FÜR EINE WELT
MIT HERZ
1.
SCHATTEN DES KRIEGES
– GEBURT DES FRIEDENS
Es war ein dunkler Frühlingsabend im Zweiten Weltkrieg in den Niederlanden, als meine Eltern plötzlich ein lautes Klopfen an der Haustür hörten. Sie zuckten zusammen vor Angst und blickten sich besorgt an, denn das Land stand gerade unter deutscher Besatzung. Da mein Vater in einer geheimen Untergrundbewegung arbeitete, war er immer in Alarmbereitschaft, entdeckt zu werden. Er spurtete leise die Treppe hinauf in ein sicheres Versteck unter den Fußbodendielen. Inzwischen ging meine hochschwangere Mutter zur Tür, voller Besorgnis, dass ein niederländischer Kollaborateur meinen Vater verraten hatte.
Sie fürchtete, deutsche Soldaten könnten hereinstürzen, um das Haus zu durchsuchen, und machte sich Sorgen um die Sicherheit ihrer beiden Kinder, die im Obergeschoss schliefen: den dreijährigen Bobbie, der eine schwere Herzkrankheit hatte, und die zweijährige Marjoke.
Beim Öffnen der Tür erblickte sie jedoch voller Erleichterung Herrn Schön, einen ihr bekannten freundlichen Polizeikommissar. Er flüsterte: »Ich habe gute Neuigkeiten für Sie. Die amerikanischen und kanadischen Soldaten sind unterwegs. Wir werden befreit!« Ich kann nur erahnen, wie erleichtert meine Mutter über diese Nachricht war.
So schnell, wie sie konnte, lief sie nach oben, um meinem Vater die wunderbare Neuigkeit zu erzählen. Im gleichen Moment spürte sie die ersten starken Wehen, die meine baldige Geburt ankündigten. Kurze Zeit später wurde ich im Frühling 1945 im Schlafzimmer meiner Eltern in unserem bescheidenen Backsteinhaus in der niederländischen Stadt Hilversum geboren. Meine Eltern hatten vorgehabt, mich Paul zu nennen, aber da so auch ein Niederländer hieß, der zum Kollaborateur geworden war, fanden sie das nicht mehr passend. Stattdessen einigten sie sich darauf, mich Fred zu nennen. Eigentlich wäre der Name Frederik in Holland üblicher gewesen, aber aus irgendeinem Grund mochten sie meinen Namen, und ich habe mein ganzes Leben lang immer nur Fred geheißen. Jahrzehnte später machte mich jemand darauf aufmerksam, dass mein Name auf Schwedisch »Frieden« bedeutet. Das schien mir sehr passend, da ich am Scheitelpunkt zwischen Krieg und Frieden geboren wurde.
Elf Monate nach meiner Geburt wurden wir von einer Tragödie heimgesucht. Mein erst vierjähriger Bruder Bob starb an einer Infektion, die mit seiner Herzkrankheit zusammenhing. Ich kann nur erahnen, welches immense Leid meine Eltern durchmachten. Noch dazu muss sich ihre Trauer über die Jahre noch vervielfacht haben, weil Bobs Leben wahrscheinlich durch Penicillin hätte gerettet werden können, das ihnen damals aber nicht zur Verfügung stand. Über Bobs Tod wurde in unserer Familie nicht offen gesprochen, er wurde nur selten erwähnt. Ich glaube, dass meine Eltern, indem sie ihren Schmerz und ihre Not vor uns verbargen, ihren überlebenden Kindern ihr stilles Leid ersparen wollten. Außerdem war es damals einfach nicht üblich, mit Kindern über den Tod zu sprechen. Da ich erst ein Baby war, kann ich mich an das Ereignis nicht erinnern, aber rückblickend sehe ich, dass auch ich in meinem Leben immer wieder Schwierigkeiten hatte, Gefühle zu zeigen.
Wie so viele andere Menschen in den Nachkriegsjahren konnten auch meine Eltern sich nicht lange mit schmerzvollen Erlebnissen aufhalten. Das Leben musste weitergehen, und wie alle anderen, die den Krieg überlebt hatten, mussten auch sie alles daran setzen, ihr Leben wieder aufzubauen und für die junge Familie zu sorgen. Einige Jahre später, 1948, kam mein kleiner Bruder auf die Welt, und meine Eltern beschlossen, ihn Paul zu nennen. Sie mochten den Namen nach wie vor, und in der Zwischenzeit waren ihre Erinnerungen an den Krieg etwas verblasst. 1952 wurde meine kleine Schwester Anke geboren, so dass wir nun eine sechsköpfige Familie waren. Dies sollte jedoch nur bis in die 1960er Jahre so bleiben, denn es lag noch eine weitere Tragödie vor uns.
Familienleben
Unser Familienleben war behaglich und glücklich, aber auch recht streng und schlicht. Meine Mutter führte den Haushalt mit knapper Kasse, und wir bekamen nur wenig außer der Reihe. Margarine und Marmelade durften wir nur ganz dünn aufs Brot schmieren, und jeder bekam zum Essen nur ein paar dünne Scheiben Käse. Ein gekochtes Ei war ein Luxus, den es nur sonntags gab. Auch den Luxus eines gemeinsamen Bades gab es nur einmal pro Woche. Die übrige Zeit mussten mein Bruder und ich uns mit kaltem Wasser aus einem Waschbecken unterm Dachboden waschen. Wir Kinder hielten natürlich gar nichts von diesen Entbehrungen und beschwerten uns ständig darüber. Heute finde ich allerdings, dass sie eine gute Grundlage für mein weiteres Leben waren, da ich dadurch Luxus wie gutes Essen, warmes Wasser und Duschen wirklich zu schätzen lernte. Der Badeabend für uns Kinder fand immer samstags vor dem Abendessen statt. Meine beiden Schwestern kamen zuerst ins Badewasser, dann waren Paul und ich an der Reihe. Mir machte das gemeinsame Baden immer großen Spaß. Wir verbrachten Ewigkeiten damit, mit kleinen Enten und anderem Spielzeug zu spielen, und freuten uns auf das warme Abendessen und die Familienspiele danach. Die Samstagabende waren wie eine Art Party. Es machte uns viel Freude, mit unseren Eltern zahlreiche Spiele wie Monopoly und Scrabble zu spielen. Dieses einfache samstägliche Beisammensein gehört zu meinen glücklichsten Kindheitserinnerungen. Meine Mutter war immer zu Hause und sehr fürsorglich. Sie tat stets ihr Bestes für die Familie, sorgte für Essen und Kleidung, so gut sie konnte, und brachte uns gute Manieren bei. Zurückblickend verstehe ich, dass sie in jener Zeit wegen des Verlustes von Bob innerlich viel gelitten haben muss, doch sie ließ es nicht zu, dass ihre Trauer sie daran hinderte, uns die beste Kindheit zu ermöglichen, die sie uns geben konnte.
