Astrid Séville
Der Sound der Macht
Eine Kritik der dissonanten Herrschaft
C.H.Beck
Viel zu lange haben unsere Politiker mit ihren Phrasen notwendige gesellschaftliche Debatten über politische Zukunftsentwürfe schon im Keim erstickt. Das schlägt nun wie ein Bumerang auf sie zurück: Die Politikverdrossenheit ist einem wütenden Anreden gegen die Politik gewichen, einer toxischen Gegensprache, in der diffamiert, gehetzt und gelogen wird. Die etablierten Parteien reagieren hilflos auf diese Entwicklung. Sie wollen die Menschen wieder abholen, wo sie sind, und machen sich die Ressentiments ihrer populistischen Jäger selbst zu eigen. Die Politikwissenschaftlerin Astrid Séville plädiert in ihrem Buch für eine neue demokratische Streitkultur und fordert von unseren Abgeordneten den Mut, sich dem Verfall der politischen Sprache in Deutschland offensiv entgegenzustellen – notfalls auch mit der Konsequenz, abgewählt zu werden.
Astrid Séville lehrt Politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2016 erhielt sie für ihre Doktorarbeit den renommierten Deutschen Studienpreis. Sie ist Mitglied im Jungen Kolleg der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und in der Jungen Akademie Mainz.
Einleitung – Die Fallstricke politischer Sprache im Zeitalter des Populismus
Spätfolgen einer verarmten Debattenkultur
Die Fallstricke diskursiver Entpolitisierung im Zeitalter des Populismus
Kapitel 1: «There is no alternative» – Die lange Geschichte einer fatalen Floskel
Die Geburt der alternativlosen Politik im Großbritannien der «Eisernen Lady».
Thatchers Reformagenda: neoliberale Politik als gesunder Menschenverstand
Zwischen Skylla und Charybdis: Oder warum manche in Zeiten Angela Merkels selbst Margaret Thatcher vermissen …
Folgenreiches Durchwurschteln statt Basta-Politik
Kapitel 2: «Hausaufgaben machen» – Die toxischen Phrasen politischer Ökonomie
Die Krise der Eurozone als Kommunikationsdesaster
Harmonische Krisenkommunikation
Mehr Technokratie wagen heißt: Konflikte verschärfen!
Die legitime Kritik der Halbstarken
Die Vernunft der schwäbischen Hausfrau und die schwarze Null als Hausaufgabe
Der alte Sound verfängt nicht mehr
Kapitel 3: «Wir sind das Volk» – Die diskursive Privilegierung der Unterprivilegierten
Volk – eine Chiffre des Aufstands
Populismus als Krisensymptom
Populismus als Strategie der politischen Entdifferenzierung
Populismus als Heilmittel im Zeitalter der Technokratie?
Kapitel 4: «Mut zur Wahrheit» – Die Unkultur des Disclaimers
Der anfängliche Sonderweg des deutschen Populismus
Die antidemokratische Verwandtschaft von Expertokraten und Populisten
Rechtsverschiebung: Das Ende des deutschen Sonderwegs
«Das wird man ja wohl noch sagen dürfen»
Gegen verbale Enthemmung
Ein identitätspolitischer Konflikt
Das Geheimnis der Glaubwürdigkeit
Schluss – Die Dissonanzen unserer Zeit
Verwirrung im Zeitalter eines unglaubwürdigen Neoliberalismus
Ein liberaler und demokratischer Sound
Anmerkungen
Einleitung
1. «There is no alternative»
2. «Hausaufgaben machen»
3. «Wir sind das Volk»
4. «Mut zur Wahrheit»
Schluss
Die Fallstricke politischer Sprache im Zeitalter des Populismus
Wäre ich keine Politikwissenschaftlerin, würde ich mich lieber nicht für Politik interessieren. Politik in einer modernen Demokratie ist eine Zumutung. Ständig muss man Zeitung lesen, die Nachrichten verfolgen, um sich eine Meinung zu bilden und auf dem Laufenden zu bleiben. Ständig müssen die eigenen Überzeugungen, Argumente und Erkenntnisse an der politischen Wirklichkeit und in der Auseinandersetzung mit politischen Kontrahenten überprüft werden. Ständig macht man als Wähler Frustrationserfahrungen, weil die eigenen politischen Vorstellungen nicht denen der Mehrheit entsprechen, die eigenen hehren Ziele nicht umgesetzt werden, die Politik in der deutschen Verhandlungsdemokratie permanent auf Kompromisse angewiesen ist und das politische Profil der Parteien irgendwie immer mehr verschwimmt. Und ständig hört man eine politische Sprache, die einem die Lust auf Demokratie nimmt. Die eine Gruppe von Politikern pflegt einen technokratischen Politikstil, flüchtet sich in abgedroschene Phrasen und längst unglaubwürdig gewordene Mantras, statt die politische Kontroverse und offene Debatte zu suchen. Die andere betreibt Fundamentalopposition mit populistischen Slogans und erschüttert die liebgewonnene Illusion liberaldemokratischer Einhelligkeit. Haben wir uns vor kurzem noch über die politische Erstarrung, Langeweile und Lethargie der deutschen Politik aufgeregt,[1] in der Politiker leise und effektive Problemlösungen vorziehen, haben wir es nun mit einem anderen Schlag von Politikern zu tun, die wieder laut nach dem Volk und nach mehr Demokratie rufen. Die letzten Jahre haben die Gesellschaft politisiert. Es ist ungemütlich geworden in der politischen Arena.
