Der magische Dschungel von Caldera schwebt in höchster Gefahr:
Die böse Ameisenkönigin droht, aus ihrem Gefängnis auszubrechen und Caldera mit ihren Ameisenarmeen zu unterwerfen – nur eine kleine Gruppe von Schattenwandlern mit magischen Fähigkeiten kann das verhindern!
Dazu gehört das mutige Panthermädchen Mali. Zusammen mit dem Pfeilgiftfrosch Rumi, der Fledermaus Lima und dem Kapuzineräffchen Gogi macht sie sich auf ins größte und zugleich gefährlichste Abenteuer ihres Lebens!
In Caldera war es immer so:
Geschöpfe der Sonne Geschöpfe des Mondes
Getrennt durch die Schleier von Sonnenaufgang
und Sonnenuntergang.
[Nur die Ameisen wandeln bei Tag und bei Nacht ...
und werden dafür gehasst.]
Die Furcht stellt eifrig Regeln auf. Dies sind ihre Gebote:
Wer die Schleier überwindet, verhält sich
Widernatürlich
Ungebührlich
Verabscheuungswürdig.
Wer in der falschen Zeithälfte wandelt, ist des Todes.
Doch was geschieht dann ...
mit all jenen Tieren ...
die während der Sonnenfinsternis geboren wurden?
Was stimmt nicht mit mir?
Mali ballt und streckt ihre Pfoten. Jedes Mal wenn sie die Augen schließt, lässt die Unruhe sie gleich wieder aufspringen, ganz egal wie fest sie sie auch zukneift. Alle anderen Panther im Bau schlafen, so wie es sich gehört. Es ist schließlich mitten am Tag!
Warum ist sie dann wach? Warum befindet sie sich auf der falschen Seite des Schleiers?
Sie fängt an, Ameisen zu zählen. Vielleicht macht sie das ja müde. Kein Wesen kennt irgendeinen Ort so gut wie Mali diesen Bau. Er besteht aus einem dichten Geflecht aus dornigen Ranken und Lianen, das sich in die Gabelung zweier uralter Bäume schmiegt. Blattschneiderameisen tummeln sich darin, aber abgesehen davon ist er gemütlich und sie sind vor den gefährlichen Tagwandlern geschützt.
Gut, Tante Usha wäre wohl auch draußen sicher – Mali kann sich nicht vorstellen, dass irgendein Tier so leichtsinnig wäre, sie anzugreifen. Usha hat ihren langen muskulösen Körper mit dem dichten braunschwarzen Pelz schützend um ihre Jungen gerollt. Ihr leises Schnarchen hat eine beruhigende Wirkung auf die schlafenden Säuglinge.
Mali rückt von Tante Usha weg und tappt auf leisen Pfoten ans andere Ende des Baus. Sie schiebt einige Ranken auseinander, bis sich ein kleines dreieckiges Loch im Dach auftut, durch das sie den blauen Himmel und den Sonnenschein sehen kann. Ein Schauer läuft ihr über den Rücken. Am Tag treiben Kreaturen ihr Unwesen, die sie nur aus den Legenden kennt: Monster, die kein Nachtwandler je gesehen hat.
Sie blickt ins helle Blau. Eine solche Farbe gibt es nachts nicht. Selbst die Schmetterlinge halten ihre himmelblauen Flügel geschlossen, wenn der Mond das Sagen hat. Mali ist so in Gedanken versunken, dass sie keine Ahnung hat, wie viel Zeit verstrichen ist, als das blaue Dreieck sich plötzlich grün-weiß verfärbt. Sie kann die Schuppen einer Grünen Hundskopfboa erkennen – eigentlich ein Nachtwandler wie die Panther auch, und deswegen sollte diese Schlange jetzt gar nicht wach sein. Noch ein Tier, das zur falschen Zeit auf ist, genau wie sie! Aufgeregt richtet sich Mali auf und spitzt die Schnurrhaare.
Chumba seufzt und regt sich im Schlaf. Obwohl Mali weiß, dass ihre Schwester – wie jeder richtige Panther – am Tag nicht aufwachen kann, kauert sie sich bewegungslos auf den Boden und wartet, bis Chumba zur Ruhe kommt. Nachdem Chumba Mali den Rücken zugedreht und ihre Schnauze und Ohren unter ihrem Vorderbein vergraben hat, schnarcht sie unverdrossen weiter. Das alles dauert nicht lange, doch als Mali sich wieder der dreieckigen Öffnung zur Tagwelt zuwendet, ist der Himmel so blau wie zuvor, und die geheimnisvolle Schlange ist verschwunden.
Die Anspannung weicht aus Malis Körper. Sie legt sich hin, aber ihr Schwanz und ihre Ohren zucken vor Ärger über das Adrenalin, das durch ihre Adern strömt, ohne dass sie sich abreagieren kann. Mit klopfendem Herzen senkt sie den Kopf auf ihre Vorderpfoten und macht sich wieder daran, die Ameisen zu zählen. Warum sind es immer so viele? Ihr Cousin Haze behauptet, dass es bis zu der Nacht, als Malis und Chumbas Mutter gestorben ist und Usha die beiden Schwestern bei sich aufgenommen hat, überhaupt keine Ameisen in Caldera gab. Mali glaubt das nicht, denn wie kann sonst das Sternbild der Ameisenkönigin am Himmel stehen, wenn es die Ameisen erst seit Kurzem gibt? Trotzdem scheint es, als würden von Nacht zu Nacht mehr Blattschneiderameisen durch ihren Bau krabbeln. Sie fängt eine, um irgendetwas zu haben, womit sie sich beschäftigen kann, doch dann bekommt sie ein schlechtes Gewissen und lässt sie wieder frei. Unbeirrt setzt die Ameise ihren Weg fort.
Mali merkt erst, dass sie immer noch mit dem Schwanz zuckt, als sie die Nase ihrer Schwester streift und Chumba im Schlaf niesen muss.
Wach auf, fleht Mali.
Normalerweise wuseln die Ameisen kreuz und quer über den Boden des Regenwaldes, doch jetzt folgen sie alle einer einzigen gerade Linien. Mali fragt sich, wohin sie wohl wollen – oder wovor sie weglaufen. Während sie den Insekten zusieht, schweifen ihre Gedanken ab. Schon bald denkt sie nicht mehr über das seltsame Verhalten der Ameisen nach, sondern malt sich die nächtliche Jagd aus: wie sie mit Chumba den Motten nachläuft und im muffigen Unterholz nach den Spuren wohlgenährter Nagetiere schnuppert.
Da blitzt in ihrem Augenwinkel etwas Grün-Weißes auf. Die Schlange ist zurück!
Sofort ist Mali auf den Beinen. Ihr ganzer Körper ist angespannt, und sie fletscht die Zähne. Mit gespitzten Ohren versucht sie, den Bewegungen der Schlange nachzulauschen, doch die Geräusche des Regenwaldes sind zu laut: das gleichmäßige Prasseln des Regens, das schrille Zirpen der Zikaden, die kreischenden Vögel.