Im Gegensatz zu meiner Mutter war mein Vater meist nicht zu Hause und immer mit seiner Arbeit beschäftigt. Er war ein echter Unternehmer. Nach einer formellen Ausbildung arbeitete er zunächst in einem Immobilienbüro. Später gründete er sein eigenes Verkaufs- und Vermietungsbüro, kaufte Land und entwickelte Projekte, denn in der Nachkriegszeit gab es einen riesigen Bedarf an Wohnungen und Häusern. Die Regierung schuf viele Anreize, um die Wirtschaft anzukurbeln, etwa Steuervergünstigungen und Beihilfen für den Bau sozialer Wohnungsbauprojekte. Mein Vater hatte nicht viel Geld und nutzte diese Anreize gänzlich aus, um sein Unternehmen aufzubauen, das später den Namen Johan Matser Ltd. trug. Er war einer der ersten großen unabhängigen Bauträger der Niederlande, wenn nicht sogar der erste. Er war ein intelligenter Mann mit Weitblick, der mutig und kreativ eine bedeutende Grundstücksentwicklungsgesellschaft aufbaute.
Es wurde immer erwartet, dass Paul und ich in das Unternehmen meines Vaters einsteigen würden. Aber Paul und ich waren vollkommen unterschiedlich, und mehr als unsere Liebe zu Dinky Toys und Modellautos in jungen Jahren hatten wir nie gemeinsam. Allmählich lebten wir uns auseinander, und da ich mir andere Ziele setzte, wurde erwartet, dass Paul in die Fußstapfen meines Vaters treten würde. Doch traurigerweise sollte es nicht dazu kommen.
Was mich mein Vater lehrte
Als das Unternehmen meines Vaters immer größeren Erfolg hatte, verbesserte sich die finanzielle Situation unserer Familie, und wir hatten das große Glück, ins Ausland reisen zu können.
Als ich etwa zehn Jahre alt war, nahmen meine Eltern meine ältere Schwester Marjoke und mich auf eine Reise nach Belgien und Deutschland mit. Später machten wir auch Familienurlaube mit dem Auto und fuhren nach Frankreich, Österreich, Italien und in die Schweiz. Damals war es ziemlich ungewöhnlich für niederländische Familien, Ferien im Ausland zu machen, daher hatten wir großes Glück. Ich erinnere mich sogar, in meiner Grundschule das erste Kind gewesen zu sein, das über die Niederlande hinausgekommen war.
Ich fand diese Reisen immer unglaublich spannend mit all den neuen Eindrücken und Erlebnissen. Meine Geschwister und ich kämpften immer um den Fensterplatz im Auto, um die beste Sicht zu haben. Ich erinnere mich lebhaft daran, wie ich zum ersten Mal hohe Berge mit Seen und schneebedeckten Gipfeln sah. Ich hatte noch nie zuvor Berge gesehen, da mein Heimatland, die Niederlande, fast vollständig flach ist. Ich glaube, dass diese Reisen meine Augen für eine größere Welt öffneten.
Das Büro meines Vaters befand sich ursprünglich hinter der Garage auf der Rückseite unseres Hauses. Als die Firma größer wurde, baute er immer neue Räume an, bis schließlich ein Büro mit fünf Räumen in unserem Garten stand. Das bedeutete, dass unser Privatleben eigentlich nicht mehr wirklich privat war, weil jeder, der das Büro besuchte, durch die kleine Gasse zwischen der Garage und unserem Haus gehen musste.
Damals war es normal, sechs Tage pro Woche zu arbeiten, deshalb riss der Strom von Menschen, die bei uns ein- und ausgingen, auch samstags nicht ab, und meine Mutter machte pausenlos Kaffee. Vielleicht haben mir diese Erfahrungen geholfen, mit den unterschiedlichsten Menschen leicht zurechtzukommen.
Mein Vater hatte ein großes Verantwortungsgefühl für seine Angestellten. So war er gerne freigebig und verteilte spontan Gehaltszuschläge, wenn er ein erfolgreiches Geschäft abgeschlossen hatte. Oft bot er anderen an, sich an lukrativen Geschäften zu beteiligen. Am 25. Hochzeitstag meiner Eltern tat mein Vater etwas damals völlig Unbekanntes: Er führte eine beitragsfreie betriebliche Vorsorge für alle seine Angestellten ein. Obwohl diese Vorsorge einen großen Teil seines Kapitals ausmachte, freute er sich, das tun zu können. Es war meinem Vater wichtig, für seine Angestellten die besten Bedingungen zu schaffen. Er hatte ein aufrichtiges Interesse an ihrem Wohlergehen und besuchte sie auch zu Hause oder im Krankenhaus, wenn sie krank waren. Außerdem legte er Wert darauf, körperlich behinderte Menschen einzustellen und ihnen gleiche Chancen einzuräumen. Alle diese Initiativen waren damals ziemlich selten anzutreffen und zeugen von seiner innovativen, philanthropischen Einstellung, die auch mich inspirierte. An sehr heißen Tagen war er sogar bekannt dafür, sein Büro zu schließen und alle seine Angestellten mit zum Schwimmen zum nahegelegenen See zu nehmen! Außerdem hatte er viel Sinn für Humor und machte gerne Späße.
