Lesen was ich will!
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ISBN 978-3-492-99222-0
© ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2018
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: FinePic®, München
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Cover & Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Epilog
Der Dämonenfürst Baal stützte die Hände auf den Schreibtisch und beugte sich tief über die Dokumente, die darauf ausgebreitet waren. Er studierte sie eingehend, mit immer größerer Verstimmtheit.
»Das Phänomen setzt sich fort?«, fragte er beiläufig, obwohl er die Antwort bereits kannte.
»Ja, Herr«, antwortete einer seiner Berater.
Sie hatten sich diskret mit verschränkten Händen an der Wand aufgestellt. Wie Lämmer standen sie da und warteten auf seine Reaktion, seinen bevorstehenden Ausbruch.
Er entließ sie mit einem flüchtigen Handwedeln. »Ihr dürft euch entfernen.«
Sie verbargen die Erleichterung gut. Nur die Eile, mit der sie den Beratungssaal verließen, zeugte von ihrem Unbehagen.
Baal ließ sich in den Sessel fallen, den Blick finster auf die ausgebreiteten Landkarten der Unterwelt gerichtet. Wie viel Zeit blieb ihm noch?
Gedankenverloren spielte er mit einem Stift und ließ ihn zwischen den Fingern kreisen. Dann sprang er auf und ging entschlossenen Schrittes in sein Büro.
Nein, er würde nicht so einfach das Handtuch werfen. Nicht, bevor er nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft hatte. Es gab einen Weg, wie er die bevorstehende Katastrophe abmildern konnte, doch nur mit Hilfe aus der Realität.
Er kreiste kurz mit den Schultern, um sich zu lockern, zog dann sein Jackett gerade und ließ sich auf die Knie nieder. Mit einem Finger berührte er eine Linie des Bannkreises, der mit weißer Farbe auf dem dunklen Holzboden gemalt worden war und verschlungene Runen zeigte.
Ein kleiner Magieschub genügte und die Linien begannen zu glimmen, erst ganz leicht, dann glühten sie in einem faszinierenden Mitternachtsblau.
Dieser Derek Watson, ein Freund seiner Tochter Jill, hatte gute Arbeit geleistet. Er war ein kleiner, besserwisserischer Professor, aber immerhin mit kreativen Ideen. Bisher waren die Portale zwischen Unterwelt und Realität in Form von Beschwörungskreisen nur Einbahnstraßen gewesen, die Dämonen den Beschwörungen der Sterblichen ausgeliefert, ohne selbst Kontakt aufnehmen zu können. Nun, die Unterwelt ohne Weiteres verlassen konnte Baal immer noch nicht, aber immerhin konnte er sich durch die verschlungenen Runen, die er auf Anraten Dereks in den Bannkreis eingefügt hatte, bemerkbar machen. In diesem Augenblick sollte der Zwillingskreis im Büro des Verborgenenorganisationsleiters aufleuchten.
Baal strich sich noch einmal über den Anzug und betrat den Kreis. Von hier aus war es leichter, beschworen zu werden. Wenn er innerhalb des Kreises stand, fühlte sich die Beschwörung wenigstens nicht an, als würde er durch ein zentimeterkleines Loch gepresst werden, um die Welten zu wechseln. Hoffentlich war Henry Cole in seinem Büro.
Nach wenigen Sekunden spürte Baal einen Zug, als greife jemand nach seiner Seele, um sie aus seinem Körper zu ziehen. Er brummte genervt. Lieber wäre es ihm gewesen, die Welten komplett zu wechseln, anstatt nur sein Abbild in die Realität projizieren zu lassen, aber natürlich ging der Leiter der VO auf Nummer sicher. Baal würde den Schutzkreis nicht verlassen können.
Schon begann sich sein Büro zu drehen und er schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, befand er sich in einem anderen Arbeitszimmer, mit Henry Cole vor sich. Er sah den stämmigen Mann mit dem feinen blonden Haar wie durch einen Schleier – eine Nebenwirkung der unvollständigen Beschwörung.
»Du wolltest mich sprechen?«, kam Henry gleich zur Sache und ließ sich wieder hinter seinem Schreibtisch nieder. Baal setzte ein Lächeln auf.
»Ich wollte mich nach der Testperson erkundigen«, sagte er höflich und neigte den Kopf.
