Claudio Naranjo

Gestalt

Claudio Naranjo

Gestalt

Präsenz
Gewahrsein
Verantwortung

Grundhaltung und Praxis einer
lebendigen Therapie

Übersetzt aus dem Amerikanischen von Matthias Schossig

INHALT

Vorwort

Vorwort zur englischen Ausgabe

Einleitung des Autors

ERSTER TEIL
INNERE HALTUNG UND PRAXIS DER GESTALTTHERAPIE

I. Theorie

Kapitel  1 Die Bedeutung der inneren Haltung

Kapitel  2 Die Gegenwart im Mittelpunkt

II. Techniken

Kapitel  3 Einführung in die Techniken der Gestalttherapie

Kapitel  4 Restriktive Techniken

Kapitel  5 Verstärkende Techniken

Kapitel  6 Integrative Techniken

III. Strategie

Kapitel  7 Strategie als Meta-Technik

Kapitel  8 Mit Gerald im Hier und Jetzt: Eine kommentierte Fallstudie

Kapitel  9 Psychologisches Judo

Kapitel 10 Dort und Dann

Kapitel 11 Die Arbeit mit Träumen

Kapitel 12 Richard

ZWEITER TEIL
GESTALTTHERAPIE IN NEUEM LICHT

Kapitel 13 Der transpersonale Aspekt der Gestaltarbeit

Kapitel 14 Gestalt und Meditation – und andere Themen

Kapitel 15 Dick Price: eine Gedenktaufe

Kapitel 16 Gestaltübungen

Kapitel 17 Gestalt und Protoanalyse

Kapitel 18 Gestalt im Kontext mit Wegen des inneren Wachstums

Kapitel 19 Gestalt nach Fritz

Vorwort

Naranjos Werk über Gestalt zu lesen ist Bildung, Inspiration, Erfüllung, vor allem aber auch – ein Vergnügen. Welch eine Genugtuung, die Worte verwenden zu können, die Buchrezensenten so oft für Prosawerke benutzen: „äußerst lesenswert“. Und es liest sich in der Tat hervorragend; das ist keine geringe Leistung für ein ernsthaftes Werk über Theorie und Techniken einer der bedeutendsten Entwicklungen auf dem Gebiet der Psychotherapie – Gestalt.

Daß sein Buch ein Vergnügen und eine spannende Lektüre ist, ist integraler Bestandteil des Geistes und Geschmacks seines ambitionierten Unternehmens.

Vor allem anderen ist der Verfasser mit einer Klarheit des Stils gesegnet, die anscheinend das Ergebnis seines engagierten Bemühens um Verstehen und seiner Leidenschaft für das Lehren ist. Ohne Gefahr kann ich sagen, daß Claudio unfähig ist, einen unverständlichen Satz zu schreiben. Wie ist eine so glückliche Lage zu erklären? Ich glaube, sie stammt aus einem kräftigen intellektuellen Verdauungssystem und einem instinktiven Talent zum Klären, Umbilden und Assimilieren.

Fritz Perls betonte immer wieder die Parallelen zwischen gutem Essen und den Erfordernissen für emotionales Wachstum und das Lösen von Konflikten. Emotionale Erfahrungen sollten – wie Essen – sorgfältig geschmeckt, gekaut, verflüssigt, geschluckt, verdaut und assimiliert werden. Dann werden sie wirklich integriert und nicht zu einem Knäuel unverdaulichen Zeugs im Bauch, das Verstopfung und Schlaflosigkeit bereitet.

Es gibt Anzeichen dafür, daß Claudio Naranjo einen empfindsamen intellektuellen Magen hat, der leicht von Essen vordorben wird, das nicht sehr „bekömmlich“ ist. So arbeitet er und kaut daran (nicht, daß dieser Aspekt seiner Vorbereitung auch nur im mindesten sichtbar wäre) und wenn er soweit ist, etwas mitzuteilen, ist es schmackhaft, sättigend, nahrhaft.

Nehmen wir beispielsweise einen so relativ esoterischen Ausdruck wie Gurdjieffs „bewußtes Leiden“. Naranjo bezieht es treffsicher auf das in der Gestaltarbeit wichtige „Nichtvermeiden von Schmerzen“. Was in Gurdjieffs undurchsichtigem Stil ziemlich rätselhaft klang, wird nun schlicht als die Vorstellung der Konfrontation mit Schmerz und Frustration anstatt ihrer Vermeidung gesehen. Diese meisterhaften Hinweise auf Parallelen und Überschneidungen aus ganz unterschiedlichen Gebieten sind überall im Buch reich gesät.