Usha hat den Ort, an dem sie den Bau für ihre Familie errichtet hat, sorgfältig ausgewählt. Drum herum befindet sich ein schier undurchdringliches Gestrüpp aus Lianen und Dornenranken, es ist also unwahrscheinlich, dass die Schlange zufällig darauf gestoßen ist. Ist sie etwa auf der Jagd nach ihnen? Am liebsten würde Mali nach draußen rennen, um sich den Eindringling genauer anzusehen. Doch im Kopf kann sie Tante Ushas Stimme hören: Der Tag liegt auf der falschen Seite des Schleiers. Jedes Tier, das den Schleier übertritt, bricht die Gesetze der Natur. Jedes Tier, das die Gesetze der Natur bricht, gehört verstoßen.
Einer von Malis Cousins aus Ushas letztem Wurf hatte die Angewohnheit, ständig leise zu wimmern. Er konnte nichts dagegen tun und schien es selbst nicht mal zu merken, doch er vermasselte ihnen dadurch ständig die Jagd. Obwohl er zu dem Zeitpunkt noch ein hilfloses Jungtier war, packte Usha ihn irgendwann am Nacken, trug ihn aus dem Bau und kehrte einige Zeit später ohne ihn zurück. Sie hörten nie wieder von ihm. Fehlverhalten wird bestraft, da gibt es nichts zu hinterfragen.
Deswegen darf Mali auch nicht dabei erwischt werden, dass sie am Tag wach ist.
Von dem grün-weißen Eindringling ist nichts mehr zu sehen. Wie gerne würde Mali mit Chumba darüber reden, doch sie weiß, dass sie ihre Schwester nicht vor Sonnenuntergang wecken kann. Stattdessen ruft sie sich all die unheimlichen, kinderfressenden Tagwandler ins Gedächtnis. Sie hat noch keinen von ihnen zu Gesicht bekommen, aber in ihrer Vorstellung sind es schreckliche Monster mit mehreren Köpfen, stacheligen Rücken und knochigen Schädeln, aus denen Flammen emporzüngeln.
Schließlich wird das Blau über ihr dunkler und verblasst langsam zu Grau. Die Schatten der Äste und Zweige zeichnen ein Muster auf den Boden des Baus. Endlich bricht die Dämmerung an! Mali lässt ihre Schwanzspitze erneut über Chumbas Nase streichen, um ihre Schwester zum Niesen zu bringen, doch die schnarcht ungerührt weiter. Also kitzelt Mali sie noch mal an der Nase. Inzwischen ist der Schleier weit genug herabgesunken, dass Chumba aufwacht.
»Komm schon, Mali, erschreck mich doch nicht so!« Chumba gähnt ausgiebig und zeigt dabei ihre scharfen Zähne. »Wieso bist du denn so früh schon so ausgeschlafen?«
»Ich bin gleich aufgewacht, als der Schleier gefallen ist«, antwortet Mali. »Sieh mal – nur wir zwei, Chum! Wie früher.«
Die beiden Schwestern wechseln einen Blick, in dem die Erinnerungen an ihre Mutter unausgesprochen mitschwingen. Obwohl sie beide noch Säuglinge waren, als sie starb, können sie sich an ihre Wärme, an ihren Duft erinnern. All die anderen Jungtiere im Bau sind Kinder von Tante Usha.
Die Schlange spukt Mali immer noch im Kopf herum, doch sie kann sie Chumba gegenüber nicht erwähnen, ohne ihr Geheimnis preiszugeben. Also überlegt sie sich etwas, womit sie sich ablenken kann. Sie geht in Lauerstellung, mit gesenktem Kopf und funkelnden Augen. »Los, wir spielen ein Spiel!«, schlägt sie vor.
»Das kann nicht dein Ernst sein«, gähnt Chumba und reckt sich.
»Doch! Wie wär’s mit Fang-den-Schwanz? Oder Schnurrhaarkitzeln? Oder vielleicht das Zweitatzenspiel? Oder …«
»Mach mal langsam«, brummt Chumba, während sie ihre Vorderbeine streckt und das Kinn nach unten drückt. »Ich … muss … erst … wach werden. Außerdem weißt du, wie sehr ich das Zweitatzenspiel hasse.«
Mali beißt sich auf die Unterlippe. Das Zweitatzenspiel ist ein wunder Punkt. Chumba ist nicht nur die Kleinste unter ihnen, ihr fehlt auch noch eine Vorderpfote. Ihr Bein endet einfach in einem Stumpf, der von einem wunderschönen kleinen Stück weichem hellbraunem Fell bedeckt ist. Chumba versucht, sich dadurch nicht einschränken zu lassen, aber Mali weiß, dass ihr der Stumpf morgens wehtut. Chumba schüttelt das verkürzte Bein aus, leckt ein paarmal darüber und setzt es dann entschlossen auf dem Boden ab. Sie schließt die Augen. Mali stupst sie zärtlich mit der Schnauze an.
Als Chumba die Augen wieder aufschlägt, brennt darin ein Feuer. Knurrend stürzt sie sich auf Mali und wirft sie um. Sie hauen mit den Tatzen nach einander und toben so wild durch den Bau, dass sie dabei über ihre Cousins und Cousinen hinwegrollen. Die jüngsten, Ushas Drillinge Yerlo, Jerlo und Derli, wachen nicht auf. Haze dagegen schon. Das merkt Mali daran, dass hinter ihr plötzlich ein lautes Fauchen ertönt und eine Tatze mit ausgefahrenen Krallen nach ihrem Ohr schlägt.
Ebenso laut fauchend fährt sie herum.
»Passt gefälligst auf«, knurrt Haze. »Wird Zeit, dass ihr endlich mal lernt, euch zu benehmen. Oder wollt ihr Mutter aufwecken?« Haze ist zwar nur ein paar Nächte älter als sie, doch das kehrt er auch bei jeder Gelegenheit heraus.
»Oooch, haben wir dich aus deinem ach-so-wertvollen Schlaf gerissen?«, fragt Mali. Ihr Schwanz peitscht angriffslustig hin und her. Die meisten Panther, selbst Usha, haben schwarzes Fell mit einem braunen Fleckenmuster. Nur Haze ist mit einem vollkommen weißen Fell auf die Welt gekommen. Er hat die Farbe eines frisch zerteilten Pilzes, und das von den Schnurrhaaren bis zur Schwanzspitze. Den Großteil der Nacht verbringt er damit, sich zu putzen, bis sein Fell schön üppig glänzt.