Henry nickte geistesabwesend. »Er macht sich gut und ist eine große Bereicherung für uns, besonders für Jill. Sie respektiert ihn und folgt seinen Anweisungen. Es könnte funktionieren.«
Baal versuchte, ein siegessicheres Lächeln zu verbergen. Es war die richtige Entscheidung gewesen, seinen besten Mann zu schicken.
»Das freut mich«, erwiderte er. »Denn ich würde das Projekt gerne auf fünf Testpersonen erweitern. Als Unterstützung für die Jäger, als Lehrer in Magie, was auch immer du dir vorstellst.«
Henry lehnte sich zurück und strich sich über die Bartstoppeln.
»Es könnte noch etwas zu früh sein«, sagte der VO-Leiter vorsichtig. »Aber ich werde darüber nachdenken.«
Baal konnte nur mit Mühe seine Ungeduld verbergen.
»Vielen Dank«, antwortete er dennoch und bat Henry darum, ihn wieder zurückzuschicken. Er durfte nicht den Eindruck machen, dass die Integration der Dämonen in die Realität eilte.
Aber die Zeit drängte.
Ich zog den Kopf ein und klappte den Kragen meines Mantels hoch. Nasskalter Nebel bahnte sich durch die Straßen Londons. Er ließ die Kleider klamm werden und verursachte eine bedrückende Stille. Ich konnte kaum weiter als zwanzig Meter blicken. Der verhangene Himmel hinter dem weißen Dunst versprach Regen und ließ kaum erahnen, dass in einer Stunde die Sonne aufgehen würde. Das triste Grau der Wolken war in diesen frühen Morgenstunden kaum heller geworden und würde es im Laufe des Tages auch nicht werden.
Ich beschleunigte meine Schritte und warf einen Blick zurück, während ich das Gähnen unterdrückte und mir die Haare, die auf meiner Stirn klebten, aus dem Gesicht wischte. Neidisch streiften meine Augen die Fenster unserer Wohnung, hinter denen Alissa, Cox und Chaz noch tief und fest schliefen. Es hatte mich viel Überwindung gekostet, den Wecker nicht einfach auszustellen und liegen zu bleiben.
Aber wer wollte schon den Zorn eines Dämons heraufbeschwören? Ich war schon spät dran, was mir vermutlich wieder eine Bestrafung einbringen würde. In der Ferne läuteten Glocken. Ein Taxi fuhr vorbei und ich sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite, um dem Schwall an Pfützenwasser zu entgehen.
»Pass doch auf«, grummelte ich den Rücklichtern des Wagens hinterher, als er um die nächste Ecke bog und verschwand. Ich blieb allein auf dem Gehweg zurück. Wäre ich nicht total übermüdet gewesen, hätte ich mich über die Ruhe freuen können. Es war die Zeit des Tages, zu der am wenigsten los war: Die Nachtschwärmer hatten sich endlich in die Betten begeben und der Berufsverkehr würde erst in einer Stunde zu lärmen beginnen. Keine schnatternden Fußgänger waren unterwegs, nicht einmal der Wind wagte es, die Magie der kalten Morgendämmerung mit seinem Sausen zu stören.
Umso lauter hörten sich meine Schritte an, wenn meine Stiefel auf den nassen Boden platschten und der Klang an den Mauern der Wohnblöcke widerhallte. In der Ferne hörte man das Brummen eines Motors, dann verstummte das Geräusch. Ich wurde langsamer. Kam es mir nur so vor, oder wurde der Nebel dichter? Die Umrisse der Verborgenenorganisation waren schwach erkennbar, doch noch trennte uns eine dicke Wand aus weißem Rauch. Ich war gleich da. Diesen Weg ging ich beinahe jeden Morgen.
Wieso also stellten sich meine Nackenhärchen auf?
Ich riss mich zusammen und schlang die Arme um den Körper. Es war wichtig, dass ich einen klaren Kopf behielt. Es fiel mir in letzter Zeit viel zu schwer. Jeder Tag der letzten Monate begann mit hartem Konzentrationstraining. Das sollte dazu dienen, die immense Kraft in mir zu bändigen.
Ich war halb Dämon, halb Hexe. Bisher hatte ich es nie besonders schwer gehabt, mit der dämonischen Energie, die mir gegeben war, umzugehen. Allerdings war mir bis dahin nicht klar gewesen, dass das, was ich bisher an Magie zur Verfügung gehabt hatte, längst nicht alles war.
