Peter Köhler
LEONARDOS
FAHRRAD
Die berühmtesten Fake News
von Ramses bis Trump
C.H.Beck
Fake News gibt es nicht erst seit dem Internet. Die erste historisch belegte Falschmeldung ist über 3000 Jahre alt: der in Stein gemeißelte Bericht von Ramses’ Sieg über die Hethiter 1274 v. Chr. Peter Köhler hat sich in dieses trübe Sumpfgelände bewusster Falschmeldungen begeben und ganz erstaunliche, ziemlich erschreckende, aber auch manch lustige Fälle aus Wissenschaft, Künsten, Politik und Alltagsleben zutage gefördert. Da kann man nur mit Machiavellli sagen: «Die Menschen sind so einfältig und hängen so sehr vom Eindrucke des Augenblickes ab, dass einer, der sie täuschen will, stets jemanden findet, der sich täuschen lässt.»
Peter Köhler ist Journalist und Schriftsteller. Er arbeitet als Literaturkritiker und Satiriker für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften und hat zahlreiche Anthologien und Sachbücher veröffentlicht. Bei C.H.Beck erschienen zuletzt: Basar der Bildungslücken. Kleines Handbuch des entbehrlichen Wissens (42017) und Fake. Die kuriosesten Fälschungen aus Kunst, Wissenschaft, Literatur und Geschichte (22016).
Politik in postfaktischer Zeit
«Kaum zu glauben!»
«Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort»
Der Doppelgänger
92 Prozent Zustimmung sind zu wenig
Gemeinheiten bei der Gemeindewahl
Terror in Stade
Frisiersalon Sebastian Kurz
Ohne Hitlerbärtchen
Söderiana
Die vierte Gewalt
Wunder über Wunder
Ein toller Hecht
April, April!
Kummer mit der Wahrheit
Münchhausen, May und Meier
Sicherheit vor Schnelligkeit
Absturz einer Exklusivgeschichte
Die unheilige Familie
«Nudeln an die Ohren hängen»
Rang und Namen
Augenwischerei
USAIS
Ein Mann von bestechenden Qualitäten
Kein Platz für Frauen
Aus der Gerüchteküche
«Der Schwarzmarkt der Information»
Kinderprostitution, Mädchenhandel
Nessie, Bigfoot & Co.
«Singende Katze kennt 36 Lieder auswendig!»
Die Aliens kommen!
Wissenschaft, die kein Wissen schafft
Ein Bischofsgrab geerntet
Leonardos Fahrrad
Galileo Galilei, der Künstler
Die schmutzige Wahrheit über den Diesel
Der indische Seiltrick
Die Kristallschädel
Dichterische Freiheiten
Abaelard und Heloisa
Fälscher und Poet zugleich
Er war mal Shakespeare
«Du unsre Sonne, fester Vysehrad!»
Wanderjahre revisited
Besser als das Original
Die Wurzeln von «Roots»
Geschichten aus der Geschichte I
Das Großreich der Friesen
Die Schlacht von Kadesch
Die Phönizier in Brasilien
Der Jupiter von Nidderau
Der Runenknochen vom Maria Saaler Berg
Geköpft oder deportiert?
Päpstin Johanna
Ritualmörder! Hostienfrevler! Brunnenvergifter!
Die Wikinger im Mittleren Westen
Heilige Ketzerin
Luthers Thesenanschlag
Die Laichinger Hungerchronik
Gibt’s nicht gibt’s nicht
Nachrichten aus der Zukunft
Kölle Allah!
Gute und schlechte Lügen
Vegane Muscheln und verstecktes Schweinefilet
«Mehr Licht!»
Personen sind Schall und Rauch
Wer bin ich?
Unter falschem Namen
Auf Abwegen unterwegs
Länder ohne festen Boden
Die Vinland-Karte
Mu-Lan-Pi
Potemkinsche Dörfer
Paradies Südsee
Die gute Natur heiligt die Mittel
Geschichten aus der Geschichte II
Bismarcks Kunst des Möglichen
«Bumm! Bumm! Aber viel lauter!»
Die Kriegsbegeisterung 1914
Die Dolchstoßlegende
Der Sinowjew-Brief
Der Reichstagsbrand
25.000 oder lieber 250.000 Tote?
«Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten»
Das Puddingattentat
«Kripo erschoß Student in Notwehr»
The Games Must Go On
Finale
«Nachricht von meinem Tod stark übertrieben»
Eine schöne Leich’
Hoffentlich ein Komplott
Die todbringende Oberlippe
Ausgewählte Literatur
Personenregister
Falschheit regiert die ganze Welt.
Georg Rollenhagen
Betrügen und betrogen werden;
nichts ist gewöhnlicher auf Erden.
Johann Gottfried Seume
Ich bewundere die großen Fälschungen und Ausdeutungen;
sie heben uns über das Glück des Tiers empor.
Friedrich Nietzsche
Wir suchen die Wahrheit,
finden wollen wir sie aber nur dort, wo es uns beliebt.
Marie von Ebner-Eschenbach
Traue keinem Zitat, das du nicht selber gefälscht hast.
Winston Churchill
Wahrheit lässt sich nicht zeigen, nur erfinden.
Max Frisch
Es ging schon gut los, als Donald Trump als 45. Präsident der USA in öffentlicher Zeremonie vereidigt wurde. Bestenfalls einige hunderttausend Schaulustige nahmen am 20. Januar 2017 in Washington an den Feierlichkeiten teil, weit weniger als bei Barack Obamas Inauguration 2009, als 1,8 Millionen Zuschauer gezählt wurden. Dennoch verkündete Sean Spicer als Pressesprecher des Weißen Hauses: «Das war das größte Publikum, das jemals einer Amtseinführung beigewohnt hat. Punkt. Sowohl vor Ort als auch weltweit.» Das war, wie die Fotos und Fernsehbilder «vor Ort» belegten, falsch, doch Spicer legte ungerührt nach und drohte den Medien, die seiner Darstellung nicht folgten: «Wir werden die Presse zur Rechenschaft ziehen!»