»Schlaf ist überlebenswichtig«, erwidert Haze hochmütig. »Wenn ihr nicht ewig davon abhängig sein wollt, dass meine Mutter für euch das Futter jagt, solltet ihr euch lieber ein bisschen mehr ausruhen, das schärft die Reflexe. Ihr zwei braucht jeden Vorteil, den ihr kriegen könnt.«
»In dem Fall solltest du wohl gleich Tag und Nacht schlafen«, spottet Mali und deutet mit der Pfote auf Haze. »Du leuchtest da draußen wie ein Schnellkäfer.«
Haze stößt einen genervten Seufzer aus und zeigt Mali die Zähne. Dadurch bekommt er jedoch nicht mit, dass sich Chumba von hinten an ihn herangepirscht hat. Malis Blick huscht zu ihrer Schwester – nur kurz, aber es reicht, dass Haze es sieht und herumwirbelt. Er reißt das Maul auf, während die kleine Chumba sich kichernd auf ihn stürzt. Im letzten Moment weicht Haze ihr aus … und Chumba landet stattdessen auf Usha.
Tante Usha, deren langer, kräftiger Körper sich von einem Ende des Baus zum anderen erstreckt, zeigt kaum eine Regung, als Chumba in sie hineinkracht. Usha gähnt ausgiebig, wobei ihre scharfen Zähne zum Vorschein kommen, und schlägt dann die grünen Augen auf, die verärgert aufblitzen, als sie Chumba bäuchlings neben sich auf dem Boden entdeckt. Beschämt zieht sich Chumba in die hinterste Ecke des Baus zurück.
»Was ist hier los?«, fragt Usha.
»Mutter, ich bin genauso überrascht wie du.« Mit engelsgleicher Unschuldsmiene setzt sich Haze auf. »Ich habe ganz friedlich geschlafen, um meine Kräfte für die bevorstehende Jagd zu schonen, als sich Mali und Chumba plötzlich aus dem Nichts auf mich gestürzt haben. Damit hätten sie uns alle in Gefahr bringen können. Was, wenn die Tagwandler auf uns aufmerksam geworden wären? Ich kann nicht fassen, dass sie …«
»Niemand mag Petzen, Haze«, unterbricht ihn Usha. Sie erhebt sich auf alle viere und streckt sich. »Kommt, Kinder. Der Schleier hat sich herabgesenkt, und die Nacht ist angebrochen. Es ist Zeit für die Jagd.«
Während Usha zum Ausgang schreitet, wirft Haze Mali und Chumba einen bitterbösen Blick zu, bevor er sich seiner Mutter anschließt. Er folgt ihr so dicht auf den Fersen, dass sein Kopf beinahe ihre Schwanzspitze berührt.
Ushas letzter Wurf schlummert immer noch. Mali und Chumba huschen durch den Bau und wecken Yerlo, Jerlo und Derli auf, ohne sich um deren schläfrige Proteste zu kümmern. »Kommt schon, Usha will los«, drängt Mali. »Ich weiß, ihr seid müde, aber ihr wollt doch nicht zurückgelassen werden, oder?«
Die Kleinen gähnen und strecken sich und tapsen verschlafen nach draußen in die abendliche Dämmerung. Mali und Chumba bilden das Ende der Gruppe. Usha wartet nicht auf Zuspätkommer, und so beeilen sie sich, sie einzuholen. Trotzdem nimmt sich Mali einen Augenblick Zeit, die Umgebung in sich aufzunehmen. Die Bäume des Regenwaldes erscheinen wie gewaltige Säulen, deren Wurzeln sich wie Flügel ausbreiten, bevor sie in die schwarze lehmige Erde eintauchen. Ihre Stämme ragen lang und glatt in den Himmel, bis weit, weit oben die ersten Äste abzweigen. Lianen, in einen jahrelangen Ringkampf mit den Bäumen verschlungen, schwingen in der abendlichen Brise hin und her. Auch sie haben Wurzeln, die wie feingliedrige Netze bis zu den abgestorbenen Blättern am Regenwaldboden hinabreichen. Dort unten wachsen die Pilze, deren weiße Köpfe das Mondlicht reflektieren und so genügend Helligkeit spenden, dass die Panther mit ihrer Dunkelsicht sämtliche Details auf ihrem Weg klar und deutlich erkennen können.
Usha ist die dunkelste von ihnen; in ihrem schwarzen Pelz ist nur ein winziger Hauch von Braun auszumachen. Yerlo, Jerlo und Derli sind fast genauso schwarz, doch in ihrem Pelz finden sich hier und da ein paar kleine goldene Flecken. Irgendwann werden sie genauso schlank und stark sein wie Usha, aber jetzt sind sie noch kleine flauschige Pelzknäuel, deren Haare in alle Richtungen abstehen. Mali kann nur am Schwanz und den leuchtend blauen Augen erkennen, wo bei ihnen vorne und hinten ist.
Haze ist so weiß, wie Usha schwarz ist. Obwohl er die meiste Zeit gemein zu ihr ist, fällt es Mali schwer, sich von seinem Anblick loszureißen. Sein helles Fell fängt auch noch die letzten Reste Sonnenlicht in der Dämmerung ein, sodass er immer ein wenig zu leuchten scheint. Er gleitet fast über den Boden, wie eine magische Kreatur aus einer anderen Welt.
Im Vergleich zu ihren Verwandten wirken Mali und Chumba, als hätte sie jemand aus übrig gebliebenen Pelzresten zusammengeflickt. Bei Chumba ist wenigstens der Körper größtenteils schwarz, nur ihre Beine und Pfoten sind braun mit gelben Flecken. Haze macht sich zwar immer darüber lustig, doch Mali liebt das Fell ihrer Schwester. Sie selbst hat nicht mal einen schwarzen Rücken; ihr Fell ist eine wilde Mischung aus Braun- und Gelbtönen. Sie hat sich angewöhnt, ihr Spiegelbild zu meiden, indem sie einen großen Bogen um Tümpel und Pfützen macht, wann immer sie kann. So braucht sie dieses Durcheinander aus Farben und Mustern nicht zu sehen. Vielleicht hat sie Haze’ ständigen Spott ja verdient. Doch ihre Fellfarbe erinnert sie auch an ihre Mutter. Und deswegen würde sie sie gegen nichts auf der Welt eintauschen.
Haze ist dicht hinter Usha. Beinahe geräuschlos schreitet er über die breiten, mit Schnecken übersäten Blätter, die den Untergrund bedecken. Yerlo, Jerlo und Derli sind lauter; ihre Pfoten sind noch zu groß für ihre kurzen Beinchen. Unter Chumbas Beinstumpf rascheln die Blätter, und hin und wieder tritt sie damit auf einen kleinen Zweig, der unter ihrem Gewicht mit einem leisen Knacken zerbricht und sie jedes Mal zusammenzucken lässt. Mali versucht, sie mit sanftem Schnurren zu beruhigen, wann immer Haze sich umdreht, um Chumba einen finsteren Blick zuzuwerfen.
Einmal hat Mali zufällig mitbekommen, wie Haze Chumba zu Boden drückte und fauchte: Kein Panther kann mit nur drei Pfoten überleben. Dich hätte man gleich nach der Geburt töten sollen, so wie das Junge, das nicht still sein konnte. Vermutlich hatte er sich unbeobachtet gefühlt. Mali stürzte sich auf ihn und biss ihn so fest ins Ohr, wie sie konnte, doch Chumba zog sie von ihm weg. Ihre Botschaft war deutlich: Ich kann für mich selbst kämpfen.
