des Songhua Jiang – dem „Kiefernblüten“-Fluss.
Auf einem Spaziergang durch die Provinzhauptstadt Heilongjiangs und im Gespräch mit Menschen entlang des Weges portraitiert die Autorin diese einzigartige Stadt mit ihrem historisch-russischen Erbe, ihrer besonderen kulturellen Vielfalt und ihren sehr unterschiedlichen Gesichtern.
So entsteht ein persönlicher Reiseführer Harbins mit Tipps für die interessantesten Ecken der Stadt und authentischen Empfehlungen durch die Menschen vor Ort.
Fünf Elemente – Sechs Kapitel
Nach der jahrtausendealten chinesischen Lehre von den fünf Elementen beruht der Lauf der Welt auf dem Zusammenspiel von Feuer, Wasser, Erde, Holz und Metall. Ständig in Wandlung und miteinander in Interaktion bilden die Elemente ein dynamisches Ganzes. Aus ihren Eigenschaften und Beziehungen untereinander gestaltet sich ein System, dessen Gesetzmäßigkeiten vielfach übertragbar sind – traditionell auf den menschlichen Körper und Geist. Heute auch auf Organisationen und Unternehmen. Und warum nicht auch auf eine Stadt.
Feuer, Wasser, Erde, Holz und Metall – aus diesen Kapiteln besteht dieses Buch. Und – weil es für Harbin von besonderer Bedeutung ist – kommt ein Element hinzu: Eis (冰)!
Mein herzlicher Dank gilt
YU Yingbin (于英斌),
ZHANG Xin (张鑫),
LIU Dawei (刘大伟),
JIANG Meina (姜美娜),
GUO Fengyun (郭凤云)
und XU Dan (徐丹)
für die interessanten und aufschlussreichen Gespräche,
MA Li (马莉)
für die wertvollen Reisetipps für Manzhouli und Maoershan,
und allen anderen Harbinern, die mir ihre tolle Stadt so nah gebracht haben –
Danke für die unterhaltsamen Momente!
火车 [huǒ chē] Feuer. Bahn. Die „mit Feuer betriebene Bahn“ – die Eisenbahn – ist für Harbin von historischer Bedeutung. Mit dem Bau der Eisenbahnbrücke über den Songhua Jiang (松花江) – den „Kiefernblüten“-Fluss – begann die Geschichte der Stadt.
Hier, am Fluss, beginnt auch mein Spaziergang. Als ich die Treppe zur Brücke hinaufsteige, weht mir der Duft gebackener Süßkartoffeln um die Nase. In einen dicken Militärmantel eingepackt und die russische Tschapka tief ins Gesicht gezogen, wendet der alte Mann die Knollen in der befeuerten Tonne auf seinem Fahrradkarren am Fluss. “kao hong shu, kao hong shu (烤红薯, 烤红薯)“, ruft er –„gebackene Kartoffeln, gebackene Kartoffeln“ - , dabei dampft sein Atem mit den Kartoffeln um die Wette. Die Winter in Harbin sind klirrend kalt. Bis in den März hinein bedeckt den Songhua Jiang eine meterdicke Schicht Eis, die im Frühjahr nur langsam taut . Ich schlage den Kragen meines Mantels nach oben, wickle den Wollschal zum Kopftuch und beginne den Marsch über die kilometerlange Brücke.
Mit dem Auftrag, Harbin als Station der Transmandschurischen Eisenbahn auszubauen und Fachkräfte für den Trassenbau zu schulen, kamen zum späten Ende des 19. Jahrhunderts russische Eisenbahningenieure hierher und starteten das Projekt. Die „Binzhou Railway Bridge“ (滨洲线哈尔滨松花江大桥) wurde Teil des westlichen Abschnitts der Chinesischen Osteisenbahn – der nahezu eintausend Kilometer langen Binzhou-Eisenbahnmagistrale in der von Russland besetzten nördlichen Mandschurei. Sie führte von der Grenzstadt Manzhouli, zu der mich meine Reise noch führen wird, bis ins neue Harbin.
Nach ihrer Fertigstellung im Jahre 1901 ratterten kohlebefeuerte Dampfloks über die Brücke und läuteten eine neue Ära des Handels ein, denn auf die Eisenbahningenieure folgten Geschäftsleute aus Russland und Europa, und nach der Oktoberrevolution 1917 viele russische Emigranten. Bald lebten in der Stadt mehr als 100,000 Russen, und das „Moskau des Ostens“ wurde zur größten russischen Stadt außerhalb des Zarenreichs. Hinzu kamen Tausende Juden, die vor Progromen im russischen Bürgerkrieg flüchteten und vor den Nazis in Deutschland. In den 1920er Jahren wuchs die Zahl der jüdischen Bevölkerung in Harbin auf mehr als 20,000.