Nach Auskunft der öffentlichen Verkehrsbetriebe waren den Fahrgastdaten zufolge nicht einmal 200.000 Personen zu Trumps Vereidigung gekommen. Doch Donald Trump glaubte lieber seinem Pressesprecher und klagte gleich am nächsten Tag, dem 21. Januar, über die «verlogenen» Journalisten. Er gab zwar nicht mehr damit an, es seien so viele Zuschauer wie nie gewesen, bauschte aber die reale Zahl auf: «Über eine Million, vielleicht sogar anderthalb Millionen» Teilnehmer hätten der Feier beigewohnt. Den Vogel schoss seine Beraterin Kellyanne Conway ab, als sie am 22. Januar im Fernsehen interviewt wurde und die falsche Behauptung von der größten jemals gemessenen Zahl an Zuschauern damit rechtfertigte, Spicer habe «alternative Fakten» präsentiert.
Damit meinte sie weder, es gebe verlässliche Zahlen aus einer alternativen Quelle, noch wollte sie eine alternative Zählweise verwendet wissen, etwa unter Hinzunahme von Internetnutzern. Die «alternativen Fakten» waren nichts als eine verführerische Bezeichnung für bewusst falsche Tatsachenbehauptungen, also Lügen.
Offenbar spielte es für das Weiße Haus keine Rolle, ob eine Aussage wahr oder falsch ist, wenn sie ins eigene Weltbild passt. Schon in den Monaten vor der Vereidigung war es damit gut losgegangen. Von 168 Behauptungen, die Trump im Wahlkampf aufstellte, entpuppten sich in der Analyse des Instituts PolitiFacts 70 Prozent als «überwiegend falsch», «falsch» oder «haarsträubend falsch». Zwei von drei Aussagen entsprachen also nicht der Wahrheit. Trump hatte z.B. die Zahl der illegalen Einwanderer mit «30 Millionen, vielleicht 34 Millionen» beziffert – es waren elf Millionen; Trump zufolge belief sich die Arbeitslosenquote auf sagenhafte 42 % – es waren 4,9 %. Trump gab an, nach dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 Abertausende jubelnder Menschen in New Jersey gesehen zu haben – kein einziger Augenzeuge kann ihn bestätigen. Hartnäckig hielt Trump an der Fama fest, der demokratische Noch-Präsident Barack Obama sei ein Muslim und nicht in Honolulu auf Hawaii, sondern in Kenia geboren worden – obwohl Obama mit seiner Geburtsurkunde, ausgestellt in Honolulu, das Gegenteil bewies. Dann wieder gab Trump Verschwörungstheoretikern Futter, als er nach dem Tod des mit 79 Jahren verstorbenen Antonin Scalia, eines erzkonservativen Mitglieds des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten, die Mär verbreitete, auf dem Gesicht des Leichnams sei ein Kissen gefunden worden.
In den Fernsehduellen mit Hillary Clinton waren es auch Grundsatzfragen, auf die der republikanische Präsidentschaftsbewerber unzutreffende Antworten gab. Er gab vor, stets gegen den Krieg der USA im Irak gewesen zu sein, was nicht stimmte; er leugnete, den Klimawandel ein von China in Umlauf gebrachtes Märchen genannt zu haben, obwohl er höchstpersönlich getwittert hatte: «Der Klimawandel wurde von und für die Chinesen erfunden, weil sie die US-Firmen aus dem Rennen werfen wollen.» Als er versprach, einen sechswöchigen bezahlten Mutterschutz einzuführen, ergänzte er das mit dem Hinweis: «Hillary Clinton hat einen solchen Plan nicht und hat auch nicht vor, jemals einen zu entwerfen.» Tatsächlich hatte Clinton ihren Plan eines zwölfwöchigen Mutterschutzes mit Lohnfortzahlung bereits ein Jahr zuvor verkündet. Trumps Trick bestand darin, weniger zu versprechen und dennoch als der sozialere Politiker zu erscheinen.
Die tollsten Geschichten setzten seine Helfer und Sympathisanten in Umlauf. Viele gehören der sogenannten Alternativen Rechten an, der Alt-Right-Bewegung. Einer ihrer führenden Köpfe ist Mike Cernovich: Er lancierte die Falschmeldung von Hillary Clintons schwerer neurologischer Erkrankung, einem Gehirntumor, und legte sein Meisterstück mit der Erfindung des «Pizzagate» genannten Skandals hin, dem zufolge die Clintons aus einer Washingtoner Pizzeria heraus einen Kinderprostitutionsring geleitet hätten (s.S. 75). Auch anonyme Trolle halfen ihrem irrlichternden Kandidaten und verbreiteten Fake News im Internet, indem sie etwa die Meldung posteten, ein gegen Hillary Clinton ermittelnder FBI-Agent sei ermordet worden oder der Papst unterstütze Donald Trump. Beide Falschnachrichten kursierten im Netz.
Nachdem Donald Trump zum Präsidenten gewählt worden war, gab er großsprecherisch an, die meisten Wahlmännerstimmen seit Ronald Reagan auf sich vereint zu haben, obwohl Bill Clinton, George W. Bush und Barack Obama mehr erhalten hatten. Als die nach der Zahl der Wahlmänner unterlegene Konkurrentin Hillary Clinton darauf verwies, dass sie mehr direkte Wählerstimmen als Trump erhalten habe, konterte der mit der Behauptung, drei Millionen illegaler Einwanderer hätten für sie votiert. Einen Beleg lieferte er nicht. Stattdessen erzählte er, der in Florida lebende Golfprofi Bernhard Langer habe ihn wählen wollen, sei aber nicht an die Wahlurne gelassen worden; daraus schloss Trump, dass viele Leute, die ihm ihre Stimme hätten geben wollen, daran gehindert worden seien. Allerdings besitzt Langer die US-Staatsbürgerschaft nicht und hat infolgedessen kein Wahlrecht. Von der Richtigstellung unbeeindruckt, begab sich Donald Trump erst einmal auf eine Dankeschön-Tour durch die USA, auf der er sich für einen Erdrutschsieg feierte, den es nicht gab.
Anschließend nahm er die Regierungsgeschäfte auf und kündigte das Pariser Klimaschutzabkommen. Dass er es fälschlich «Paris Accord» nannte, obwohl es «Paris Agreement» heißt, war nebensächlich; schwerer wog sein Argument, dass das Abkommen auf Kosten der Vereinigten Staaten ginge. Aber dass die USA mehr als andere Länder zahlen müssten, war fern der Realität: Deutschland investiert pro Kopf zwölf Dollar in den Grünen Klimafonds, Schweden sogar 60 – die USA neun Dollar.