Mali knurrt Haze an, sobald sie merkt, dass er Chumba böse anfunkelt. Sie wird alles dafür tun, ihre Schwester zu beschützen. Sie will, dass Chumba glücklich ist, selbst wenn das bedeutet, dass sie sich gegen Ushas Lieblingssohn stellen muss.
Tante Ushas Revier liegt im dichtesten Teil des Regenwaldes, wo das Dickicht dornig und kaum zu durchdringen ist. Hier sind sie weit weg von den breiten Wasserläufen mit ihren Kaimanen und Anakondas und von den Pfaden der Capybaras, die einem, wenn man nicht aufpasst, das Rückgrat zertrampeln können. Fernab dieser Gefahren kann Usha ihre Familie bedenkenlos durch die tintenschwarze Nacht führen und sich voll und ganz auf die Jagd konzentrieren. Sie müssen bloß darauf achten, dass sie still genug sind, damit ihre Beute sie nicht herannahen hört. Denn dann läuft sie ihnen mit ein bisschen Geduld förmlich von selbst vor die Pfoten.
Während sie durchs Mondlicht schleicht, sind Malis Ohren und Schnurrhaare ganz auf Tante Ushas Bewegungen ausgerichtet, damit ihr keine noch so kleine Veränderung entgeht. Gleichzeitig hält sie nach dem grün-weißen Muster der Schlange Ausschau. Doch um sie herum ist alles grün.
Als Tante Usha das nächste Mal stehen bleibt, um auf Anzeichen von Beute zu lauschen, meldet sich Haze zu Wort. »Fällt dir etwas Ungewöhnliches auf, Mutter?«
Usha antwortet nicht, doch Mali kann einen Hauch von Pantherfurcht in der Luft wahrnehmen. Offenbar wittern die anderen ihn ebenfalls, denn sie werden noch stiller und aufmerksamer. Schließlich dreht Usha sich um und wirft ihnen einen Blick zu. Um ihr Maul liegt ein besorgter Zug. »Bleibt dicht hinter mir«, mahnt sie. »Nicht trödeln.«
Dann dreht sie sich wieder nach vorne und stolziert in den Dschungel. Ende der Diskussion. Die Drillinge können nur mühsam mit ihr Schritt halten.
Dann wird gejagt.
Die Nachtluft ist kühl und feucht. Tief hängende Wolken bedecken den dunklen Himmel, doch dazwischen tun sich immer wieder Felder voller funkelnder Sterne auf. Um die Pantherfamilie herum schwirren, flattern und huschen die Geschöpfe der Nacht durch die Finsternis: kleine, wendige Fledermäuse auf der Jagd nach Moskitos und ihre größeren, schwerfälligeren Verwandten, die Obst fressenden Flughunde. Über ihren Köpfen ertönen die Rufe der Eulen, im Gebüsch rascheln verfressene Opossums, und wer genauer hinsieht, kann die Vogelspinnen in ihren Verstecken entdecken. Während die Furcht einflößenden Reptilien und Vögel des Tages auf der anderen Seite des Schleiers schlafen, ist die Zeit der anständigen Kreaturen dieser Erde angebrochen. Mali ist stolz, eine von ihnen zu sein.
Haze läuft immer noch direkt hinter Tante Usha. Mali stört das nicht besonders, denn so kann sie mehr Zeit hinten mit Chumba verbringen. Außerdem ist es einfach, Haze im Auge zu behalten. Doch als Usha und Haze eine Waldantilope aufspüren und erlegen, bevor Chumba und Mali überhaupt reagieren können, kann Mali ihre Verärgerung nur schwer zurückhalten. Um sich abzureagieren, schleicht sie sich ins Unterholz, sodass Chumba sie nicht mehr sehen kann, und stürzt sich dann mit einem gewaltigen Satz auf ihre Schwester. Die beiden kugeln kichernd durchs Gras und landen schließlich kopfüber in einem Tümpel.
Das laute Platschen ruft Haze auf den Plan. Er kommt mit einer halb zerkauten Ratte im Maul auf sie zu. »Chätten chuei gei goll«, sagt er.
Mali wirft Haze einen durchdringenden Blick zu. »Tut mir leid, ich spreche leider kein Äffisch«, erwidert sie schließlich.
Die Schwestern geben sich größte Mühe, ernst zu bleiben, aber dann fängt Chumba an zu kichern, und wenig später rollt sie vor Lachen durch das Schilf am Rand des Tümpels. Mali kann gar nicht anders, als mitzulachen. Sie plumpst neben Chumba in die schlammige Brühe, die um sie herum hochspritzt und Haze’ strahlend weißes Fell braun sprenkelt. Beim Anblick der beiden Schwestern, die fröhlich durch den Matsch rollen, huscht ein beinahe sehnsüchtiger Ausdruck über sein Gesicht, bevor er wieder seine gewohnt hochmütige Miene aufsetzt.
»Das. Hätten. Zwei. Sein. Sollen«, sagt er so deutlich wie möglich, ohne die tote Ratte abzusetzen. Ihr langer Schwanz schleift über den Boden. »Ich hätte beide Ratten gefangen, wenn ihr nicht so einen Lärm gemacht hättet. Ich weiß wirklich nicht, warum Mutter euch am Leben gelassen hat.«
»Chweiß chwirklich chnicht, chwarum Chmutter cheuch cham Chleben chelassen chat«, äfft Chumba ihn nach und wedelt mit ihrer Pfote.
»Kommt, Kinder«, ruft Usha. »Zeit, nach Hause zu gehen.«
Obwohl die Schwestern in dieser Nacht kein einziges Tier gefangen haben, lässt sich Chumba davon nicht unterkriegen. Sie schiebt sich beschwingt durch die Öffnung zwischen den Dornenranken, die in den Bau führt, und wackelt dabei fröhlich mit dem Hintern.
Mali dagegen ist nicht ganz bei der Sache. Sie lässt sich neben Chumba in der Ecke nieder, die am weitesten von Tante Usha entfernt liegt, und tut nicht mal so, als würde sie die Augen schließen. Sie ist erschöpft, doch ihr Herz pocht wie wild – bald wird sich der Schleier heben, und sie spürt jetzt schon, dass sie wieder nicht schlafen kann. Sie fängt an, Ameisen zu zählen, während sie die Gedanken zu den Ereignissen der Nacht und von dort aus weiter bis zu den Erinnerungen an ihre Mutter zurückschweifen lässt, deren Wärme und Nähe sie immer noch spüren kann, auch wenn sie nicht mehr weiß, wie sie eigentlich aussah.
Im Bau wuseln mehr Ameisen herum als je zuvor, sodass Mali bald den Überblick verliert. Sie starrt zu der Öffnung im Dach hoch, wo ein Dreieck aus Licht die heraufziehende Dämmerung ankündigt. Als sie sich nach Chumba umsieht, um sich zu vergewissern, dass sie es im Schlaf gemütlich hat, bemerkt sie, dass Haze noch wach ist. Von seiner heiß geliebten Position direkt unter Tante Ushas Kinn beobachtet er Mali aus funkelnden Augen. Offenbar versucht er mit aller Kraft, nicht einzuschlafen, doch kein Nachtwandler kann nach Sonnenaufgang wach bleiben.
