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UTB 5035

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Fabian Wolbring

Sprachbewusste
Gedichtanalyse

Eine praktische Einführung

Vandenhoeck & Ruprecht

Dr. Fabian Wolbring ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Bonn. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte liegen in der Lyrokologie, der Medientheorie und der Literaturdidaktik. Neben seiner akademischen Tätigkeit betreut und begleitete er diverse Jugendprojekte im Bereich HipHop und Rap und war außerdem schon selbst als Rapper, Blogger und Erzähler in den (Sub-)Kulturszenen des Ruhrgebiets unterwegs.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

© 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,

Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagbild: Fotografie ©Andrea Kiesendahl

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
EPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

UTB-Band-Nr. 5035

ISBN 978-3-8463-5035-5

Inhalt

1.Einführendes

2.Was ist ein Gedicht?

3.Sprache als Medium

4.Mündlichkeit und Schriftlichkeit

5.Wortgruppenbildung

6.Sprechverhalten

7.Erzählweise

8.Oppositionen

9.Sympathielenkung

10.Metrum und Rhythmus

11.Lautung und Reim

12.Gedichtvergleich

13.Literatur

1. Einführendes

Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ’ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen1

Mit diesem Tweet löste eine Abiturientin aus Nordrhein-Westfalen vor einiger Zeit eine bundesweite Debatte über den lebenspraktischen Wert und Unwert aktueller Unterrichtsgegenstände aus und sprach damit offenkundig vielen Menschen aus der Seele.2 Die „Gedichtsanalyse“ [sic] gilt demnach als Inbegriff des Obsoleten; als Sammelsurium kruder Praktiken wie Reimschemabestimmung oder Versfußmessung, das ausschließlich dazu dient, nicht minder kruden Texten3 vermeintliche Bedeutungen abzuringen und aufzubürden, über deren Berechtigung bzw. Richtigkeit die jeweilige Lehrkraft dann nach schleierhaften Kriterien Urteile fällt.

Gerade in Zeiten zunehmender Standardisierung erscheint mir eine gesunde Skepsis gegenüber dem Nutzen manches Lyrikunterrichts durchaus angebracht. Statt die Lernenden für ein Gedicht und seine jeweils spezifische sprachliche Gestaltung zu sensibilisieren, werden ihnen häufig rigide schematische Lösungsmuster eingepaukt, die sie zu dem zweifellos selbstüberschätzenden Irrglauben führen, sie könnten (noch dazu in vier Sprachen) Gedichte angemessen und erschöpfend analysieren. Meine persönliche Erfahrung als Leiter zahlreicher Einführungsseminare in die Gedichtanalyse zeigt indes, dass die meisten Studierenden am Anfang ihres Studiums große Probleme oder Hemmungen haben, überhaupt etwas zu einem zuvor unbekannten Gedicht zu sagen, geschweige denn analysierende oder interpretierende Leseweisen zu entdecken, die auf sorgfältigen Textbeobachtungen basieren. Daher empfand ich es als vorderste Dozentenpflicht, meinen KursteilnehmerInnen diesbezüglich Hilfestellung zu leisten. Sie wurden angehalten, dem jeweiligen Gedicht unvoreingenommen und doch interessiert und aufgeschlossen zu begegnen, es gründlich und mehrfach zu lesen, es auf Basis des eigenen Sprachempfindens nachzuvollziehen und in seiner Wirkung zu beschreiben, sich zu wundern, Formulierungsentscheidungen zu hinterfragen und zuletzt zu versuchen, Wirkungseindrücke und Verständnishypothesen über Textbelege argumentativ zu plausibilisieren. In der Terminologie der Literaturdidaktik lassen sich diese Formen der Texterschließung unter den Begriff des textnahen Lesens subsumieren.4 In literaturwissenschaftlichen Kontexten ist hingegen von Close Readings die Rede.5

Wie bei Gedichtanalysen üblich wurde in den Seminaren oft nach einer Gesamtbedeutung des jeweiligen Gedichtes gefragt.6 Wichtiger als die finale Interpretation war aber stets die Analyse selbst, d. h. die sorgfältige Untersuchung des jeweiligen Gedichts nach unterschiedlichen Gesichtspunkten. Meine Funktion bestand darin, fragenentwickelnde Kursgespräche anzuregen; über den Text, vor allem aber auch mit dem Text, da alle Fragen an diesen gerichtet und alle potentiellen Antworten, Argumente und Hypothesen aus ihm heraus generiert werden sollten. Lediglich zur Klärung unbekannter Begriffe oder offensichtlicher Anspielungen wurden sekundäre Quellen und Hilfsmittel zugelassen (etwa wenn die Loreley namentlich im Text vorkam, der Mythos aber nicht bekannt war). Eine solche Analysepraxis, bei der literaturgeschichtliches Kontextwissen zu Autor, Gattung und Epoche zunächst weitgehend ausgeklammert wird, nennt man in der Fachsprache werkimmanent. Entsprechende Informationen mögen für die tiefergehende Analyse in schriftlichen Arbeiten sicherlich unabdingbar sein; als vorschnell herbeigegoogletes Herrschaftswissen lenken sie erfahrungsgemäß aber eher von der konzentrierten Lektüre ab und verhindern nicht selten den primär angestrebten, selbstdenkenden Erschließungsprozess der Studierenden.7 Allerdings wurde zu Beginn jeder Sitzung in einem kurzen Dozentenvortrag eine Methode oder Beobachtungshinsicht vorgestellt, die als Such-Impulse fungieren sollten, d. h. als Anregungen, das jeweilige Gedicht einmal im Lichte des jeweiligen Aspekts zu untersuchen und zu „befragen“. In diesem Sinne verstehe ich die Seminare (wie auch diesen Band) als praktisch orientiert, weil stets die konkrete Anwendung theoretischen bzw. methodischen Wissens angestrebt wird.