Beachtliche Sorgfalt wurde offenbar auf die Titelwahl verwendet. Die meisten Bücher hätten Standardtitel wie „Theorie und Praxis der …“ bekommen. Naranjo macht klar, daß die Entscheidung für die „innere Haltung“ anstelle von „Theorie“ für seine Thematik ganz wesentlich ist. Das erinnert mich an zwei persönliche Vorfälle zwischen mir und Fritz. Früh in meiner Ausbildung bei ihm war ich ihm ständig mit Fragen über „Technik“ auf den Fersen. Schließlich konnte er nicht länger an sich halten. „Abe, du machst mich wahnsinnig mit all diesen Fragen nach Technik. Auf Technik kommt es nicht an, worauf es ankommt, ist Perspektive.“ Das saß, obwohl ich noch Jahre brauchte, es wirklich zu assimilieren. Bei anderer Gelegenheit sprachen wir über seine erstaunliche therapeutische Begabung. Er sagte: „Ich bin gut darin, weil ich Augen und Ohren habe und nicht ängstlich bin.“

So haben wir hier einen erfreulichen Kommentar über die Frage der Praxis. Naranjo weist darauf hin, daß Gestalt als System einzigartig ist, weil es nicht auf Theorie, sondern auf intuitivem Verstehen aufbaut. In all den verschiedenen Kapiteln über Ausdruck, Integration, Interpretation von Träumen etc. enthält das Buch eine Fülle von Anschauungsmaterial, wie diese Intuition bei einer Vielzahl von Patienten ins Spiel gebracht wird.

Kapitel zwei über die Zentrierung im Jetzt ist eines der Juwelen in diesem Buch. Es ist ein Kapitel, das ursprünglich in Fagans und Shepherds frühem Kompendium Gestalt Therapy Now erschien. Hier wird uns mit den Zitaten aus der britischen und lateinischen Dichtung, die die zu verdeutlichenden Punkte anmutig untermalen, ein üppiger kultureller Festschmaus geboten. Ich finde es höchst befriedigend, zu sehen, wie ein lebhafter, gutgerüsteter Geist arbeitet, der die Dinge auf natürliche Weise in großen Zusammenhängen und breiter Perspektive sieht. Die Ergebnisse sind alles andere als „Intellektualisierungen“, sie sind vielmehr einnehmend intelligent und führen den Leser auf eine Reise, auf der jedes beobachtete Fleckchen zu einer interessanten Erfahrung wird, sowohl für sich genommen als auch an seinem Platz in der größeren Ordnung – wie angemessen für einen Autoren, der über Gestalt schreibt.

Noch eine Bemerkung zur Wahl des Titels: erinnern wir uns an den Untertitel von Perls Hauptwerk Gestalt Therapy. Seltsamerweise ist dieser Untertitel nirgends erwähnt und ich wage zu vermuten, daß wenige Gestalttherapeuten sich an ihn erinnern. Der Untertitel lautet: „Erregung und Wachstum in der menschlichen Persönlichkeit.“

Das vorliegende Buch enthält viel Erregendes; Erregung einer handfesten Art, die entsteht, wenn Licht und Verstehen auf so viele Ecken und Winkel des Lebens geworfen wird.

Auf Seite 64 lesen wir: „Wir können in unserer Sklaverei unsere Freiheit entdecken und unter dem Mantel des Zwanges unsere tiefste Freude.“ Auf Seite 73 begegnet uns der Gedanke: „Sobald wir uns auf das Nichts einlassen, wird uns alles weitere gegeben.“ Eine bessere Auslegung der nicht so leicht verstandenen Vorstellung von der fruchtbaren Leere ließe sich schwerlich finden.

Claudio hatte reichlich Gelegenheit zu engem Kontakt mit Fritz Perls und entwickelte eine tiefe Wertschätzung für seine einzigartigen Talente und seine kreative Begabung. Wie tief Claudios Wertschätzung ging, läßt sich an seiner Aussage nachempfinden: „… besonders gilt das in der Gestaltarbeit, wo der Therapeut mehr als anderswo aufgefordert ist, nackter Mensch und Künstler zugleich zu sein.“ Anerkennung braucht keine größeren Höhen, als in einer solchen Aussage zum Ausdruck kommt.

Zur gleichen Zeit macht diese Wertschätzung der Leistungen Perls Naranjo keineswegs blind für die Begrenzungen, die in Fritzens Person und in einigen Gestaltaspekten als Weg zu innerem Wachstum liegen. Unter Verwendung Fritzens eigener Idee der „Löcher“, also blinder Flecken oder unentwickelter Bereiche in einem Individuum, identifiziert Naranjo richtig einige wichtige „Löcher“ in der Gestalttherapie selber. Die Verachtung für das Interpretative, die überstrenge Vermeidung jeden intellektuellen Verstehens, der Hang zu einer „strengen“ Haltung gegenüber Patienten statt einer helfenden, sanften oder freundlichen – das alles sind echte Beschränkungen des Gestaltansatzes. Kein Schaden kann dem Geist der Gestalt in ihrer Essenz entstehen, wenn diese Beschränkungen korrigiert werden. Ein großer Verrat an der Gestalt-Arbeit hingegen wäre es, wenn wir unser Interesse an ihrer Vertiefung und Erweiterung und unserer Möglichkeiten zum Handeln nicht ständig wachhielten.