Außer Mali.
Obwohl sie sich davor fürchtet, auf die falsche Seite des Schleiers hinüberzutreten, weiß sie, dass sie niemals herausfinden wird, was sie so beunruhigt, wenn sie im Bau bleibt. Diesmal wird sie den Tag nutzen, um Nachforschungen über die geheimnisvolle Würgeschlange anzustellen. Zeit für eine Spionagemission.
Als die Morgendämmerung vorüber ist und die Sonne hoch am Himmel steht, nimmt Mali vorsichtig Chumbas Bein von ihrer Brust, legt es auf Jerlo ab und erhebt sich auf alle viere. In den Ecken des Baus sammelt sich bereits die Hitze des Tages. Mali sieht zu dem dreieckigen Stück Himmel hinauf. Eine ganze Weile verstreicht, ohne dass etwas geschieht, doch Mali rührt sich nicht. Sie fällt in ihre Jagdstarre. Und dann – da! – sieht sie das grün-weiße Muster vorbeiziehen. Sie senkt die Nase auf den Boden und schleicht zum Ausgang.
Die Wände des Baus sind dick genug, dass es im Inneren dunkel bleibt, doch zwischen den Ranken tun sich winzige Löcher auf, durch die das Licht fällt. Sie sehen aus wie Sterne. Mali wirft einen letzten Blick auf ihre schlafende Familie und schiebt sich dann durch die schmale Öffnung nach draußen.
Blinzelnd hält sie inne.
Im ersten Moment sieht sie nichts als strahlendes Weiß. Das Licht dort draußen ist viel zu hell für ihre Augen, die an die Verhältnisse bei Dunkelheit angepasst sind, und so dauert es eine Zeit lang, bevor sie etwas erkennen kann. Bis dahin muss sie sich voll und ganz auf ihr Gehör verlassen. Das Vogelgezwitscher klingt anders am Tag, mehr nach Gesang als nach dem Schuhu der Eulen. Froschquaken hört sie keins. Dafür jede Menge fliegender Insekten, das feine Surren winziger Flügel. Mit tränenden Augen steht sie da, ohne sich zu rühren, bis sie die Tagwelt langsam sehen kann.
Es ist so hell! Erleichtert stellt sie fest, dass es immer noch der Dschungel ist, den sie kennt. Die Formen sind dieselben, auch wenn die Farben bunt und grell sind. Es sind dieselben Baumkronen, dieselben Lianen, dieselben breitblättrigen Farne. Und auch das Moos ist unverändert, nur wirkt das satte Grün vor dem strahlend blauen Himmel noch kräftiger.
Malis Blick huscht umher. Im gleißenden Licht kann sie die Bewegungen jedes einzelnen Blattes ausmachen, die mit den wuseligen Ameisenstraßen unter den sonnendurchtränkten Farnen und den beiden Vögeln, die singend von Ast zu Ast flattern, um ihre Aufmerksamkeit wetteifern. So viele Eindrücke stürmen gleichzeitig auf sie ein, dass sie all ihren Mut zusammennehmen muss, um den ersten Schritt zu machen. Aber wenn sie noch lange stehen bleibt, entwischt ihr die Schlange.
Sie setzt eine Pfote vor. Dann die nächste.
Mali fühlt sich klein und ungeschützt. Was, wenn sich ihr ein Angreifer nähert?
»Es ist okay, sich in Gefahr zu begeben, wenn man dadurch Antworten erhält«, flüstert sie. Ihr fällt es schwer, das zu glauben, deswegen hofft sie, dass es sich überzeugender anhört, wenn sie es laut ausspricht.
Mit zögernden Schritten folgt sie den Ameisen, die am Bau vorbei in die gleiche Richtung wuseln, in die die Schlange davongekrochen ist. Sie huschen schnell und in breiten Straßen über den Boden. Es sieht fast aus wie ein Bach, der sich über einen Berghang ergießt. Obwohl der Strom der Ameisen Mali über Wege führt, die sie schon unzählige Male gegangen ist, fühlt es sich bei Tag an, als würde sie ein völlig neues Gebiet erkunden. Immer wieder hält sie an und versucht, sich möglichst im Schatten der Blätter und Farnwedel zu bewegen und die dunklen Spalten zwischen umgestürzten Bäumen zu nutzen. In dieser verkehrten Welt muss sie sich nach ihrem Gedächtnis orientieren. Um die Ameisen auf ihrer geheimnisvollen Mission nicht aus den Augen zu verlieren, hält sie die Schnurrhaare dicht über dem Boden.
Wo ist die Schlange?
Während sie der Ameisenspur folgt, spürt Mali, wie sich zwischen ihren Ohren ein heftiger Kopfschmerz ausbreitet. Als kleines blaues Dreieck, das sie aus dem Schutz der Dunkelheit ihres Baus betrachten konnte, hat ihr das fremdartige Tageslicht nichts ausgemacht. Doch jetzt, da um sie herum alles so unglaublich hell ist, klopft ihr Herz wie wild, und sie kämpft gegen eine aufsteigende Panik. Diese sonnendurchflutete Welt fühlt sich so falsch an.
Ihr Weg führt an einem umgestürzten Baum vorbei, einem morschen, moosbewachsenen Stamm, der bei seinem Sturz mehrere Bäume mit umgerissen hat, wodurch mitten im Wald eine Lichtung entstanden ist. Sie zu überqueren bedeutet, dass Mali sich vollständig aus der Deckung der Schatten wagen muss.
Sie gräbt ihre Krallen in die Rinde, klettert auf den gefallenen Riesen und läuft den Stamm entlang, so schnell sie kann. Sie wird die Vorstellung nicht los, dass die Raubvögel schon über ihr am gleißend hellen Himmel kreisen. Vor Panik wird Mali ganz schwindelig. Sie kann ihre Pfoten kaum noch spüren. Tapfer setzt sie weiter einen Fuß vor den anderen. Dabei muss sie die Augen schließen und sich allein nach Gespür vorantasten. Sie konzentriert sich ganz auf das vertraute weiche Gefühl der morschen Rinde unter ihren Tatzen, aus der hier und da bereits frische grüne Pflänzchen sprießen, die in dem abgestorbenen Holz Wurzeln geschlagen haben. Um wenigstens ein bisschen was sehen zu können, kneift sie die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und öffnet sie erst wieder, als sie das andere Ende des umgestürzten Baums erreicht hat.
Nur um ins Angesicht einer Schlange zu blicken.
Die Grüne Hundskopfboa muss auf sie zugeglitten sein, während Mali sich blind über den Stamm getastet hat. Nun liegt sie vor ihr, genau an der Stelle, wo Mali zu Boden springen wollte. Mali erstarrt erschrocken, auch wenn es mehr als unwahrscheinlich ist, dass die Schlange sie noch nicht bemerkt hat.