Was die Kursgespräche auszeichnete, war ihre Ergebnisoffenheit. Gedichtanalyse wurde nicht als Geschäft der harten Wahrheiten aufgefasst, sondern vielmehr als eine bewusst assoziative und spekulative Praxis, die dazu dient, jenseits von wahr und falsch zu nachvollziehbaren Hypothesen zu gelangen, deren Berechtigung es selbst graduell einzuschätzen und argumentativ zu vertreten gilt. Im reflektierten Abgleich mit anderen lernten die Studierenden häufig erst die eigenen Rezeptionsgewohnheiten und Verarbeitungsroutinen kennen, die das individuelle Verständnis (oder Unverständnis) für einen Text mitbestimmen. Gedichte gelten dabei bekanntlich als Texte mit besonders hohem Irritationspotential (siehe Kap. 1).8 Gleichzeitig herrschte natürlich nie der Anspruch, die eine, ausschließlich gültige, womöglich gar vom Autor legitimierte Bedeutung zu erschließen.

Die Seminare fanden bei den Studierenden viel Zuspruch und lassen diese Text-/Kurs-Gespräche als guten Nährboden für eine konzentrierte und interessierte Lektüre von Texten erscheinen. Leider lassen sie sich nicht gleichwertig in ein Buch überführen, da sie hier notwendig ihre Offenheit und Interaktivität verlieren. Trotzdem soll dieser Band seine Leserschaft zu einem vergleichbar offenen und diskursiven Umgang mit Gedichten animieren. Die elf Kapitel entsprechen dabei elf exemplarischen Textgesprächen, bei denen wie im Seminar jeweils eine Beobachtungshinsicht in den Blick gerät. Der Ton des Bandes ist dabei bewusst subjektiv gehalten, auch um die notwendig subjektiven Anteile jeder Gedichtanalyse sprachlich abzubilden (siehe Kap. 2).

Nachdem das erste Kapitel (1.) kursorisch die Frage nach den potentiellen Kennzeichen und Merkmalen eines Gedichts behandelt, wird der Blick auf die grundsätzliche Medialität von Sprache gelenkt (2.), dann auf die Unterschiede zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit (3.), auf die in einem Text verwendeten Wörter (4.), das ausgestellte Sprechverhalten (5.), narrative, d. h. erzählende Aspekte (6.), die Oppositionsstrukturen (7.), die implizite Sympathielenkung (8.), den Rhythmus (9.) und den Reim (10.). Abschließend wird ein exemplarischer Gedichtvergleich vorgeführt (11.). Natürlich erhebe ich bei dieser Auswahl keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, glaube aber, dass die Methoden oder Beobachtungshinsichten zusammengenommen ein vielfältiges und zeitgemäßes Instrumentarium zur Erstbegegnung mit einem Gedicht ergeben. Die Reihenfolge ist dabei nicht zwingend, hat sich aber bewährt und, dass die „typischen“ formalen Gedichtanalyse-Elemente ans Ende gerückt sind, hängt durchaus damit zusammen, dass sie nach meiner Erfahrung häufig recht wenig zum basalen Textverständnis beitragen. Ist ein solches allerdings erst einmal gewonnen, können formale Aspekte den Blick noch einmal neu justieren und noch einmal neue Befunde erbringen, die die bisherigen bestätigen, spezifizieren oder auch irritieren.

Ausschlaggebend für die Auswahl der Gedichte war deren Tauglichkeit, in der jeweiligen Hinsicht „Gesprächsstoff“ zu bieten, da nicht jeder Zugang bei jedem Text gleichwertige Analyseerträge liefert. Die Beispiele reichen von kanonisierten Klassikern des 18. Jahrhunderts über romantische Verse, Biedermeier-Gedichte, moderne Lyrik, konkrete Poesie bis hin zu aktuellen Lyrikformen wie Rap; wobei sie – dem Prinzip der Seminare folgend – weitestgehend ahistorisch und dekontextualisiert aus einem heutigen Sprachempfinden heraus betrachtet werden. Ein Gedicht (Conrad Ferdinand Meyers ZWEI SEGEL) wird zudem kapitelübergreifend herangezogen, um zu demonstrieren, wie die unterschiedlichen Zugänge im Zusammenspiel dazu führen können, das Gespräch mit dem Text immer wieder neu, anders und vertiefend „in Gang“ zu halten.