Abschließend ein letztes Wort der Wertschätzung. Es gibt viele vernünftige, fundierte, kompetente Werke auf unserem Gebiet der Psychotherapie. Aber nicht so viele zum Schwelgen. Und dieses Werk, mit seinem Strom an Beobachtungen, Analysen, Integrationen ist wahrlich ein Festmahl. Ich glaube, das Buch kann – dem Neuling ebenso wie dem erfahrenen Therapeuten – einen fundierten Überblick über einige der Probleme der Psychotherapie geben und ihr Verhältnis zu der explosionsartigen Interessezunahme an transpersonalen und spirituellen Wegen. Man spürt, in seinem Schreiben, in seiner Art zu Denken, nichts geringeres als die ehrfürchtige Faszination am immerwährend menschlichen Bemühen und Streben nach Selbsterkenntnis, Selbsttranszendenz und Selbsterschaffung.

Es ist allzu offenkundig, wie hocherfreut ich über die Gelegenheit zu diesem Vorwort bin. Es ist mir eine große Freude, Claudio Naranjos Beitrag zur Vertiefung unseres Verständnisses zu feiern und unsere geschätzte Freundschaft zu bekunden.

ABRAHAM LEVITSKY

Berkeley, Kalifornien

April 1991

Vorwort zur
englischen Ausgabe

Infolge der Initiative ausländischer Verleger ist das vorliegende Werk – das erste, das ich in englischer Sprache geschrieben habe – bereits auf Spanisch und Italienisch erschienen. Der Titel der spanischen Ausgabe La Vieja y Novísima Gestalt, der eigentlich bezweckte, in etwa die Entsprechung zu „jene alte und immer neue Gestalt“ zu vermitteln, wurde vielfach eher als „Alte Gestalt im Vergleich zu neuer Gestalt“ verstanden, und ich wurde zu einem Neubegründer erklärt. Nichts lag mir ferner in meiner Absicht mit diesem Buch. Es ist zwar richtig, daß ich neuartige Reflexionen über den transpersonalen Aspekt der Gestalttherapie und ihrer Stellung unter den traditionellen „Wachstumswegen“ beitrug, und es ist auch richtig, daß ich eine Vielzahl von Gestaltübungen schuf und ein Kapitel über eine „Vierte Weg“-Charakterologie hinzunahm, die meine eigene Praxis und die meiner Studenten sehr bereichert hat, aber genauso richtig ist auch, daß das Buch überwiegend ein Echo der von Fritz Perls erlernten Gestalttherapie darstellt, so wie mein eigener Arbeitsstil ein Echo seines Stils ist.

Eigentlich hätte ich das Buch in Hinblick auf die Unterscheidung, die Fritz Perls’ New Yorker Mitarbeiter nach seinem Tod einführten, ebensogut California Gestalt nennen können. Dieser Ausdruck implizierte meist eine abwertende Bedeutung – wie in „das ist nur California Gestalt“, wobei Kalifornien für ein Assoziationsgemisch aus New Age und spirituellem Supermarkt steht. Doch ist es durchaus möglich, California Gestalt mit Würde zu sagen, denn viele von uns sind überzeugt, daß Fritzens Jahre in Kalifornien seine reifsten waren. Auch ist es nicht unerheblich, daß Kalifornien als Mekka einer weltweiten kulturellen Bewegung wie auch als Ausgangspunkt der humanistisch-transpersonalen Revolution in der Psychologie angesehen wird.

In der Einleitung, die ich bereits vor fünf Jahren schrieb, erkläre ich, warum ich ursprünglich „innere Haltung und Praxis“ anstelle von „Theorie und Praxis“ verwendete. Ich glaube, es besteht kein Zweifel an Fritz Perls’ anti-intellektuellem Stil während seiner kalifornischen Jahre, als die Ausdrücke „mind-fucking“, „verbiage“ und „bullshit“ in seinem Wortschatz vorherrschten. Sicher besaß er genügend Weisheit, die großen Ideen seiner Zeit, die organismische und holistische Auffassung zu würdigen, und insbesondere den Prozeß der Gestaltentstehung wertzuschätzen. Dennoch meine ich, daß sein theoretisch Bestes in seinen späten Jahren zu finden ist, als er für sich in Anspruch nahm, zum Therapieren oder Leben nicht länger einen Begriffsapparat zu brauchen, und durch nichts mehr getragen zu sein, das außerhalb von ihm selbst, d. h. seinem Bewußtsein in der Gegenwart lag. Zu dieser Zeit, können wir sagen, schrieb er mit Blut – als er auf seinen eigenen zwei Beinen stand und, von allem entblößt, ganz er selbst war.