Zwar ist Demokratie mehr denn je nerven- und zeitraubend. Doch als Politikwissenschaftlerin weiß ich auch, dass wir nun einmal die Zumutungen von Freiheit, Teilhabe und Mitbestimmung ertragen müssen, wenn wir in einer Demokratie leben wollen. Wir sind alle in eine Gesellschaft verstrickt, die sich das Versprechen demokratischer Selbstregierung gegeben hat. Demokratie ist, um es mit dem oft zitierten amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln zu sagen: «government of the people, by the people, for the people».[2] Es handelt sich um eine spannungsreiche Herrschaftsidee: Das Volk ist politischer Souverän, Untertan und Adressat zugleich. Die moderne Demokratie löst dieses Paradox über Wahlen und Repräsentation. Volksvertreter müssen im Namen des Volkes handeln und sprechen, sind aber weder mit diesem identisch noch bloß Sprachrohre eines angeblich immer schon existierenden Volkswillens. So erfordert die moderne, das heißt parlamentarische Demokratie ein hohes Maß an Vertrauen in die gewählten Volksvertreter, in ihre Institutionen und Verfahren. Die Demokratie lebt von dem Zutrauen, dass politische Akteure ihre Wähler ernst und Verantwortung übernehmen. Politische Repräsentation ist ein dynamischer Prozess der Willensbildung, bei dem sich eine Gesellschaft über mehrheitsfähige politische Positionen verständigt und Politiker diese für ihre kollektiv verbindlichen Entscheidungen nutzen.[3] Es geht um viel. Folglich lohnt es sich, die eigene Stimme zu erheben und sich für Politik zu interessieren – und das mehr denn je.
Denn machen wir uns nichts vor, ausgerechnet die «Alternative für Deutschland» (AfD) trifft mit ihrer Kritik des politischen Establishments den Nerv der Zeit. In ihrem Grundsatzprogramm gibt sie sich sogar als letzte Bastion der liberalen Demokratie:
«Eine realistische Politik sollte sich der Unvollkommenheit und Vorläufigkeit ihrer möglichen Ergebnisse stets bewusst bleiben. Sie sollte einkalkulieren, dass kein noch so kluger politischer Akteur eine vollständige Kenntnis der Bedingungen und Möglichkeiten seines Handelns erlangen kann. Die auf vielen Politikfeldern durch die etablierten Parteien propagierte Alternativlosigkeit vermeintlicher Sachzwänge halten wir für in hohem Maße demokratie- und rechtsstaatsgefährdend. Rechtsstaatsprinzip und Vertragstreue sowie demokratische Legitimation haben für uns Vorrang vor kurzfristigem Aktionismus und wahlwirksamer Effekthascherei.»[4]
Diesen Zeilen würden beide, die Politikwissenschaftlerin im akademischen Elfenbeinturm und der politisch interessierte Bürger auf der Straße, mit Verve zustimmen: In der parlamentarischen Demokratie dürfen Entscheidungen keine absolute Wahrheit oder Endgültigkeit beanspruchen; sie sind prinzipiell fehlbar, komplex und kontextabhängig. Neue Mehrheiten, neue Erkenntnisse, andere Umstände, unvorhergesehene Entwicklungen, Krisen oder spätestens Regierungswechsel rechtfertigen es, einmal gefällte Entscheidungen zu überarbeiten und gegebenenfalls zurückzunehmen. Aber was hat es nun zu bedeuten, dass uns ausgerechnet die populistische, rechtsnationale und wohlfahrtschauvinistische AfD über die Funktionsweise der liberalen Demokratie belehren will?
In unserer krisengeschüttelten Gegenwart steht die Politik unter großem Druck. Entscheidungen müssen oft schnell getroffen, internationale Krisenpolitik muss kurzfristig koordiniert werden, und die politischen und wirtschaftlichen Folgen von Entscheidungen sind für die betroffenen Akteure bisweilen selbst nicht vorhersehbar. Das konnten wir während der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008, in der anschließenden europäischen Staatsschuldenkrise und zuletzt auf dem Höhepunkt der europäischen Flüchtlings- und Migrationskrise von 2015 live beobachten. In solchen Phasen ist politische Kommunikation schwierig und riskant. Politiker flüchten sich dann gerne in eine kurzfristige Technokratisierung,[5] um die langwierigen und mühseligen Verfahren demokratischer Entscheidungsfindung abzukürzen und sich gegen Protest und Opposition abzuschirmen. Exponieren sich Politiker hingegen durch eine starke politische Position als Krisenmanager, so ist das, wie im Falle von Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Flüchtlingskrise 2015, ein Wagnis, das eine personalisierte Kritik an politischen Versäumnissen und Entscheidungen befeuern kann.