Die Beobachtungshinsichten sind mehrheitlich allgemeinsprachlicher Natur und damit nicht lyrikexklusiv. Dies erklärt sich daraus, dass der hier verfolgte Zugang zur Gedichtanalyse ein explizit sprachbewusster ist, also einer, bei dem die Gedichte auf ihren jeweils spezifischen Gebrauch von Sprache hin untersucht werden. Gedichte gelten als Texte, die die Darstellungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der Sprache in besonderem Maße exponieren (siehe Kap. 1). Sie sind daher prädestiniert zur Förderung jener im aktuellen didaktischen Diskurs häufig erwähnten „Sprachbewusstheit“, also eines reflektierten Verständnisses für die Funktions- und Wirkungsweisen der Sprache.9 Im Idealfall entwickeln die Studierenden bei der Analyse also nicht nur ein Verständnis für das jeweilige Gedicht, sondern auch eine erhöhte Sensibilität für das Medium Sprache. Hierin besteht in meinen Augen sogar der eigentliche „Bildungswert“ der in diesem Band vertretenen Form von Gedichtanalyse: Sie ermutigt zur genauen, mündigen und geduldigen Beobachtung von Sprache und regt dabei gleichermaßen zu Gründlichkeit wie Offenheit im Denken an. Sie fördert somit basale kognitive Kompetenzen, die sich in diversen (Sprach-)Kontexten und folglich nicht nur für angehende PhilologInnen als nützlich erweisen. Daher erscheinen sie mir als ebenso lernenswert und lebensnah wie das Wissen über Steuern, Miete oder Versicherungen.

Der Band richtet sich vornehmlich an Bachelorstudierende und OberstufenschülerInnen (bzw. deren Dozenten- und Lehrerschaft) und möchte diese ermutigen, Texten unbefangen und interessiert zu begegnen. Er versteht sich daher als Ergänzung zu anderen Einführungen (wie z. B. Burdorf 2015, Felsner et al. 2012 oder Elit 2008), die insgesamt eher gattungstheoretisches und -historisches Wissen vermitteln. Das Literaturverzeichnis am Ende (Kap. 12) eröffnet zahlreiche Anschlüsse für alle, die sich tiefergehend mit der Lyrikologie, d. h. der Lyriktheorie und anderen Bereichen der Lyrikforschung, auseinandersetzen möchten.10

1Naina (@nainablabla), 10.01.2015, Tweet.

2Vgl. etwa Franz Nestlers Artikel „Wie ein Tweet eine Bildungsdebatte auslösen konnte“ in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG vom 16.1.2015.

3Vgl. zu den generellen Ressentiments vieler Schülerinnen und Schüler gegenüber Lyrik z. B. Pfeiffer 2013, S. 65 oder Waldmann 2006, S. 5.

4Vgl. Jürgen Belgrad und Karlheinz Fingerhut (Hrsg.): TEXTNAHES LESEN. ANNÄHERUNGEN AN LITERATUR IM UNTERRICHT. Hohengehren 1998.

5Vgl. Hallet 2010, S. 294.

6Die Seminare standen folglich durchaus im Zeichen der Hermeneutik, also des ausdeutenden Interpretierens von Texten. Die Hermeneutik hat als „Kunst der Auslegung“ eine bis in die Antike zurückreichende Tradition (vgl. Berensmeyer 2010, S. 29 ff.).

7Vgl. Belgrad und Fingerhut: „Textnahes Lesen stellt zunächst den vorliegenden Primärtext in den Vordergrund. Wir lassen also zunächst die Hilfestellung zusätzlicher Informationen über Autor, Werk, Gattung, Epoche usw. beiseite, und zwar weil diese den Text unter dem gewählten Gesichtspunkt (z. B. Gattung) ‚modellieren‘ würden. Deutungen, die sich vorwiegend auf den Hintergrund von Autor, Gattung, Epoche stützen, geben dem Text einen allgemeineren, einen überindividuellen (in der Sprache Derridas einen ‚logozentrischen‘) Charakter. Die Interpretation verweist sofort über diesen Text hinaus auf Generelles beim Autor, der Gattung oder der Epoche. Sie übersehen oft Wichtiges, das im Text vor Augen liegt, indem sie prinzipiell immer auf etwas anderes verweisen. Sie unterstellen unbefragt, daß das Spezielle sich dann schon im Allgemeinen zeigt“ (Belgrad und Fingerhut 1998, S. 8 f.).