Obwohl ich mich als Theoretiker spiritueller Disziplinen und der Psychotherapie gleichermaßen bezeichnen kann und ein Buch über Persönlichkeitstypen verfaßt habe, dessen Erscheinen im Anschluß an das vorliegende geplant ist, bin ich, wenn ich Gestalt praktiziere, mindestens genauso atheoretisch wie Fritz und fühle mich seiner Position nicht nur zutiefst verbunden, sondern bin auch interessiert, sie zu einer Zeit zu pflegen, in der die meisten Gestalt-Therapeuten vor den Akademikern in Verlegenheit geraten, die auf sie herabblicken, da ihnen ein hinreichendes theoretisches Lehrgebäude fehlt (d. h. eines, das in seiner Differenziertheit vergleichsweise an das der Psychoanalytiker oder Behavioristen herankäme und als notwendiger Rückhalt für die Erlaubnis zum Praktizieren gilt). Wie Fritz, der uns in seiner Autobiographie an seinem Traum teilhaben ließ, wie die Ausbildung einer Generation von Arzt-Philosophen zu bewerkstelligen sei, habe auch ich die intellektuelle Komponente der Ausbildung, ob von Therapeuten oder Menschen allgemein, nie unterbewertet, und vielleicht bin ich in diesem Punkt nicht so ambivalent wie Fritz, der, wie ich glaube, in dieser Frage noch keinen Frieden gefunden hatte. Er besaß einen anti-intellektuellen Zug und auch, wie ich es sehe, eine intellektuelle Unsicherheit, die ihn oft bombastisch wirken ließ und seinen Traum von der Ausbildung der Arzt-Philosophen ausgelöst haben mag. (Ich bin überzeugt, daß seine Heftigkeit gegenüber „bullshit“ die Kehrseite seiner früheren Exzesse war). Sein atheoretischer Stand war, wie mir scheint, am reinsten und haltbarsten in Hinblick auf die Ansicht, daß die therapeutische Tätigkeit durch die Hemmung des Begriffsdenkens intensiviert und durch Intuition besser gelenkt werden kann als durch diskursives „Kalkulieren“. Mit Sicherheit hatte es nichts mit der Anschauung zu tun, daß Therapeuten unwissend sein sollten.

Soweit habe ich das meiste zum neuen Titel meines Buches gesagt, bleibt mir also nur noch daraufhinzuweisen, daß Gestalt als Weg nicht nur insofern eine Erfahrungswissenschaft ist, als sie – vom Gesichtspunkt des Therapeuten – aus der Erfahrung heraus arbeitet, sondern als sie für das Individuum, das sich ihr unterzieht, durch das Durchmachen von Erfahrungen einen Weg bietet – einen Weg, bei dem der Anstoß zum Weitermachen sozusagen durch das Erfahren selber entsteht – durch Vertiefung der Bewußtheit und Klärung des erfahrenen Verständnisses (dies umfaßt die Erfahrung und das Verstehen der eigenen Haltung angesichts der Erfahrung). Wie Fritz Perls’ Vermächtnis an die zeitgenössische Psychotherapie viel umfassender war, als nur als Anstoß für ein Spezialgebiet zu dienen, hoffe ich, daß das vorliegende Buch auch all jenen dienen möge (wie Abe Levitsky in seinem großherzigen Vorwort vorwegnimmt), die an Therapie allgemein interessiert sind, einschließlich derer, die weder Experten noch Berufspsychologen sind. Insbesondere hoffe ich, daß es all jene inspirieren und stimulieren möge, die mit dem wachsenden Netzwerk psychologisch fundierter Hilfs- und Begleittherapiegruppen zu tun haben.

CLAUDIO NARANJO

Berkeley, Kalifornien

1992

Einleitung des Autors

Es war 1966, als Michael Murphy auf der Wiese vor dem Hauptgebäude des Esalen Instituts auf mich zukam und mich bat, einen Artikel über Gestalttherapie zu schreiben, den er als Esalen-Monographie herausgeben wollte, was er schließlich auch tat. Er hatte vorher bereits Fritz Perls darum gebeten, der jedoch vorschlug, daß er statt dessen mich ansprechen sollte. Ich hatte damals an einigen seiner Seminare teilgenommen, und er würdigte meine Teilnahme unter anderem dadurch, daß er mir ein Dauerstipendium für seine Arbeit in Esalen gewährte. Ich nahm dieses Angebot freudig an, und das Ergebnis war meine erste englischsprachige Veröffentlichung. Dies war für mich ein besonderer Segen, denn ich entdeckte, daß ich mich in dieser Sprache leichter ausdrücken konnte, als ich vermutet hatte.

Zu jener Zeit gab es so gut wie keine Veröffentlichungen zum Thema Gestalttherapie, außer zwei von Fritz Perls’ frühen Büchern, einigen seiner Artikel und einer kurzen Erklärung von Van Dusen, in der er feststellte, daß die Gestalttherapie die schlüssigste therapeutische Anwendung der Phänomenologie sei. Darüber hinaus zirkulierten in der Zeit, in der ich an Perls’ und Simkins erstem professionellem Ausbildungsseminar in Esalen teilnahm, zwei weitere Aufsätze in vervielfältigter Manuskriptform: einer von Simkin selbst und ein anderer von John Enright. (Beide sind mittlerweile in chronologisch richtiger Reihenfolge in Stephensons Gestalt Therapy Primer1 erschienen.)

