JOSÉ SÁNCHEZ
Eine Krankheit unserer Zeit:
GIER
JOSÉ SÁNCHEZ
© 2018 Aufgang Verlag Augsburg
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagentwurf: Gil Ziner express-graphic.com Caleta de Vélez (MA, Spanien)
Foto auf der Rückseite: Martina Bieräugel
ISBN | 978-3-945732-23-6 (Hardcover) |
978-3-945732-24-3 (Paperback) | |
978-3-945732-25-0 (eBook) |
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Gäb’s nur einen Augenblick
Des Glücks für mich,
Nähm ich ew’ges Leid in Kauf
Doch alle Hoffnung ist vergebens.
Denn der Hunger hört nie auf
Eines Tages, wenn die Erde stirbt,
Und der letzte Mensch mit ihr
Dann bleibt nichts zurück
Als die öde Wüste
Einer unstillbaren Gier
Graf von Krolock
(Aus dem deutschsprachigen Musical „Tanz der Vampire“ von Jim Steinman und Michael Kunze)
Drama und Rätsel eines Schicksals. Der Mensch – Vollbringer von Heldentaten, Schöpfer von Kunstwerken und einer hohen technologischen Zivilisation. Doch zugleich bewirkt er planetarische Verwüstung, Weltkriege, Vernichtungslager, Hungersnot, Terror, Korruption.
Haben wir uns schon an all dies gewöhnt? Plötzlich werden wir erschüttert. Und wir wachen auf.
Warum ist so etwas möglich, fragen wir uns.
Der Mensch sei Vernunft, aber auch Trieb, haben wir einst gelernt; der Mensch sei Geist, aber auch Fleisch. „Animal rationale“ war die Formel.
Und der Mensch sei auch Seele, heißt es noch.
Doch wo ist die Seele?
Technisches Zeitalter – Epoche der unbegrenzten Möglichkeiten. Einen wichtigen Aspekt bringt in unser Leben der Fernseher. Durch ihn haben wir das ganze Weltgeschehen in unserem Zimmer. Ich schalte ein. Auf einem Sender wird ein Konzert mit ausgewählten Werken von Johann Sebastian Bach angeboten. Da klingt die große Seele, die bis zur Schwelle des Göttlichen emporhebt. Im Nu verwandelt sich die Zeit in Ewigkeit.
Die Seele der Welt.
Die gibt es, die Weltseele.
Sie ist frisch und erhaben wie ein Kind.
Ich schalte um. Auch dieses – das häufige Umschalten – ist ein Merkmal des Zeitalters. Man kann fast gleichzeitig überall sein. Das prägt unsere Art zu empfinden. Ich schalte also um. Neue Bilder. Es läuft eine Sendung über hungernde Kinder in Ländern der sogenannten Dritten Welt. Haiti, Niger, Uganda, Kongo. Die Kinder sind Haut und Knochen, Leib gewordener Hunger mit großen Augen, die sich nach Spiel und Zukunft sehnen.
Mich werfen die Bilder um – und zurück auf meine Guatemala-Zeit im Sommer 1977. Damals waren es keine Fernsehbilder, zum Anschauen in der warmen Stube. Es war hartes Leben. Elend pur, erlitten ganz in der Nähe einiger der reichsten Menschen der Welt. „Wie verkraften Sie das“, wurde einmal einer von ihnen gefragt. Er antwortete: „Die Indios sind glücklicher. Wir haben das Geld, sie haben das Glück.“
Doch nicht nur grausamem Zynismus begegnete ich dort, auch Frauen und Männern, die ein bequemes Leben in ihrer Heimat aufgegeben hatten, um mit den Ärmsten der Armen zu leben, ihnen zu helfen. Weil es diese guten Menschen gibt, bricht die Welt nicht zusammen.
Auf dem Bildschirm erscheinen weitere Szenen. Kinder werden für den Krieg trainiert, während man ihnen vom Roten Kreuz geschenkte Lebensmittel stiehlt und verkauft.
Der Mensch: ein mit Vernunft begabtes Wesen!
Wo ist die Seele?
Objektives Denken, Sachlichkeit wurden für mich im Laufe meiner langjährigen Ausbildung durch drei Studiengänge zu wichtigen Begriffen. Und die Gefühle? Da war das Leben selbst mein Lehrer. Es brachte mir schmerzhaft bei, dass nur das Denken, das fühlt, auch wirklich zu denken vermag.
Fühlen und denken, gewiss, aber auch handeln.