8Vgl. etwa Anja Pompe: „Keine andere literarische Ausdrucksform ist so sehr auf das Aussetzen der Verständnisroutine angelegt, mithin auf Verzögerung, wie die Lyrik“ (Pompe 2015, S. 7).

9Vgl. etwa den Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18.10.2012 zu den Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife, S. 20.

10Einen kommentierten Überblick über verschiedene einschlägige Lyrik-Einführungen stellt etwa Oliver Müller seiner eigenen Lyrik-Einführung voran (s. Müller 2011, S. 10 ff.).

2. Was ist ein Gedicht?

Was ist eigentlich ein Gedicht? Diese schlichte Frage steht erfahrungsgemäß am Anfang beinahe jedes Einführungsbandes und Proseminars zur Gedichtanalyse. Und obwohl die meisten Menschen gemeinhin einen als Gedicht intendierten Text ohne Schwierigkeiten auch als solches erkennen und überdies sicher leicht selbst ein Beispielgedicht benennen und womöglich gar rezitieren könnten, fällt es doch erstaunlich schwer, Alleinstellungsmerkmale anzugeben und das Wesen eines Gedichts zu definieren.1 Entsprechend kursieren in Literatur wie Seminardiskurs erstaunlich vielfältige Hypothesen zu den potentiellen Kennzeichen von Gedichten, von denen ich die gängigsten im Folgenden kurz und überblicksweise vorstellen und an einem Beispiel auf ihre Tauglichkeit hin prüfen möchte.

Mein Beispiel stammt aus Loriots berühmtem Fernseh-Sketch WEIHNACHTEN BEI HOPPENSTEDTS aus dem Jahr 1978. Der propere Familienspross Dicki wird von Mutter Hoppenstedt aufgefordert, unterm Tannenbaum ein Gedicht aufzusagen und Dicki skandiert unaufgeregt die drei Worte:

Zicke, Zacke – Hühnerkacke.

Ist das nun ein Gedicht? Aus Mutter Hoppenstedts Reaktion („Nein, das nicht.“), lässt sich ableiten, dass sie Dickis Aussage zwar als unpassendes, aber eben doch als Gedicht anerkennt. Und aus literaturwissenschaftlicher Perspektive?

Lyrik als Gattung

Die Frage, ob ein Text ein Gedicht sei oder nicht, erscheint hier als eine Frage nach der Gattung. Klassischerweise werden mit Epik, Dramatik und Lyrik drei Großgattungen unterschieden, wobei Gedichte mehrheitlich oder sogar vollständig letztgenannter zugehören sollen.2 Abgegrenzt wird diese Gattung dabei häufig durch Negativbefunde. Im Gegensatz zu den Texten der Epik wären Gedichte etwa konstitutiv „fabellos“,3 d. h. sie erzählten grundsätzlich keine Geschichten. Im Gegensatz zu den Texten der Dramatik, die stets dialogisch seien, handle es sich bei Gedichten konstitutiv um „Einzelreden“4, die zudem nicht „auf szenische Aufführung hin angelegt“5 wären. Für Dickis Text ließe sich all dies nun durchaus bestätigen (wobei der Vortrag wohl auch etwas von einer „Aufführung“ hat), aber dass dies ausreicht, um einen beliebigen Text als Gedicht zu erkennen, scheint fragwürdig.

Formale Kennzeichen

Im REALLEXIKON DER DEUTSCHEN LITERATURWISSENSCHAFT findet sich eine sehr knappe, rein formale und anscheinend recht verbindliche Minimaldefinition von Gedicht, die da lautet: „Text in Versen“6. Obgleich sich auch die offenkundige Anschlussfrage, was denn nun eigentlich ein Vers sei, trefflich diskutieren ließe (siehe Kap. 9), erfüllt Dickis Aussage dieses Kriterium geradezu bravourös: Acht trochäisch geordnete Silben (betont/unbetont) formen zwei Verse mit deutlicher Zäsur dazwischen. Darüber hinaus erfüllt der Text mit seinen markanten Endreimen („Zacke“ auf „-kacke“), wie auch mit dem konsonantischen Binnenreim („Zicke“ auf „Zacke“),7 das landläufig wohl verbreitetste Klassifizierungs-Kriterium des „Gereimtseins“ (siehe Kap. 10). Und auch das ebenfalls formale Kriterium der „relativen“ Kürze8 lässt sich attestieren.