Besonders gut kann ich mich daran erinnern, wie ich ihn einmal zu einem Treffen mit dem Bürgermeister von Hilversum begleitete. Als der Bürgermeister kurz den Raum verlassen musste, holte mein Vater zu meinem Erstaunen einen künstlichen Hundehaufen aus seiner Tasche. Er zwinkerte mir zu, platzierte ihn schelmisch auf dem makellosen Teppich und wartete darauf, dass der Bürgermeister zurückkam. Sobald der Bürgermeister sich wieder gesetzt hatte, schaute mein Vater in Richtung des Hundemalheurs, und der Bürgermeister folgte seinem Blick. Als der den Haufen erblickte, sprang er mit entsetzter Miene auf und lief, nach einer Reinigungskraft rufend, hinaus. In der Zwischenzeit hob mein Vater den künstlichen Hundehaufen wieder auf und versteckte ihn in seiner Tasche. Als der Bürgermeister mit einer Reinigungskraft zurückkehrte und auf die Stelle zeigte, wo sich der falsche Hundehaufen befunden hatte, war nichts mehr zu sehen. Er sah sich verwirrt um, während die Reinigungskraft ihn anstarrte, als sei er verrückt. Mein Vater lächelte einfach nur und sagte nichts, aber wir wechselten einen Blick und hatten großen Spaß an diesem Schabernack.
Schulzeit
Meine Grundschule war zehn Minuten Fußweg von meinem Zuhause entfernt, und ich besuchte sie sechs Jahre lang. Woran ich mich vor allem erinnere, ist, dass ich gezwungen wurde, mit rechts zu schreiben, obwohl ich eigentlich Linkshänder bin. Obwohl ich glaube, ein ganz guter Schüler gewesen zu sein, war ich nicht besonders erpicht darauf, Hausaufgaben zu machen. Damals war ich leicht abzulenken, und meine große Leidenschaft war Sport. Vor allem liebte ich Hockey und ging bei jeder Gelegenheit zum Hockey-Club. Auch Skifahren mochte ich sehr gern. Darunter litten natürlich meine schulischen Leistungen, und am Ende musste ich zwei Stufen im Gymnasium wiederholen. Irgendwann wurde ich dann aber wieder disziplinierter. Ich hatte einen Klassenfreund – er war zwei Jahre älter als ich –, der dieselbe Entscheidung traf wie ich. Wir lernten viel gemeinsam, und am Ende schloss ich mit gerade 19 Jahren und ziemlich guten Noten erfolgreich die Schule ab. Ich hatte vor, Psychologie oder Soziologie zu studieren. Ich interessierte mich auch für Geografie und Wirtschaft, weil ich in diesen Fächern sehr gute Lehrer gehabt hatte. Die beiden hatten mich dafür begeistert, und ich wollte deshalb einfach mehr darüber erfahren. Aber es sollte alles ganz anders für mich kommen.
Ein unerwartetes Angebot
In meiner Teenagerzeit begann sich der Gesundheitszustand meines Vaters zu verschlechtern. Erst war bei ihm in den späten 1950er Jahren Diabetes diagnostiziert worden, später dann die Parkinson-Krankheit (mit dem Rigor-Symptom). Als sich sein Zustand verschlimmerte, wurde es schwer für ihn, sein Gleichgewicht zu halten, und er bekam immer mehr Schwierigkeiten zu sprechen. Aus seinem Mund tropfte Speichel, und er musste oft sein Taschentuch darüber halten. Es war nicht einfach für ihn, besonders in seiner Position als Geschäftsführer einer größeren Firma. Doch trotz dieser Schwierigkeiten arbeitete er weiter. Mittlerweile hatte seine Firma mehrere Niederlassungen, und je nach Auslastung beschäftigte er ständig 120 bis 200 Mitarbeiter. Nach dem Abendessen machte mein Vater immer einen Spaziergang. Wegen seines Diabetes war er sehr gewissenhaft, was körperliche Bewegung betraf. Eines von uns Kindern musste immer mit ihm gehen, wir hatten die Wahl zwischen Spazierengehen und Abwaschen. Doch das Abwaschen war immer die erste Wahl, weil es nicht so lange dauerte. Daher musste mein Vater oft einen von uns aussuchen, um ihn auf seinem Spaziergang zu begleiten.
Einmal im Frühling 1964 fiel die Wahl meines Vater auf mich. Damals war ich gerade dabei, mir darüber klar zu werden, was ich nach dem Abschluss des Gymnasiums studieren wollte. Ich erwartete, dass er mich auf dem Spaziergang dazu befragen würde. Als wir jedoch eine mit alten Bäumen gesäumte Straße entlanggingen, wandte mein Vater sich mir zu und bat mich aus heiterem Himmel, in das Familienunternehmen einzusteigen.
Ich war schockiert über dieses Angebot. Es war eine absolute Kehrtwende für meinen Vater. Meine gesamte Schulzeit hindurch war er immer nur darauf aus gewesen, dass ich gute Abschlussnoten bekam, damit ich studieren konnte. Und jetzt sagte er: »Komm in meine Firma, statt an die Uni zu gehen, und werde mein Nachfolger! Ich kann nicht auf Paul warten, weil meine Gesundheit sich weiter verschlechtert.« Paul standen noch zwei weitere Schuljahre bevor, und ich erkannte, dass mein Vater sich bewusst sein musste, wie schnell sich sein Gesundheitszustand verschlimmerte und dass er seine Arbeit vielleicht nicht wie gehofft weiterführen konnte.
Zwei Jahre zuvor war die Firma meines Vaters in eine große Villa in der Nachbarschaft umgezogen. Mir wurde klar, dass ich, wenn ich dort arbeiten würde, die ganze Zeit bei meinem Vater sein würde: Ich würde ihn im Büro sehen, und ich würde ihn zu Hause sehen, weil ich noch dort wohnte. Es würde auch bedeuten, meinen Traum aufzugeben, zu studieren, Freunde an der Uni zu sehen und in einer Studentenbude zu leben. Ich war völlig durcheinander und wusste nicht, wie ich auf die Bitte meines Vaters reagieren sollte. Ich sagte ihm, dass ich ein paar Tage darüber nachdenken müsste, bevor ich ihm eine Antwort geben könne. Was sollte ich tun? Ich wusste es einfach nicht.