Die Guatemala-Erfahrung änderte für immer meine Einstellung zum Leben und zur Wissenschaft. Sie ereignete sich fast gleichzeitig mit meiner Entdeckung Jakob Böhmes. Der große Mystiker aus Görlitz war von Beruf Schuster – als Denker eine Ausnahmeerscheinung in der Geschichte des deutschen Volkes und der Menschheit überhaupt, wie Schelling es ausdrückte. Hegel nannte ihn zwar „den ersten deutschen Philosophen“, fand aber keinen Zugang zu ihm, der Schuster war dem Professor zu schwierig. Diese überwältigende Sprache, die aus der Unmittelbarkeit eines ungetrübten Sehens das Naturgeschehen mit kräftiger Poesie besang. Das war dem trockenen Dialektiker nicht bekömmlich. Doch Schelling, dem Arzt und Physiker Franz von Baader, dem Bergbauingenieur Novalis und anderen war Jakob Böhme ein Ereignis, aus dem eine der schönsten Epochen der deutschen Geistesgeschichte hervorblühte. Diese neue Böhme-Entdeckung fand mitten im technischen Zeitalter statt. Doch so befremdend war der Zusammenhang, den ich herstellte, nicht: Einerseits Deutsche Romantik („zurück zu den Müttern!“), andererseits Maya-Kultur (Natur als Urweib). Aus dieser Seinserfahrung könnte die technische Zivilisation Frische bekommen und belebt werden … Wer weiß. Jedenfalls teilte ich meine Entdeckung beflügelt in Vorlesungen und Vorträgen mit, ich redete davon überall, wo ich nur konnte. Da mir die Sache so klar und wichtig erschien, meinte ich gutgläubig, man würde sie gut nachvollziehen können. So war es natürlich nicht. Ich erfuhr fast nur Widerstand. Dadurch lernte ich aber: Trotzdem weitermachen, immer am Ball bleiben. Etwas am Menschen verändern ist nicht so einfach. Aber man muss es immer wieder versuchen. So kommt alles, was ich damals tat und immer noch tue – meine Entscheidung für die Freiheit im Denken wie im Leben – mit vollem Risiko und radikal! daher: aus der Erfahrung des Lichtes mitten in der dunkelsten Nacht.
Ich sitze immer noch in meinem Wohnzimmer. Diese Gedankengänge haben mich vom Fernsehen abgelenkt. Ich komme zu mir zurück und schalte wieder um.
Im anderen Programm wird ein Film über die Befreiung der Konzentrationslager 1945 durch die Alliierten gezeigt. Haut und Knochen in Gefangenenanzügen, Berge von Leichen. Tränen der Überlebenden. Triumphalismus der Sieger. Nur einige Jahre später der Kalte Krieg. Noch waren die Städte Trümmerfelder, noch lagen Verwundete in Lazaretten, und schon schwebte das Gespenst eines neuen Krieges über der Welt.
Kritik der reinen Vernunft, Die Vernunft in der Geschichte, Die List der Vernunft, Phänomenologie des Geistes, Die Krise der europäischen Wissenschaften, Sein und Zeit.
Ja, glänzende Traktate, aber wo ist die Vernunft, wo die Seele? – Unendliche Traurigkeit erfüllte mich.
Nach meinem ersten Guatemala-Aufenthalt 1977 entschied ich, alles, was ich bis dahin in mehreren Studiengängen gelernt hatte, in Klammern zu setzen und ganz von vorne anzufangen. Denn ich befand: Mit dem, was seit den Vorsokratikern über den Menschen gesagt wird, kann man die wirklichen Menschen nicht erklären. Wie ist der Mensch gebaut, dass Derartiges möglich ist? Diese Frage quälte mich. Alsdann entdeckte ich in Würzburg die in Vergessenheit geratenen Traditionen der Tiefe wieder. Ich entdeckte sie wieder neu. Denn eigentlich war ich seit dem Jahr in der Einsiedelei (Ermitas) in den Bergen von Córdoba, über Lille und Paris, dann Rom 1960–1970 darin ausgebildet worden. Vielfältiges Wissen, Musik und Gesang, aber auch Selbstkritik infolge von Gewissenserforschung gehörten zu den Fundamenten der Ausbildung – genauso wie es in Hesses Glasperlenspiel beschrieben wird.
Doch die Wiederentdeckung war für mich eine Wiedergeburt. Ich lernte neue Denker der Tiefe kennen, ein weiter Horizont ging auf.1 Von dieser Höhe konnte ich meine unmittelbare Umgebung, das epochale Geschehen und, in erster Linie, mich selbst kritisch beobachten.
