September 1800: England führt mittlerweile im siebten Jahr Krieg gegen Napoleon und dessen Verbündete. In unzähligen Auseinandersetzungen auf See hat sich Richard Bolitho längst einen legendären Ruf erkämpft. Zum Konteradmiral befördert, soll er deshalb nun als Flaggoffizier mit seinem Geschwader in der Ostsee gleichzeitig gegen die Dänen, Russen sowie die Franzosen operieren. Für ihn die härteste Bewährungsprobe seines bisherigen Dienstes in der Royal Navy …
Konteradmiral Bolitho vor Kopenhagen
Roman
Aus dem Englischen
von
Fritz Wentzel
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Neuausgabe bei Refinery
Refinery ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH,
Berlin August 2018 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
© der deutschen Erstausgabe: Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1980
© Bolitho Maritime Productions Ltd., 1978
Titel der englischen Originalausgabe: The Inshore Squadron
Covergestaltung: © Sabine Wimmer, Berlin
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Für Winifred in Liebe
Ein nebliger Morgen im frühen April;
gespenstisch gleiten die Schiffe voran.
Da schlägt eine Glocke vier Glasen an.
Auf einmal ist’s rundherum totenstill,
und auch der Kühnste hält einen Augenblick den Atem an.
The Battle of the Baltic von Thomas Campbell
Admiral Sir George Beauchamp streckte seine dürren Hände dem prasselnden Kaminfeuer entgegen und rieb die Innenflächen langsam gegeneinander, um die Blutzirkulation zu beleben.
Seine kleine, etwas gebückte Gestalt wirkte in dem schweren Uniformrock mit den großen goldenen Epauletten zerbrechlich, aber in seinem Wesen und dem Ausdruck seiner Augen war keine Schwäche zu entdecken.
Die Fahrt von London nach Portsmouth im Herbstregen und auf tief ausgefahrenen Straßen war lang und ermüdend gewesen. Und die eine Nacht, die Beauchamp sich im George Inn am Portsmouth Point ausruhen wollte, war durch einen heftigen Sturm gestört worden, der selbst den Solent mit weißen Wellenköpfen bedeckt hatte und alle Schiffe – mit Ausnahme der größten – irgendwo unter Land Schutz suchen ließ.
Beauchamp wandte dem Feuer den Rücken zu und musterte seinen Privatraum, denselben, den er immer bezog, wenn er nach Portsmouth kam, wie viele bedeutende Admirale vor ihm. Der Sturm hatte nachgelassen, und die dicken Glasfenster glänzten wie Metall im warmen Sonnenlicht, eine Täuschung, denn auf der anderen Seite der soliden Wände war es kalt und nahezu schon winterlich.
Der kleine Admiral stieß einen tiefen Seufzer aus, was er sich nie erlaubt hätte, wenn jemand bei ihm gewesen wäre. Es war Ende September des Jahres 1800 und England im siebten Kriegsjahr mit Frankreich und dessen Verbündeten.
Manchmal schon hatte Beauchamp seine Altersgenossen beneidet, die sich auf allen Weltmeeren mit ihren Flotten, Geschwadern, Flottillen herumtrieben. Aber bei einem Wetter wie diesem war er mehr als zufrieden mit seinem Posten in der Admiralität, wo sein scharfer Verstand ihm viel Anerkennung als Planer und Stratege eingebracht hatte. Beauchamp hatte mehr als einen Flaggoffizier seines Postens enthoben und anderen, jungen Leuten, deren Fähigkeiten und Erfahrungen bisher übersehen worden waren, sein Vertrauen geschenkt.
Sieben Jahre Krieg. Er wendete den Gedanken im Geiste noch einmal hin und her. Es hatte Siege und Niederlagen gegeben, tapfere Männer und Narren, Meutereien und Triumphe. Gute Schiffe hatte man nahezu verschrotten lassen, bis der Feind unmittelbar vor den Toren stand. Beauchamp hatte es alles miterlebt. Und er hatte neue Führergestalten emporsteigen gesehen, die die Stelle der Versager und Tyrannen einnahmen: Collingwood und Troubridge, Hardy und Saumarez, und Horatio Nelson natürlich, der Liebling des Volkes.
Beauchamp gedachte seiner mit einem dünnen Lächeln. Nelson – das war ein Mann, wie das Land ihn brauchte, die Personifikation des Sieges. Aber er konnte sich nicht vorstellen, daß der Held vom Nil es am Schreibtisch in der Admiralität aushalten würde, so wie er: bei endlosen Sitzungen, die Ängste des Königs und der Parlamentarier zerstreuend, die Zaghaften zu entschlossenem Handeln antreibend. Nein, entschied er, Nelson würde keinen Monat in Whitehall durchhalten, nicht länger jedenfalls als er, Beauchamp, an Bord eines Flaggschiffs. Beauchamp war über sechzig und sah auch so aus. Manchmal fühlte er sich noch viel älter.
Es klopfte diskret an die Tür, und sein Sekretär schaute vorsichtig herein. »Sind Sie bereit, Sir George?«
»Ja.« Es klang wie ›selbstverständlich‹. »Er soll heraufkommen.«
Beauchamp hörte nie auf zu arbeiten, und von Zeit zu Zeit freute es ihn zu beobachten, wie seine Planungen Früchte trugen, wie die von ihm zu Führerschaft und Befehlsgewalt Auserwählten sich entwickelten und seinen eigenen strengen Maßstäben gerecht wurden.
Wie sein Besucher zum Beispiel. Beauchamp sah zur polierten Tür hinüber, die das Sonnenlicht auf eine Karaffe mit Rotwein und zwei schön geschliffene Gläser zurückwarf.