Merkels eigener Regierungs- und Kommunikationsstil verschärft dabei eine bereits angespannte Konstellation: Weder vermag sie den Bürgern ihre Entscheidungen gut zu erklären noch weiß sie auf die technokratische Aushöhlung der parlamentarischen Demokratie oder auf den wachsenden Populismus als Kritik an den erstarrten politischen Verhältnissen eine überzeugende politische Antwort zu geben. Nach ihrem Verständnis kann sie als Bundeskanzlerin über den Niederungen konfliktreicher Parteipolitik und politischer Entscheidungsprobleme schweben. Doch heute ist für viele «[d]ie Merkelsche Strategie der Postpolitik – präsidentielles Amtsverständnis und asymmetrische Demobilisierung des gegnerischen Lagers durch politische Diskursflucht – […] an ihre Grenzen gelangt.»[6]
Für diese Strategie ist Merkels Mantra der Alternativlosigkeit geradezu paradigmatisch geworden. Seit die Bundeskanzlerin jenen Slogan zu einer rhetorischen Allzweckwaffe gemacht und damit zahlreiche Entscheidungen (wie Anfang 2018 die Abtretung des Finanzministeriums an den Koalitionspartner SPD) gerechtfertigt hat, ist die sogenannte TINA-Rhetorik – TINA steht als Abkürzung für Margaret Thatchers berühmten Slogan «There is no alternative» – in aller Munde. Die Jury «Sprachkritische Aktion Unwort des Jahres» griff den allgemeinen Unmut mit diesem Politikersprech auf und erkor das Wort «alternativlos» zum «Unwort des Jahres 2010». Die Rede von der Alternativlosigkeit und den Sachzwängen ist für das Selbstverständnis einer Demokratie Gift. Demokratische Spielräume werden negiert, Politik scheint – um mit Jürgen Habermas zu sprechen – in einem «Sog der Technokratie»[7] gefangen. Gäbe es bereits ein Schlagwort für die endende Ära Merkel und den Regierungsstil der bisherigen Großen Koalitionen, müsste es «alternativlos» heißen. Politiker versuchen den verrufenen Slogan heute nach Möglichkeit zu vermeiden. Immerhin hat die massive Kritik manch einen Politiker dazu geführt, sich selbst zu hinterfragen.[8] Wahrscheinlich wurde das von der Öffentlichkeit aber auch deshalb übersehen, weil die Sprache der Regierenden nach wie vor der gleichen Logik folgt.
Die Rhetorik der Alternativlosigkeit ist nur ein Symptom der politischen Sprache der Gegenwart. Als Angela Merkel mit ihrem nüchtern-pragmatischen «Wir schaffen das» die Bewältigung der Flüchtlings- und Migrantenströme in Aussicht stellte, wurde diese Formulierung abermals als unlautere Diskreditierung und Abwehr jeglicher Kritik gedeutet. Merkels ebenso paradigmatisches «Sie kennen mich» und ihre von Adenauer geklaute Losung «keine Experimente» aus dem Wahlkampf 2013 haben sich von einem Stabilitätsversprechen zu einer politischen Bürde gewandelt: Die Rufe nach einem personellen und politischen Neuanfang, nach großen Entwürfen und Zukunftsvisionen, werden heute immer lauter. Im Sommer 2018 droht selbst die Union von CDU und CSU daran zu zerbrechen, dass Horst Seehofer die Asylfrage zum Machtkampf gegen Angela Merkel wendet und einen offenen Koalitionsbruch riskiert. Die Versprechen der Politik – seien es Aussichten auf Wohlstand durch kontinuierliches Wirtschaftswachstum inmitten blühender Landschaften, auf Sicherheit in einer «Welt aus den Fugen»[9] oder auf Beständigkeit in einer globalisierten Welt – verfangen nur noch bei den Allerwenigsten. Auch die vermeintlich unstrittige Wirtschaftskompetenz der «schwäbischen Hausfrau», die Glorifizierung der «schwarzen Null» und die Politpädagogik mit ihren dauernden «Hausaufgaben» klingen nur noch wie der fahle Sound von gestern, den niemand mehr hören will. Ein solcher Kommunikationsstil verschleiert die Probleme der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung, statt sie offen zu benennen. Die abgenutzten Sprachbilder und Floskeln zielen auf den Effekt einer Entpolitisierung von Problemen. Sie sagen uns nicht, was auf dem Spiel steht. Nicht nur die politische Sprache muss sich verändern, auch das dahinter verborgene politische Programm. Wir haben es mit einer an der politischen Sprache ablesbaren Verfallsgeschichte des technokratischen Neoliberalismus zu tun.