Bis vor ein paar Monaten jedenfalls. Denn da hatte ich Magie entfaltet, die zu kontrollieren eigentlich unmöglich war.
Mein Vater hatte meine Dämonenmagie kurz nach meiner Geburt in eine Kapsel geschlossen, tief in meinem Inneren. Dort hatte sie geschlummert und ich war durchaus zufrieden gewesen mit dem normalen Kontingent an Macht, das ich hatte.
Doch dann reichte die Magie meines Vaters nicht mehr aus und mit jedem Tag, der verging, bekam die Kapsel in meiner Brust mehr und mehr Risse. Die Magie, die er eingeschlossen hatte, um mich vor so viel Macht zu schützen, tropfte hinaus und vermischte sich mit meinen Hexenkräften. Ununterbrochen. Unaufhaltsam. Unkontrollierbar.
Die Folge war, dass sich meine Lebensenergie, die Prana, verstärkte und mich unberechenbar werden ließ. Sollte ich es nicht schaffen, die Magie zu kontrollieren, würde ich nicht nur den Verstand verlieren, sondern mit ziemlicher Sicherheit eine Katastrophe heraufbeschwören und daran sterben. Diese grandiosen Aussichten brachten mich dazu, jeden Morgen zu dieser ungnädigen Uhrzeit aufzustehen und mich von dem Dämon quälen zu lassen, den mein Vater mir für das Training zur Kontrolle meiner Magie zur Verfügung gestellt hatte.
Ein Schauder stahl sich über meinen Rücken und automatisch wanderte mein Blick in die Seitengasse, die ich gerade passierte. Undurchdringlicher, nasskalter Nebel, schlimmer als in jedem Horrorfilm, den ich kannte. Er nahm der Welt die Farben. Über London hing ein Dunst, der einer Waschküche glich. Ich fröstelte. Nur noch ein paar Meter, dann konnte ich die Straße überqueren und in das riesige Gebäude der Verborgenenorganisation flüchten.
Ein lauter Flügelschlag ließ mich erstarren. Instinktiv presste ich mich an die nächste Hauswand und hielt den Atem an. Stille. Hatte ich mir das Geräusch nur eingebildet? Ich suchte den dunstigen Himmel mit meinen Augen ab und meinte, einen riesigen Schatten durch die Lüfte huschen zu sehen. Ich blinzelte, während mein Herz unangenehm pochte, doch der Schatten tauchte nicht wieder auf.
War es Einbildung gewesen? Vielleicht hatte ich einfach schon zu viel Zeit in der Unterwelt verbracht, denn das erste Bild, was sich in meiner Fantasie bildete, war das eines großen Dämonenvogels mit ledernen Schwingen.
Wir sind in der Realität, rief ich mir in Erinnerung. Es konnte genauso gut eine zu groß geratene Krähe gewesen sein. Kein gewaltiger Vogel mit messerscharfen Klauen würde sich aus dem Nebel auf mich stürzen. Kein Monster mit Tentakeln hielt sich in dem Dunst versteckt, wie in Stephen Kings Romanen. Das hier war London, Nebel gehörte eben dazu.
Ich war viel zu schreckhaft geworden, seit ich meine Magie nur noch begrenzt einsetzen durfte, um keinen Schaden anzurichten. Ich fühlte mich schutzlos und das brachte mich dazu, mir die schlimmsten Szenarien auszumalen. Vermutlich spielte mir meine Fantasie einen üblen Streich, so wie bei dem verdächtig aussehenden Mann aus der Würstchenbude, dem ich einen Elektroschock verpasst hatte, weil ich fest davon überzeugt gewesen war, dass sich seine Augenfarbe innerhalb von Sekunden von Eisblau auf Grün geändert hatte. Wie sich herausgestellt hatte, hatte ich falschgelegen. Der Mann war kein Dämon gewesen, was mir eine Strafarbeit und der Verborgenenorganisation die Zahlung von einem Batzen Schmerzensgeld eingebrockt hatte. Merlin, der Würstchenverkäufer, fuhr nun einen schicken kleinen Mercedes.
Trotz dessen, dass ich mich so weit abgelenkt hatte, dass sich mein Herzschlag beruhigte, blieb ich noch ein paar Sekunden länger stehen und lauschte. Kein Flügelschlagen mehr.