Die Grüne Hundskopfboa ist riesig. Weil sie sich zusammengerollt hat, kann Mali nicht genau sehen, wie lang sie ist, aber ihr Körper ist so dick wie der Stamm eines ausgewachsenen Feigenbaums. Ein Pantherjunges wie Mali würde locker in diesen Schlund passen, egal wie sehr es sich auch wehrt.
Die Schlange starrt sie unbewegt an, als warte sie darauf, dass Mali den ersten Schritt macht. Obwohl all ihre Muskeln bis aufs Äußerste angespannt sind, verharrt Mali vollkommen reglos. Die Augen des Reptils, die im Vergleich zu ihrem Körper überraschend klein sind, funkeln. Mali kann die berechnende Intelligenz darin erkennen, doch sie hat keine Ahnung, was der Grünen Hundskopfboa wohl durch den Kopf gehen mag. Möglicherweise vermutet sie, dass sich ein ausgewachsener Panther wie Usha in der Nähe befindet. Vielleicht ist das der Grund, weswegen sie Mali noch nicht angegriffen hat.
Doch selbst wenn Usha hier wäre, ist es schwer vorstellbar, dass Mali gegen eine Schlange dieser Größe lange durchhalten würde. Und Usha ist eben nicht in der Nähe. Mali ist weit von der Stärke und den kämpferischen Fähigkeiten ihrer Tante entfernt. Wenn die Schlange sie angreift, hat sie nicht die geringste Chance. Aber immerhin hat sie bekommen, was sie wollte: Sie hat den anderen Nachtwandler gefunden, der wie sie am Tag wach ist.
Während die Grüne Hundskopfboa und sie einander weiter anstarren, weicht Mali langsam zurück, die Ohren eng angelegt. Die Schlange rührt sich nicht, lässt sie aber auch nicht aus den Augen. Mali weiß, dass Boas ihre Beute töten, indem sie ihren Körper um sie schlingen und sie ersticken. Und diese Schlange ist groß und stark. Wenn sie wollte, könnte sie sich jederzeit auf Mali stürzen und sie zu Tode quetschen.
Doch selbst als Mali sich noch weiter zurückzieht, bleibt die sonderbare Schlange, wo sie ist. Sie hat das Maul weit geöffnet, und Mali kann die Verwirbelungen des warmen Atems spüren, der stoßweise daraus entweicht. Womöglich hat die Schlange ja vor Kurzem erst gefressen. Oder sie mag den Geschmack von Pantherjungen nicht.
Vielleicht fühlt sie sich aber auch genauso fehl am Platz wie Mali. Vielleicht ist sie von der Tagwelt genauso überwältigt. Denn zu Malis Erstaunen schließt sie ein Auge und öffnet es gleich wieder. Ein grausiges Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus, und dann tut sie es erneut.
Sie zwinkert.
Mali fällt die Kinnlade herunter. Sie ringt nach Worten, doch die Angst vernebelt ihr das Gehirn und bringt ihre Beine dazu, sich wie von selbst in Bewegung zu setzen.
Bevor sie weiß, wie ihr geschieht, flieht Mali zurück zum Bau. Der Boden gleitet unter ihren Pfoten dahin, ohne dass sie es mitbekommt. Als sie die schiefen Felsbrocken erkennt, die ganz in der Nähe ihres Zuhauses stehen, stößt sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Obwohl sie bei Tag in hellem Grau und Grün erstrahlen und nicht schwarz sind wie in der Nacht, legt sich bei ihrem Anblick zum ersten Mal, seit Mali den Bau verlassen hat, das wilde Pochen in ihrem Herz.
Bis ein markerschütterndes Kreischen ertönt.
Sie hat schon öfter Adler gehört, wenn sie tagsüber wach im Bau lag, und beim Klang ihrer Schreie sträubte sich ihr jedes Mal das Fell. Aber sie hat noch nie einen gesehen.
Sie rechnet damit, ihn über ihr am Himmel kreisen zu sehen, doch der riesige Raubvogel hockt direkt vor dem Eingang zum Bau. So nah war sie einem Tagwandler noch nie! Der Adler wirkt majestätisch und stark. Sein Schnabel ist lang und gebogen, und sein muskulöser Körper ist mit seidig glänzenden, blaugrauen Federn bedeckt. Er hopst schwerfällig über den Boden und schlägt mit den Flügeln, doch er hat Mühe abzuheben.
Weil er etwas Pelziges in den Klauen hält.
Chumba.
Der Schleier hält Chumba in ihrem Tagweltschlummer gefangen, aus dem sie trotz des Adlerangriffs nicht erwachen kann. Ihre Augen sind fest geschlossen, obwohl sich die Adlerkrallen in ihren Brustkorb bohren. Ihr Unterkiefer zuckt, und ihr Mund öffnet und schließt sich, während sie in ihren Träumen die Ursache für ihre Schmerzen zu finden versucht.
Panther greifen niemals offen an. Usha hat ihnen beigebracht, sich anzuschleichen, statt einfach draufloszustürmen. Doch als Mali erkennt, in welcher Gefahr Chumba schwebt, denkt sie nicht lange nach. Der Adler macht einen noch größeren Satz und schlägt mit aller Macht mit den Flügeln, um sich mit schierer Muskelkraft in die Luft zu erheben. Chumba bringt ihn allerdings ziemlich aus dem Gleichgewicht. Er schwingt hin und her, gerät ins Straucheln und stürzt zurück zu Boden, wodurch er Chumba für einen Moment loslässt.
Diesen Augenblick nutzt Mali zum Angriff.
Sie wirft sich auf ihn, und durch ihre Schnelligkeit und Wendigkeit gelingt es ihr, den Adler zu packen und ihre Klauen tief in seine fleischige Keule zu graben. Der Raubvogel kreischt überrascht auf und schlägt panisch mit den Flügeln, wobei er Mali an ihrer empfindlichen Schnauze trifft. Sie zuckt zurück. Ihr Instinkt drängt sie, den Adler loszulassen und sich in Sicherheit zu bringen, aber der Gedanke an die hilflose Chumba bringt sie dazu, ihn weiter festzuhalten. Sie klettert an ihm hoch und schlägt die Zähne in die Stelle, wo der Flügel aus seinem Rücken wächst.
Ihr Mund ist voller öliger Federn, doch als sie spürt, wie ihre Reißzähne auf Fleisch treffen, beißt sie zu. Kreischend bäumt sich der Adler unter ihr auf. Sein Geschrei soll Mali einschüchtern, und das tut es auch. Unwillkürlich stellt sie sich vor, wie der Vogel ihr die Augen auskratzt, und lässt ihn dadurch beinahe los. Doch irgendwie schafft sie es, sich weiter festzuhalten und ihren Biss sogar noch zu verstärken.