Zwar ist die politische Kampfvokabel «Neoliberalismus» zu Recht umstritten. Der Begriff wird für alle möglichen Phänomene verwendet und ideologisch instrumentalisiert. Fakt ist, dass neoliberale Politik in erster Linie auf die Verwirklichung einer freien Marktwirtschaft zielt. Neoliberale Ideologen knüpfen die Möglichkeit individueller Freiheit folglich an die Voraussetzung einer begrenzten Regierungstätigkeit. Das dahinterstehende Menschenbild besagt, dass freie Individuen rationale Nutzenmaximierer sind und ihre Interessen auf Märkten am besten verwirklichen können. Vom freien Spiel der Märkte sollen am Ende alle profitieren. Für neoliberale Politiker haben ein flexibler Arbeitsmarkt, die Steigerung des Wettbewerbs und der Produktivität Priorität; der Markt wird als effizientester Mechanismus zur Allokation knapper Ressourcen verstanden. Marktliberalisierung, Deregulierung, Privatisierung, ein weltweites Freihandelsregime und freie Kapitalflüsse sind die obersten politischen Ziele.[10]
Schon dank dieser knappen Arbeitsdefinition des Neoliberalismus fällt auf, dass heute wenige bis keine Regierungen eine solche Politik stringent, offen oder gar offensiv verfolgen. Die Dinge sind viel komplizierter geworden. Der amerikanische Präsident Donald Trump verlangt nach Schutzzöllen und propagiert Protektionismus, während ausgerechnet das kommunistische China den Freihandel hochhält. Die Verwerfungen des deregulierten Finanzmarktkapitalismus sind spätestens seit der Doppelkrise des internationalen Finanz- und Bankensektors und der Schuldenstaaten deutlich geworden. Die Herrschaft des «autoritären Kapitalismus»[11] ist längst in Verruf geraten; Deregulierung und die weitere Öffnung nationaler Märkte sind heute weder für amerikanische Präsidenten noch für internationale oder transnationale Unternehmen mehr common sense. Selbst der Internationale Währungsfonds (IWF), jahrzehntelang eine neoliberale Bastion des sogenannten «Washingtoner Consensus» und damit der schärfste Anwalt von Sparpolitik, Deregulierung und Privatisierung, plädiert zwischenzeitlich für ein Modell des «Rettungskeynesianismus», um die Eurozone weiter zu stabilisieren.[12]
Gerade in Deutschland, so hat es den Anschein, hadert die politische Klasse ganz besonders mit dieser Zeitenwende. Politiker haben bisher kein Konzept für die Zukunft, keinen Plan B, keine große politische Alternative, keine neue politische Sprache erkennen lassen – und sie stehen vor den Langzeitfolgen ihres alten, brüchig gewordenen politischen Diskurses. Sogar der liberale Economist diagnostizierte 2017 in diesem Sinne ein «German problem».[13] Die Politik und die politische Sprache der letzten Jahrzehnte haben hierzulande den Eindruck stark begrenzter politischer Gestaltungsspielräume und Protestmöglichkeiten erweckt, so als würde der demos durch «die Märkte», «die Globalisierung» oder «die Technokraten in Brüssel» fremdbestimmt. Das macht viele Bürger glauben, wir lebten in einem postideologischen Zeitalter und in nachdemokratischen Zuständen. Die einst von dem Politikwissenschaftler Colin Crouch formulierte These der Postdemokratie[14] ist zu einem Schlagwort unserer Zeit avanciert, das sich sowohl linke Kulturschaffende als auch «besorgte Bürger» und Populisten aneignen, um sich über das sogenannte Establishment zu empören und nach (mehr) Demokratie zu rufen.[15]
Es stellt sich die Frage, ob sich der Zustand der liberalen Demokratie in Deutschland überhaupt kritisieren lässt, ohne selbst in populistische Gesänge einzustimmen. Soll man lieber – auch wenn es dem leidenschaftlichen Demokraten Bauchschmerzen bereitet – auf die rechtsstaatliche und expertengestützte Einhegung der Demokratie setzen, um die Gefahr einer populistischen Tyrannei der Mehrheit zu bannen? Oder müssen wir uns den lauter werdenden Forderungen nach einer grundlegenden Demokratisierung der Verhältnisse anschließen und – um Willy Brandt zu variieren – weniger Technokratie wagen, obwohl wir aus guten historischen Gründen die Gefahr einer Fundamentalpolitisierung der Gesellschaft fürchten gelernt haben?
Die politischen Entwicklungen und diskursiven Frontlinien unserer Zeit lassen eine Kritik gegenwärtiger Herrschaftsverhältnisse gewissermaßen sprachlos zurück. Indem es sich mit vier symptomatischen, fatalen Floskeln unseres heutigen Zeitgeists auseinandersetzt, will das vorliegende Buch dafür sensibilisieren, wie die politische Sprache der letzten Jahre und Jahrzehnte unsere Demokratie, unser Verständnis von Politik und unsere politische Kultur hat verarmen lassen. Wir haben verlernt, offen politische Kontroversen auszutragen und uns im Angesicht konkurrierender politischer Vorschläge zu positionieren. Zu lange haben bürgerliche Politiker auf die Rationalität und die vernünftige Einsicht ihrer Wähler in die vermeintlichen Notwendigkeiten und in die angeblich bestechende Logik ihrer Politik gesetzt. So viel haben wir in den letzten Jahren von der Ideologielosigkeit moderner Politik gehört, dass wir irgendwann selbst an den Sound der Macht geglaubt haben. Genau das macht uns und unsere Politiker heute hilflos gegenüber der aggressiven populistischen Anfechtung der liberalen Demokratie. Die politische Sprache und die toxischen Phrasen der Vergangenheit haben eine ebenso problematische politische Gegenrede provoziert. Die Ideologie ist zurück; die mutmaßliche Unvernunft inszeniert sich als politischer Protest und wird zum neuen Machtfaktor. «Lüge, Bluff, Durchtriebenheit und Zynismus werden dabei vom raunenden Demos geradezu offensiv eingefordert und bei ausreichendem Einsatz im Wahlkampf postwendend akklamiert. […] Durchtriebenheit und Ruchlosigkeit gelten nun als Ausweis von Cleverness.»[16] Statt technokratische Worthülsen und rhetorische Manöver der argumentativen Verunklarung zu nutzen, sind die Populisten heute die Pöbler vom Dienst und kultivieren einen Gestus des politischen Tabubruchs unter dem Deckmantel von Slogans wie «Das wird man ja wohl noch einmal sagen dürfen» oder «Mut zur Wahrheit». Populisten verstehen sich als wahre Demokraten und skandieren «Wir sind das Volk». Sie wollen sich «unser Land und unser Volk zurückholen» und Parlamentarier «jagen», so der Spitzenkandidat der AfD, Alexander Gauland, nach dem Einzug seiner Partei in den Deutschen Bundestag.[17] Gegen den alten Sound der Macht erschallt heute ein längst vergessen geglaubter, vulgärdemokratischer Sound.