Es folgten weitere Halluzinationen. Am 18. Februar 2017 hielt er in Florida eine Rede und wollte begründen, warum er für Bürger diverser muslimischer Länder ein Einreiseverbot durchsetzen will und die Aufnahme von Flüchtlingen aus bestimmten Staaten ablehnt. Er verwies auf die Terroranschläge in Europa: «Schauen Sie, was gestern Abend in Schweden passiert ist, kaum zu glauben!» Es war kaum zu glauben, weil in Schweden nichts passiert war.
Bereits zwei Wochen zuvor, Anfang Februar, hatte Trumps Beraterin Kellyanne Conway den geplanten Einreisestopp mit dem Hinweis auf ein «Massaker» durch zwei irakische Flüchtlinge in Bowling Green im Bundesstaat Kentucky verteidigt. Das sei während Obamas Präsidentschaft geschehen. In Wirklichkeit waren 2011 in Bowling Green zwei Iraker festgenommen und zu langen Haftstrafen verurteilt worden, weil sie Geld und Waffen für Al Kaida in den Irak schicken wollten. Einen Anschlag hatte es nicht gegeben.
Schon während des Wahlkampfs hatte Trump dem Weißen Haus vorgehalten, islamische Anschläge zu verheimlichen. (Zur Erinnerung: Trump hält Obama für einen Muslim.) Die Obama-Regierung veröffentlichte daraufhin eine Liste mit den von Trump genannten 78 Attentaten samt Angaben, wann und wo über sie berichtet worden war. Auf Trumps Liste standen sogar die streng geheim gehaltenen Anschläge von Nizza, Paris und Berlin.
Auch als US-Präsident konnte Trump nicht von Obama lassen und twitterte am 10. März 2017: «Furchtbar! Gerade herausgefunden, dass Obama mich im Trump Tower hat abhören lassen, kurz vor dem Wahlsieg.» Er fuhr fort: «Das ist wie Nixon/Watergate» und beschimpfte sogar seinen Vorgänger im Amt: «Übler Kerl!» Zwei Wochen später stellten die Chefs der Bundespolizei FBI und des Geheimdienstes NSA bei einer Befragung durch das Repräsentantenhaus klar, dass es für Trumps Anschuldigung keinerlei Beweise gibt. Das Übel saß woanders.
Im Mai 2017 attackierte Trump die Vereinten Nationen wegen Misswirtschaft: Die Weltorganisation habe ihr Budget seit dem Jahr 2000 um 140 Prozent erhöht und die Zahl der Angestellten verdoppelt. Beide Vorwürfe waren falsch: In Wirklichkeit war das Budget lediglich um 20 Prozent gestiegen und die Zahl der Mitarbeiter von weltweit 52.000 sogar auf 46.000 gesunken. Egal: Trump reduzierte die Beiträge der USA an die Vereinten Nationen.
Im August 2017 wurde Barcelona von einem islamischen Anschlag erschüttert, woraufhin Donald Trump twitterte: «Seht euch an, was ein US-General mit gefangenen Terroristen gemacht hat. Es gab 35 Jahre lang keinen radikal-islamischen Terror mehr!» Längere Nachforschungen klärten, worauf sich der erratische Tweet bezog: Anfang des 20. Jahrhunderts hatte das US-Militär auf den kurz zuvor dem spanischen Kolonialreich abgenommenen Philippinen den muslimischen Moro-Aufstand niedergeschlagen. General John Pershing hatte 50 Rebellen festgenommen und befahl seinen Soldaten, Gewehrkugeln in Schweineblut zu tränken und 49 Gefangene zu erschießen. Den fünfzigsten ließ er frei, damit er seinen Kombattanten davon berichte. Daraufhin gab es über ein Vierteljahrhundert keinen Terrorismus mehr. Was die Nachforschungen darüber hinaus ergaben: Die Geschichte von der Hinrichtung ist von A bis Z eine Legende und war längst als Unsinn entlarvt.
Im September 2017 sprach Donald Trump auf der Vollversammlung der Vereinten Nationen, lobte die Fortschritte des afrikanischen Kontinents und hob das Gesundheitssystem des Staates Nambia hervor. Doch Nambia, wo liegt es? Es gibt nur Gambia, Sambia und Namibia.
Das war ein weiteres Beispiel dafür, dass Trump unzureichend informiert ist, fehlerhaften Quellen vertraut, Fakten zurechtbiegt oder Lügen verbreitet. Die Hauptsache ist, dass eine Meldung die eigene Politik bestätigt oder die eigene Größe und Beliebtheit unterstreicht – wie im Juli 2017, als sich Trump nach einer Rede vor Pfadfindern brüstete, der Chef der Boy Scouts of America habe ihn angerufen und überschwänglich gelobt. Das war reine Erfindung, außer für ihn selbst. Trumps Pressesprecherin Sarah Huckabee, seit Juli 2017 Spicers Nachfolgerin, verlautbarte trotzig: «Ich würde nicht sagen, dass es eine Lüge war.»
Offensichtlich lassen sich Trump und seine Entourage ihre Meinung nicht von Tatsachen kaputt machen. Anders gesagt, man verwischt den Unterschied zwischen Wahr und Falsch und sorgt für ein Verwirrspiel, in dem Realität und Fiktion, Wahrheit und Lüge ineinander übergehen oder sogar Falsches richtig und Richtiges falsch wird: Wenn die Fakten nicht mit der eigenen Gefühlslage übereinstimmen, ist das schlecht für die Fakten. Allerdings erschüttert Trump mit seiner Strategie eine der Voraussetzungen einer intakten Republik: die funktionierende Öffentlichkeit, in der zumindest der Theorie nach rational und demokratisch die allgemeinen Belange diskutiert und, statt bloß Behauptungen aufzustellen, Argumente ausgetauscht werden. An die Stelle der Debatte tritt die Show, ein Kasperletheater.
Die Medien, die seine Fälschungen ans Tageslicht bringen, verunglimpft Donald Trump einfach selber als «Fake-News-Medien»: Da er die Fakten nicht bestreiten kann oder will, muss er die Glaubwürdigkeit derer, die ihm Irreführung und Unwahrheit nachweisen, erschüttern. Fernsehsender und insbesondere große Zeitungen wie die «Washington Post» und die «New York Times» werden als Sprachrohr des liberalen Establishments verdammt, das die einfachen Leute seit Jahrzehnten belüge. «You are fake news!», ruft Trump unliebsamen Journalisten zu und twittert, das Ressentiment gegen «die da oben» ausnutzend: «Die Fake-News-Medien sind nicht mein Feind, sie sind der Feind des amerikanischen Volkes!»
