Mach kei Gschichte -
Sei
Vom Licht der Erkenntnis
© 2018 Mukti Schatzmann
Umschlag, Illustration: Emilio Schatzmann
Lektorat, Korrektorat: Urte Knefeli-Zemp
Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:978-3-7469-4893-5
Hardcover:978-3-7469-4894-2
e-Book:978-3-7469-4895-9
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Om.
Jenes ist das Ganze,
dieses ist das Ganze,
von dem Ganzen wird das Ganze offenbar,
wenn man das Ganze von dem Ganzen nimmt,
bleibt das Ganze.
Om. Frieden, Frieden, Frieden.
Dieses Mantra ist die Offenbarung der EINEN Wahrheit und die Einladung, die unsichtbare Quelle allen Lebens im Sichtbaren wahrzunehmen, in sich selbst zu fühlen und darin einzutauchen. Es ist die direkte Aufforderung, die Einheit hinter der Vielfalt, den grenzenlosen Raum hinter den eigenen Geschichten und Bildern im Kopf zu entdecken. Die ewige EINE Wahrheit ist immer hier, sichtbar, fühlbar, und trotzdem sind wir nicht in der Lage, sie zu erkennen. Sie lebt in der Weisheit des Herzens, in jeder Zelle, jeder Bewegung, jedem Atemzug, und doch entgeht sie unserer Aufmerksamkeit, weil wir der Angewohnheit, den eigenen Gedanken zu folgen, zu viel Gewicht geben.
Solange wir unseren Gedanken glauben, unsere Konditionierungen für wahr halten, führen wir das Leben eines dressierten Zirkuslöwen. Genau wie der ehemals ungezähmte, kraftvolle, mutige Löwe haben wir vorübergehend unsere wahre innere Grösse vergessen und folgen den Gaukeleien unseres nach aussen gerichteten Verstandes. Das hat zur Folge, dass wir auf Gedanken, Emotionen, innere Bilder und unterschiedliche Geschehnisse gemäss unseren Automatismen reagieren, ohne uns dessen bewusst zu sein. Viele der geglaubten und wiederholten Überzeugungen, Vermutungen und Vorstellungen sind die eigentlichen Hürden auf dem Weg zur Selbsterkenntnis. Wenn es stimmt, dass die EINE Wahrheit immer hier ist, haben wir in jedem Augenblick die Chance, sie zu entdecken: beim Staubwischen, Duschen, Kochen, Schreiben, Geldzählen, Unkrautjäten, Autowaschen, Spazieren, Musikhören, ja sogar beim Streiten. Das EINE Ganze IST. Aus dieser unveränderlichen Vollkommenheit entsteht die gesamte Schöpfung – du und ich, und sie lebt in allen Formen, also auch in uns und durch uns. Erkennen werden wir dies jedoch erst, wenn das Ego erforscht und entthront ist. Wenn wir den spirituellen Weisheiten folgen, werden wir durch die göttliche Gnade zur richtigen Zeit Erkenntnis erlangen.
Als ich obiges Mantra vor vielen Jahren im Klang der Originalsprache zum ersten Mal hörte, war ich tief berührt. Es brachte in mir etwas zum Klingen, das seither nicht verstummt ist. Ich fühlte in meinem Herzen eine starke Resonanz, und eine verborgene Sehnsucht bahnte sich sanft den Weg in mein Bewusstsein.
Om. Purnamadah purnamidam
Purnat purnamudacyate
Purnasya purnamadaya
Purnam-eva-vasisyate
Om santih santih santih
Der Versuch, mit dem relativ begrenzten Verstand in den Kern des EINEN Ganzen vorzudringen, scheitert unweigerlich! Das habe ich auch erfahren, denn als „Kind dieser Zeit“ wollte ich wissen, verstehen und möglichst alles im Kopf lösen.