Es scheint fast so, als könne der Vogel sie nicht sehen. Sein Schnabel fährt klappernd durch die Luft, während er sich hin- und herwirft. Seine Bewegungen werden immer heftiger, und Mali spürt, wie sie von seinen wild schlagenden Flügeln abrutscht. Sie legt die Ohren an und beißt so fest zu, wie sie kann, aber es reicht nicht. Der Adler schleudert sie mit solcher Wucht von sich, dass sie ein ganzes Stück über den Boden rutscht.
Mali müht sich, auf die Beine zu kommen, doch sie wird gleich wieder umgerissen – ihr Hinterlauf hat sich in einer Liane verfangen. Sie versucht, sich zu befreien, obwohl sie schon ahnt, dass es zu spät ist. Auch ohne hinzusehen weiß sie, dass der Adler wie ein Pfeil auf sie zugeschossen kommt. Seine mächtigen Flügelschläge wirbeln Erdklumpen und kleinere Insekten auf. Mali kneift die Augen zusammen und wappnet sich für den Moment, in dem seine Klauen sich in ihren Körper bohren.
Doch der Schmerz bleibt aus.
Sie hört ein Rascheln, ein Krachen, dann Stille. Als sie die Augen öffnet, bietet sich ihr ein grausiges Bild: Der Adler hat sich in einer Liane verheddert und liegt fest verschnürt auf dem Dschungelboden.
Oder nein. Das ist gar keine Liane.
Die Grüne Hundskopfboa hat ihren Körper um den Adler geschlungen und drückt ihn nieder. Smaragdgrüne Schuppen gleiten in scheinbar wildem Durcheinander über- und untereinander her, während die Schlange ihre Umklammerung verstärkt und sich immer enger um den Vogel zusammenzieht. Zwischen den Schlingen ihres muskulösen Körpers ragen blaugraue Federn hervor.
Mali ist gerettet worden. Von einer Würgeschlange!
Sie bricht auf dem aufgewühlten Boden zusammen und schnappt nach Luft. Um sie herum ist alles voller Daunen- und Schwungfedern. Als sie wieder einigermaßen zu Atem gekommen ist, läuft sie auf wackeligen Beinen zu Chumba hinüber.
Ihre Schwester liegt auf der Seite, immer noch tief im Tagschlaf. Ihre Augen zucken unter den Lidern, als sie im Traum vor etwas davonläuft. Mali hat ihre anfängliche Tagblindheit überwunden, aber durch den Kampf ist sie dermaßen erschöpft, dass ihr das Licht fast so gleißend hell wie zuvor erscheint. Kopfschmerzen hämmern in ihrem Schädel. Am liebsten würde sie die Augen zumachen und alles um sich herum ausblenden. Doch ihre Schwester ist jetzt wichtiger. Sie läuft zu ihr hinüber und untersucht die Risswunde in ihrem Nacken, auch wenn ihre Augen brennen und ihr immer wieder die Sicht verschwimmt. Die scharfen Krallen des Adlers haben Chumba einige Fleischwunden zugefügt, aber sie scheinen alle nicht besonders tief zu gehen. Das Blut trocknet bereits.
Die Schlange wickelt sich enger und enger um den Adler, wodurch sie mit ihm hin- und herrollt. Inzwischen hat sie ihn so fest umschlungen, dass er nicht mehr zu sehen ist. Mali packt Chumba vorsichtig am Schwanz und weicht ängstlich zurück.
Doch die Schlange macht keine Anstalten, sie anzugreifen. Sie scheint allerdings auch keine große Lust zu haben, den Adler zu fressen. Sie kommt zum Stillstand und fixiert Mali mit ihren funkelnden Augen.
Und dann beginnt sie auf einmal zu sprechen. Ihre Stimme ist tief und kehlig, und jedes Wort endet in einem leichten Schnurren. Sie klingt erstaunlicherweise wie die eines Panthers. »Deine Schwester und du seid jetzt sicher.«
Panisch bewegt sich Mali weiter rückwärts auf den Bau zu, während sie Chumba am Schwanz hinter sich herzieht. Ihr tut alles weh, und sie hat Angst, dass der Adler sich jeden Moment aus der Umklammerung der Schlange befreien kann. Sie hat ihr Hinterteil schon durch den Eingang geschoben, als die Grüne Hundskopfboa weiterspricht. »Der Adler stellt keine Gefahr mehr dar, und die Verletzungen des kleinen Panthers sind gering. Wir wissen beide, dass sie am Tag nicht aufwachen wird. Nicht so wie du und ich. Ich bin von weit her gekommen, um dich kennenzulernen. Bitte bleib noch etwas und rede mit mir. Mein Name ist Auriel.«
Mali ist weiterhin damit beschäftigt, Chumba zurück in den Bau zu ziehen. Es gibt so viel, was sie die Schlange gerne fragen würde, aber nach dem Angriff des Adlers sitzt ihr der Schreck immer noch in den Gliedern.
Auriel öffnet den Mund, schließt ihn jedoch gleich wieder und schaut zu Boden. Während sie an Chumba zerrt, folgt Mali Auriels Blick. Was sieht er da? Der anhaltende Regen sammelt sich zu großen Pfützen, doch das hat sie bisher kaum bemerkt. Um diese Zeit im Jahr regnet es ständig. Dann erkennt sie, was Auriel beobachtet: Die Ameisenstraße hat die Richtung geändert und läuft jetzt um ihn herum. Fast wirkt es, als würde sie auf ihn zulaufen. »Was weißt du über die Ameisenkönigin?«, fragt Auriel Mali.
Sie ignoriert seine seltsame Frage und zieht Chumba durch den Eingang. Nachdem sie ein paar Lianen zusammengescharrt hat, um ihre Schwester zuzudecken, schiebt sie den Kopf wieder nach draußen. Weiter wird sie sich der Boa auf keinen Fall nähern.
Auriel, der immer noch den Adler umschlungen hält, schließt die Augen und wiegt den Kopf. »Lass mich dir meine Frage erklären. Ich besitze die Fähigkeit, die Ameisen zu verstehen. Sie sind die einzigen Tiere, die es überall in Caldera gibt, zu jeder Zeit und an jedem Ort – auch in eurem Bau. Sie sprechen nicht, doch sie kommunizieren über chemische Botenstoffe. So verbreiten sich Neuigkeiten schnell und beinahe unverfälscht. Durch sie habe ich etwas außerordentlich Interessantes über dich herausgefunden, Mali.«
»Du kennst meinen Namen«, stellt Mali überrascht fest. Ihr Schwanz peitscht hin und her.
Auriel nickt.
»Ameisen haben dir gesagt, dass du hierherkommen sollst? Um mich zu finden?«, fragt Mali.
»Ja«, antwortet Auriel. »Du warst nie wirklich allein. Sie haben dich beobachtet.«
»Die Blattschneiderameisen, die ich jeden Tag zähle«, sagt Mali, »haben alles gesehen … und es an dich weitergegeben?«
»Ja. Sie haben mir verraten, dass hier ein besonderes Panthermädchen geboren wurde. Eins, das wie ich über magische Fähigkeiten verfügt. Eine Schattenwandlerin.«
Das durchdringende Zirpen der Zikaden verstummt nach und nach. Schon bald wird der Schleier des Sonnenuntergangs fallen – und Malis Familie erwachen. Bis dahin muss sie zurück an ihrem Platz sein, wenn sie nicht erwischt werden will.