Es scheint egal zu sein, ob eine Aussage zutrifft oder nicht, wenn es nur der eigenen Stimmung und Weltsicht – der gefühlten Wahrheit – entspricht. «Fake News, Leute! Fake News der ‹New York Times›!», rief ein fröhlicher Trump am 26. Januar 2018 den Reportern beim Weltwirtschaftsforum in Davos zu, obwohl selbst sein Haussender Fox News die Meldung der «New York Times» (sowie der «Washington Post») hatte bestätigen müssen: dass Trump im Juni 2017 die Entlassung des Sonderermittlers Robert Mueller angeordnet hatte, der den dubiosen Russlandverbindungen Trumps und seines Teams nachging. Der Präsident hatte stets bestritten, an Muellers Rauswurf auch nur zu denken und die Justiz bei der Aufklärung zu behindern. Nun war herausgekommen, dass der Rechtsberater des Weißen Hauses, Donald McGahn, erst in letzter Minute durch Androhung seines Rücktritts die Abberufung verhindert hatte, die einen Übergriff der Exekutive auf die Legislative bedeutet und die Gewaltenteilung, die Grundlage jedes bürgerlichen Rechtsstaates, missachtet hätte.
Innerhalb eines Amtsjahres kam Donald Trump, wie die «Washington Post» zum ersten Dienstjubiläum im Januar 2018 nachzählte, auf über 2000 «falsche oder irreführende Behauptungen». Als Retourkutsche verlieh der Präsident am 17. Januar 2018 der «Washington Post» ebenso wie dem «Time Magazine» und «Newsweek» den eigens geschaffenen «Fake News Award» für falsche Berichte; allerdings kamen sie noch glimpflich weg verglichen mit CNN, der «New York Times» und «ABC News», die die ersten drei Plätze in seiner über Twitter an 42 Millionen Follower weitergereichten Rangliste belegten.
Der Kolumnist der «New York Times» Bret Stephens schrieb in einer Analyse: «Der Präsident beantwortet den durch Fakten aufgeworfenen Widerspruch nicht dadurch, dass er die Fakten bestreitet. Er bestreitet vielmehr, dass Fakten bei der Bewertung der Frage überhaupt eine Rolle spielen sollten.» Was stattdessen eine Rolle spielt, sind für die einen die Emotionen, die Trump öffentlich befriedigt. Für die anderen sind es handfeste Interessen, die offen oder verdeckt verfolgt werden, die einer reichen Oberschicht und ganz persönliche. Diese Interessen gilt es durchzusetzen, wobei der Zweck die Mittel heiligt. Trump twittert: «Sorry Leute, aber wenn ich mich auf die Fake News von CNN, NBC, ABC, CBS, washpost oder nytimes verlassen hätte, hätte ich NULL Chancen gehabt, WH [das Weiße Haus, P. K.] zu erobern.» Der Milliardär Trump ist Geschäftsmann und agiert als Politiker entsprechend. Wer Geschäfte machen will, muss die eigene Verhandlungsposition stärken: Recht hat nicht, wer mit der Wahrheit konform geht, sondern wer sich durchsetzt. Bluffen, Tricksen und Täuschen gehören dazu.
Bei Trump kommt ein starker Geltungsdrang hinzu. Der verleitet ihn auch außerhalb der Politik, die Wahrheit zurechtzubiegen. Der Trump Tower in New York hat offiziell 68 Stockwerke; in Wirklichkeit sind es 58. Ein Trump gewidmetes Titelbild des «Time»-Magazins vom 1. März 2009 hing bis Anfang 2017 in Trumps Golfclub in Florida (und in drei weiteren). Es gab jedoch an diesem Tag keine Ausgabe von «Time» und nie ein solches Cover – es war ein Fake.
Es sind offenbar «postfaktische Zeiten», in denen Realität und Einbildung durcheinandergehen, das Wunschdenken über die Tatsachen siegt und Fake News zur Wahrheit werden. Donald Trumps Präsidentschaft ist kaum deren Ursache, und es griffe zu kurz, den Präsidenten als Kindskopf, Narzissten und Neurotiker zu lästern; ebenso wäre es einigermaßen platt, von ihm pauschal auf eine infantil, narzisstisch und neurotisch gewordene US-Gesellschaft zu schließen, die in Trump ihren passenden Repräsentanten gewählt habe. Jedenfalls sollte man auch tiefer anzusiedelnde Ursachen ins Kalkül ziehen und soziale, ökonomische und kulturelle Entwicklungen bedenken: beispielsweise eine verarmte weiße Unterschicht und eine um ihren Wohlstand und ihre Sicherheit besorgte Mittelschicht. In diesen Milieus spüren viele, dass sie ihr Schicksal nicht in der Hand haben, und fühlen sich fremden Mächten ausgeliefert, als deren Sprachrohr die liberalen Medien ausgemacht werden. Infolgedessen verklären die in jenen Schichten zu verortenden Verlierer der Globalisierung eine scheinbar heile Vergangenheit, in der sie ihr sicheres Auskommen hatten und optimistisch in die Zukunft schauen konnten – eine Zeit, in der Gefühl und Wirklichkeit noch zusammenpassten. Die Wirklichkeit aber hat sich verändert: Also muss sie Fake News sein.
Rettung verheißt politisch wie ökonomisch der nationalkonservative Weiße Donald Trump. Er ist die leibhaftige Verkörperung des rücksichtslos nach Gewinn strebenden und wegen seines Erfolges beneideten Geschäftsmanns, der das Ideal einer Gesellschaft ist, in der stärker als in anderen Ländern jedes Individuum ganz allein seines Glückes oder Unglückes Schmied ist. Zwar macht Trump als Politiker so wenig Politik für die breite Masse, wie er als Kapitalist für sie Kasse macht (statt für sich selbst), aber dem Illusionskünstler gelingt ein weiteres Fake-Kunststück: der Bevölkerung weiszumachen, es falle für die Armen etwas ab, wenn man den Reichen mehr gibt.