Selbstverständlich ist ein klarer Intellekt hilfreich, um die Wahrheit in den Schriften zu verstehen, darüber nachzudenken und sie im Alltag zu leben. Genauso wichtig ist jedoch die innere Empfindung der gelesenen oder gehörten Worte. Diese andere Art des Verstehens passiert im Herzen, wie das folgende Beispiel veranschaulichen soll. Die spirituellen Meister sagen: „Keine Sorge“ oder „Sorget euch nicht“. Intellektuell verstehen wir diese Worte sicher ohne Schwierigkeiten, aber erreichen sie auch unsere Gefühlswelt und können wir die darin enthaltene Dimension und Konsequenz erahnen? Nach meinem Empfinden haben die Meisterworte folgende Bedeutung: „Gebrauche all deine Talente, Fähigkeiten und Schaffenskraft zu deinem eigenen Wohl und dem der Gemeinschaft. Sei aufmerksam, offen und unverzagt. Nimm alle Herausforderungen an, tue, was zu tun ist, und bleibe dabei innerlich gelassen und ruhig. Vertraue dem Grösseren in dir und bringe zur richtigen Zeit die Saat aus. Wachstum und Reifung der Früchte liegen nicht in deinen Händen.“
Wir haben die Vorstellung, dass wir alles beeinflussen können, aber diese Meinung ist falsch. Aus dieser überheblichen Haltung können irreale Zukunftsängste entstehen, die uns teilweise ganz schön martern. Das Leben ist unvorhersehbar. Glückliche Phasen wechseln in weniger glückliche, und manchmal tauchen schwierige Lebenssituationen auf. Egal was alles passiert, wir sind immer das EINE Ganze in unserer Essenz. So ist es vor allem in Umbruchzeiten wichtig, uns an die erhebenden Worte der Meister zu erinnern. Wir können jeder Situation mit innerer Ruhe und Gleichmut begegnen und, falls erforderlich, gleichzeitig ausserordentlich aktiv sein. Herzensweisheit, gepaart mit intellektuellen Fähigkeiten und der zur Verfügung stehenden Schaffenskraft, führen zum nächsten Schritt. Es ist nur der nächste Schritt, den wir gehen und wissen können. Das ist eine schwierige Lektion für das Ego, weil es gerne ein massgeschneidertes Rezept samt Erfolgsgeschichte sehen möchte. Wir brauchen die Offenheit und Weisheit des Herzens, um nicht der Täuschung des Verstandes zu erliegen. Oftmals bleiben Erkenntnisse nur oberflächliches Wissen, ohne positive Auswirkungen für den einzelnen Menschen wie auch die Gemeinschaft. Spiritualität ist kein Konzept, sondern fühlende Liebe in Aktion und zeigt sich eins zu eins in jeder Handlung und in jedem Wort.
Als ich in den Jahren 1999 und 2000 einige Monate in Amma’s Ashram in Südindien lebte, verbrachte ich viele Stunden Mantren rezitierend auf dem Flachdach des damals höchsten Gebäudes. Dort war ausser den typischen Schreien der Seeadler, den keifenden Krähen und den Geräuschen der im Wind flatternden Wäsche nicht viel zu hören. Das weite Meer, das in der Ferne übergangslos in die Farben des Horizonts eintauchte, das Schweifen meines Blickes über die dichten Kronen der Kokospalmen und die inneren Klänge der Mantren bewirkten eine kaum fassbare, leise Veränderung in mir. Es war das Fühlen der eigenen Unendlichkeit, das immer wieder zu einem Anhalten des Verstandes führte und einem Hineinsinken in mich selbst. Hier fühlte ich mich zu Hause und in Resonanz mit allem, was jedoch weniger mit dem gesegneten Ort als mit dem Gewahrsein des sich ausbreitenden inneren Raumes zu tun hatte.
Natürlich gab es viele Zeiten, in welchen der Verstand zum üblichen Kampf ansetzte, um bloss nicht seine Gewohnheiten und Erwartungen aufgeben zu müssen. Schwierige Sequenzen, in denen sich Widerstände, Überzeugungen und Erinnerungen zu riesigen Monstern aufspielten und sich mit der Gegenwart verwoben, lösten veritable innere Stürme aus. An manchen Tagen war der Gedankenstrom ausser Rand und Band und nichts konnte ihn beruhigen. Der Verstand versteht es meisterhaft aus „unbedeutenden Mücken“ eine „wild gewordene Elefantenherde“ zu machen. Wenn wir die „Kopfbühne“ dafür freigeben, sind wir Gefangene der eigenen Inszenierungen! Für diesen Teil tragen wir die alleinige Verantwortung. Gemäss der geglaubten gesponnenen Geschichten ernten wir die daraus entstehenden Konsequenzen, denn alles, was wir in irgendeiner Form aussenden, kommt zu uns zurück.
Inzwischen habe ich gelernt, nicht mehr jeden Gedanken zu glauben. Auch habe ich tausende Male erfahren, dass die wichtigsten Erkenntnisse nicht mit dem Verstand fassbar sind, sondern dann, wenn dieser mal Pause hat! Durch seine Angewohnheit, Wünschen, Erklärungen, Spekulationen und Vorstellungen zu folgen verlängert er nur den Weg in tiefe Einsichten. Dabei stehen uns diese in jedem Augenblick vollumfänglich zur Verfügung. Wenn gewohnte Gedanken und Konzepte im Verstand aufsteigen, gleichen sie Wellen, die sich aus dem Ozean bilden. Diese türmen sich verschiedenartig auf, fallen ins Wasser zurück, kräuseln sich leicht oder verschwinden in gewissen Wetterlagen komplett. Wellen, wie auch Gedanken, kommen von irgendwo her, steigen auf und fallen früher oder später wieder in sich zusammen. Die Eigenschaften der Wellen kennen wir. Die Natur der Gedanken gilt es genau zu beobachten und zu erforschen.
Beispiele und Wiederholungen in diesem Buch helfen, die automatischen Reaktionen des egobezogenen Verstandes zu durchschauen, uns von ihnen zu lösen und so bewusst dem Griff des Egos zu entkommen. Diese neu erworbene Fähigkeit führt zum inneren Sehen der unteilbaren Einheit und zur klaren Einsicht, dass wir uns von Gedankenwellen in die Irre führen lassen.