Ein Fahrradfahrer rauschte an mir vorbei und zuckte zusammen, als ich aus dem Schatten des Hauses trat. Das Rad schlenkerte bedrohlich und ich winkte ihm entschuldigend hinterher, nachdem er sich wieder gefangen und mir einen vorwurfsvollen Blick zugeworfen hatte. Ich beschloss, nicht noch mehr Zeit zu vergeuden, und überquerte die Straße. Je näher die Verborgenenorganisation kam, umso absurder kamen mir meine vorangegangenen Ängste vor. Ich überquerte den großen Platz und grüßte murmelnd die beiden Wachen, die sich am Torbogen der VO aufhielten.
Mir entgingen nicht die fragenden Blicke, die sie mir hinterherwarfen, so wie jeden Morgen. Es war nur in kleinen Kreisen bekannt, was für Probleme mir meine Selbstbeherrschung machte und dass ich seit Monaten dafür trainierte, nicht eines Tages den Verstand zu verlieren. Allerdings blieb auch nicht verborgen, dass ich vom Dienst ausgeschlossen war, und die verschiedensten Gerüchte machten bereits die Runde, allen voran jenes, dass ich eine potenzielle Irre war und Henry Cole nur zu viel Mitleid hatte, um mich einsperren zu lassen.
»Guten Morgen, Rüdiger«, sagte ich daher extra laut und klopfte dem gewaltigen Dinosaurierskelett in der Eingangshalle auf den Fußknochen. Die beiden Wachen am Eingang sahen sich wissend an und ich überlegte, ob ich noch einen draufsetzen und mich eine Weile mit Rüdiger, dem Skelett, unterhalten sollte. Sollten sie mich doch für eine harmlose Verrückte halten. Die Wahrheit war viel schlimmer.
Ich atmete laut aus, als ich durch einen der Torbogen an den Seiten ging und die Treppe hinaufhastete. Auf halbem Weg kam mir Jeremy White entgegen, der Werwolf, der immer wieder versuchte, mir das Leben schwer und mich bei Cole schlechtzumachen. Der hatte mir gerade noch gefehlt.
Wie alle Werwölfe konnte Jeremy schnell aufbrausend werden, doch während die meisten Mondkinder zumindest außerhalb der Vollmondzeit sehr gesellig waren, war er einfach ein eifersüchtiger Idiot, der mich hasste, weil ich besser war als er. Die Betonung lag dabei auf war.
In den letzten Wochen hatte er sich allerdings sehr zurückgezogen und begegnete mir fast schon mit Höflichkeit. Seit er durch das Gift der Sidé, einem uralten Elfenvolk, dem Wahnsinn verfallen war und ich ihn gerettet hatte, um genau zu sein.
Seine gelben Augen weiteten sich etwas, als er mich erblickte. Nervös vergrub er die Hände in den Taschen.
Meine Güte, ich hatte nicht vor, ihn zu einer Entschuldigung für seine miese Masche zu zwingen, hatte er das immer noch nicht kapiert? Ich hatte die Sidé ganz sicher nicht für ihn aufgespürt und bekämpft. Da gab es noch etwa tausend Leute, die vor ihm auf der Sympathisch-und-sollte-gerettet-werden-Liste standen.
»Hey, Lassie«, begrüßte ich ihn und entlockte Jeremy damit immerhin ein verächtliches Schnauben.
Na also, es ging doch. Es war wenigstens im Ansatz wieder etwas von seiner arroganten Art zu erkennen. Damit war er einer der wenigen, die sich nicht von mir fernhielten, weil sie Angst hatten oder mich für verrückt hielten.
»Was willst du, Benett?« Er blieb stehen und zog eine buschige Augenbraue in die Höhe, doch auch damit konnte er nicht das unruhige Umherhuschen seiner Augen überspielen.
»Siehst müde aus«, stellte ich fest und verspürte tatsächlich einen Anflug von Sorge um den Werwolf. Schnell schüttelte ich dieses Gefühl wieder ab, bevor ich mich noch daran gewöhnte. Trotzdem zeugten die tief liegenden Augen und der zottelige Bart davon, dass Jeremy die Tatsache, dass das Gift der Sidé ihn dazu gebracht hatte, sich am helllichten Tag in einen Wolf zu verwandeln und seiner Tante die Kehle durchzubeißen, selbst nach Monaten noch immer nicht ganz verkraftet hatte.