Eine Rolle spielen vielleicht auch – Stichwort Kunst der Illusion – Religion sowie Film und Fernsehen, die die populäre Kultur stärker als in anderen westlichen Ländern prägen. Die Religion siedelt per se in höheren Sphären jenseits der empirischen Wirklichkeit, und ohnehin kann der Glaube jedes Wissen ersetzen. Das Fernsehen zeigt eine eigene Realität, die nicht mit der objektiven Wirklichkeit identisch ist. Der Film schließlich lässt die Menschen tief in erfundene Welten eintauchen, die durch ihre Sichtbarkeit suggestiv wirken, zumal die Grenze zwischen Spielfilm und Dokumentation im Laufe der letzten Jahre aufgeweicht wurde.
Doch letztlich – «it’s the economy, stupid!» – dürfte der Hauptanteil an der aktuellen Entwicklung der Wirtschaft zukommen. Trump repräsentiert eine kapitalistische Ökonomie, die außer zum Geld keine ausreichende, geschweige denn eine umfassende Beziehung zur Realität mehr hat. Was zählt, sind der Profit, die Dividende, der Erfolg – was aber wirklich richtig und falsch ist, ist wurscht.
Stefan Zweig fand ein treffendes Bild für eine Binsenweisheit: «Wahrhaftigkeit und Politik wohnen selten unter einem Dach», heißt es in seinem Porträt der unglücklichen Königin Marie-Antoinette. Der wäre ein Einfaltspinsel, der glaubt, dass es bei «denen da oben» alleweil mit rechten Dingen zugeht, wenn es doch Interessen durchzusetzen gilt, Geld und Einfluss auf dem Spiel stehen, eine wichtige Position zu besetzen, Macht zu erlangen und zu behalten ist. Da sind Politiker nicht anders als Hinz und Kunz, sie sind auch in dieser Hinsicht Volksvertreter. Nur sind sie als solche eben keine Privatpersonen, sondern sollten für die Belange der Allgemeinheit, für das wie auch immer zu verstehende Gemeinwohl stehen.
•Ob man im Dienst dieses ominösen Gemeinwohls die Unwahrheit sagen darf, ist die Frage. Am 15. September 2008 – die Weltfinanzkrise hatte nach dem Zusammenbruch der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers ihren ersten Höhepunkt erreicht – traten Kanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Peer Steinbrück vor die Presse und gaben namens der Bundesregierung ein Versprechen: «Wir sagen den Sparern und Sparerinnen, dass ihre Einlagen sicher sind.»
Das war eine Notlüge: Wenn es zum Äußersten gekommen wäre, hätte angesichts von vier Billionen Euro Spareinlagen die Garantie nicht eingelöst werden können. Merkel und Steinbrück wollten mit ihrer Zusicherung die Bankkunden abhalten, ihr Guthaben abzuziehen; genau das hatte begonnen, die 200- und 500-Euro-Scheine waren bereits knapp geworden. Die Banken hätten pleitegehen und der Interbankenmarkt zum Erliegen kommen können. Letzterer sollte stabilisiert werden, damit die Geschäfte der Geldhäuser untereinander fortgeführt werden könnten und der drohende Kollaps der deutschen Hypo Real Estate verhindert würde, die sich auf dem US-Immobilienmarkt verspekuliert hatte. (Ein Jahr später musste sie dennoch verstaatlicht werden, nachdem die öffentliche Hand 130 Milliarden Euro an Beihilfen und Bürgschaften eingesetzt hatte.)
Merkel und Steinbrück sahen einen Grund, die Öffentlichkeit zu beschwindeln: Sie wollten den Zusammenbruch des Finanzsystems abwenden, der womöglich die Weltwirtschaft in den Abgrund gerissen hätte; auf jeden Fall wollten sie Zeit gewinnen. Ob das wirklich im Interesse der Allgemeinheit lag oder die Welt nicht besser gefahren wäre, wenn das globale Finanz- und Wirtschaftssystem grundlegend hätte reformiert werden müssen? Aber Merkel und Steinbrück waren nicht gewählt worden, um Alternativen zu ersinnen, sondern um den Status quo zu bewahren und nach dem Motto «weiter so» zu regieren.
•«Niemand hat je bezweifelt, dass es um die Wahrheit in der Politik schlecht bestellt ist, niemand hat je die Wahrhaftigkeit zu den politischen Tugenden gerechnet. Lügen scheint zum Handwerk nicht nur der Demagogen, sondern auch des Politikers und sogar des Staatsmannes zu gehören», befand Hannah Arendt in ihrem Essay «Wahrheit und Politik» von 1964. Das heißt nicht, dass Politiker ständig die Unwahrheit sagen; aber die einen tun es öfter als die anderen. Eine Mitte 2016 von der Kölner Journalistenschule vorgenommene Analyse der Redebeiträge von Politikern in vier Talkrunden ergab, dass die damalige AfD-Vorsitzende Frauke Petry es mit der Wahrheit am wenigsten genau nahm: Gut ein Viertel, nämlich 26,3 % ihrer Einlassungen waren Falschaussagen – peinlich für die Vertreterin einer Partei, deren Mitglieder und Anhänger die Medien als «Lügenpresse» verunglimpfen. Bei Katrin Göring-Eckardt (Grüne) und Katja Kipping (Die Linke) belief sich der Anteil auf 15,9 % und bei Thomas Oppermann (SPD) auf 9 %, während von Armin Laschets (CDU) Meinungsäußerungen nur 6,5 % inkorrekt waren.
Die Sache hatte noch ein Nachspiel: Petry protestierte gegen die Auswertung und benannte zehn Aussagen, die ihr in der Untersuchung als «nicht belegt» oder «nicht nachprüfbar» und damit «als falsch angelastet» worden wären. Das war selber falsch, weil nicht belegte oder nicht nachprüfbare Behauptungen in der Auswertung unberücksichtigt geblieben waren.