Ein paar Tage später traf ich die Entscheidung, der Bitte meines Vaters zu folgen. Angesichts seiner Krankheit hatte ich das Gefühl, dass ich einfach nicht nein sagen konnte. Gleichzeitig widerstrebte es mir aber, meine Lebenspläne aufzugeben. Ich zeigte mich einverstanden, ein Jahr lang in das Unternehmen einzusteigen, unter der Bedingung, dass es mir danach freistehen würde, meine Wahl nochmals zu überdenken. Natürlich hatte diese Entscheidung auch Folgen für meinen Bruder Paul. Es schien ihm aber nicht wirklich etwas auszumachen, da er damals anscheinend kein besonderes Interesse an der Firma hatte, und auch später nicht, wie sich noch herausstellen sollte. Nachdem ich also das Gymnasium erfolgreich abgschlossen hatte, stieg ich im Alter von 19 Jahren in das Unternehmen meines Vaters ein.
Wachsende Verantwortung
Mein Vater stellte sich die Sache so vor, dass ich jede Abteilung mehrere Monate lang kennenlernen sollte – Marketing, Verkauf, Entwicklung, Finanzen, Design, Bau und so weiter –, um mir einen genauen Überblick über die gesamte Firma zu verschaffen. Ich fing als Empfangsmitarbeiter an. Zu meinem großen Erstaunen gab mir mein Vater schon nach einer Woche einen Schreibtisch auf der Vorstandsetage direkt um die Ecke zu seinem. Er sagte, ich sei von jetzt an sein Assistent und solle an allen Versammlungen teilnehmen. Und zu meinem weiteren Erstaunen begann er, ohne mich vorher zu fragen, mich als seinen Nachfolger vorzustellen. Diese Behauptung war gegen unsere Vereinbarung, die ja lautete, dass ich die Freiheit hatte, mich nach einem Jahr anders zu entscheiden. Einerseits war ich natürlich stolz, dass er mich zu seinem Nachfolger ernannte, aber andererseits fühlte ich mich in der Falle. Ich fand die Vorstandssitzungen langweilig und uninteressant und konnte es kaum erwarten, bis es endlich halb vier wurde und ich zu meinen Freunden fahren konnte, die ihr Studentenleben in Utrecht genossen. Wir hatten eine Menge Spaß zusammen, tranken Bier und feierten Partys. In meinem ersten Berufsjahr kam ich oft erst frühmorgens ins Bett, musste dann aber ein paar Stunden später schon wieder aufstehen, weil ich um 8.30 Uhr im Büro sein musste. Es war ein ziemlich wildes Leben. Meine Freunde waren erstaunt, dass ich Partys feiern und danach noch zur Arbeit gehen konnte, während sie noch schliefen, das war ich allerdings selbst auch! Auch Sport machte ich noch sehr viel. 1966 trainierte ich neben meiner Arbeit in der Firma meines Vaters noch intensiv für die Niederländischen Skimeisterschaften. Am Ende konnte ich nicht daran teilnehmen, weil ich mir leider zwei Wochen vor dem Wettbewerb bei einem Skiunfall den Daumen gebrochen hatte. Aber im selben Jahr wurde ich Vorstandsmitglied des Niederländischen Skiverbandes.
Meine einjährige Frist in der Firma kam und ging. Ich arbeitete weiter bei meinem Vater und war mir unsicher über meine Zukunft. Zweimal fragte ich meinen Bruder, ob er meinen Platz in der Firma einnehme würde. Wenn er akzeptierte, würde ich mit meinem Studium anfangen können. Aber beide Male lehnte er ab. Das erste Mal direkt, nachdem er die Schule abgeschlossen hatte, und das zweite Mal, als er nach einem Jahr sein Jurastudium abbrach. Meine Schwestern kamen für diese Rolle nicht in Betracht, da es damals noch sehr selten war, dass Frauen Führungspositionen einnahmen. Da es also keinen anderen in der Familie gab, der meinen Platz einnehmen konnte, war es sehr schwierig für mich, wieder aus der Sache herauszukommen.
Nachdem ich sorgfältig überlegt hatte, beschloss ich am Ende, in der Firma zu bleiben und mich dort stärker zu engagieren. Ich besuchte wöchentlich Abendkurse in Amsterdam, um zugelassener Immobilienmakler zu werden, da ich das für nützlich für das Geschäft hielt. Nach zwei Jahren bestand ich erfolgreich die Abschlussprüfung. Während ich den Betrieb besser kennenlernte, scheute ich mich nie, viele Fragen zu stellen, was mir unter anderem am meisten half. Damals war so eine Vorgehensweise ziemlich ungewöhnlich, da die betrieblichen Strukturen wesentlich hierarchischer waren als heutzutage. Es wurde erwartet, dass man ohne nachzufragen dem Rat oder den Vorschlägen erfahrener Mitarbeiter folgte. Als ich alle meine Fragen stellte, merkte ich, dass viele Mitarbeiter, sogar wesentlich ältere und erfahrenere als ich, oft gar keine Antwort auf meine Fragen hatten oder nicht wirklich wussten, wovon sie sprachen. Das gab mir die Zuversicht, meine eigenen Vorstellungen und Methoden zu erarbeiten und zu entwickeln, denn ich lernte, dass es immer mehr als eine Antwort auf eine Frage gab und keine festgelegten Verfahrensweisen, wie etwas zu erledigen war.
Allmählich fing ich an, die Arbeit mehr zu mögen, und hatte Freude an der Herausforderung. Mit 23 Jahren war ich Vorstandssekretär, mit 25 Vorstandsmitglied, und mit 27 wurde ich zum Geschäftsführer ernannt. Es war ziemlich ungewöhnlich, so jung so viel Verantwortung zu tragen, aber wegen der Krankheit meines Vaters ging es nicht anders.