Die kostbaren Tage in Indien, in der physischen Präsenz von Sri Mata Amritanandamayi Devi, genannt Amma, einer vollkommenen Meisterin, sind lange vorbei. Amma spiegelt uns unsere universelle Natur durch den Ausdruck der allumfassende Liebe und des grenzenlosen Mitgefühls im unermüdlichen Dienst an der Menschheit. Dieser unerschöpfliche lebendige Strom ist eine sprudelnde Quelle der Inspiration und zeigt uns deutlich, wie grossartig das Leben ohne Ego funktioniert!
Die spirituelle „Reise“ ins Licht der Erkenntnis geht weiter. Aus meinem Erleben kann ich aus vollstem Herzen sagen, dass das Sich-Hineinfallen-Lassen in die immerwährende universelle Liebe, Geborgenheit und Stille ein wichtiger Meilenstein ist. Nichts ist damit vergleichbar! Die Vertiefung in die grenzenlose Weite, das wachsende Mitgefühl und das totale Vertrauen in das sich entfaltende Leben sind die kostbaren, sich offenbarenden Wunder entlang des Erdenweges. Bevor wir diese Geschenke entdecken, bleibt uns die Arbeit des genauen Hinschauens, Akzeptierens und Wahrnehmens nicht erspart. Welche Qualität haben die momentanen Gedanken, Emotionen oder Handlungen? Bringen sie uns näher an das Ziel der Selbsterkenntnis? Wie steht es mit der liebevollen Zuwendung und Anerkennung uns und anderen gegenüber? Was bewirken die gedachten oder ausgesprochenen Worte in uns selbst oder bei den Mitmenschen? Die Entfaltung in das sich weitende Bewusstsein vollzieht sich allmählich, indem wir die dafür vorgesehenen „Werkzeuge“ erkennen und auch nutzen.
Komm mit auf die Reise des Herzens, nach Hause zu dir selbst, erkenne die Wahrheit dessen, was wir in unserem göttlichen Kern, in unserer Essenz sind! Wir können „das Ganze“ auch umbenennen in „Stille, universelle Liebe, Vollkommenheit, reines Bewusstsein“, wobei sich „das Ganze“ sehr gut anfühlt, weil sich der egobezogene Verstand darunter nichts Konkretes vorstellen kann. Bei den anderen Begriffen hat er unter Umständen Bilder, Gefühle oder Geschichten auf Lager, vor allem beim Wort Liebe. Unser Verständnis oder zeitweiliges Erleben von Liebe in Phasen der Verliebtheit hat mit der Liebe, die unsere wahrhaftige Natur ist, oftmals wenig zu tun. In der Analogie ist unsere Liebesfähigkeit wie das Licht einer Kerze im Vergleich zum Licht der Sonne. Wenn „das Ganze“ ein Synonym für Liebe ist, dann IST sie einfach, jenseits aller Definitionen, Beschreibungen und allem persönlichen Erleben, unumstösslich gleichbleibend, vollkommen, alles durchdringend und tief berührend.
Wir fühlen die universelle Liebe in uns, wenn wir grundlos vor Freude in die Luft springen, wenn das Herz überfliesst oder wenn sie uns ein feines Leuchten ins Gesicht zaubert. Wir fühlen sie bei einem Blick in lichtvolle Augen, wenn uns ein Gefühl von tiefem Frieden durchströmt, wenn uns unvergleichliche Klänge im Herzen berühren oder uns die Natur mit ihrer Fülle und Schönheit beschenkt. Wenn wir glücklich sind, fühlen wir diese Liebe intensiv, einem Feuer gleich, in uns lodern. Sie erinnert uns in ihrer Lebendigkeit an unser eigentliches Zuhause, an die reine Quelle unseres Ursprungs, die unerschöpfliche Kraft unseres inneren Seins.
Wir verleihen der universellen Liebe Ausdruck wenn wir Menschen mit dem Herzen zuhören, sie in ihrer Einzigartigkeit, in ihrer inneren Schönheit wahrnehmen, Trost spenden und Hilfe anbieten, wenn wir voller Optimismus und Vertrauen in unserem Alltag stehen, wenn wir im Aussen alles tun, was erforderlich ist, und gleichzeitig innerlich total losgelöst sind von verführerischen Egogedanken. Das tiefe Gefühl der unveränderlich höchsten Liebe erfüllt uns mit stiller Freude und Glückseligkeit. Wenn wir uns davon berühren lassen, hat sie uns geküsst. Aus dieser unendlichen Tiefe und Weite, die gleichzusetzen sind mit unserem wahrhaftigen Sein, erblühen ganz von selbst Mitgefühl, Weisheit und Dankbarkeit. Das ist der „Stoff“, aus dem wir alle gewoben sind. Und nicht nur wir Menschen, sondern alle Formen, die wir sehen und erahnen können.