•In einer Diskussion, in der man aus dem Stegreif argumentiert, kann es passieren, dass man ungenaue Angaben macht, Zahlen verwechselt oder sich falsch erinnert. Es muss keine böse Absicht dahinterstecken. Wenn falsche Tatsachenbehauptungen zur Gewohnheit werden, sieht das anders aus. Anders sieht es auch im Fall einer vorbereiteten Rede aus. In den Zitatenschatz eingegangen ist Uwe Barschels am 18. September 1987 auf einer Pressekonferenz gegebenes «Ehrenwort, ich wiederhole: mein Ehrenwort», mit dem der schleswig-holsteinische Ministerpräsident abstritt, Auftraggeber der gegen seinen SPD-Konkurrenten Björn Engholm angezettelten Machenschaften – Bespitzelung, Verleumdung und eine anonyme Anzeige wegen Steuerhinterziehung – zu sein. Um den genauen Wortlaut zu zitieren: «Über diese Ihnen gleich vorzulegenden eidesstattlichen Versicherungen hinaus gebe ich Ihnen, gebe ich den Bürgerinnen und Bürgern des Landes Schleswig-Holstein und der gesamten deutschen Öffentlichkeit mein Ehrenwort – ich wiederhole: Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort! –, dass die gegen mich erhobenen Vorwürfe haltlos sind.»
•Ebenso in Erinnerung geblieben ist die «Spiegel»-Affäre. Wegen angeblichen Landesverrats wurden am 26. Oktober 1962 die Redaktionsräume des «Spiegel» durchsucht, der Herausgeber Rudolf Augstein verhaftet und Conrad Ahlers – Autor des inkriminierten, am 10. Oktober erschienenen Artikels über die Bundeswehr (Titel: «Bedingt abwehrbereit») – in Spanien festgenommen. Verteidigungsminister Franz Josef Strauß leugnete seine Beteiligung an der Polizeiaktion. Am 30. Oktober sagte er im Interview mit der Frankfurter «Abendpost»: «Ich darf sagen, daß ich persönlich oder die Leitung dieses Hauses [des Bundesverteidigungsministeriums, P. K.] mit der Ingangsetzung dieser Aktion gar nichts zu tun haben.» Dem Nürnberger «8-Uhr-Blatt» beschied er am 3. November im selben Sinne: «Ich habe mit der Sache nichts zu tun. Im wahrsten Sinne des Wortes nichts zu tun.» Schließlich insistierte er auch am 9. November im Bundestag, er habe «mit diesem ganzen Verfahren nichts, rein gar nichts zu tun.»
Doch das Gegenteil war der Fall, Strauß hatte die Ermittlungen sogar am Justizminister Wolfgang Stammberger (FDP) vorbei betrieben und Ahlers’ Verhaftung persönlich angeordnet. Als die Wahrheit ans Licht kam, musste Strauß am 30. November 1962 seinen Hut nehmen.
Anders als im Fall Strauß ist die Barschel-Affäre bis heute nicht restlos geklärt. Es bleibt die Möglichkeit, dass die ruchlosen Aktionen gegen den Rivalen Engholm an Barschel vorbei von seinem Pressemann fürs Grobe, Reiner Pfeiffer, betrieben wurden. Verantwortung abzuschieben, ist allerdings ein übliches Verfahren.
•Zum Beispiel hielt auf dem 2016 in Cleveland abgehaltenen Nominierungsparteitag der Republikaner, auf dem Donald Trump zum Präsidentschaftskandidaten gewählt wurde, seine Ehefrau Melania am 19. Juli eine Rede, in der sie ihren eher als Raubein bekannten Mann als sanftmütig und fürsorglich beschrieb und auf sich selbst zu sprechen kam: Ihre Eltern hätten ihr schon früh vermittelt, «dass man hart für das arbeiten muss, was man im Leben erreichen will, und dass man sein Wort halten muss, dass man tut, was man sagt, und seine Versprechen halten muss, dass man Menschen mit Respekt behandelt. Sie brachten mir Werte und Moral bei und bewiesen sie in ihrem täglichen Leben.»
Dasselbe hatte bereits Michelle Obama, die Gattin des noch amtierenden Präsidenten, am 25. August 2008 auf dem damaligen Nominierungsparteitag der Demokraten in Denver gesagt: «Barack und ich wuchsen mit vielen gleichen Werten auf», insbesondere «dass man hart für das arbeiten muss, was man im Leben erreichen will, und dass man sein Wort halten muss, dass man tut, was man sagt, dass man Leute mit Würde und Respekt behandelt, auch, wenn man sie nicht kennt, und auch, wenn man nicht gleicher Meinung mit ihnen ist.»
Michelle Obama führte an anderer Stelle ihrer Rede aus, sie und ihr Mann wollten diese Werte «an die nächste Generation weitergeben, weil wir wollen, dass unsere Kinder – und alle Kinder in diesem Land – wissen, dass die einzige Grenze für die Größe der Erfolge die Reichweite unserer Träume ist und die Bereitschaft, hart für sie zu arbeiten.» Auch diese Passage fand sich in Melania Trumps Rede wieder: «Wir müssen diese Werte an die vielen Generationen, die folgen, weitergeben, weil wir wollen, dass unsere Kinder in diesem Land wissen, dass die einzige Grenze unserer Leistungen die Kraft unserer Träume ist und die Bereitschaft, für sie zu arbeiten.»
Zunächst stritt Donald Trumps Wahlkampfteam ab, bei der Ehefrau seines Erzfeindes Obama abgekupfert zu haben; Frau Trump behauptete, ihre Rede selbst geschrieben und lediglich «ein bisschen Hilfe» erhalten zu haben. Am Ende, als sich das Plagiat nicht mehr leugnen ließ, wurde einer Mitarbeiterin alle Schuld in die Schuhe geschoben.
•Wer spricht, wenn ein Politiker redet? Man weiß, dass sie sich Journalisten halten, die ihnen zuarbeiten und Reden schreiben. Weniger bekannt dürfte sein, dass auch der Große Vorsitzende Mao Zedong, der als wichtiger Theoretiker und Erneuerer des Marxismus-Leninismus galt, sich seine Gedanken nicht unbedingt selber machte: Nur 220 seiner 470 Reden stammen von ihm selbst, nur zwölf der unter seinem Namen veröffentlichten über 100 Schriften soll er selbst verfasst haben. Vielmehr war es ein Kollektiv unter Leitung von Maos Sekretär Tschen Po-ta, das die «Mao-Zedong-Ideen» hatte, entwickelte oder zumindest ausformulierte.