»Viel zu tun«, knurrte er und wollte weitergehen, blieb aber abrupt neben mir stehen. »Nicht, dass du im Moment allzu viel davon verstehen würdest.«
Er hob das Kinn und stolzierte weiter. Der kleine Funken Sorge um ihn erlosch vollends. Ich schluckte die Bemerkung, die mir auf der Zunge lag, und gönnte ihm den Augenblick des Triumphs, weil mir die Geschichte mit seiner Tante wieder in den Sinn gekommen war. Der Werwolf war über Wochen am Boden zerstört gewesen. Sollte er sich doch daran hochziehen, dass seine stärkste Konkurrentin in den Zwangsurlaub geschickt worden war und das seine Aufstiegschancen erheblich verbessert hatte.
»Gibt es etwas Neues?«, rief ich ihm dennoch hinterher und ignorierte das Aufwallen der Kränkung.
»Das Übliche«, rief der Werwolf über die Schulter hinweg. »Diebstähle. Einbrüche. Seit Freitag drei Vermisste. Wir schicken Taucher in die Themse, sobald der Nebel sich verzogen hat.«
Ich sah ihm seufzend hinterher. An diesen Nebeltagen waren solche Nachrichten tatsächlich nichts Neues. Zusammen mit dem weißen Dunst wagten sich vermehrt die Handtaschendiebe und Halunken aus ihren Verstecken und in betrunkenem Zustand konnte man auch schon mal in der Themse landen, auf der sich besonders gerne der Nebel sammelte.
Keine Dämonenangriffe, das war immerhin etwas. Erschrocken blickte ich auf die Uhr und sprintete los. Am Ende des Flurs erwartete mich eine Doppelflügeltür, hinter der sich die Trainingshalle befand. Ohne zu zögern, stürmte ich hinein.
»Entschuldige die Verspätung«, keuchte ich und stutzte einen Moment, als ich Kisin nirgends sehen konnte. Nur dämmriges Licht drang von außen durch die deckenhohen Fenster. Ich ließ meinen Blick über die Wände mit den Übungswaffen gleiten und entdeckte den Dämon mit verschränkten Armen neben einem Mattenstapel. Sein bärtiges Gesicht war finster verzogen.
»Schon gut, erspar mir die Strafpredigt«, beeilte ich mich zu sagen und hob abwehrend die Hände. »Ich weiß Bescheid, eine extra Trainingsstunde zur Strafe.«
»Zwei, für deine Dreistigkeit«, knurrte Kisin zurück. »Und jetzt fang an, ich bin gleich zurück.«
Charmant wie immer. Ich öffnete protestierend den Mund, doch der Dämon war schon aus der Tür geschlüpft. Also machte ich eine unflätige Geste und begab mich zur Matte in der Mitte des Raums.
Als Kisin nur das Amt von Baals Leibwächter erfüllt hatte, war er bedeutend netter zu mir gewesen. Doch seit man ihn mir als Mentor und Aufpasser an die Seite gestellt hatte, war aus ihm ein herrschsüchtiger, brummiger Esel geworden, der seine Aufgabe für meinen Geschmack viel zu ernst nahm. Vermutlich ging er gerade in den Keller, um zu lachen.
Ich entschied mich für ein paar Dehnübungen, solange Kisin noch weg war. Schließlich würde ich die nächste Stunde damit verbringen, reglos vor mich hin zu starren und einzurosten.
Dann ließ ich mich im Schneidersitz nieder und versuchte, die höchste Stufe der Konzentration zu erreichen, wie Kisin es nannte.
»Begib dich in den Zustand der Schwerelosigkeit«, witzelte ich leise und äffte perfekt Kisins brummige und belehrende Stimme nach. Eine Weile wippte ich lautlos vor und zurück, in dem Versuch, mich nicht von dem unablässigen, nervtötenden Ticken der großen Uhr an der Wand ablenken zu lassen. Doch ohne die Anwesenheit meines Trainers fehlte es mir etwas an Antrieb und ich musste mir Mühe geben, nicht im Sitzen einzuschlafen. Ob ich Kisin überreden konnte, die Strafe auf nur eine Zusatzstunde zu verkürzen? Ich hatte mich von Alissa zu einem Wellnesstag nach dem Training überreden lassen. Mit zwei Überstunden würde der wohl ins Wasser fallen.