Wenn wir uns darauf einigen können, dass die Rede von der Alternativlosigkeit, die der AfD erst ihren Namen gab, demokratiegefährdend ist und zu Politikverdrossenheit führt, stellt sich augenblicklich die Frage: Ist der neue populistische Sound – und womöglich gar die rechtspopulistische und potentiell verfassungsfeindliche AfD – nichts weiter als eine legitime demokratische Reaktion auf die ernüchternde und ermüdende TINA-Rhetorik der Vergangenheit? Braucht die Demokratie ab und an ein populistisches Aufbegehren und eine emotionale Polarisierung der politischen Arena, um sich aus dem Würgegriff der technokratischen Unsprache, der sterilen Rationalität und der Komplexität politischer Verfahren in ausdifferenzierten Gesellschaften zu befreien? Der immer wieder bemühte «zwanglose Zwang des besseren Arguments» (Jürgen Habermas) kann schließlich furchtbar langweilig sein.
Tatsächlich machen sich einige namhafte Philosophen und Politiktheoretiker für den Populismus stark und erkennen in ihm eine politische Frischzellenkur für die erschlaffte Demokratie. Auch der kurze Höhenflug des SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz wurde auf dessen «populistische» Wahlkampfanleihen zurückgeführt. Schulz thematisierte Fragen gesellschaftlicher Ungerechtigkeit, wollte Politik für die «hart arbeitende Mitte», «den kleinen Mann» machen und sprach auffällig oft von «Gefühlen». War das schon Populismus? Martin Schulz hatte ja nicht behauptet, Volkes Stimme zu sein. Es fragt sich schließlich, welchen Erkenntnisgewinn überhaupt das Schlagwort vom «Populismus» birgt, das derzeit so schillernd und strittig ist wie kaum ein anderes politisches Etikett. Populismus hat heute eine gleich doppelte Konjunktur als politischer und politikwissenschaftlicher «Kampfbegriff»[18] und bezeichnet so unterschiedliche Akteure wie die AfD, den Front National, die Fidesz-Partei in Orbáns Ungarn oder Syriza in Griechenland.
Das europäische Superwahljahr 2017 hat glücklicherweise nicht zum Einzug der Populistin Marine Le Pen in den französischen Elysée-Palast geführt oder eine Regierung unter dem Populisten Geert Wilders in den Niederlanden an die Macht gebracht. Doch geben die 12,6 Prozent der AfD bei den Bundestagswahlen hierzulande genug Anlass zur Diskussion. Am Wahlabend war zwar der Tenor aller Vertreter der etablierten Parteien, dass 87 Prozent der Deutschen diese Partei nicht gewählt hätten. Laut mehreren Studien stehen mittlerweile jedoch nicht nur AfD-Wähler der liberalen Demokratie kritisch gegenüber. Parteienverdrossenheit ist weiter verbreitet als gedacht,[19] und stets sind in Umfragen all jene deutschen Politiker und Institutionen am beliebtesten, denen man keine konkreten politischen Entscheidungen zuordnen kann.[20] Die hilflosen Wahlkampfslogans der Union, «mit Maß und Mitte» agieren und für ein Deutschland sorgen zu wollen, «in dem wir gut und gerne leben», verdeutlichen doch nur, dass dem politischen Spitzenpersonal einfach keine emotionale und emphatische Ansprache der Bürger mehr gelingen mag.
Aus dieser Selbsterkenntnis heraus bemühen sich Politiker mitunter um eine schlechte Kopie populistischer Rhetorik. Bevor wir uns als liberaldemokratische, moralisch korrekte und politisch integre Antipopulisten vorschnell in Sicherheit wägen, ist nämlich eines offen festzuhalten: Die politische Sprache der letzten Jahre hat zu vielen bunten Facetten und feinen Schattierungen einer populistischen und vulgärdemokratischen Gegensprache geführt, die keineswegs nur beim neuen enfant terrible der deutschen Parteienlandschaft, der AfD, vorzufinden sind. Auch ein CDU-Politiker wie Thomas de Maizière lässt verlauten, «wir» seien «nicht Burka», während sich SPD-Politiker als die einzig wahren «Kümmerer» inszenieren und CSU-Chef Horst Seehofer nach seinem Wahldebakel 2017 «verstanden haben» und die «rechte Flanke» schließen will. Auch bei antihumanistischen Fehltritten politischer Sprache lassen sich keine einfachen Parteigrenzen einziehen.