Bewegt durch die weltweite Orientierungslosigkeit der Jugend und der Korruptionswelle in Kirchen, Konzernen und Staaten nahm ich vor einigen Jahren die Ergebnisse dieser Forschungen wieder auf, ich presste sie gleichsam zusammen, um sie nach und nach auf Papier zu bringen und der Öffentlichkeit mitzuteilen. Diese schriftstellerische Entscheidung hing zusammen mit der Gründung des Aufgang-Verlages.
Wie ist also der Mensch gebaut, der sich sowohl nach oben zu genialen Taten steigern als auch nach unten sich selbst in den Niederungen entgehen kann? Wodurch wird seine Unruhe verursacht? Ruhe sanft, steht auf vielen Gräbern in unseren Friedhöfen als das Teuerste, das wir unseren heimgegangenen Lieben wünschen. Doch es ist gerade die innere Unruhe, die den Menschen zu Kreativität und großen Werken antreibt.
Das Wesen des Menschen ist Drang. Von ihm wird er getragen – zentrifugal nach außen und zugleich zentripetal nach innen getrieben.
Die Tendenz nach außen bringt den Menschen über sich hinaus. Sie stiftet Neugierde, Kreativität, Sehnsüchte – sie begründet Steigerung, Genialität, Transzendenz.
Diesen Drang nach oben habe ich andernorts (nach der ursprünglichen Bedeutung des deutschen Wortes) Sehnsucht genannt.2 Dabei geht es nicht primär um die alltäglichen Sehnsüchte, sondern um jene große Sehnsucht, die ihr Ziel nie endgültig erreicht; alle Ziele sind ihr vorläufig. Sie weiß eigentlich nicht, was sie will. Sie sehnt sich nur immerwährend nach etwas, das nie ankommt.
Durch die Tendenz nach innen will das Wesen in sich hinein; so äußert sie sich als Anziehungskraft, verursacht Hunger, Durst, Besitzdrang, Leidenschaft, Sucht. Gier.
Demnach stellt die vorliegende Abhandlung zur Gier – vorgelegt im Jahre 2018 – die Kehrseite dessen dar, was die Untersuchung der Sehnsucht 2015 offenlegte.
Die Sehnsucht bringt den Menschen über sich hinaus.
Die Gier treibt den Menschen in sich hinein.
Die eine will in sich, die andere über sich, so dreht sich das Wesen um sich.
Aus der einen Mitte gehen beide Strömungen hervor: Was nach außen drängt, ist dasselbe wie das, was nach innen will. Doch durch die Richtungsänderung verkehrt sich die Wirkung ins Gegenteil.
So ist Gier umgekehrte Sehnsucht. Beide weisen die Dynamik eines Dranges aus, der nur sucht, weil er nie zur Erfüllung kommt.
Der Sehnsucht ist jedes Ziel vorläufig. Sie sehnt sich immer wieder neu, sucht stets weiter.
Ebenso ist Gier unersättlich, sie will immer mehr, als sie bekommt.
„Immer weiter“ – „Immer mehr“. Dieses Streben legt den Grund sowohl für Gelingen als auch für Verderbnis.
Inquietum est cor meum donec requiescat in te – Mein Herz ist unruhig, bis es in dir ruht, hieß es im Altertum.3
Nur das Unendliche könnte den Menschen erfüllen. Doch wie könnte Endliches Unendliches in sich aufnehmen?
Die menschliche Hybris
Weil vom unendlichen Drang getragen, wohnt dem Wesen des Menschen eine Tendenz zum Übermaß inne. Sowohl nach oben als auch nach unten fühlt er sich gedrängt, Ziele zu verfolgen, die seine Möglichkeiten übersteigen. So versucht er, durch viel Tun die ersehnte Fülle zu erreichen. Dadurch gewinnt die Quantität die Oberhand, ersetzt allmählich die Qualität. Schließlich wird das Sein durch das Haben definiert.
Aus diesem Missverständnis entsteht die Auffassung, die über Verhältnisse und Rangordnung entscheidet. Zum einen: Wer wenig hat, ist auch wenig. Ferner: Ziele werden angestrebt, die man nicht erreichen kann. Dinge werden als erstrebenswert betrachtet, die in Wirklichkeit zum Verderben führen. Davor wird seit Jahrhunderten gewarnt.4
Die angeführte Erörterung der eigentlichen Sehnsucht, deren Gegenstand unbestimmt ist, trägt den Untertitel Urgrund und Abgründe. Das bedeutet: Das Streben nach oben öffnet die Kluft.