Freundliche Begegnungen: Auf der alten Bahnbrücke über den Songhua Jiang (松花江)
2014 wurde die alte Trasse stillgelegt und durch einen Brückenneubau (rechts im Bild) ersetzt
Viele der Neuankömmlinge erreichten Harbin über die Brücke, auf der ich jetzt stehe, um im Fernen Osten ein neues Leben zu beginnen. Einhundert Jahre lang spielte die Brücke eine zentrale Rolle in der Geschichte Harbins; seit 2014 ist ihr Zugverkehr eingestellt. Als Herzstück des neu gestalteten „Chinese Eastern Railway Parks“ (中东铁路公园) ist sie Freiluftmuseum mit historischen Fotos und mit einem Glasboden, der die alten Gleise überzieht. Die Brücke verbindet die Geschichte der Stadt mit ihrer Zukunft; spiegelt die Ambitionen der historischen Osteisenbahn an den Errungenschaften des modernen Harbins:
Der Blick auf den Songhua Jiang und die Kulissen der Stadt ist voller Kontraste. Im Süden die Stadtgebiete Daoli (道理区) und Lao Daowai (老道外区) – die alten Kerne mit ihrer drei Kilometer langen Uferpromenade. Dahinter die Skyline einer Millionenstadt. Im Norden die weiten Verzweigungen des Flusses – im Winter zugefroren, im Sommer Anglerkolonie. Die Sonneninsel - Taiyang Dao (太阳岛)mit dem russischen Dorf, einer beliebten Touristenattraktion. Und das stetig wachsende urbane Zentrum des Stadtteils Songbei (松北区) mit dem spektakulären Harbin New Opera House (哈尔滨新歌剧院) – einer architektonischen Liebeserklärung an die Ästhetik von Klang und Form. Und eine Seilbahn, die die Flussufer miteinander verbindet.
Inmitten dieser modernen Stadt- und Flusslandschaft wirkt die alte Brücke wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Und eine Handbreite daneben führt seit 2014 eine moderne, neue Brücke. Für Hochgeschwindigkeitszüge, voll elektrifiziert.
Vertieft in die historischen Fotos, werde ich von einem plötzlichen Schneesturm überrascht. Er kommt von Nordwest herüber, heftig, mit einer Wand aus dickflockigem Schnee. Jetzt müsste ein Zug halten, mit einem Bollerofen und heißem Tee aus dem Samowar. Aber es kommt kein Zug. In Nullkommanichts bin ich eingeschneit.
Speisewagen-Restaurant auf stillgelegter Schiene (Harbin – Moskau哈尔滨 - Москва Яр. )
In der Neuen Synagoge (哈尔滨犹太新会堂) wärme ich mich auf und lasse die Geschichte Harbins auf mich wirken, die in den Ausstellungsräumen des ehemaligen Gotteshauses greifbar nahe wird. Inzwischen als Dauerausstellung etabliert, entstand das Museum seit 2002, über einen Zeitraum von vier Jahren, in denen Fotomaterial und Zeitzeugnisse wie Werbeblätter gesammelt wurden und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
In den 1920er entwickelte sich das junge Harbin zu einem boomenden Wirtschafts- und Handelszentrum mit russischem und europäischem Flair. Die Fotos zeigen ein Stadtbild, das geprägt war von weiten Boulevards, orthodoxen Kirchen mit Zwiebeltürmen, Synagogen, Moscheen, Villen im europäischen Stil, vielen Warenhäusern und Hotels. Die neuen Siedler eröffneten Krankenhäuser, Banken und Theater, fanden sich zu Musik und Tanz zusammen, zu Kunst und Malerei, publizierten Zeitungen, veranstalteten Pferderennen, gingen ins Kino und fuhren mit den Ausflugsbooten auf dem Songhua Jiang.
Die Ausstellung spiegelt vor allem auch das Wirken der Harbiner Juden sehr anschaulich wider. Jüdische Geschäftsleute gründeten Textilfabriken, die mit eleganten Herrenanzügen nach englischem Muster warben und „Прогресс“ - „Fortschritt“ oder „Гарантия“ - „Garantie“ hießen, und Schokoladen- und Süßigkeitenfabriken, auf deren Werbeblättern „drei Mohren“ heiße Schokolade, Kaffee und Tee servierten. Die Harbiner Juden eröffneten Apotheken, Banken, Handels- und Versicherungsunternehmen, Lebensmittelgeschäfte, Bäckereien und Cafés. Harbin florierte.