»Was ist ein Schattenwandler?«, fragt Mali.
»Du und ich, wir sind Schattenwandler.« Auriel lässt den schuppigen Kopf auf seinen zusammengerollten Körper sinken. Er atmet schwer, und die Ameisen krabbeln mit frischer Kraft über ihn hinweg. »Vor ziemlich genau einem Jahr ereignete sich etwas Merkwürdiges. Als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, schob sich der Mond vor sie, und die beiden vereinten ihre Kräfte. Die Tagwandler können sich noch gut daran erinnern, weil ihre Welt plötzlich mitten am Tag dunkel wurde. Die Nachtwandler dagegen sind lediglich für einen kurzen Moment wach geworden.«
»Das weiß ich gar nicht mehr«, gesteht Mali. Nun, da es offensichtlich ist, dass die riesige Schlange nicht vorhat, sie auf der Stelle zu erwürgen und zu verschlingen, traut sie sich, Auriel genauer anzuschauen. Die grünen und weißen Flecken auf seinem Körper wirken milchig, als sei er von einem feinen Netz aus Spinnweben überzogen. Nur an seinem Kopf gibt es eine Schuppe, die seltsamerweise vollkommen schwarz glänzt. Wenn er spricht, entblößt er sein blassrosa Zahnfleisch. Er hat keine Fangzähne mehr. Mali fragt sich, was mit ihnen passiert ist, auch wenn sie weiß, dass ihn das kein bisschen weniger gefährlich macht. Auriels Körper ist ein wahres Kraftpaket. Wozu braucht man Fangzähne, wenn man so riesig ist?
»Kannst du auch nicht. Genauso wenig wie ich«, erwidert Auriel und zwinkert ihr zu. »Weil wir nämlich gerade damit beschäftigt waren, auf die Welt zu kommen. Ich weiß das auch nur, weil ich in der Lage bin, den Ameisen zuzuhören und von ihnen zu lernen. Ihre Kolonien verfügen über eine Art kollektives Gedächtnis, das von Ameise zu Ameise weitergegeben wird und dadurch praktisch unsterblich ist. So kann ich auf einen Wissensschatz zugreifen, der über die Erfahrungen gewöhnlicher Tiere hinausgeht. Die wesentliche Energie der Nacht kommt durch den Mond und die des Tages durch die Sonne. Während der Sonnenfinsternis haben sich diese beiden Energien verdoppelt. Dadurch haben wir die Gabe erhalten, uns bei Tag und bei Nacht zu bewegen, und darüber hinaus verfügt jeder von uns über eine magische Fähigkeit. Was genau das für eine Fähigkeit ist, kommt auf das Tier an.«
»Also, da irrst du dich«, widerspricht Mali. »Ich habe keine magischen Fähigkeiten.«
»Durch die Ameisen habe ich bereits mehr als ein Dutzend Tiere gefunden, die wie du und ich während der Sonnenfinsternis auf die Welt gekommen sind. Sie sind auf dem Weg zum Tempel der Sonne und des Mondes, tief im Inneren von Caldera. Die meisten von ihnen kennen ihre magischen Fähigkeiten auch noch nicht. Komm mit mir dorthin. Einer der Ersten, den ich kennengelernt habe, verfügt über hellseherische Eigenschaften – vielleicht findet er ja heraus, worin deine Magie liegt. Solltest du tatsächlich keine haben, bringen wir dich ganz einfach wieder hierher zurück.«
Das Tageslicht schwindet immer weiter. Schon bald wird die Nacht anbrechen. Mali sieht ängstlich hoch zum Himmel. Sie muss zurück in den Bau, bevor es zu spät ist. Aber sie will auch unbedingt wissen, was mit ihr los ist. »Ich habe nicht mehr viel Zeit!«
»Versteck deine Schwester in eurem Bau und dann komm mit mir«, sagt Auriel. »Schließ dich den anderen an, die so sind wie wir. Wir Schattenwandler müssen zusammenhalten.«
Mali legt die Ohren an und schüttelt zitternd den Kopf. Sie wird Chumba für nichts auf der Welt im Stich lassen – und schon gar nicht für diesen Fremden.
»Ich weiß, das ist beängstigend.« Auriel lässt den erschlafften Körper des Adlers los und gleitet auf Mali zu. »Aber nur mit unserer vereinten Magie können wir die Ameisenkönigin aufhalten.«
»Die Ameisenkönigin?«, wiederholt Mali. Mit großen Augen sieht sie in die Dämmerung hinauf, wo das Sternbild der mythischen Ameise erwacht. Die Königin befindet sich in der Mitte, während ihre Helfer sich als unzählige Lichtpunkte über den Rest des Himmels verteilen. »Das ist doch bloß ein Sternbild, das sich die Panther ausgedacht haben, um ihren Jungen Angst einzujagen. Sie ist nicht echt.«
»Das würde ich auch glauben«, entgegnet Auriel, »wenn ich durch meine Magie nicht in der Lage wäre, die Ameisen zu belauschen. So habe ich mitbekommen, dass ihre Königin das größte Unheil darstellt, das Caldera je widerfahren ist, und dass sie gerade dabei ist, ihre Macht wiederzuerlangen.« Als könne sie die heraufziehende Gefahr spüren, fängt die glänzende schwarze Schuppe an Auriels Kopf an zu leuchten, wodurch sie sich noch deutlicher vom Grün-Weiß seines restlichen Körpers abhebt. Er wiegt den Kopf hin und her. Mali muss den Blick abwenden, als sie erkennt, dass die Ameisen jetzt über die milchige Membran krabbeln, die seine Augen bedeckt. Auriel fährt fort: »Sie war Tausende Jahre gefangen, durch die Magie einer Sonnenfinsternis, die sich vor Urzeiten ereignet hat. Doch die letzte Sonnenfinsternis, die, durch die wir beide zu Schattenwandlern geworden sind, hat sie aus ihrem Gefängnis befreit.«
Der Sonnenuntergang überzieht den Dschungelboden mit einem Muster aus rosa- und orangefarbenen Flecken. Der Regen setzt wieder ein und prasselt in dicken Tropfen auf sie herab, die sich in Malis Schnurrhaaren verfangen und eine glitzernde Spur auf Auriels Schuppen hinterlassen.
»Wir müssen zum Tempel der Sonne und des Mondes und dort die magischen Fähigkeiten zurückgeben, die die Sonnenfinsternis uns verliehen hat. Nur so kann es uns gelingen, die Ameisenkönigin aufzuhalten«, erklärt Auriel. »Es liegt an uns, den Schattenwandlern.«
Die letzten Sonnenstrahlen versinken hinter dem Horizont. Wenn Mali und Chumba nicht bald zu Usha zurückkehren, werden sie ertappt. Und verstoßen.