Ich bin allen meinen Kollegen und Mitarbeitern dankbar, dass sie mich in diesen Positionen akzeptierten und unterstützten. Rückblickend kann ich feststellen, dass ich schon immer früh verantwortungsvolle Positionen eingenommen habe, zum Beispiel in der Schule und im Sport, und vielleicht von Natur aus für solche Rollen geschaffen bin. Später, als ich in der Firma meines Vaters arbeitete, wurde ich auch in einigen nationalen und internationalen Organisationen im Bereich der Grundstücksentwicklung aktiv und hatte dort führende Positionen inne.1 Ich hatte schon immer großes Interesse daran gehabt, Ideen auszutauschen und von anderen zu lernen. Damals war ich stolz, in diese Positionen gewählt worden zu sein, und mochte vieles an meiner Arbeit, weil ich spürte, dass ich wirklich etwas bewirken konnte. Wenn ich jetzt zurückblicke, fühle ich mich aber eher geehrt und dankbar als stolz, die Möglichkeit erhalten zu haben, diese Funktionen auszuüben. Ich sehe, dass ich weitreichende Erfahrungen sowohl im Bereich der Grundstücksentwicklung als auch darüber hinaus sammeln und eine Menge über Mitarbeiterführung und Kooperation lernen konnte. Das half mir sehr, meine Rollen im Familienunternehmen über die Jahre weiterzuentwickeln. Mit Anfang 30 wurde mir angeboten, Vorstandsmitglied eines wesentlich größeren Unternehmens zu werden. Ich lehnte ab, da es bedeutet hätte, die Firma meines Vaters zu verlassen. Das Angebot bedeutete mir jedoch viel, weil es mir das Gefühl gab, dass ich nicht nur als Sohn meines Vaters gesehen wurde oder als jemand, der in diesem Geschäft aufgestiegen war, ohne etwas dafür tun zu müssen. Ich merkte, dass ich für meine Talente und Fähigkeiten anerkannt wurde.
Während meiner Arbeit für Johan Matser Ltd. hatte ich viel Freude an den kreativen Herausforderungen der Projektentwicklung. Ich befasste mich gerne damit, wie man am besten Raum schafft und Gebäude attraktiv und funktionell gestaltet und dafür sorgt, dass sie Gewinn einbringen. Das ließ mich ein neues Projekt entwickeln, das mein Vater begonnen hatte, nämlich das Zentrum unserer Heimatstadt Hilversum zu verjüngen. Mit der Absicht, den verfügbaren Raum bestmöglich zu nutzen, entwickelte ich einen Plan für ein multifunktionelles Zentrum nicht nur mit Einkaufsmöglichkeiten, sondern auch mit einem Fitnesscenter. Der Neubau sollte sich nahtlos in das Bild der anderen Gebäude einfügen. Unsere Firma entwickelte außerdem ein innovatives Fußballstadion mit Büroräumen unter den Tribünen und doppelter Parkplatznutzung – für Büromitarbeiter während der Woche und Fußballfans am Wochenende.2 Während dieser ganzen Zeit erfuhr ich enorme Unterstützung von meinen Vorstandskollegen, Mitarbeitern und den Projektteams. Zudem gab es sehr kompetente Leute, die sich um die bauliche Seite kümmerten, was mir die Freiheit gab, mich mehr auf das Kreative zu konzentrieren. Bis heute bin ich sehr dankbar für diese Kooperation und Unterstützung, die es mir ermöglichte, mich an vielen nützlichen und lohnenden Projekten zu beteiligen.
Ich will nicht mehr!
Letztendlich arbeitete ich so in Vollzeit von 1964 bis 1982. Rückblickend war meine Arbeit in der Grundstücksentwicklung recht lohnend. Ich kann mich aber auch an viele schwierige Zeiten erinnern, besonders in den ersten Jahren bis 1972, als ich an der Seite meines Vaters arbeitete. Die Schwierigkeiten ergaben sich größtenteils aus meiner doppelten Rolle als Sohn und Angestellter und verstärkten sich durch den schlechten Gesundheitszustand meines Vaters. Einerseits war ich ein jüngerer Vorstandskollege von ihm. Andererseits war ich oft sein Betreuer und Dolmetscher auf Versammlungen. Als sich das Sprachvermögen meines Vaters verschlechterte, war ich einer der wenigen, die ihn noch verstehen konnten.
Ich war immer derjenige, der bei Verhandlungen und auf Versammlungen seine Meinungen und Wünsche weitergab. Gleichzeitig hatte ich aber natürlich auch noch eigene, oft ganz andere oder sogar gegensätzliche Ansichten und Meinungen, die ich natürlich auch anbringen wollte. Oft war es deshalb so, dass ich, nachdem ich die Position meines Vaters verdeutlicht hatte, erneut das Wort ergriff, um meine eigenen Ansichten vorzubringen. Das war ziemlich heikel und unangenehm, und wir hatten deshalb viele schwierige Situationen.
Es muss auch für meinen Vater sehr frustrierend gewesen sein, sich nicht mehr selbst klar und deutlich ausdrücken zu können, und manchmal griff er deshalb zu anderen Mitteln. Ich erinnere mich, wie wir einmal auf einer Versammlung waren und mein Vater nicht mit dem einverstanden war, was die anderen Teilnehmer sagten. Da er nicht deutlich mitteilen konnte, was er sagen wollte, stand er auf, schlurfte in den Nebenraum und kehrte mit einem Stock und einem Paar Mini-Boxhandschuhen zurück, die er in einem speziellen Schrank voller Scherzartikel aufbewahrte. Er steckte die Handschuhe auf den Stock und begann zur großen Überraschung der Anwesenden, sie damit anzustoßen, um so zu zeigen, dass er kampfbereit war, was das Thema anbelangte.
Während ich als sein Dolmetscher agierte, sorgte ich in der Firma auch körperlich für meinen Vater, indem ich sein Taschentuch nahm und ihm den Speichel von den Lippen wischte oder ihm beim Mittagessen half. Natürlich half ich ihm gerne, wann immer ich konnte, aber dennoch war es für uns nicht einfach, diese beiden Rollen miteinander zu vereinbaren. Im Büro saßen mein Vater und ich uns im selben Raum gegenüber. Wir hatten recht oft Meinungsverschiedenheiten über geschäftliche Dinge, und ich fand diese Konflikte schwierig und belastend. Ich wusste, dass mein Vater einen großen Erfahrungsschatz und enormen Einblick in das Geschäft hatte und respektierte seine Ansichten, aber ich fand es auch wichtig, meinen eigenen Überzeugungen treu zu bleiben. Da ich im Schließen von Kompromissen nicht so gut war wie mein Vater, führten wir oft hitzige Debatten.