Landläufig wird die Gattung zuweilen auch inhaltlich oder thematisch bestimmt. So wird sie etwa häufig als „Affektgattung“ aufgefasst, die konstitutiv von einem „lyrischen Ich“ handle, das durch das Gedicht seine Emotionen zum Ausdruck brächte.9 Entsprechende Liebes- oder Sehnsuchtsgedichte zählen sicher zu den populärsten Texten der Gattung, doch in Dickis Fall ist davon zunächst nichts zu entdecken (auch wenn man durchaus Rückschlüsse auf dessen Gefühlslage ziehen könnte [s. u.]). Ebenfalls schwierig erscheinen inhaltliche Bestimmungsversuche, nach denen Gedichte stets bestimmte Augenblicke oder Situationen einfangen.10 Davon ist bei Dickis Text nichts auszumachen. Eher fängt der Sketch eine Situation ein (Weihnachtsabend) und Dickis Verse bilden eine grundsätzlich situationsunabhängige, beliebig rekontextualisierbare Einheit. Auch die Einschätzung, Gedichte lieferten „prägnant[e] Zeitdiagnosen“11 ihrer jeweiligen Epoche, überzeugt in diesem Fall nicht. Der Sketch mag das deutsche Spießertum der späten 70er portraitieren oder persiflieren, doch Dickis Worte wirken als typische Kinderverse merkwürdig ahistorisch.

Inhaltliche Kriterien

Insgesamt passender erscheinen da Bestimmungsversuche, nach denen der Inhalt bei einem Gedicht eben keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielt, weshalb es als „semantisch entlasteter“ Text besonders „ästhetisch“ wirken könne (s. u.). Oder geht es womöglich wirklich um Hühnerkacke? Vielleicht solche, die im „Zickzack“, also kreuz und quer im Hühnerstahl verteilt wurde? Und wie verhält es sich mit der These, Gedichte hätten als „autoreferentielle Texte“12 stets sich selbst zum Inhalt? Trifft dies auf ein „Zicke, Zacke – Hühnerkacke.“ auch zu?

das „lyrische Ich“

Nicht einmal ein explizites „lyrisches Ich“ taucht im Gedicht auf, das ebenfalls gelegentlich als bestimmendes Merkmal der Gattung angegeben wird.13 Aber gibt es nicht immer ein Äußerungssubjekt, also jemanden, der das „Zicke, Zacke – Hühnerkacke.“ notwendigerweise spricht oder gesprochen haben muss (siehe Kap. 2)? Kaspar Spinner definiert das „lyrische Ich“ als „Leerdeixis“14, d. h. als unbesetzte Sprecherrolle, die weder vom Autor noch von einer näher bestimmbaren Figur eingenommen wird.15 Tatsächlich erscheint auch unser Gedicht weder als die unmittelbare Aussage der Figur Dicki (die eher zu rezitieren scheint), noch als die des Sketch-Autors Loriot. Vermutlich ist Loriot auch nicht der Autor des Gedichts, sondern es handelt sich um jahrzehntelang bekannte Verse eines längst vergessenen Urheber-Kindes, die – ganz im Sinne einer Leerdeixis – bereits von zahllosen Sprecherkindern zitiert und adaptiert wurden. Aber wäre ein Verstext, bei dem das Äußerungssubjekt eindeutig einem Autor oder einer Rolle zuzuschreiben ist, demnach kein Gedicht?

poetische Sprache?

Häufig liest man auch, Gedichte seien durch eine eigene, eben „poetische Sprache“ gekennzeichnet, die von der „Normalsprache“ zu unterscheiden sei.16 Aber wodurch? Etwa durch ein eigenes Vokabular? Die Worte „Zicke“ und „Zacke“ – insbesondere im Zusammenspiel – erscheinen mir tatsächlich nicht dem alltagssprachlichen Lexikon zuzugehören; „Hühnerkacke“ indes schon. Es ist offensichtlich nicht Teil jener gedichtexklusiven „gesteigerten Sprache“, die, dem Literaturdidaktiker Winfried Pielow zufolge, „auch noch das ‚Zarteste‘ sagen kann“,17 und auch nicht jenes konventionellen Registers „poetischer Sprache“, das Begriffe wie Ach! und Weh!, Herzeleid, Nymphe oder Windeshauch enthält.18 Reicht das aus, um Dickis Versen den Status „Gedicht“ abzuerkennen? Dass Gedichte gemeinhin einen entsprechend erhabenen Stil oder „hohen Ton“ erwarten lassen, zeigt sich daran, dass dessen Nichtentsprechung letztlich die Komik des Sketches generiert. Von einer gedichttypischen „verdichteten Bildsprache“,19 die sich wohl etwa im metaphorischen bzw. symbolhaften Gebrauch von Begriffen wie Rose, Schiff oder Sonne niederschlägt, ist bei Dicki ebenfalls nichts zu erkennen. Zumindest fiele mir nichts ein, wofür die Hühnerkacke hier Symbol oder Metapher sein könnte. Die poetische Sprache von Gedichten – so liest man – sei dazu imstande, im „synästhetischen Vollzug“20 mehrere Sinneswahrnehmungen zu verschränken, doch Dickis Zeilen erwecken in mir (zum Glück) weder bildliche, noch haptische oder gar olfaktorische Vorstellungen. Mal liest man, die Sprache im Gedicht zeichne sich durch ihre Mehrdeutigkeit aus21 und mal durch ihre Prägnanz und darstellerische Genauigkeit.22 Mal gilt sie als besonders hermetisch (also verschlossen) und mal als genuin assoziativ; ein anderes Mal als besonders klangvoll, harmonisch oder gar musikalisch.23 Letzteres mag auf Dickis Verse, die tatsächlich den Charakter eines Spottliedes haben, durchaus zutreffen, aber der Rest? Mir fällt es schwer, in den Zeilen einen klaren Sinn zu erkennen, aber ist es deswegen schon hermetisch oder mehrdeutig? Ich finde sie (vor allem im Weihnachtsabendkontext) auch durchaus drastisch; aber besonders prägnant oder genau?