Maniküre, Pediküre, Gesichtsmasken und Styling im Gegenzug zu Kisins Drangsalierung während des Trainings ... Ich überlegte, was das größere Übel war, und entschied mich, Ally zuliebe das Prozedere über mich ergehen zu lassen. Wir hatten lange nichts mehr gemeinsam gemacht.
Immer wieder wanderten meine Blicke zu den hohen Fenstern, hinter denen kaum mehr als weißer Dunst zu erkennen war. Dieser Nebel war wirklich extrem, selbst für Londons Verhältnisse. Ich ertappte mich dabei, wie ich nach schwarzen Schwingen Ausschau hielt und auf das Kreischen eines Dämonenvogels lauschte, bevor ich mich wieder zusammenriss. Was war nur los mit mir? Wieso bekam ich plötzlich Paranoia? Weil immer noch nicht geklärt war, wie einige Höllenhunde vor Monaten in die Realität gekommen waren und weil es in letzter Zeit verdächtig still war? Der Nebel schien wie die Ruhe vor dem Sturm zu sein.
Unruhig rutschte ich auf der Matte zurück und beschloss, noch ein paar Dehnübungen zu machen, bevor Kisin zurückkehrte und mich zum Stillhalten verdonnerte.
»Hab ich gesagt, dass du aufhören darfst?«, bellte eine laute Stimme und ich plumpste erschrocken zurück auf die Matte. Ich hatte den Dämon nicht einmal eintreten hören. Wie lange war er schon da und hatte mich beobachtet? War das ein Test gewesen?
Wenn ja, dann hatte ich ihn gehörig vermasselt. Kisin schien heute besonders schlechte Laune zu haben. Vermutlich war es kein besonders guter Zeitpunkt, ihn um die Milderung meiner Strafe zu bitten. Vielleicht hatte ich eine Chance, wenn ich mich heute anstrengte und seine Erwartungen erfüllte.
»Kaum bin ich nicht in der Nähe, vernachlässigst du deine Pflichten«, knurrte er in seinem bestimmten Ton, der keine Lautstärke brauchte, um sich herrisch anzuhören. »Du bist unkonzentriert, faul und hast kein Verantwortungsbewusstsein.«
Außerdem lasse ich mich zu leicht ablenken, bin zu impulsiv und zu emotional, zählte ich in Gedanken auf und verkniff es mir gerade noch, Kisin zu sagen, dass ich diese Worte schon tausend Mal gehört hatte.
Stumm ließ ich seine Schimpftiraden über mich ergehen, weil ich genau wusste, dass er sich nur Sorgen um mich machte. Außerhalb unserer Trainingszeit war Kisin ein netter Dämon, der für seinen trockenen Humor bekannt und ziemlich umgänglich war. Er gehörte sozusagen zur Familie und war seit vielen Jahren einer der engsten Vertrauten meines Vaters – weshalb er ganz besonders an meinem Schicksal interessiert war und alles daransetzte, mich zu retten. Auf Befehl meines Vaters war er deshalb nicht nur mein Mentor, sondern mein persönlicher Leibwächter geworden, ein Umstand, der ziemlich nervig sein konnte.
Kisin schlief bei uns in der Wohnung, aß mit uns zu Abend und folgte mir auf Schritt und Tritt, ständig wachsam und bereit, sich für mich einzusetzen. Ich gab es mittlerweile auf, die Leute davon zu überzeugen, dass wir kein Paar waren. Ich konnte ihnen schlecht erklären, wieso plötzlich Tag und Nacht ein attraktiver Mann an meiner Seite war. In Wahrheit war Kisin zwar ein Freund der Familie und ich mochte ihn, hatte aber keinerlei Interesse an einer innigeren Beziehung.
Ich zuckte zusammen, als ich mitbekam, dass ich mit meinen Gedanken schon wieder ganz woanders war. Und tatsächlich hatte Kisin seine Predigt schon vor einer Weile beendet und sah mich stumm und mit verschränkten Armen an. Er hatte meinen kleinen Gedankenausflug also mitbekommen.
Ich verzog den Mund zu einem schuldbewussten Lächeln, was ihm ein entnervtes Seufzen abrang.