Zudem stellen «die Politiker» keineswegs das alleinige Problem dar. Statt eine Debatte um alternative Gesellschaftsentwürfe, Politikverständnisse und Konzeptionen des guten Lebens und gesellschaftlichen Miteinanders öffentlich sichtbar zu machen, karikiert die mediale Berichterstattung politische Auseinandersetzungen immer wieder als pseudo-sportlichen Wettkampf. Im Wahlkampf standen sich etwa die «Titelverteidigerin»[21] Angela Merkel und ein von Beginn an «angeschlagener Herausforderer» Martin Schulz gegenüber, der seinen erhofften Weg ins Kanzleramt ja selbst als «Langstreckenlauf»[22] verstanden wissen wollte. Anschließend folgten die langwierigen Koalitionsgespräche in der Wortwahl der Berichterstattung keiner Logik politischer Kompromissfindung, sondern der eines Kräftemessens. Journalisten zeichnen somit oft das demokratieverzerrende Bild von einem Wettkampf, in dem aus potenziellen Koalitionären «Gewinner» und «Verlierer» werden. Doch diese Sportmetaphern können wohl kaum einen Ausweg aus einer demokratischen und rhetorischen Misere weisen, in der sowohl die technokratische, neoliberale Unsprache als auch die populistische Gegensprache den Wählern keine Orientierung bieten, geschweige denn das bestehende Problem politischer Fragmentierung und gesellschaftlicher Polarisierung beantworten.
Wie lassen sich also rhetorische Rezepte finden, mit denen Politiker und Antipopulisten beim Bürger (wieder) Gehör finden können? Kann und muss man dafür Bürger «abholen, wo sie sind», ihre «Sorgen ernst nehmen», so die gängigen Phrasen, die Politik zur Gesellschaftstherapie umdeuten? Befinden wir uns wirklich in einem «Endspiel um die Glaubwürdigkeit», wie der bayerische Ministerpräsident Markus Söder angesichts des drohenden Zerwürfnisses der Union im Juni 2018 behauptete, weil sich die Schwesterparteien im Asylstreit nicht einigen konnten? Warum gibt es heute Politiker, die gar keinen Anspruch auf politisches Maß, auf politische Erfahrung und eine konsistente Repräsentation von Bürgerinteressen erheben? Auf der Suche nach Erklärungen machen wir es uns zu einfach, wenn wir die Wähler populistischer Politiker als «dumm» deklassieren.[23] Parteien wie die AfD, aber auch Trump in den USA und die UKIP-Partei in Großbritannien versuchen, auf eine doppelte Leerstelle zu reagieren, die zum einen Politiker mit ihrer Vernachlässigung, ja Stigmatisierung bestimmter Milieus und Wählerschichten, zum anderen die entsprechende politische Sprache der letzten Jahre hinterlassen haben. Trump postuliert in seiner Antrittsrede, dass die Vergessenen nicht länger vergessen seien, andere wie Nigel Farage oder Alexander Gauland fordern «ihr Land» und «die Kontrolle» zurück.
Den Erfolg solcher Politiker führen Journalisten und Sozialwissenschaftler routinemäßig auf soziostrukturelle Gründe zurück, erklären die Wähler populistischer «Rattenfänger» etwa zu «Modernisierungsverlierern», zu ehemaligen weißen Arbeitermilieus, die abgehängt worden seien, und sie raunen über den Einzug einer «postfaktischen Popkultur» in den Politikbetrieb. Politikwissenschaftler wiederum meinen, die (Neo-)Liberalisierung sozialdemokratischer Parteien auf der einen, die Sozialdemokratisierung der konservativen Parteien auf der anderen Seite hätten ein Vakuum an den politischen Rändern entstehen lassen, sodass sich hier neue Parteien und Bewegungen mit Ausstrahlung auf die gesellschaftliche Mitte etablieren konnten. Die Befunde sind allesamt mehr oder weniger zutreffend, doch beleuchten sie das Moment des politischen Diskurses, die Sprache, Semantiken sowie rhetorischen Kniffe und Fallstricke der populistischen Gegensprache gegen die vorherrschenden (neo-)liberalen und rationalistischen Sprachmuster unserer Zeit oft nur oberflächlich oder wenig systematisch. Diese Lücke will dieses Buch schließen und widmet sich den toxischen Phrasen politischer Sprache der Gegenwart und den dahinterstehenden politischen Vorstellungen, die zu den allerorts wahrnehmbaren Verstimmungen, ja zu den Dissonanzen demokratischer Herrschaft geführt haben.