Diese mir zugeteilte Aufgabe war eine echte Herausforderung, denn ich war mir sehr bewußt, wie schwierig es ist, sich von der Lektüre von Perls’ beiden ersten Büchern, die Gestalttherapie in der Praxis vorzustellen. Durch eine Laune des Schicksals zählte ich zu den ersten, die Perls’ frühestes Buch über Gestalttherapie lesen durften, denn mein Onkel Ben Cohen, einer der Mitbegründer der Vereinten Nationen, erhielt, als Julian Press es in den fünfziger Jahren herausbrachte, vom Verlag ein druckfrisches Exemplar zur Ansicht zugesandt. Mein Onkel war damals für die Presse- und Informationsabteilung der Vereinten Nationen zuständig, und auf seinem Schreibtisch stapelten sich die verschiedensten Bücher aus den unterschiedlichsten Quellen. Daher reichte er gelegentlich Titel, von denen er annahm, daß ich ein besonderes Interesse an ihnen hatte, an mich weiter. Insbesondere bei Perls’ Buch stellte sich heraus, daß es einen erheblichen Einfluß auf meine spätere berufliche Laufbahn haben sollte – weniger in meiner Eigenschaft als Therapeut, sondern mehr als Forscher und Lehrer. Dennoch muß ich sagen, daß ich mir Perls aufgrund seiner Schriften – trotz der Übungen am Anfang des besagten Buches – als einen jungen Intellektuellen vorstellte und nicht als einen alten erfahrenen Praktiker. Ebensoweit war ich offenbar von der Realität entfernt, wenn ich mir die Praxis der Gestalttherapie vorzustellen versuchte. Jetzt erscheint es mir, daß Fritz hinsichtlich der therapeutischen Interaktion genial veranlagt, als Theoretiker jedoch weder begabt noch angemessen ausgebildet war. In seinen frühen Jahren verließ er sich daher weitgehend auf Kollegen mit eher theoretischen Neigungen, die seinen therapeutischen Ansatz in akademischen Kreisen vorstellten, in denen die Psychoanalyse die vorherrschende Doktrin war. Dennoch bin ich der Meinung, daß die Gestalttherapie von Anfang an ihre theoretischen Formulierungen bei weitem übertraf. Sie fand jedoch erst dann wirklich zu sich selbst, als Fritz sich später in seinem Leben vollkommen von dem „elephant shit“ der Theoretiker sowie von der Notwendigkeit befreite, seine Praxis durch akademische Rationalisierungen zu rechtfertigen.

Wahrscheinlich sah Fritz Perls in meinem Artikel eine bessere Darstellung seiner Arbeit als in seinen eigenen frühen Veröffentlichungen, denn ich sah ihn in den gesamten Jahren unserer Freundschaft niemals glücklicher als damals, als er mir erzählte, wie sehr er diesen Aufsatz schätzte – nicht einmal während jenes denkwürdigen Esalen-Meetings, bei dem er das Gefühl hatte, über Maslow gesiegt zu haben, und Abraham Levitsky ins Bein biß.

Als Fritz sich seinem siebzigsten Geburtstag näherte und Jim Simkin Beiträge für eine Festschrift ihm zu Ehren sammelte, verfaßte ich einen Aufsatz mit dem Titel: Present Centeredness – Technique, Prescription and Ideal (Zentriertheit in der Gegenwart – Technik, Anwendung und Ideal)2. Nachdem Fritz den Artikel gelesen hatte, machte er den Vorschlag, die beiden Aufsätze sowie weitere Beiträge in Form eines Buches zusammenzufügen. Trotz meiner Begeisterung für Arnold Beissers Theory of Paradoxical Intention (Theorie der paradoxen Intention) und Bob Resnicks Chicken Soup is Poison (Hühnersuppe ist Gift) ging die Verwirklichung des Projekts nur langsam voran. Als ich Fritz nach etwa einem Jahr in Chile wiedertraf, berichtete er mir, daß er mittlerweile den „Miami Girls“ (Fagan und Shepherd) vorgeschlagen hatte, eine solche Sammlung zu veröffentlichen, und ich entschloß mich, selbst ein Buch über die Gestalttherapie zu schreiben.

Ich glaube nicht, daß ich ohne diese Anregung dieses Buch überhaupt geschrieben hätte. Für das Werk eines fremden Autors zu schreiben, hätte bedeutet, weniger Zeit für die Beschreibung meiner eigenen persönlichen Arbeit zu haben. Auch hatte ich das Gefühl, daß alles, was ich über das, was ich bereits geschrieben hatte, hinaus hätte sagen können, zu offensichtlich erschien. Im Laufe der Jahre jedoch – nachdem ich gelesen hatte, was seit Fagan und Shepherds Gestalt Therapy Now geschrieben wurde – bekam ich den Eindruck, daß das, was mir offensichtlich erschien, für andere keineswegs so offensichtlich war.

Außer den ersten zwei Kapiteln wurde das vorliegende Buch in den Wochen verfaßt, die auf den Tod von Fritz Perls im Jahre 1970 folgten. Da mein einziger Sohn in den Big Sur Hills tödlich mit dem Auto verunglückte, während ich auf Fritz’ Beerdigung war, wurde dieses Buch in einer Zeit tiefer Trauer verfaßt. Die Tatsache, daß ich dieses Buch überhaupt in Angriff nahm, zeigt, wie wichtig es für mich in jener Zeit war, dieses „unerledigte Kapitel“ in meinem Leben zu Ende zu bringen. In erster Linie war dies eine Zeit, in der ich mich für eine Reise bereit machte, die, wie ich in der Einleitung zu Die Reise zum Ich erläuterte, eine Reise ohne Wiederkehr werden sollte. Ich hatte mich entschlossen, mich in einer Haltung vollkommener Hingabe, einem spirituellen Lehrer anzuvertrauen. Es schien mir, daß ich noch eine Schuld an meiner Vergangenheit zu begleichen hatte, bevor ich mich auf eine neue Stufe meines Lebens begeben konnte, frei von allen Lebensplänen und Verpflichtungen. Das Gestalttherapiebuch war eines meiner unvollendeten Projekte, und die Zeit nach Fritz Perls’ Tod schien mir geeignet zu sein, es in Angriff zu nehmen.