Für unser Vorhaben, im Gespräch mit Gedichten die Wirkungsweise von Sprache zu reflektieren, erscheint mir die Vorannahme, Gedichte würden eine genuin „andere“ Sprache verwenden als andere Texte, nicht zielführend. Eher nutzen sie dieselbe Sprache wie alle auf gedichtspezifische Weisen, um die oben genannten Effekte (oder auch andere) zu generieren. Ihre AutorInnen wenden womöglich bestimmte Verfahren bei der Erstellung eines Gedichtes an, d. h. sie folgen (bewusst oder unbewusst) bestimmten Regeln und Grundsätzen (Poetiken) bei der Konzeption ihrer Texte und produzieren so den Eindruck von Poetizität, d. h. eines ungewöhnlich kunstvollen Sprachgebrauchs. Aber was genau macht diese Verfahren aus?

Normen im Gedicht

Gelegentlich wird die Position vertreten, dass in Gedichten Sprachnormen überschritten24 und die basalen Anordnungs- und Flexionsregeln sprachlicher Äußerungen (Syntax und Grammatik) nicht länger gelten würden. Für Dickis Verse ließe sich etwa feststellen, dass sie keinen vernünftigen deutschen Satz bilden, weil ihnen das Prädikat fehlt. Andererseits liest man auch, dass Gedichte dadurch gekennzeichnet wären, dass sie vielmehr zusätzlichen Anordnungsregeln folgten, die im alltäglichen Sprachgebrauch missachtet würden. Typischerweise sind dies (wie bei Dicki) Vers- oder Reimmuster, die eingehalten werden (müssen?), möglicherweise aber auch Prinzipien wie eine festgelegte Wortanzahl, bestimmte Lautmuster (z. B. nur „dunkle“ Vokale) oder auch ein bestimmtes Vokabular (z. B. viele „Farbwörter“). Muster entstehen dabei vor allem durch Wiederholungsstrukturen und Rückbezüge (Rekurrenzen) im Text, zumeist in Form von Variationen.

Überstrukturiertheit

Besonders beliebt ist die Vorstellung, der Sprachgebrauch im Gedicht sei dadurch gekennzeichnet, dass er Form und Inhalt in Einklang brächte, also eine „Gestalt-Gehalt-Korrespondenz“25 generiere. Das Wie der Darstellung entspräche folglich dem Was des Inhalts, etwa indem ein wilder Galopp in einem entsprechend „galoppierenden“ Sprechrhythmus umgesetzt oder eine traurige Stimmung mit vielen dunklen Vokalen „orchestriert“ würde. Gerade in diesem Zusammenhang taucht im theoretischen Diskurs gelegentlich der Begriff der Überstrukturiertheit von Gedichten auf. Überstrukturiertheit bedeutet, dass die Sprache in Gedichten auf unterschiedlichen Ebenen bedeutungstragend eingesetzt wird.26 Während in der Alltagssprache die Sätze und Wörter vorwiegend semantisch eindeutig in ihrer lexikalischen Grundbedeutung (Denotation) benutzt würden, seien im Gedicht auch assoziative Nebenbedeutungen (Konnotationen) relevant und auch der Klang der Wörter und der Rhythmus der Verse würden bedeutungstragend eingesetzt. Demnach kommuniziert ein Gedicht also „mehrkanalig“ und die dadurch gleichzeitig vermittelten Botschaften können zueinander in Beziehung gesetzt werden. Klappt das auch bei Dicki? Nun ja, man könnte etwa sagen: das Wort „Hühnerkacke“ hat neben seiner denotativen Bedeutung als Bezeichnung für Unrat, diverse konnotative Nebenbedeutungen durch seine Assoziationen mit Unwerten, Unnützem, Schmutzigem, Lächerlichem, aber auch Ländlichem, Bäuerlichem etc. „Zicke, Zacke“ hat anscheinend keine unmittelbare denotative Bedeutung (s. o.). Oder ist mit Zicke doch eine weibliche Ziege gemeint (die ja thematisch gut zum Huhn passen würde)? Immerhin wird dieses Wort vielfach auch figurativ und abwertend für „launische Frauen“ verwendet. Für mich klingt die Wortfolge aber eher nach Tempo und Bewegung; ähnlich wie zackig oder Ruckizucki oder auch nach Hin und Her. Reim und Rhythmus verhelfen den Worten dann zudem zu einer liedhaften Komponente, die ihnen den Charakter eines Spottliedes verleihen, vergleichbar mit dem trotzigen Näh-NähNäh-Näh-Näh eines entwischten Kindes beim Fangenspiel. Lassen sich die vermeintlichen „Bedeutungen“ der unterschiedlichen Ebenen denn nun sinnvoll zu einer einzigen Bedeutung zusammenführen? Womöglich gar zu einer Botschaft oder „Lehre“27 für die Leser? Ist das überhaupt nötig? Und welche könnte das sein? Und wer hat sie dort „versteckt“?