Kapitel 1
Die lange Geschichte einer fatalen Floskel
Auf den Straßen türmte sich der Müll, es stank. Die Kinder froren, im Haus war es kalt, es gab kein Heizöl. Die kranke Großmutter konnte nicht zum Arzt, weder fuhr ein Bus, noch hatte der Arzt Sprechstunde. Er streikte. Wie die Müllabfuhr. Wie die Lastwagenfahrer, die das Heizöl liefern sollten. Wie zahlreiche Arbeiter und der gesamte öffentliche Dienst. Großbritannien erlebte 1978/79 den «Winter des Missvergnügens» (Winter of Discontent). Die Metapher erinnert an William Shakespeares Stück Richard III (1594), das von der Figur Gloucesters mit einem berühmt gewordenen Monolog eröffnet wird: «Now is the winter of our discontent, made glorious summer by this sun of York». Nur glaubte in Großbritannien Ende 1978/Anfang 1979 niemand mehr daran, dass in naher Zukunft ein glorreicher Sommer bevorstand. Den streikerprobten Briten wurde in diesen Monaten klar, dass ihre politische Welt sich unweigerlich dem Ende neigte. Ihre Regierung fand keinen Ausweg aus der «Stagflation», einem mittlerweile seit Jahren anhaltenden Teufelskreis aus schleichender Geldentwertung, ausbleibendem Wirtschaftswachstum und hoher Arbeitslosigkeit. Die britische Ökonomie lag sprichwörtlich am Boden. Die altbewährten Mittel der antizyklischen Krisenbekämpfung aus den Trente Glorieuses der Nachkriegszeit – eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik und kooperative Absprachen zwischen Staat, Arbeitgebern und Gewerkschaften – wirkten nicht mehr. Wut und Tristesse machten sich breit. Es lag ein Hauch von Revolution in der kalten Winterluft.
Eine Krämerstochter, die in Oxford Chemie und Jura studiert hatte, machte sich diese Stimmung zunutze, um Großbritanniens erste Premierministerin zu werden. Sie war überzeugt, den «kranken Mann Europas» (sick man of Europe) nur mit Hilfe eines radikalen Umbaus von Staat und Gesellschaft kurieren zu können, und leitete eine neue Ära ein: die des Neoliberalismus. Staatsunternehmen wurden privatisiert, der Markt dereguliert, ja die trägen Angestellten des aufgeblähten öffentlichen Dienstes sollten durch die Einführung von Marktprinzipien, von Wettbewerb und Konkurrenz zu mehr Effizienz und Produktivität angetrieben werden. Nach ihrer Wahl erklärte sie vor Downing Street No. 10 sendungsbewusst: «Wo Zwietracht herrscht, mögen wir Harmonie bringen. Wo Fehler walten, mögen wir Wahrheit bringen. Wo Zweifel herrschen, mögen wir Glauben bringen. Und wo Verzweiflung ist, mögen wir Hoffnung säen.»[1] Der Name der Krämerstochter war Margaret Thatcher – und ihren neoliberalen Politikansatz bezeichnete sie als «alternativlos».
So erfand die «Eiserne Lady» Thatcher einen politischen Slogan, der noch heute allen Demokraten übel aufstößt, weil er jeden Anflug von kritischer Widerrede, lebhafter Debatte und Opposition im Keim erstickt. Nach wie vor begegnen wir der Rede von der Alternativlosigkeit, obwohl Thatcher bereits vor fast dreißig Jahren von ihrer eigenen Partei aus der britischen Politik regelrecht verjagt worden ist. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich die politische Begleitmusik ihres TINA-Slogans – TINA ist die Abkürzung von «There is no alternative» – allerdings verändert. Thatcher machte davon noch Gebrauch, um ihre Gegner in teils unerbittlichen politischen Kämpfen aggressiv an den Pranger zu stellen, während wir es heute mit einer spröden und konfliktscheuen TINA-Politikerin namens Angela Merkel zu tun haben.
Auch die Motive für die Verwendung der Floskel haben sich seit Thatchers Abtritt verschoben. In den 1980ern sollten die britischen Wähler Thatchers alternativlose neoliberale Revolution als Signum des gesunden Menschenverstands anerkennen. Ende der 1990er sollten verunsicherte Sozialdemokraten dann einsehen, dass globalisierte Märkte nun einmal alternativlose Sachzwänge produzierten. Und heute? Heute lauschen wir einem vermeintlich alternativlosen Durchwurschteln, bei dem gar nicht mehr so klar zu sein scheint, ob dahinter – wie bei Thatcher – eine große Agenda steht oder – wie beim Dritten Weg der europäischen Sozialdemokratie – doch nur die Verwaltung von Sachzwängen. Eines ist jedoch unbestritten: TINA ist von einer leidenschaftlichen Beschwörungsformel, mit deren Hilfe Thatcher die politische Welt in Freund und Feind teilte, zu einer Phrase politischer Leidenschaftslosigkeit und Konfliktvermeidung in der Merkel-Ära geworden. Merkels vermeintlich alternativlose Sedierung des politischen Diskurses hat mittlerweile eine heftige Gegensprache provoziert. Während unverbesserliche Technokraten weiterhin auf Zwänge, Strukturen und Vorgaben pochen, mobilisieren Populisten heute das Volk als handlungsfähigen Akteur und feiern damit ungeahnte Wahlerfolge. Um zu verstehen, warum die Menschen den alten Sound der Macht nicht mehr hören können, lohnt sich ein Blick zurück in die lange Geschichte einer fatalen Floskel.
Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte in der britischen Politik der sogenannte Nachkriegskonsens (postwar consensus) zwischen der Labour-Partei und den konservativen Tories. Dieses Einverständnis beruhte auf der Zustimmung breiter Bevölkerungsschichten zum Wohlfahrtsstaat. Wie es der volkswirtschaftliche Zeitgeist nahelegte, verfolgten beide Parteien das Ziel, durch antizyklisches Nachfragemanagement Vollbeschäftigung zu gewährleisten. Ihre Politik, die vorwiegend um fiskal- und industriepolitische Fragen kreiste, zeugte von einem aktiven, interventionistischen Regierungsverständnis: Der Staat sollte sich aktiv in die Wirtschaft einmischen; das Gemeinwohl könne am ehesten in einer aus Staats- und Privatunternehmen gemischten Volkswirtschaft sichergestellt werden. Auch die Haltung der Regierung gegenüber den Gewerkschaften war kooperativ.[2] Staat, Arbeit und Kapital zogen gewissermaßen an einem Strang.
Aber dann kamen die Ölkrisen der 1970er, der rapide Wertverlust des Pfund Sterling, und die Krise der britischen Wirtschaft verschärfte sich. Der Boden war bereitet für die schrille Politik und Rhetorik Margaret Thatchers, die in allen Vorgängerregierungen nur noch die Ausläufer eines heillosen ancien régime zu erkennen glaubte. Nach Thatchers geschichtsphilosophischem Sendungsbewusstsein war die britische Nachkriegspolitik – mit Karl Marx gesprochen – nur noch Vorgeschichte mit unzeitgemäßen Traditionen, derer es sich schnellstmöglich zu entledigen galt. Konsequenterweise stilisierte sich die Eiserne Lady zu einer radikalen Außenseiterin innerhalb eines überkommenen politischen Systems: Nur sie allein brachte das nötige Rüstzeug mit, die drängenden Probleme der Zeit anzugehen und zu lösen. Auf die eigennützigen Eliten des Establishments konnte man demnach pfeifen.
Am Beispiel der neoliberalen Wende im Großbritannien der Thatcher-Ära zeigt sich die Doppelbödigkeit moderner politischer Rhetorik. Das beginnt schon beim lange vorherrschenden Bild eines harmonischen Nachkriegskonsenses, aus dem in der longue durée letztlich beide politischen Lager Kapital zu schlagen wussten: Während sich Thatcher als politische Revolutionärin in Szene zu setzen vermochte, die einen radikalen Bruch mit der erfolglosen keynesianischen Nachkriegspolitik vollzogen habe, konnte die Labour-Partei später wiederum allein der Eisernen Lady die Schuld für die sozialen Härten des neoliberalen Paradigmenwechsels in die Schuhe schieben. Tatsächlich war die Entwicklung aber viel uneindeutiger. Schon vor Thatchers Einzug in Downing Street No. 10 hatten der Labour-Premierminister James Callaghan und sein Schatzminister Denis Healey bereits die Abkehr vom keynesianischen Kurs angekündigt, um Großbritannien aus der Wirtschafts- und Finanzkrise von 1976 herauszuführen. Die Labour-Regierung hatte sich dazu gezwungen gesehen, einen Kredit beim Internationalen Währungsfonds (IWF) zu beantragen. Der IWF insistierte im Gegenzug auf drastischen Kürzungen der öffentlichen Ausgaben und schränkte damit den Spielraum für Reformen stark ein – ein Vorgehen, das sich zuletzt in der Griechenland-Politik der sogenannten Troika wiederholte. Doch hatte die auferlegte Sparpolitik auch hier keine positiven ökonomischen Effekte. Callaghan gelang es nicht, den gordischen Knoten der britischen Stagflation und andauernder Streiks zu lösen. Ganz im Gegenteil – im Winter 1978/79 legten private und öffentliche Dienste zugleich die Arbeit nieder, und die frustrierte Mehrheit der britischen Wähler kam zu dem Schluss, dass die Labour-Regierung abgewirtschaftet hatte. Das Land stand still. Die Wahl der forschen Krämerstochter – die von dem, was sie sagte, immerhin überzeugt schien – war für die Mehrheit der Briten die logische Konsequenz.
Thatcher profitierte demnach von einem weitverbreiteten Gefühl des Niedergangs und verwendete eine Sprache des drohenden Untergangs, in der sie wiederum einen Neuanfang versprach. Den «Winter des Missvergnügens» von 1978/79 verkaufte sie ihren Wählern als deutliches Anzeichen einer Unregierbarkeit,[3] der allein mit radikalen Maßnahmen beizukommen sei. Der Staat habe den Gewerkschaften zu viel Macht gelassen, diese stellten infolgedessen überzogene Ansprüche, ja überhaupt sei der Staat aufgrund seiner Allzuständigkeit völlig überlastet und aufgebläht. Thatcher nutzte das Gefühl der Öffentlichkeit, von den Gewerkschaften in Geiselhaft genommen worden zu sein, und machte sich in der Folge daran, die korporatistische Struktur des britischen Staates zu zerschlagen.
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