In der Wiege von Spannung und Steigerung keimt auch die Kraft, die nach unten zieht. Die Abgründe offenbaren die Präsenz des Bösen mitten im Guten, der Borniertheit mitten in der Genialität, der Gier mitten in der Großmut.
Der Mensch ist nicht das eine gegen das andere, sondern alles zugleich.
Dieses Paradoxon wurde am Beispiel verschiedenartiger Gestalten im Kapitel zu den Menschentypen und im Abschnitt „Warum Denker im Leben scheitern“ erläutert.5 Bei Menschen, wie beispielsweise Mechthild von Magdeburg oder Teresa von Ávila, Erik dem Roten Thorvaldsson oder Niklaus von Flüe, ist es nicht leicht auszumachen, wo die Trennungslinie zwischen Sehnsucht nach dem Erhabenen und getarnter Gier eines raffinierten Egos verläuft. Ebenso gingen gegensätzliche Philosophen wie Kierkegaard und Karl Marx, Hölderlin und Nietzsche am gleichen Phänomen existentiell zugrunde. Das Denken rettete sie nicht – es war vielmehr das Mittel, womit die Gier sie umbrachte. Dagegen zeigt sich deutlich die kreative Implikation von Unruhe der Sehnsucht und Drang der Gier bei Abenteurern wie dem Seemann Christoph Kolumbus und dem Extrembergsteiger Reinhold Messner. Dieser allerdings hat das Tiefenphänomen, um das es hier geht, reflektiert und die schöpferische Kraft seiner abgrundtiefen Unzufriedenheit eindrucksvoll beschrieben.6
Die Spitze des Heldentums und die Niederungen der gierigen Selbstzerstörung berühren sich oft. Denn beide gehen aus dem einen Drang hervor. In unserer Zeit hat das Phänomen beunruhigendes Ausmaß angenommen. Die Gier herrscht auf allen Ebenen, versteckt oder offen steuert sie das epochale Geschehen, bestimmt das Selbstverständnis des Menschen, manipuliert überall, verwandelt alles in Ware. Hinter allem steht eine Besessenheit: Geld vermehren! Gier ist zur Krankheit unserer Zeit geworden. Das ist unsere These: ein Faktum, eine nicht wegzudiskutierende Tatsache. Die vorliegende Untersuchung beurteilt also nicht moralisch, sie erforscht vielmehr das Phänomen.
Kann man Gier aus dem Leben des Menschen eliminieren? Wahrscheinlich nicht. Denn dafür müsste er anders gebaut sein. Und wenn er einmal zum Roboter wird bzw. von diesem ersetzt wird? Antwort: Auch dann würde sie wahrscheinlich weiterwirken. Das wird im zweiten Teil der vorliegenden Abhandlung erörtert.
Heißt es, dass man gegen diese Krankheit nichts unternehmen kann?
Keineswegs. Als Erstes ist es wichtig und möglich, die Krankheit zu erkennen. Zu dieser Einsicht versucht unser Buch zu verhelfen.
Dann könnte der Einzelne durch Selbstdisziplin und durch Nachdenken über die Folgen der Herrschaft der Gier die Weise finden, sie in Schach zu halten. Dadurch könnte er wirksam dazu beitragen, sie im Ganzen der Gesellschaft zu zähmen.
Inhalt
1. Streben nach immer mehr. Die Unruhe
2. Schwäche durch Vergehen. Das Altwerden.
3. Beispiel: Die Pein des Doktor Faust nach Goethe
Nicht genau zu wissen, was man will – wer kennt diese Erfahrung nicht? Doch der Drang, trotz aller Ungewissheit immer weiterkommen und dabei besser als die anderen abschneiden zu wollen, scheint dem Menschen angeboren zu sein. Dieser Grundzustand verursacht die Unruhe, die das Leben antreibt.
Als Kind und auch in der Jugend lebt der Mensch in einer Welt von Märchen, Träumen, Idealen, die alle das eine Ziel verfolgen: Gewinnen, Freude haben, glücklich sein.
Der Mensch wird mit dem Drang geboren, groß zu werden.
Erfolg, Freiheit, Selbstliebe sind die Säulen dieses Projektes.
Doch sie können nicht ein für allemal errichtet werden. Vielmehr schwanken sie, manchmal brechen sie zusammen – und hinterlassen die Leere, die zum Weitergehen anspornt.