•Ob Bundespräsident Richard von Weizsäcker nun selbst schrieb oder schreiben ließ: Fest steht, dass sein am 9. Oktober 1985 auf zwei Seiten in der «taz» abgedruckter Buchmessenbeitrag aus Versatzstücken seiner Schriften und Reden montiert war. Unter der Überschrift «Das Ziel ist der Mensch» war alles an humanistischem Bildungsgut, wohlgemeinten Platitüden über Mensch und Welt sowie Tiefsinn à la «Wer auf der Autobahn immer links fährt, ist früher am Ziel seiner Kräfte und betrogen um den Gebrauch seiner Gaben» versammelt, was «Häuptling Silberlocke» populär machte. Weizsäcker selbst fiel auf das echte Fake herein. Als er bei seinem Messerundgang zum «taz»-Stand kam, baten ihn seine Kompilatoren Mathias Bröckers und Helmut Höge um ein Autogramm. Weizsäcker überflog den Artikel, stutzte: «Die Überschrift ist nicht von mir» – und mit den sehr wahren Worten: «Aber die Redaktionen machen ja sowieso, was sie wollen», setzte er seine Unterschrift drauf.
•Er machte auch, was er wollte: Bill Clinton. «Ich hatte keine sexuellen Beziehungen mit dieser Frau, Miss Lewinsky», betonte der Präsident der USA auf einer eigens einberufenen Pressekonferenz am 26. Januar 1998, um die Gerüchte über eine Affäre mit Monica Lewinsky zu zerstreuen, die 1995 als Praktikantin im Weißen Haus gearbeitet hatte.
Monica Lewinsky konnte jedoch ein Kleid vorweisen, das ihren Worten zufolge mit dem Ejakulat des 42. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika befleckt war. Sie war nach ihrer Hospitanz im Weißen Haus im Pentagon eingestellt worden und hatte die Trophäe auf Anraten einer Kollegin namens Linda Tripp aufbewahrt, der gegenüber sie vom Oralverkehr mit dem mächtigsten Mann der Welt geprahlt hatte.
Steif und fest leugnete hingegen Bill Clinton die Fellatio, obwohl er bereits eine Blutprobe hatte abgeben müssen. Auch vor der Grand Jury – einem Gremium ausgewählter Bürger, das über die Einleitung eines Gerichtsverfahrens entscheidet – hatte er geschworen, kein Verhältnis mit der Praktikantin gehabt zu haben. Erst als in der hochnotpeinlichen Affäre eine genetische Untersuchung der Rückstände auf dem Kleidungsstück angeordnet wurde, gab er klein bei und gestand, eine «unangemessene» Beziehung mit Monica Lewinsky unterhalten zu haben.
Die Republikaner, die mithilfe dieser Geschichte den Demokraten Clinton aus dem Amt jagen wollten, erreichten ihr Ziel gleichwohl nicht: Der reuige Sünder, der gesteht und Besserung gelobt, trifft in Amerika traditionell auf Sympathie. Das Repräsentantenhaus leitete zwar ein Amtsenthebungsverfahren wegen Meineids und Strafvereitelung ein, weil Clinton unter Eid das Verhältnis mit seiner Praktikantin geleugnet hatte, doch im Senat kam in 21-tägiger Debatte keine Mehrheit zustande: Am 12. Februar 1999 war das Impeachment gescheitert. Ungeschoren kam Clinton freilich nicht davon. Nach Ende seiner Amtszeit wurde ihm wegen Missachtung des Gerichts die Zulassung als Anwalt für fünf Jahre entzogen und ein Bußgeld von 90.000 Dollar aufgebrummt.
•Hohes Ansehen nicht nur im eigenen Land, sondern auch international zu genießen, ist für einen Staatsmann wichtig. Eine originelle Praxis legte zu diesem Zweck Rumäniens Staats- und Parteichef, der Conducator Nicolae Ceaușescu, an den Tag: Wenn er Geburtstag hatte, ließ er gefälschte Glückwunschtelegramme ausländischer Staatsoberhäupter veröffentlichen.
•Nicht nur das Tun und Reden von Politikern kann gefakt sein. Der Politiker selbst kann ein Fake sein, nämlich schlichtweg nicht existieren wie Werner Jock. Die Elternpartei ernannte ihn erst zum Pressesprecher und 2007 zu ihrem Vorsitzenden und konnte dies der Bundestagsverwaltung in Rechenschaftsberichten glaubhaft machen. Mit seinem Namen wurden Spendenquittungen unterschrieben, um Geld aus der staatlichen Parteienfinanzierung, deren Höhe sich nach den Einnahmen der Partei richtet, zu erhalten. 2009 stellte sich heraus, dass alles Lug und Trug war: Jock und weitere Mitglieder waren erfunden worden, um fiktive Spenden zwischen Mitglieder- und Parteikonten hin- und herzuschieben und eine sechsstellige Summe aus dem öffentlichen Fördertopf zu ergaunern. Parteigründer Dieter Gohlke, der brandenburgische Landesvorsitzende Brian Utting und die Schatzmeisterin Manuela Berlich, die alle drei wirklich existieren, fanden gnädige Richter, weil sie das Geld nicht privat verwendet hatten und nach Aufdeckung ihres Schwindels fast vollständig an die Staatskasse zurückzahlen konnten. Sie kamen mit Geld- und Bewährungsstrafen davon.
Eine Sensation meldete die türkische Zeitung «Hürriyet» am 13. Dezember 2013 auf der Titelseite ihrer Europaausgabe: Der neue deutsche Minister für Entwicklungshilfe war der Fußballer Gerd Müller, «geboren 1945, früher Star der deutschen Nationalmannschaft und von Bayern München», der «Torschützenkönig der Nationalmannschaft»!
In Wirklichkeit hatte Teamchefin Angela Merkel nicht den weltberühmten Mittelstürmer in ihr neues Kabinett berufen, sondern den 1955 geborenen CSU-Politiker Gerhard Müller. Zwar war auch er Schwabe wie sein Namensvetter, aber statt beim FC Bayern hatte er sein Leben in der Politik zugebracht. Zuletzt Parlamentarischer Staatssekretär in Diensten des Bundesministeriums für Landwirtschaft und Ernährung, war er der Kanzlerin von ihrem bayerischen Talentscout Horst Seehofer für den Kader der neuen Saison 2013/17 empfohlen worden.