Manchmal wurde mir alles zu viel, und ich wollte alles aufgeben. Einmal war ich nach einem großen Streit so wütend, dass ich meine Tasche packte und beschloss zu gehen. Weil ich so aufgewühlt war, genierte ich mich, vor der Empfangskraft hinauszugehen, deshalb kletterte ich einfach aus dem Fenster im Erdgeschoss, sprang über den Zaun und ging nach Hause. Aber selbst da konnte ich nicht wirklich entkommen, da ich ja immer noch bei meinen Eltern wohnte und meinem Vater gegenübertreten musste, sobald er nach Hause kam. Ich fühlte mich gänzlich in der Falle, weil ich einerseits nirgendwo anders hin konnte und andererseits das Gefühl hatte, dass ich meinen Vater und die anderen Mitarbeiter nicht einfach so im Stich lassen konnte. Mit 23 Jahren beschloss ich, neben meiner Arbeit noch Betriebswirtschaftskurse an der Universität von Amsterdam zu besuchen. Das kam ein bisschen meinem Wunsch entgegen, einen tieferen Einblick in Wirtschaft und Handel zu bekommen. Alles in allem war meine Arbeit bei und mit meinem Vater eine zweischneidige Erfahrung. Die langen Versammlungen und die Meinungsverschiedenheiten konnte ich nicht leiden, aber was mir große Freude bereitete, war das Kreative und der Kontakt mit Menschen. Ich lernte sehr viel!
Umgang mit Unehrlichkeit
Unsere Firma war angesehen für ihre Integrität und innovativen Lösungen. Als Pioniere in der Energieeffizienz gehörten wir in den frühen 1970er Jahren zu den ersten Entwicklern von Häusern mit sehr hoher Wärmedämmung. Außerdem erhielten wir mehrere Auszeichnungen im Designbereich. Während meiner Arbeit in dieser Branche begegnete ich vielen wunderbaren, guten und ehrlichen Menschen, bekam aber auch aus erster Hand die weniger attraktiven Seiten des Geschäftes mit und lernte auch solche Menschen kennen, die den unehrlichen Weg einschlugen. Die Grundstücksentwicklungsbranche in den Niederlanden hatte damals keinen besonders guten Ruf, es gab viele Berichte über Korruption und Bestechung. In meinem Arbeitsleben kam ich mehrmals in Berührung mit dieser Schattenseite und fand dies immer sehr beunruhigend. Ein Beispiel war ein Ereignis in den späten 1970er Jahren, als ich einen Subunternehmer zu mir nach Hause einlud, der abschätzen sollte, wie viel eine Hauserweiterung kosten würde.
Ich kannte den Mann, der ein bisschen älter war als ich, schon seit vielen Jahren, da er mehrmals Arbeiten für unsere Firma erledigt hatte. Er hatte einen guten Ruf. Ich vertraute ihm und wusste, dass seine Arbeit gut und seine Preise fair waren, weshalb ich beschloss, ihn einzuladen, um mir einen Kostenvoranschlag zu unterbreiten. Damals verhandelte er gerade einen großen Hausbauvertrag mit der technischen Abteilung unserer Firma.
Als er für den Kostenvoranschlag vorbeikam, ließ er zu meiner Überraschung durchblicken, dass er, wenn er den Vertrag für das Wohnbauprojekt bekäme, die Gesamtkosten für meine eigene Hauserweiterung darin »unterbringen« könnte. Mit anderen Worten: Falls er den Auftrag unserer Firma erhalten sollte, würde ich meine Hauserweiterung kostenlos bekommen. Ich war entsetzt, besonders weil wir uns schon lange kannten und ich eigentlich dachte, dass er wusste, dass ich ehrliche Geschäfte führte, und er jedes Mal, wenn er für unsere Firma arbeiten durfte, den Auftrag nur aufgrund seiner bisherigen Leistung erhalten hatte. Ich sagte ihm ohne Umschweife, dass ich bei so einem Deal nicht mitmachen würde.
Solche Angebote oder »Gelegenheiten« können im Geschäftsleben immer wieder auftauchen, und für viele Menschen sind sie verlockend. Ich hatte allerdings von Anfang an beschlossen, so etwas nicht zu akzeptieren. Und zwar weil ich mich dafür entschied und mich auch jetzt noch dafür entscheide, mit Anstand, Offenheit und Ehrlichkeit zu arbeiten. Ich wusste, dass das geschäftliche Folgen haben würde, und infolge dieser Einstellung verpasste unsere Firma ganz klar auch einige größere und kleinere Geschäftschancen. Aber ich war fest davon überzeugt, dass sich uns anstelle dieses korrupten Geschäftes andere, redliche Chancen bieten würden – was sich auch bewahrheitete. Ich finde, es ist einfacher, ehrlich zu sein und abends mit reinem Gewissen ins Bett gehen zu können.
Dieselbe Einstellung erwartete ich natürlich auch von unseren Mitarbeitern und sagte ihnen, dass, wenn ihnen jemals Bestechungsgelder angeboten würden, sie mir dies sofort mitteilen mussten. Eines Tages sagte mir ein Mitarbeiter, dass ihm von einem unserer Subunternehmer eine Küche zum ermäßigten Preis angeboten worden sei. Ich hörte mich um und fand heraus, dass mehrere Mitarbeiter, die für die Auftragsvergabe zuständig waren, sich bereits solche Küchen zum Schleuderpreis hatten einbauen lassen! Wegen dieses Fehltritts entließ ich sie nicht sofort, bestand aber darauf, dass diese Gewohnheit aufhören musste und so etwas nicht noch einmal passieren durfte. Wenn ich an Korruption denke, hatte ich wohl Glück, nie in so schwierigen Umständen zu stecken, um gezwungen zu sein, solche Angebote anzunehmen. Einerseits glaube ich, dass ein solches Verhalten nicht in meiner Natur liegt – es geht einfach zu sehr gegen meine persönlichen Überzeugungen. Aber andererseits – wenn meine Situation anders wäre und ich oder eines meiner Kinder in einer Notlage wären, woher kann ich wissen, wie ich dann handeln oder reagieren würde? Ich finde, niemand kann mit Sicherheit sagen, was genau er tun würde, wenn er noch nicht selbst in der Lage gewesen ist.