Die Suche nach sich selbst und dem eigenen Platz auf dieser Erde verläuft in der Regel dramatisch. Das ursprüngliche Weltbild des Kindes zerbricht eines Tages. Auch das Ich geht dabei zugrunde. Beides – das Ich und seine Welt – muss immer wieder aufgebaut werden.
Doch Enttäuschungen und Rückschläge haben eine positive Funktion. Sie weisen auf die Richtung und zeichnen eine Grundlinie in der Entwicklung des Menschen nach. Fehltritte können helfen, den eigenen Weg zu finden. Aus Fehlern kann man lernen: Finger weg! Du bist gewarnt. Das ist nicht deines.
Die Entwicklung verläuft meistens so: Nach der Begeisterung kommt die Ernüchterung. Vom Höhenflug der Illusion zur Landung auf der harten Landebahn der alltäglichen Wirklichkeit.
Immer wieder machen wir die Erfahrung, am Ziel nicht das zu finden, wovon wir anfangs geträumt haben. War die Erwartung zu groß?
Wir sollten nicht gleich von Sich-Übernehmen oder gar Scheitern reden. Der Drang über das Vorgegebene hinauszugehen, ist naturbedingt, das Gelingen jedoch nicht garantiert. Die Phasen des Lebens verbrauchen sich einfach.
Unzufriedenheit ist also nicht das Unglück einiger weniger, sondern geradezu das Schicksal des Menschen. Doch nicht alle erfahren sie gleich. Die meisten schleppen sie mit – versuchen, sie durch Ablenkungen zum Schweigen zu bringen. Andere dagegen erfahren die Kurzlebigkeit der Glücksmomente mit besonderer Intensität. Mancher steigt aus und zieht sich zurück, so etwa der Schweizer Niklaus von Flüe. Andere wiederum schöpfen gerade aus der Leere die Kraft für neue Unternehmungen, wie zum Beispiel der Bergsteiger Reinhold Messner.7 Nichts erfüllt vollständig. Deshalb versuchen diese Menschen immer wieder den Neubeginn.
Fälle von fruchtbarer Selbstüberwindung finden sich allerdings nicht nur bei Ausnahmeerscheinungen, sondern auch in der Allgemeinheit.8
Für viele Menschen ist die Unruhe, welche die Leere nach verfehltem oder oft gar nach erreichtem Ziel erzeugt, gleichsam der Treibstoff, der sie bewegt. Entdecker, Erfinder, Gründer zeigen, dass erst die menschliche Unruhe die Geschichte vorantreibt. Doch auch dem Alltag fehlte ohne Unzufriedenheit der Impuls für elementare Beweglichkeit.9
Der Ehrgeiz treibt den Menschen sein Leben lang, aber nicht mit gleicher Intensität. Er entzündet sich, steigert sich, erreicht Höhepunkte, dann nimmt er ab, geht unter, verschwindet.
Die Unruhe des Dranges nach mehr erscheint in jeder Lebensphase anders. Nicht nur die Zeit, auch die Lebenslust vergeht. Es wiederholt sich ja alles. Die Wiederholung nimmt den Ereignissen die Frische des Unverbrauchten und verleiht ihnen die Prägung des Schon-Wieder. Auf Dauer wird das Bekannte langweilig.
Alles vergeht und alles kommt wieder. Doch wenn es wiederkommt, ist es nicht mehr dasselbe.
Die Vergänglichkeit! Diese Erfahrung prägt Weltreligionen und Kulturen. Was da imposant in Kunst und Dichtung zum Ausdruck kommt, erfährt der Mensch mühsam konkret als Altwerden.
Vergänglichkeit ist ein Phänomen, das die menschliche Lebensweise durchzieht.
Gewiss stellen wir den Verbrauchsprozess fest, z.B. wenn wir uns im Spiegel anschauen. Aber wir erleben das Phänomen nicht als solches – genauso wenig, wie wir die Pflanze wachsen hören. Falten, Ermüdungserscheinungen, Konzentrationsschwäche haben ihre Entstehungszeit. Doch irgendwie überraschen sie uns – als etwas, das schon lange da war, sich nun aber plötzlich zeigt. Wir altern ständig – oft ohne es eigentlich zu merken. „Eigentlich“ will besagen: nicht punktuell.
Vergänglichkeit bestimmt den Lebensweg im Allgemeinen und jede Strecke im Besonderen.