Funktionen eines Gedichtes

Man könnte die Bedeutung von Dickis Versen an ihrer Funktion festmachen. Etwa indem man sagt, sie dienten als Provokation der Mutter. Eine solche Funktion hängt dabei gar nicht notwendigerweise von den expressis verbis behandelten Inhalten oder vom Sprachgebrauch ab, sondern wohl eher an der kommunikativen Absicht des Äußerungssubjektes. Tatsächlich sind auch einige der gängigen Bestimmungsversuche von Gedichten in dieser Art und Weise funktionsorientiert. Die Selbstaussprache gilt dabei als besonders typische Funktion eines Gedichtes,28 selbst wenn der Text die Emotionen und Gefühle nicht explizit erwähnt. Dickis stoische Coolness ließe sich daher vielleicht als bewusst ausgestellter Anti-Affekt interpretieren bzw. als Beleg von Affektkontrolle, als Ausdruck von Langeweile oder als rebellischer Akt gegenüber der biederen, aufoktroyierten Weihnachtsidylle. Dass Sprechakte – also durch sprachliche Äußerungen vollzogene Handlungen – das Wesen von Gedichten bestimmen, ist seit Heinz Schlaffers einflussreichem Aufsatz SPRECHAKTE DER LYRIK eine verbreitete Annahme der Lyriktheorie (siehe Kap. 5). Gedichte dienten etwa dem Loben, Klagen, Mahnen, Danken, usw. Allerdings liest man auch, dass sie als „Performativitätsfiktionen“29 lediglich der Ausstellung oder literarischen Fingierung von Sprechakten dienten. Aber welchen Sprechakt stellt Dicki hier eigentlich aus? Eine genaue Bestimmung scheint schwierig.

Exponierung der Sprache

Mancher erkennt das Wesen des Gedichts denn auch in dessen Absichts- und Funktionslosigkeit.30 Es sei „entpragmatisiert“ und diene folglich – anders als ein Sach- oder Alltagstext – nicht der unmittelbaren Vermittlung von Informationen oder der Referenz eines lebenswirklichen Sachbestandes und auch nicht dem Vollzug eines lebenspraktischen Sprechaktes. Auf Dickis Nonsense-Verse könnte dies durchaus zutreffen. Allerdings erweist sich die Funktionslosigkeit von Gedichten bei näherer Betrachtung zumeist gar nicht als funktionslos. So dient sie dem Literaturwissenschaftler Jonathan Culler zufolge dem foregrounding der Sprache, also ihrer Exponierung als Medium (siehe Kap. 2).31 Damit schließt Culler seinerseits an Überlegungen des Strukturalisten Roman Jakobson an, der verschiedene Funktionen sprachlicher Äußerungen unterschieden und untersucht hat. Als poetische Funktion der Sprache bestimmt er dabei diejenige, bei der die „Einstellung auf die Nachricht als solche, die Zentrierung auf die Nachricht um ihrer selbst willen“32 dominiert. Bezogen auf unser Beispiel hieße das, Dickis Verse sind vor allem ästhetischer Selbstzweck. Sie werden gesprochen weil sie „gut“ klingen. Durch Rhythmus und Reim werde das Wortmaterial selbst in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, also seine Lauteigenschaften und spezifische Anordnung.

rituelle Texte

In vielerlei Hinsicht entsprechen Dickis Verse somit auch einem Ideal, nach dem ein Gedicht stets für den mündlichen Vortrag33 oder gar für den Gesang bestimmt ist. Schließlich wird der „Zicke, Zacke!“-Schlachtruf auch in Fußballstadien skandiert. Allerdings kursiert auch ein anderes Gedichtideal, nach dem Gedichte dezidiert Schriftprodukte sein sollten, die geschrieben und gelesen werden müssten.34 Ursprünglich wurden Gedichte wohl vor allem als Bestandteil von Ritualen realisiert, d. h. dass die frühesten Gedichte womöglich zeremonielle Texte wie Gebete, Zaubersprüche oder Beschwörungsformeln waren. Dickis Verse könnten als typische Auszähl- oder Spottverse betrachtet werden, wie sie vielfach Kinderspiele begleiten. Die Komik des Sketches erklärt sich dann daraus, dass das Weihnachtsfest einen ganz anderen Typ von zeremoniellem Begleitgedicht erwarten lässt.