Mein Bruder Paul
Mein jüngerer Bruder Paul liebte Musik, besonders lateinamerikanische Musik, und begeisterte sich für Stereoanlagen und anderes Sound-Equipment. Als sich die Gesundheit meines Vaters verschlechterte, wollte er Paul helfen, einen festen Lebensunterhalt zu verdienen, da er inzwischen sein Studium abgebrochen hatte. Da mein Vater von Pauls Musikbegeisterung wusste, kam er auf die Idee, ihm ein Musik- und Elektrogeschäft zu kaufen, um es zu leiten.
Das Geschäft verkaufte Radios, Schallplatten, Fernseher und einige Haushaltsgeräte wie Waschmaschinen und Kühlschränke. Über dem Geschäft befand sich eine Wohnung, in der Paul leben konnte. Paul nahm den Job an, allerdings ohne großen Enthusiasmus. Er war erst Anfang 20 und verantwortlich für die Leitung des gesamten Geschäftes mit etwa 20 Mitarbeitern. Das Geschäft lief nicht besonders gut und machte Verluste. Es schien irgendwie alles zu viel für Paul zu sein, obwohl er keinen unglücklichen Eindruck machte. Am 4. August 1970 erhielten wir eine schreckliche Nachricht – ein Arbeitskollege von Paul rief mich morgens an und sagte, Paul sei nicht zur Arbeit gekommen. Er und ein anderer Kollege waren hinauf zu Pauls Wohnung gegangen, und da ihnen niemand öffnete, betraten sie die Wohnung, um nach ihm zu suchen. Zu ihrem Entsetzen fanden sie Paul tot vor. Diese Nachricht war ein grauenvoller Schock für unsere ganze Familie. Ich hatte noch am Vorabend mit Paul telefoniert, es schien ihm gut zu gehen. Es war zu schwer zu verstehen, was geschehen war. Doch unser Schock sollte noch schlimmer werden, denn schon bald wurde offensichtlich, dass Paul sich das Leben genommen hatte. Nichts hatte unsere Familie darauf vorbereitet; wir hatten keine Ahnung gehabt, dass er überhaupt an so etwas dachte, und wir konnten einfach nicht verstehen, warum er es getan hatte.
Damals war Selbstmord ein Tabuthema, so dass die Familie, mich eingeschlossen, es vorzog, die wahren Details über Pauls Tod vor den meisten Menschen zu verbergen. Die Leute bekamen erzählt, er sei an einem Herzproblem gestorben, genau wie schon mein Bruder Bob. Über Pauls Selbstmord wurde danach nur selten gesprochen, weder innerhalb noch außerhalb der Familie. Wir wissen bis heute nicht, warum Paul sich das Leben genommen hat, und finden es nach wie vor schwierig, darüber zu reden, weil das Thema so schmerzhaft ist. Mit der Zeit merkte ich jedoch, dass es nicht richtig war, die Wahrheit weiter zu verstecken, und so begann ich über die Jahre, ein paar vertrauten Freunden mitzuteilen, was geschehen war. Heute wird ja offener über Selbstmord gesprochen, aber Pauls Tod ist für mich weiterhin ein sehr heikles Thema und erfüllt mich noch immer mit großer Traurigkeit.
Damals wollte ich unbedingt verstehen, was geschehen war und warum Paul das getan hatte. Ich setzte alles daran, den Grund herauszufinden, sprach mit Menschen, die ihn kannten, und versuchte zu verstehen, was er gedacht und gefühlt hatte – denn er hatte keine Notiz oder Erklärung hinterlassen. Das tat ich noch eine ganze Weile, fand aber keine wirklichen Antworten.
Im März 2003 jedoch, als ich mit Freunden in Spanien war, wurden wir zufällig einem bekannten peruanischen Medium vorgestellt, das dort lebte. Ich hatte wenig Erfahrung mit Medien und weiß, dass ihr Tun und ihre Behauptungen manchmal umstritten sind. Aber ich wusste auch, dass sie behaupteten, mit Verstorbenen kommunizieren zu können, die vielleicht Botschaften an ihre Lieben übermitteln wollen. Bei dem Treffen ging sie in Trance und übermittelte jedem in der Gruppe Botschaften durch sogenanntes Channeling.3 An einem bestimmten Punkt kam sie zu mir und sagte zu meiner großen Überraschung: »Ihr Bruder kommt durch. Er sagt, dass er Sie sehr liebt und jetzt an einem guten Ort ist. Er sagt, dass er zuerst Schwierigkeiten hatte, aber dass jetzt alles bestens ist.«
Ich war erstaunt über diese Worte, da ich diese Frau noch nie zuvor gesehen hatte und keiner von uns vorher mit ihr gesprochen hatte. Ich war aus einem anderen Land angereist und hatte niemandem aus meiner Gruppe die Geschichte über meinen Bruder erzählt. Daher glaube ich nicht, dass sie Vorkenntnisse über mich oder mein Leben hatte, und dennoch konnte sie mir eine so persönliche und überaus bedeutungsvolle Botschaft übermitteln.
Ich hatte keine Ahnung, wie ich dieses Phänomen erklären sollte. Ich weiß, dass es einfach ist, solche Botschaften zu erfinden, wenn man im Vorhinein Informationen über die Person sammelt und dann vorgibt, Botschaften aus dem »Jenseits« zu empfangen. Allerdings sah ich hier wirklich nicht, wie das hätte gehen sollen. In jedem Fall war es wunderbar, so eine positive Botschaft zu erhalten, und es gab mir mehr Seelenfrieden in Bezug auf meinen Bruder Paul. Trotz der Traurigkeit, die ich immer noch fühle, wenn ich an ihn denke, mag ich die Vorstellung, dass er, um mit den Worten des Mediums zu sprechen, nun »an einem guten Ort« ist.