Erst wenn die Kindheit vorbei ist, fängt man an zu ahnen, was Kind sein bedeutet. Doch vollständig begreifen kann man das Gewesene nicht mehr. Deshalb verstehen Erwachsene die Kinder oft nicht, obwohl sie auch einmal Kinder waren. Das gilt für alle Lebensphasen. Solange man jung ist, erlebt man zwar die Jugend, aber ohne zu merken, was dabei eigentlich geschieht. Wenn man darin ist, hat man keinen Abstand. Später ist man draußen.
Es ist ein allgemeines Gesetz der menschlichen Lebensform: Was Erfahrungen und Erlebnisse bedeuten, merken wir erst im Rückblick. Als Individuen und als Gattung laufen wir stets hinter uns her.
So geht der Mensch unsicher durch das Leben – begleitet von einer unwiderlegbaren Gewissheit: Er wird immer älter.
Die Kehrseite des Phänomens ist: Erst die Vergänglichkeit macht unser Leben einmalig und wertvoll. Was wir gerade erleben, kehrt als solches nie mehr wieder. Also kommt es darauf an, den Augenblick auszukosten.
So lebt der Mensch als ein Wesen, das – vom immerwährenden Nu des Augenblicks getragen und durchdrungen – sich unaufhörlich entgeht.
Wohin entschwinden meine Erlebnisse? Werden sie irgendwo aufgehoben?
Die Simultaneität von Sein und Nichtsein im Punkt des Hier und Jetzt ist entscheidend, um den Abgrund zu verstehen, aus dem die Gier hervorgeht.
Der Mensch entsteht, um zu leben, doch gleich bei seiner Geburt fängt er an zu sterben. Diese Grundbefindlichkeit erleben einige intensiv, bei anderen überwiegt die intellektuelle Betrachtung, die meisten versuchen sich davon abzulenken. Doch alle – wie wenig bewusst auch immer – erleiden es, weil sie selbst das Phänomen sind: Ein Fass ohne Boden, das nur das Unendliche auszufüllen vermöchte. Doch wie könnte Endliches Unendliches aufnehmen.
So ist der Mensch – obzwar zum Glück geboren – eine Leidensgestalt. Ein Hunger quält ihn, der nie gesättigt werden kann. Er bleibt ein Gefäß, das nie gefüllt wird.
Gier ist der Versuch, diesen Mangel zu beheben – durch Umkehrung der Transzendenz. Der Drang, über sich hinauszugehen, kehrt sich nach innen und wird zur Tendenz, alles zu und in sich zu ziehen.
Die Erfahrung der Vergänglichkeit wird in der Mitte des Lebens geradezu tragisch, wenn der Mensch spürt, dass es dem Ende zugeht. Dann schreit es in ihm: Ich will frei sein, ich will alles wissen, ich will immer leben. Ich will! Das ist der Sinn, meint am Anfang der alternde Mensch – am Anfang, wenn er es noch mitzufühlen vermag.
Meisterhaft hat der Dichter-Philosoph Goethe diesen Urgrund der Gier zu Wort gebracht.
Eine Tragödie nennt Goethe sein Stück. Deren Hintergrund wird gleich in der Zueignung offenbart. Den Menschen schmerzt es, dass sein Leben vergeht und also im Laufe der Zeit zu einer Landschaft sehnsüchtiger Erinnerungen wird. Kaum der Wiege entsprungen, spürt er das Grab durch die Wolke von Gestalten, die einmal da waren.
Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,
Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.
Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten?
Fühl ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt?
Ihr drängt euch zu! nun gut, so mögt ihr walten,
(…)
Ihr bringt mit euch die Bilder froher Tage,
Und manche liebe Schatten steigen auf;
Gleich einer alten, halbverklungnen Sage
Kommt erste Lieb und Freundschaft mit herauf;
Der Schmerz wird neu, es wiederholt die Klage
Des Lebens labyrinthisch irren Lauf,
Und nennt die Guten, die, um schöne Stunden
Vom Glück getäuscht, vor mir hinweggeschwunden.
Dem Lebensdrang stellt sich die prozessuale Abschwächung entgegen. Der Mensch will für immer da sein, doch sein Leben ist vom langsamen Absterben geprägt. Ewiges soll sich im Fluss der Vergänglichkeit ereignen? Ach, welch ein Unsinn.
So wirft gleich zu Beginn Mephistopheles dem Schöpfer vor, bei der Idee einer solchen Schöpfung daneben getroffen zu haben. Er tut es nicht ohne Ironie. Denn wie könnte man so ein Konstrukt ernst nehmen?