Mit Blick auf modernere Ausprägungen der Lyrik wird inzwischen auch die Meinung vertreten, dass es letztlich nur der Kontext und die Rahmung sei, die aus einem Text (oder womöglich auch jeder anderen Daseinsform) ein Gedicht machten.35 Ein Text, der in einer Lyrik-Anthologie erscheint, auf einer als Dichterlesung deklarierten Veranstaltung deklamiert oder in einem Lyrikseminar präsentiert wird, würde demnach als Gedicht rezipiert, auch wenn er kein einziges der bisher erwähnten Kriterien erfüllt. In Dickis Fall hieße das, dass die Ankündigung der Mutter alleine jede Äußerung Dickis als Gedicht erscheinen lassen würde. Wenn Dicki allerdings erwidert hätte: „Nee, kein Bock!“, hätte das wohl niemand als Gedicht interpretiert, oder?

Kontext und Rahmung

Wäre der Satz in Peter Handkes Gedichtband DIE INNENWELT DER AUSSENWELT DER INNENWELT erschienen, vermutlich schon. Diesem entstammt nämlich das beliebteste Beispiel für ein einzig durch den Kontext erkennbares „ready-made“-Gedicht DIE AUFSTELLUNG DES 1. FC NÜRNBERG VOM 27.1.1968:

Wabra

LeupoldPopp

Ludwig MüllerWenauerBlankenburg

StarekStrehlBrungsHeinz MüllerVolkert

Spielbeginn:

15 Uhr

Anscheinend handelt es sich hierbei um einen ursprünglich literaturfernen Gebrauchstext, womöglich aus einer Sportzeitschrift, die lediglich über die Aufstellung einer Fußballmannschaft informieren will und dabei keine poetischen Absichten verfolgt. Aber erfüllt er nicht doch wesentliche Kriterien eines Gedichtes? Zumindest ließen sich die einzelnen Zeilen durchaus als Verse auffassen. Auch das Kriterium der Kürze ist erfüllt. Und die Worte „Starek“ und „Strehl“ sind doch alliterierend, oder nicht?

Hypothesenbildung

Allerdings muss ich mir eingestehen, dass mir diese Kennzeichen ohne die Klassifizierung als Gedicht gar nicht aufgefallen wären. Offensichtlich verändert der Status Gedicht meinen Umgang mit dem Text. In jedem Detail wittere ich nun potentielle Bedeutung36 und ich versuche, aus meinen Teilbeobachtungen Hypothesen für eine übergeordnete „Gesamtbedeutung“ oder eine mögliche kommunikative Absicht zu erstellen. Solche Zweitbedeutungen, die über das basale Verständnis des Textes als Mannschaftsaufstellung hinausgehen, lassen sich mit Klaus Weimar als ein Verstehen zweiten Grades bestimmen, d. h. als „Antwort auf die Frage, als was etwas sehr wohl Verstandenes sonst noch zu verstehen sei“37. Dabei kann es durchaus unterschiedliche plausible Zweitbedeutungen für diese exponierte Aufstellung geben.38 Ist es womöglich eine Hommage des Fußballenthusiasten Handke an die legendäre Mannschaft? Oder im Gegenteil eher eine kritische Thematisierung der allgegenwärtigen Fußballmanie, die womöglich die Kunst und Literatur zu verdrängen sucht? Oder aber die bewusste Unterwanderung der Unterscheidung von Kunst und Alltagsdiskurs? Spielt Handke womöglich auf irgendein historisches Ereignis an? Will er die Entindividualisierung des Menschen durch eine Listenrhetorik vor Augen führen? Geht es womöglich in irgendeiner Art sogar um die Nürnberger Prozesse? Gerade das symbolische Ausdeuten des Textes gilt schließlich als typischer „Modus der Interpretation“39 bei Gedichten. Oder geht es hier gerade um die Dokumentation unmittelbarer Gegenwart, also jenen Moment im Jahr 1968, an dem das große Spiel begann?

Plötzlich ergeben sich Fragen zur genauen Anordnung der Spielernamen: Hat die Pyramidenform irgendeine Bedeutung? Oder vielleicht die Wortanzahl in den jeweiligen Zeilen (1/2/4/6)? Warum wurde die gegnerische Mannschaft nicht aufgeführt? Wer sich eingehender mit der Referenz-Partie befasst (etwa indem er – wie auch ich – den entsprechenden Wikipedia-Artikel liest), lernt dann auch, dass das Spiel eigentlich bereits um 14 Uhr begann, und zwar mit Helmut Hilpert statt Horst Leupold in der Innenverteidigung. Wozu dienen diese Änderungen? Oder waren das einfach Transkriptionsfehler Handkes?

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