Dass sich knapp 85 % der Bürger an einer Wahl beteiligen, hätte man als Erfolg werten können; die Beteiligung an Bundestagswahlen ist geringer. Dass 92 Prozent der Wähler für die staatstragenden Blockparteien votierten, hätte die Führung ebenfalls zufrieden stimmen können. Doch dem war nicht so, sie wollte mehr. Am Abend des 7. Mai 1989 verkündete Egon Krenz als Vorsitzender der Wahlkommission in den Spätnachrichten des DDR-Fernsehens das Ergebnis der Kommunalwahl: Bei einer Wahlbeteiligung von 98,77 Prozent habe die Einheitsliste der Nationalen Front 98,95 Prozent der Stimmen erhalten.
Für DDR-Verhältnisse war selbst dieses Ergebnis eine kleine Überraschung: 1,15 Prozent Gegenstimmen bedeuteten 142.000 Abweichler, so viele wie nie. In 40 Jahren DDR war die Marke von 99 Prozent Zustimmung zuvor nicht unterschritten worden. In Anbetracht der wachsenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung, die mit Blick auf Gorbatschows Politik in der Sowjetunion – Schlagworte: Perestrojka und Glasnost – auch in der DDR auf Reformen drängte, sah sich die Staatsführung zu einem minimalen Zugeständnis genötigt.
Die Lage beruhigen konnte sie damit nicht. An vielen Orten im Land hatten Abgesandte von Bürgerkomitees die öffentliche Auszählung der Stimmen beobachtet und eigene Strichlisten geführt. Im Berliner Bezirk Weißensee beispielsweise waren sie in 66 der 67 Wahllokale zugegen. Sie notierten 25.797 Ja- und 2261 Nein-Stimmen und staunten nicht schlecht, als sie am nächsten Tag im «Neuen Deutschland» das amtliche Ergebnis erfuhren: 42.007 Stimmen und damit 15.000 mehr für die Einheitsliste, obwohl nur ein Wahllokal fehlte; andererseits nur 1011 Stimmen gegen sie.
Republikweit errechneten die unabhängigen Wahlbeobachter von Gruppen wie Friedenskreis Weißensee, Grünes Netzwerk Arche oder Offene Arbeit Weimar eine Wahlbeteiligung von weniger als 85 % und einen Anteil von 7 bis 8 Prozent Neinstimmen. Die Bürgerrechtler stellten insgesamt 84 Strafanzeigen wegen Wahlfälschung. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaften blieben jedoch ohne Ergebnis. Karl-Heinrich Borchert gab als Erster Stellvertreter des Generalstaatsanwalts der DDR am 19. Mai 1989 den örtlichen Behörden die Marschroute vor: «Anzeigen sind ohne Kommentar entgegenzunehmen. Nach Ablauf der vorgesehenen Fristen für die Anzeigenbearbeitung ist von den jeweils zuständigen Organen zu antworten, dass keine Anhaltspunkte für den Verdacht einer Straftat vorliegen.»
Die Untätigkeit der staatlichen Stellen schürte den Unmut – die Folgen sind Geschichte.
Bei Wahlfälschungen denkt man an Diktaturen oder autoritäre, halbdemokratische Staaten wie Russland. Doch manipulierte Wahlen gibt es auch in der Bundesrepublik Deutschland.
•So wurden beispielsweise 2014 die Kommunalwahlen im niederbayerischen Geiselhöring zugunsten der CSU gefälscht. Bis zu jenem Jahr hatte sie dort nicht regiert. Doch diesmal eroberte sie mit elf von 20 Sitzen die Mehrheit im Stadtrat, und der christsoziale Kandidat Herbert Lichtinger löste Bernhard Krempl von den Freien Wählern als Bürgermeister ab.
Es war allerdings eine merkwürdige Wahl: Knapp 500 polnische und rumänische Spargelerntehelfer waren kurz vor der Wahl als EU-Bürger gemeldet worden. 465 gaben ihre Stimme ab, davon 460 per Briefwahl. Erstaunlicherweise kannten sie sich mit dem komplizierten, auf Kumulieren und Panaschieren beruhenden Wahlsystem aus und häufelten nahezu alle Stimmen auf fünf CSU-Kandidaten: auf ihre Chefin, die Großbäuerin Rose-Marie Baumann, auf deren Cousin, auf eine Mitarbeiterin ihres Betriebs, außerdem auf den Freund ihrer Tochter sowie auf Herbert Lichtinger. Ungewöhnlich außerdem: Die Häuser, die die Erntehelfer angeblich bewohnten, standen leer und hatten nicht einmal einen Briefkasten für die Wahlunterlagen. Die Krönung: Die Briefwahlstimmzettel waren, so ein Schriftgutachten des Landeskriminalamtes, von höchstens fünf Personen ausgefüllt worden, die wiederum auf 433 der 460 Zettel ein und denselben Stift benutzt hatten. Nebenbei stellte sich heraus, dass 85 Erntehelfer überhaupt nicht wahlberechtigt waren, weil EU-Staatsbürger mindestens drei Monate in der Gemeinde wohnen und dort ihren Lebensmittelpunkt haben müssen.
Im Februar 2015 musste die Kommunalwahl wiederholt werden. Rose-Marie Baumann opferte sich und trat aus der CSU aus, um den Weg für die Parteifreunde frei zu machen. Mit Erfolg: Herbert Lichtinger obsiegte klar, während die CSU im Stadtrat nur einen Sitz verlor.
•Schlimmer traf es den CDU-Stadtrat Holger Gebhardt aus Stendal. Das Landgericht verurteilte ihn im März 2017 wegen Wahlbetrugs und Urkundenfälschung in 299 Fällen zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten ohne Bewährung, weil er bei der Kommunalwahl vom 25. Mai 2014 Vollmachten für die Briefwahl gefälscht und die so erlangten fremden Wahlzettel selbst ausgefüllt hatte; eine der bevollmächtigten Personen hatte gleich 33 Briefwahlunterlagen abgeholt. Gebhardt gelang es auf diese Weise, bei der Briefwahl 689 Stimmen auf sich zu vereinen, was einem Anteil von 11,3 Prozent entsprach. In den Wahllokalen kreuzten nur 148 von rund 29.000 Bürgern seinen Namen an, was lediglich 0,5 Prozent ausmachte. Wie die auf den Plan gerufene Kriminalpolizei ermittelte, waren viele der angeblichen Vollmachtgeber beim Jobcenter registriert – Gebhardts Arbeitsstelle.
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