Obwohl die Reise, die ich 1970 in die chilenische Wüste unternahm, in einem gewissen, inneren Sinne tatsächlich als eine Reise ohne Wiederkehr erschien, kam ich 1971 zurück nach Berkeley und bot Stuart Miller, der damals die Esalen-Buchreihe des Viking Verlages betreute, das Gestalttherapiebuch an. Der Verlag hatte bereits einige meiner früheren Titel, The One Quest und Die Psychologie der Meditation3 veröffentlicht. Das Manuskript wäre auch längst gedruckt worden, wenn es nicht in einem Kopierladen verlorengegangen wäre. Seither war mein Leben sowohl innerlich als auch äußerlich so geschäftig, daß überhaupt nicht daran zu denken war, in alten Aktenordnern nach den Originalen zu kramen, aus denen das Buch wieder hätte zusammengesetzt werden können. Nur ein Teil des Buches wurde unter dem Titel Techniken der Gestalttherapie veröffentlicht, zuerst nur für meine Studenten in Berkeley, dann als Bestandteil von Hatcher und Himelsteins Handbook of Gestalt Therapy4 und schließlich im The Gestalt Journal.

Dennoch ist nun die Zeit gekommen, dieses so häufig unterbrochene und verschobene Werk vor dem Hintergrund anderer Projekte Wirklichkeit werden zu lassen. Es ist wieder einmal, wie damals 1969 und 1970, Zeit, die Früchte meiner Arbeit zu ernten, wobei ich nicht nur damit beschäftigt bin, neue Bücher zu schreiben, sondern auch damit, alte fertigzustellen.

Neben den Kapiteln, die zu der früheren Version von Die Grundhaltung und Praxis der Gestalt Therapie gehören, stelle ich unter dem Titel Gestalt Therapie in neuem Licht eine Reihe von Statements vor, die in die Zeit einer Rückkehr zur Psychotherapie gehören, die sich an meine kurze, aber zutiefst lebensverändernde Pilgerfahrt nach Südamerika anschloß. Während ich in dem Buch von 1970 im wesentlichen meine Erfahrung der Gestalttherapie mit Perls und Simkin schilderte, enthält die spätere Sammlung von Essays einen kürzeren persönlichen Beitrag: der grundlegende transpersonale Aspekt von Gestalt, eine Kritik der „Löcher“ in dem Ansatz dieser Therapieform, einige Erläuterungen meiner späteren klinischen Arbeit, eine Schilderung meiner Einstellung bezüglich therapeutischer und ausbildungsbezogener Übungen einschließlich einiger besonderer Einblicke in meine persönliche „Trickkiste“ sowie Überlegungen zu Übereinstimmungen zwischen Gestalt und einigen spirituellen Traditionen. Die ersten drei dieser Aufsätze sind bereits im The Gestalt Journal erschienen (der zweite ist ein überarbeitetes Transkript der Eröffnungsansprache der Baltimore Conference 1981). Zwei weitere gehen aus Vorträgen hervor, die ich auf der Zweiten Internationalen Gestaltkonferenz in Madrid 1987 gehalten habe, während das Kapitel über Gestaltübungen – meine besondere Spezialität – eigens für dieses Buch geschrieben wurde. Kurz vor Drucklegung entschloß ich mich, ein weiteres Kapitel hinzuzufügen: Gestalt nach Fritz, das sich mit der Geschichte der Gestaltbewegung auseinandersetzt. Es beruht auf einem Vortrag, den ich auf der Vierten Internationalen Gestaltkonferenz in Siena 1991 hielt, und bedarf keiner weiteren Erläuterung.

Trotz dieser Ergänzungen gibt es jedoch noch ein Thema, das in diesem Buch fehlt: In meiner Besprechung der Lebensphilosophie, die der Gestalttherapie zugrundeliegt, habe ich es versäumt, das Vertrauen in die Selbstregulierungskräfte des Organismus zu erwähnen. Ich habe gesagt, daß Gestalt (von Seiten des Patienten) aus fünfzig Prozent Aufmerksamkeit und fünfzig Prozent Spontaneität besteht. In dem Kapitel „Integrationstechniken“ habe ich jedoch mehr das Gewahrsein als die Spontaneität betont.

Fritz Perls’ Vertrauen auf die Selbstregulierung des einzelnen ist für die moderne Psychotherapie von ähnlich wichtiger Bedeutung wie Rogers’ Vertrauen auf die Selbstregulierung von Gruppen: Beider Haltung war unabhängig von den Abgrenzungen verschiedener Strömungen und hat die psychotherapeutische Praxis durch ihren Einfluß, der verschiedene Ansätze vereinigte, nachhaltig geprägt.