»Es tut mir leid«, jammerte ich. »Wenn wir dieses Training zu menschlicheren Uhrzeiten abhalten würden, könnte ich mich besser konzentrieren.«
Kisins eisblaue Augen verengten sich. »Du musst lernen, zu jeder Tageszeit die Kontrolle zu behalten. Wenn du das nicht kannst, ist meine Arbeit hier umsonst.«
Mit einem Nicken gab ich ihm recht und überlegte kurz, ob ich ihm von meiner Befürchtung heute Morgen erzählen sollte. Aber heute schien er besonders gereizt zu sein. Eine Sorgenfalte hatte sich auf seiner Stirn gebildet und vielleicht war es nicht die beste Idee, gerade jetzt mit meiner Paranoia herauszurücken.
»Was ist los, Kisin?«, fragte ich ihn freiheraus und bemerkte das winzige Zögern in seinen sonst so geschmeidigen Bewegungen. »Irgendetwas belastet dich, ich sehe es dir an.«
Er winkte ab, doch so einfach ließ ich mich nicht abspeisen.
»Im Ernst, du bist bei unserem Training noch nie besonders rücksichtsvoll mit mir umgegangen. Aber ich sehe dir an, dass dich etwas oder jemand ziemlich sauer macht, und es wäre sehr nett, wenn du das nicht an mir auslässt.«
Sein schlechtes Gewissen ließ sich nur ansatzweise an seiner Haltung erkennen.
»Es ist Baal, habe ich recht?«, hakte ich weiter nach. »Hat er Ärger in der Unterwelt?«
Kisin presste die Lippen zusammen und ich wusste, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. Es gab nur einen, dem Kisin mehr ergeben war als mir, seinem Schützling. Und das war jener, dem er die Treue geschworen hatte, mein Vater.
»Es gibt Aufstände«, erwiderte Kisin knapp.
Ich stand auf und vergrub die Hände in der Jeans, als ich zu ihm schlenderte. Die Nachricht, dass mein Vater wieder einmal seinen Herrscherposten verteidigen musste, war nichts Neues. Ein ganzes Land mit Dämonen im Zaum zu halten war eben nicht einfach, zumal die Dämonen von Natur aus dazu neigten, die ihnen gegebene Macht dazu zu nutzen, ihre eigene Welt zu zerstören. Über die Jahre hinweg hatte es immer wieder Krieg in der Unterwelt gegeben.
»Nimm dir einen Abend frei«, schlug ich ihm vor. »Unterstütze Baal, wenn du es für nötig hältst. Ich komme schon zurecht.«
In meiner Stimme lag mehr Zuversicht, als ich verspürte. Aber ein Abend ohne Babysitter klang einfach zu verlockend, zumal ich mit Alissa Mädelsgespräche führen wollte, ohne dass ein Aufpasser mit Supergehör lauschte.
»Ich habe deinem Vater versprochen ...«
»… auf mich aufzupassen, schon klar«, beendete ich den Satz des Dämons. »Aber Ally und ich haben heute unseren Wellnesstag, schon vergessen? Ich werde umgeben sein von einer Traube schnatternder Frauen inmitten von Stylisten, Nageldesignerinnen und Masseurinnen. Ich bin also nicht allein. Und dir wird nichts anderes übrig bleiben, als uns zu begleiten und den ganzen Abend unserem Weibertratsch zu lauschen.«
Kisin zog unbehaglich die Schultern hoch, doch so ganz hatte ich ihn noch nicht überzeugt. Er schien hin- und hergerissen. Einerseits kannte er meinen Vater gut genug, um zu wissen, wann dieser Hilfe benötigte, andererseits hatte er den Befehl, mich nicht aus den Augen zu lassen.
Ich musste schwerere Geschütze auffahren.
»Andererseits«, überlegte ich laut und strich mir gedankenverloren mit der Hand über das Kinn, »würde dir ein neuer Look auch nicht schaden. Dein Bart muss geschnitten werden und deine Haut könnte mal eine Feuchtigkeitsmaske vertragen ...«
»Schon gut, schon gut«, stieß Kisin hervor und die Panik in seinem Blick machte es mir schwer, mein Lachen zu unterdrücken. »Ich werde sehen, wie ich deinem Vater helfen kann, und bin zurück, wenn ihr mit euerem Wellnessdingsda fertig seid. Zufrieden?«
»Zufrieden«, stimmte ich zu, obwohl ich beinahe geneigt war, ihn darum zu bitten, mich mitzunehmen. Kämpfen hörte sich beinahe verlockender an als Maniküre und Gesichtsmasken.