Erfahrungen mit der Liebe
In meiner Teenagerzeit bis Anfang 20 hatte ich mehrere Freundinnen. Ich machte die Erfahrungen, die die meisten Teenager machen – hormonelle Veränderungen, die Überwindung der Schüchternheit, Verlieben und Entlieben. Manchmal waren diese Erfahrungen aufwühlend für meinen rationalen Verstand, aber sie eröffneten mir auch eine andere Seite des Lebens, die Seite tiefer Emotionen und Gefühle. Es war für mich in jeder Hinsicht eine Entdeckungsreise! Einmal im Jahr 1972, als ich einen Tag in Amsterdam verbrachte, traf ich zufällig eine Freundin, Ineke van den Oever, die ich viele Jahre lang nicht mehr gesehen hatte. Ich dachte sofort: »Wow, was für eine attraktive, originelle junge Frau! Wie konnte ich sie nur vergessen?« Wir gingen einen Kaffee trinken und versuchten, ein weiteres Treffen zu organisieren, mussten es aber immer wieder absagen. Ein paar Monate später gingen wir endlich zusammen essen und wurden sofort sehr vertraut miteinander. Genauer gesagt waren wir ab diesem Tag ein Paar! Nach einiger Zeit machte ich ihr einen Antrag, und 1973 heirateten wir und bekamen später drei über alles geliebte Kinder: Nina (geboren 1974), Saskia (geboren 1976) und Lyke (geboren 1980). Anfangs hatten wir eine gute Ehe, und vor uns schien eine tolle Zukunft zu liegen. Gleichzeitig war ich sehr gestresst durch die Last meiner Verpflichtungen in der Firma und zu Hause. Ich arbeitete sehr hart und machte ständig Überstunden. Ich lief sechs Tage die Woche Langstrecken, und ich rauchte und trank ein wenig, um die Spannung abzubauen. Diese Gewohnheiten entwickelte ich vor allem in den letzten Lebensjahren meines Vaters, als sich sein Gesundheitszustand zunehmend verschlechterte, und auch wenn es nie exzessiv war, glaube ich doch, dass ich unter anderem so versuchte, damit fertig zu werden.
Mit der Zeit interessierte ich mich immer mehr für Gesundheit, Fitness und Stressbewältigung. Heute rauche ich nicht mehr, trinke nur sehr selten Alkohol und habe die Meditation als wirkungsvollere Entspannungsmethode entdeckt. Damals allerdings war Stress ein Teil meines Lebens, und er nahm noch zu, als sich die Gesundheit meines Vaters weiter verschlechterte.
Der Verlust meines Vaters
Bis 1977 hatte sich der Zustand meines Vaters so verschlimmert, dass meine Mutter sogar gemeinsam mit mehreren Pflegekräften nicht mehr zu Hause für ihn sorgen konnte. Wir trafen die schwere Entscheidung, ihn in ein Krankenhaus mit Tag-und-Nacht-Betreuung einweisen zu lassen. Es lag nur zwei Kilometer von unserem Haus entfernt, so dass die Familie ihn regelmäßig besuchen konnte. Ich besuchte meinen Vater häufig, aber am Abend des 6. Mai 1977 geschah etwas Besonderes, das bei mir einen tiefen Eindruck hinterließ, der bis heute anhält. Wir waren alleine im Zimmer, ich saß am Bettrand meines Vaters, und mein Arm berührte seinen, als er mir plötzlich in die Augen sah und schwach aber entschlossen meinen Arm drückte, während er den Blickkontakt hielt. In diesem Moment, als sich unsere Blicke trafen, spürte ich eine tiefe Verbindung zwischen uns, eine Art Energieaustausch. Ich fühlte, dass mein Vater mit dieser Geste etwas zum Audruck bringen wollte. Es war, als wollte er sein Wesen und seine innigsten Werte mit mir teilen. Unsere Kommunikation fühlte sich an wie der uralte Übergangsritus, in dem der ältere, weise Mann seinem Sohn seinen Mantel um die Schultern legt. Ich fühlte eine Art Verständigung zwischen uns und dass er sagte, dass alles in Ordnung war und er mich liebte. Es war ein sehr wertvoller Moment, der schwer in Worte zu fassen ist, aber ich erinnere mich, dass ich das Krankenhaus zutiefst berührt verließ.
Das Krankenhaus rief uns früh am nächsten Morgen an und teilte uns mit, dass mein Vater gegen 7 Uhr morgens verstorben war. Diese dramatische Nachricht ließ mich noch mehr an den Vorabend denken. Hatte mein Vater gespürt, dass er sterben würde? Hatte er diese Geste in dem Wissen gemacht, dass dies unsere letzte Verständigung sein würde? Vielleicht hat dieser Moment genau deshalb einen so bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen.
Rückblickend erinnern sich alle, die meinen Vater kannten, wohl vor allem an seine Freundlichkeit, seine Weitsicht und seinen Mut als Unternehmer. Er hatte echtes Mitgefühl für jeden, der krank war, und ich erinnere mich an viele Geschichten über seine Freundlichkeit kranken Menschen gegenüber – sowohl in seiner Firma als auch in der Nachbarschaft und darüber hinaus. Wenn er erfuhr, dass irgendwo etwas gebraucht wurde, versuchte er, Abhilfe zu schaffen. So unterstützte er zum Beispiel finanziell die Behandlung von Augenproblemen in Afrika und half auch bei der Bereitstellung von sauberem Wasser in Bihar, Indien, nachdem er über eine schreckliche Dürre im Jahr 1970 dort gelesen hatte. Mein Vater sorgte dafür, dass ein Caterpillar-Bagger nach Bihar gebracht wurde, um Brunnen zu bohren.
Ein niederländisches Magazin veröffentlichte einen Artikel über dieses Projekt, aber mein Vater bestand darauf, dass sein Name nicht erwähnt wurde und nur ein Foto gezeigt wurde, auf dem er von hinten zu sehen war. Er wollte kein großes Trara und hatte es lieber, wenn seine Spenden nicht öffentlich gemacht wurden. Vor einigen Jahren erfuhr ich, dass der Bohrer nach 30 Jahren noch immer in Betrieb ist und Tausenden von Menschen Zugang zu Wasser ermöglicht hat.
Nach seinem Tod wollte unsere Familie meinen Vater und seine mitfühlende Wesensart ehren. Wir erinnerten uns, dass er einmal von einer Fernsehsendung über Leprakranke besonders betroffen gewesen war. Wir beschlossen, einem Lepra-Projekt in Kolumbien Geld zu spenden, das in arger Bedrängnis war, weil der Organisation die Geldmittel unterschlagen worden waren. Wir stellten Gelder für ein neues Gebäude bereit, in dem die Leprakranken behandelt werden konnten.