Ich habe eine umfangreiche Textsuche nach dem Ausdruck „organismische Selbstregulierung“ in den Titeln und Abhandlungen von zweihundert psychologischen und medizinischen Zeitschriften angestellt, die seit 1966 erschienen sind, und es erscheint mir sehr kennzeichnend, daß die Formulierung kein einziges Mal auftaucht. Es war sicherlich Fritz Perls, der den Ausdruck populär machte, und er gebrauchte ihn auf eine Weise, die den Eindruck erweckte, als handele es sich um einen bekannten Begriff. Ich glaube, ich war nicht der einzige seiner Zuhörer, der sich in dem Glauben befand, er zitiere Sherrington oder Goldstein. Sicherlich war der Begriff seinen Hörern bekannt, und trotzdem war die unterschwellige Verwendung des Begriffs „Selbstregulierung“ im Sinne eines durch wissenschaftliche Autorität sanktionierten Konzeptes eher ein schamanistischer Taschenspielertrick. Das Vertrauen auf die Selbstregulierung des Organismus ist in der Gestalttherapie als Vertrauen auf die Spontaneität verkörpert – und diese wiederum geht Hand in Hand mit dem, was ich als „humanistischen Hedonismus“ bezeichnet habe. Das ist nichts anderes als eine biologische Übertragung des existentiellen Begriffs, „man selbst“ zu sein. In beiden Fällen ist ein Leben gemeint, das von innen heraus gelebt wird, im Gegensatz zu einem äußerlich orientierten Leben aus Gehorsam, Pflichtgefühl oder Sorge darum, wie man vor anderen erscheint. Die Ideale der Spontaneität und Authentizität beinhalten ein Vertrauen, das der innenwohnenden Vollkommenheit im Mahayana Buddismus und anderen spirituellen Traditionen ähnelt.

Es ist kennzeichnend, daß der Ort, an dem Fritz Perls die Blüte seiner Jahre erlebte und als der bekannt wurde, der er wirklich war – völlig losgelöst und fernab aller Konventionen –, das Esalen Institute war, ein Zentrum, das teilweise durch Alan Watts’ Hilfe und Unterstützung entstand und zu dessen ersten Bewohnern Gia-Fu-Feng gehörte, der damals viele Wände mit seinen wunderschönen Kalligraphien verzierte, Tai-Chi lehrte und uns später eine der zeitgemäßen Übertragungen von LaoTse schenkte. Diese äußeren Umstände kamen einer Vorliebe von Fritz für taoistische Ideen sehr entgegen, die sich in seinem Leben und Werk widerspiegeln. Wenn Fritz von „organismischer Selbstregulierung“ sprach, dann meinte er damit auch das „Tao“ zumindest im Sinne des „Tao des Menschen“, das die Taoisten vom überindividuellen „Tao des Himmels“ unterscheiden. Das „Tao des Menschen“ bezeichnet ein angemessenes, von Intuition, statt von Vernunft bestimmtes Handeln, das zudem eher dionysisch auf Vorlieben abzielt, statt im Sartreschen Sinne auf Gelegenheiten zu warten.

In seinem Festhalten an der Vorstellung von einer Selbstregulierung des Organismus stellte sich Perls nicht nur in die Nachfolge Freuds, der erstmals die schädlichen Folgen der Triebunterdrückung aufzeigte, sondern auch in die Wilhelm Reichs (seines Analytikers), der als erster mehr auf den Instinkt als auf die zeitgenössische Zivilisation vertraute. Anstelle eines eigenen Kapitels über die organismische Selbstregulierung in diesem Buch möchte ich die Thematik in dieser Einleitung umreißen, bevor ich auf das Thema Gewahrsein eingehe – ein Begriff, der für die innere Haltung der Gestalttherapie eine wichtige Rolle spielt und der vorwiegend dionysischen Qualität ihrer Ethik entspricht.

Ich habe unter der Rubrik „Theorie“ meine Aussagen über die Betonung der inneren Haltung im Gegensatz zu den Techniken der Gestalttherapie sowie meine Anmerkungen zur Gegenwartsbezogenheit zusammengestellt. Trotzdem habe ich es von Anfang an bewußt vermieden, dieses Buch „Theorie und Praxis der Gestalttherapie“ zu nennen. Die Wortwahl „Grundhaltung und Praxis“ beruht auf meiner Überzeugung, daß die Gestalttherapie nicht als die Anwendung eines theoretischen Lehrgebäudes entstanden ist, das man als ihre Grundlage bezeichnen könnte, sondern vielmehr mit einer bestimmten Weise des Daseins in der Welt zu tun hat.