Mephistopheles zum Herrn:
(…)
Verzeih, ich kann nicht hohe Worte machen,
Und wenn mich auch der ganze Kreis verhöhnt;
Mein Pathos brächte dich gewiß zum Lachen,
Hättst du dir nicht das Lachen abgewöhnt.
Von Sonn' und Welten weiß ich nichts zu sagen,
Ich sehe nur, wie sich die Menschen plagen.
Dem Schöpfer wird also vorgeworfen, das widersprüchliche Wesen Mensch mit einer komischen Eigenschaft ausgestattet zu haben: dem Größenwahn. Er hält sich für einen „kleinen Gott“, welcher, zusammen mit dem verrückten Drang nach dem Höchsten, auch „den Schein des Himmelslichts“ erhält: das Denken der Vernunft. Es ermöglicht ihm, seine größenwahnsinnige Einbildung als Wahrheit zu begründen.
Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag,
Und ist so wunderlich als wie am ersten Tag.
Ein wenig besser würd er leben,
Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben;
Er nennt's Vernunft und braucht's allein,
Nur tierischer als jedes Tier zu sein.
Er scheint mir, mit Verlaub von euer Gnaden,
Wie eine der langbeinigen Zikaden,
Die immer fliegt und fliegend springt
Und gleich im Gras ihr altes Liedchen singt;
Und läg er nur noch immer in dem Grase!
In jeden Quark begräbt er seine Nase.
Selbst einem Gott ist der Mensch ein Rätsel. Der Schöpfer bringt keine Argumente, fühlt sich nur von der Klage überfordert.
DER HERR:
Hast du mir weiter nichts zu sagen?
Kommst du nur immer anzuklagen?
Ist auf der Erde ewig dir nichts recht?
Mephistopheles:
Nein Herr! ich find es dort, wie immer, herzlich schlecht.
Die Menschen dauern mich in ihren Jammertagen,
Ich mag sogar die Armen selbst nicht plagen.
Gegen die Frechheit des Teufels ist eigentlich nichts einzuwenden. Wenn überhaupt, könnte man vielleicht ein Spiel versuchen – eine Komödie eben –, welche die Lage des Menschen erhellen und sein Problem lösen würde.
Des Menschen Problem ist, von Natur aus sterblich zu sein, aber unbegrenzt leben zu wollen.
Doch wer könnte es lösen? Gott scheint es zu wissen.
DER HERR:
Kennst du den Faust?
Mephistopheles:
Den Doktor?
DER HERR:
Meinen Knecht!
So wird der akademische Gelehrte Dr. Faust als Prototyp des Menschen ausgewählt, der das Experiment versuchen soll, dem Schicksal zu entkommen.
Obwohl sein Leben keineswegs durchschnittlich war, ist Faust mit dem, was er gemacht hat, unzufrieden.
Faust:
Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor (…)
Und sehe, daß wir nichts wissen können!
Das will mir schier das Herz verbrennen.
(…)
Auch hab ich weder Gut noch Geld,
Noch Ehr und Herrlichkeit der Welt (…)
Zwei Grundmomente der Tragödie unterscheiden die Interpreten: die Krise des Gelehrten und die Krise des Menschen. Es ist ein und derselbe Mensch, der alles doppelt erlebt. Es sei ja ein Grundmerkmal seines Daseins, dass er zwei Seelen in seiner Brust habe.
Der Gelehrte fühlt sich frustriert, weil er in der Mitte seines Lebens merkt, dass er nichts weiß. Doch einfältig ist Dr. Faust keineswegs. Er fühlt sich vielen überlegen. Der wahre Grund seiner Unzufriedenheit ist, dass sein Wissen (das Wissen des Menschen) nicht bis zum Seinsgrund reicht.
Daß ich nicht mehr mit saurem Schweiß
Zu sagen brauche, was ich nicht weiß;
Daß ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält (..)
Auf einmal werden ihm die beim Studium verschwendeten Nächte, die vielen Bücher, die im Vergleich mit seinem Anliegen nur Nebensächliches enthalten, zu einer Belastung.
O sähst du, voller Mondenschein,
Zum letztenmal auf meine Pein,
Den ich so manche Mitternacht
An diesem Pult herangewacht:
Dann über Büchern und Papier,
Trübsel'ger Freund, erschienst du mir!
(…)
Oh! naive Überheblichkeit des Menschen, der sich für einen kleinen Gott hält, aber in Wirklichkeit ein Hauch ist – ein Lüftchen, das, kaum erschienen, gleich vorüberzieht. Zugleich jedoch ist er ein Drang nach Fülle, der im Fluss des Zeitlichen niemals zu seinem Ziel zu kommen vermag.