Es ist in erster Linie Fritz Perls’ psychologische Perspektive, die mich interessiert, und natürlich könnten wir seine Sichtweise in allen Einzelheiten darstellen und darin – wie in Das Ich, der Hunger und die Aggression5 dargelegt – eine bestimmte Sichtweise des Ego als internem Störfaktor sowie als „Identifikationsfunktion“ entdecken. Wir würden darüber hinaus bestimmte Vorstellungen über das Selbst und seine Beziehungen finden, neben der Sicht des Organismus als offenes System innerhalb seiner Umwelt und dem ganzheitlichen Ansatz der Gestalttherapie. Obwohl wir all dies und mehr finden können, empfinde ich die psychologischen Vorstellungen Fritz Perls’ eher als den Kontext seiner Arbeit und weniger als die Grundlage, als Erläuterung, nicht als Skelett. Daher vermied ich bei der Darstellung Esalens und Herbert Ottos in I and Thou Here and Now (Ich und du hier und jetzt) Mitte der sechziger Jahre jegliche Begriffsdefinition (was von einem Kritiker in Etc.: The Journal of General Semantics besonders bemerkt wurde), indem ich die Gestalttherapie einfach als den „Ansatz, der seinen Ursprung in der Arbeit Fritz Perls’ hat“6, bezeichnete.

Als ich in den späten sechziger Jahren nach einem besseren Verständnis der „theoretischen Grundlagen“ der Gestalttherapie suchte, wendete ich mich an Gene Sagan (über den Fritz in den frühen Sechzigern sehr begeistert war und der dessen Verbindung zum Esalen Institut hergestellt hatte). Überraschenderweise sagte er mir, daß er der Meinung sei, daß die Gestalttherapie mehr mit der Stanislawski-Schule des Schauspiels zu tun habe als mit der Gestaltpsychologie. Ich stimme in dieser Beziehung noch immer mit ihm überein. Ebenso vertrat ich auf der Konferenz in Baltimore die Auffassung, daß Fritz eine wissenschaftliche Untermauerung der Gestalttherapie erst dann suchte, als er sie gegen akademische Kreise verteidigen mußte.

Ich bin weit davon entfernt, theoriefeindlich eingestellt zu sein, und habe erhebliche Einwände gegen die anti-intellektuelle Einstellung Fritz Perls’, die von vielen anderen übernommen wurde. Wenn die Gestalttherapie überhaupt eine Theorie braucht, dann ist sie nicht in einer Sammlung von Fritz Perls’ persönlichen Auffassungen zu finden, wie etwa: „Angst ist Erregung minus Atem“ oder: „zu sterben und wiedergeboren zu werden ist nicht einfach“, so tiefschürfend diese auch sein mögen. Der Psychotherapeut kann einen weitaus größeren Nutzen aus einem Verständnis der Psyche und des Wachstumsprozesses ziehen, als aus einer trockenen, spezifischen Gestalttheorie. Zumindest persönlich bin ich eher an einer Theorie von Gesundheit und Krankheit interessiert (um es anspruchsvoller auszudrücken: eine Theorie von Erleuchtung und Verdunkelung), die nicht nur die Inspirationen der Gestaltpsychologie zusammenbringen würde, sondern auch all das, was wir über Prägung, Psychodynamik und darüber hinaus über die Einflüsse der östlichen spirituellen Traditionen wissen.

Weniger ehrgeizig als ein solch umfassendes Unterfangen und dennoch relevanter als Paul Goodmans Versuch Mitte der fünfziger Jahre (jene „Gestalttheorie“, die durch die gegenwärtig sich entwickelnde Orthodoxie in der Gestalttherapie vereinnahmt wird) wäre eine „Theorie der Gestalttherapie“ – ein Vorhaben, vergleichbar mit der Theorie einer psychoanalytischen Therapie, die sich seit einiger Zeit als Alternative zur psychoanalytischen Theorie des Geistes entwickelt hat. Darüber habe ich in diesem Buch berichtet, ohne dies jedoch in den Vordergrund zu stellen, und meine Sicht kann in folgender Formel zusammengefaßt werden:

Gestalttherapie =
(Gewahrsein/Natürlichkeit + Verstärkung/Konfrontation) Beziehung

In anderen Worten: Der therapeutische Prozeß beruht auf der Seite des Patienten auf zwei transpersonalen Faktoren: Gewahrsein und Spontaneität, während der Therapeut (wie ich im Kapitel über die Gestalt-Techniken zeigen werde) die authentischen Ausdrucksformen anregt und unterstützt und Pathologisches negativ verstärkt („Ego-Reduktion“). Soweit Psychotherapie überhaupt erlernt werden kann, bildet diese Aktivität der Anregung authentischen Verhaltens und des Ansprechens der Fehlfunktionen eine Strategie; soweit Therapie eine Funktion des Grades der Wesensentwicklung des Therapeuten ist, werden beide das spontane Ergebnis ungekünstelter Beziehung und individueller Kreativität sein.

Gestalt Therapy Primer: Introductory Readings in Gestalt Therapy, F. Douglas Stephenson, ed. (Springfield, Ill.: Charles C. Thomas, 1975)

in: Fagan and Shepherd: Gestalt Therapy Now

How to Be, Claudio Naranjo, Los Angeles: Jeremy Tarcher, 1991

The Handbook of Gestalt Therapy, edited by Chris Hatcher and Philip Himelstein, New Jersey: Jason Aronson, Inc., 1990

Das Ich, der Hunger und die Aggression, F. S. Perls

„Contributions of Gestalt Therapy“ in: Ways of Growth: Approaches to Expanding Awareness, edited by Herbert Otto and John Mann (New York: Grossman, 1968)

Erster Teil

Innere Haltung und Praxis
der Gestalttherapie