Der Akademiker Faust denkt oder vielmehr fühlt auf einmal konkret.
In jedem Kleide werd ich wohl die Pein
Des engen Erdenlebens fühlen.
Ich bin zu alt, um nur zu spielen,
Zu jung, um ohne Wunsch zu sein.
Was kann die Welt mir wohl gewähren?
Entbehren sollst du! sollst entbehren!
Das ist der ewige Gesang,
Der jedem an die Ohren klingt,
Den, unser ganzes Leben lang,
Uns heiser jede Stunde singt.
(…)
Und so ist mir das Dasein eine Last,
Der Tod erwünscht, das Leben mir verhaßt.
Solange der Mensch den Naturgesetzen unterworfen ist, kann er nicht glücklich werden. Doch Glück bleibt das Ziel. So folgt Faust einer langen Tradition von Menschen, welche die Grenzen des Daseins erkannt und, um sie zu sprengen, sich auf der Suche nach dem philosophischen Stein gemacht haben.
Es möchte kein Hund so länger leben!
Drum hab ich mich der Magie ergeben
Da, in der Magie, entdeckt Faust die neue Bibel, die Grundlagen der neuen Wissenschaft:
Flieh! auf! hinaus ins weite Land!
Und dies geheimnisvolle Buch,
Von Nostradamus' eigner Hand,
Ist dir es nicht Geleit genug?
Eigentlich nicht. Faust sieht ein, dass er der Neuentdeckung nicht gewachsen ist. Die Verzweiflung wächst. Er will sich umbringen. Doch in dem Augenblick, da er das Gift zu sich nehmen will, wird er vom Glockengeläut abgelenkt. Es ist Ostersonntag.
Um übereiligen Interpreten zuvorzukommen, die gleich die Szene von der Auferstehung Christi her deuten würden, betont der Dichter, es sei nicht das Ostermysterium, sondern die Erinnerung an glückliche Tage seiner Kindheit, die ihn vom Selbstmord abgelenkt haben.
Die Grundaussage ist: Dr. Faust stellt gewiss den Menschen überhaupt dar, aber von der Seite gedeutet, die das Leben bejaht.
Doch nicht nur leben will er, sondern glücklich leben – und zwar für immer.
Mephistopheles, der Geist, der stets verneint, aber zugleich beide Seiten des Menschen kennt – die zwei Seelen, die in einem Leibe wohnen –, liest zwischen den Zeilen. Aus dem Gesagten hört er das Gemeinte heraus:
Der Gelehrte trachtet nach dem absoluten Wissen über den Urgrund, der das Ganze „im Innersten zusammenhält“. Doch der Mensch will grenzenlos lieben und geliebt werden – und zwar konkret durch eine Frau und mit ihr.
Den Urgrund des Seins erkennen; ferner die Vergänglichkeit überwinden, um für immer jung zu bleiben und so endlos eine junge Frau zu lieben und von ihr geliebt zu werden – das ist der Traum des Dr. Faust. Dessen Verwirklichung soll mit Gottes Erlaubnis der Teufel selbst ermöglichen.
Der Dichter präzisiert allerdings: Wie dem frustrierten Akademiker keine einzelne Wissenschaft mehr, sondern nur das absolute Wissen genügt, so ist für den immer jung bleiben wollenden Mann eine Frau allein keineswegs das Ziel seines Begehrens. Er will alle Frauen lieben oder genauer: die Frau überhaupt, welche per definitionem nicht alt werden kann:
Faust:
Laß mich nur schnell noch in den Spiegel schauen!
Das Frauenbild war gar zu schön!
Mephistopheles:
Nein! Nein! Du sollst das Muster aller Frauen
Nun bald leibhaftig vor dir sehn
(Leise.) Du siehst, mit diesem Trank im Leibe,
Bald Helenen in jedem Weibe.
Der Traum wird Wirklichkeit:
Augenblick, verweile doch, du bist so schön!
Die größte Gier des Menschen ist erfüllt.
Doch nur scheinbar. Denn Dr. Faust ist ein Mann. So stellt er das Problem des Menschen dar – aber des Menschen als Mann.
Der Mensch geht als Mann und Frau auseinander. Wenn der Mann eine dominierende Rolle spielen will, beansprucht eine Seite das Ganze für sich. Der Mann beansprucht, die Verwirklichung des ganzen Menschen zu sein.