Richard Bolitho, manchmal halsstarrig, andererseits aber unorthodox, war einer von Beauchamps Erfolgen. Erst vor drei Jahren hatte er ihn zum Kommodore einer Hand voll Schiffe ernannt und ins Mittelmeer geschickt, um die Absichten der Franzosen auszukundschaften. Das Ergebnis war inzwischen schon Geschichte: Bolithos entschlossenes Handeln und das spätere Erscheinen von Nelson mit einer ganzen Flotte hatte zur »Battle of the Nile«[1] geführt, bei der die französischen Geschwader und Napoleons Hoffnungen auf eine Eroberung Ägyptens und Indiens zerstört worden waren.
Jetzt war Bolitho hier, als frisch beförderter Konteradmiral, ein Flaggoffizier mit großer Verantwortung, aber auch mit vielen Zweifeln belastet.
Der Sekretär öffnete die Tür.
»Konteradmiral Richard Bolitho, Sir.«
Beauchamp streckte die Hand aus und lächelte. Dabei empfand er wieder die übliche Mischung von Freude und Neid. Bolitho sah blendend aus in seinem neuen goldbestickten Rock, dachte er, doch der schnelle Aufstieg hatte den Menschen Bolitho nicht verändert. Das gleiche schwarze Haar mit der rebellischen Locke über dem rechten Auge, der gerade Blick und gesammelte Gesichtsausdruck, der den Abenteurer verbarg und die Bescheidenheit des Mannes, die Beauchamp erkannt hatte.
Bolitho bemerkte den prüfenden Blick und lächelte.
»Schön, Sie wiederzusehen, Sir.«
Beauchamp machte eine Geste zum Tisch hin.
»Schenken Sie uns bitte ein Glas ein. Ich bin etwas zu steif dazu.«
Bolitho beobachtete seine Hand, als er die Karaffe über die Gläser hielt. Sie war ruhig und fest, obwohl sie angesichts der inneren Erregung, die er im Augenblick spürte, hätte zittern können. Als er sich vor kurzem im Spiegel betrachtet hatte, war es ihm geradezu unwahrscheinlich vorgekommen, daß er den großen und entscheidenden Schritt vom Stabs- zum Flaggoffizier getan hatte. Jetzt war er Konteradmiral, einer der jüngsten, die es je gegeben hatte, aber abgesehen von der Uniform mit ihren glitzernden Schulterstücken und dem einen Stern darauf, fühlte er sich nicht anders als bisher. Hätte nicht etwas Besonderes mit ihm geschehen müssen? Er hatte immer angenommen, daß schon der Aufstieg von der Offiziersmesse zur Kommandantenkajüte einen Mann veränderte. Wieviel mehr noch der Schritt von dort bis zu dem Anrecht, seine eigene Flagge setzen zu können. Dazwischen lagen doch Welten!
Aber nur im Verhalten anderer hatte er eine Veränderung bemerkt. John Allday, sein Bootssteurer, hörte gar nicht mehr auf, vor Freude zu strahlen. Und wenn er früher bei Besuchen in der Admiralität die Belustigung seiner Vorgesetzten gesehen hatte, sobald er seine Pläne entwickelte, so hörten sie jetzt aufmerksam zu, anstatt ihm – wie früher – brüsk über den Mund zu fahren. Sie stimmten zwar nicht immer mit ihm überein, aber sie ließen ihn ausreden. Das war wirklich eine Veränderung.
Beauchamp schaute ihn über das Glas hinweg an. »Nun, Bolitho, Sie haben erreicht, was Sie wollten, und ich auch.« Er warf einen flüchtigen Blick auf das nächstliegende Fenster, das sich durch die Wärme im Raum beschlagen hatte. »Ein eigenes Geschwader. Vier Linienschiffe, zwei Fregatten und eine Korvette. Sie werden Ihre Befehle von Ihrem Vorgesetzten Admiral bekommen, aber es wird Ihre Sache sein, wie Sie diese Befehle in die Tat umsetzen.«
Sie stießen mit ihren Gläsern an, jeder plötzlich in Gedanken versunken.
Für Beauchamp war es ein neues Geschwader, eine Waffe, die sich in das Gesamtkonzept der Kriegsführung einfügen ließ. Für Bolitho bedeutete es unendlich viel mehr. Beauchamp hatte alles getan, um ihm zu helfen; selbst bei der Auswahl seiner Kommandanten. Mit einer Ausnahme kannte er sie alle, die meisten hatten schon mit ihm zusammen oder unter ihm gedient. Mit einigen war er seit Jahren befreundet.
Bolitho schaute sich flüchtig im Raum um. Es war dasselbe Zimmer, in dem er vor neunzehn Jahren sein erstes selbständiges Kommando erhalten hatte, und in mancher Beziehung war das der Tag in seinem Leben, an den er sich am besten erinnern konnte. Hier hatte er Thomas Herrick kennengelernt, der sein Erster Offizier und getreuer Freund geworden war. Auf demselben Schiff hatte er John Neale angetroffen, damals ein zwölf Jahre alter Seekadett. Neale gehörte jetzt seinem Geschwader an, als Kommandant einer Fregatte.
»Erinnerungen, Bolitho?«
»Aye, Sir. An Schiffe und Gesichter.«
Das enthielt alles. Bolitho war – wie Neale – als Zwölfjähriger zur See gegangen. Nun war er Konteradmiral – ein Traum hatte sich erfüllt. Zu oft hatte er dem Tod ins Auge geschaut, zu oft waren andere neben ihm gefallen, da gewöhnte man es sich ab, über den nächsten Monat, das nächste Jahr hinaus Pläne zu schmieden.
»Ihre Schiffe sind alle versammelt, Bolitho.« Es war eine Feststellung. »Also wollen wir keine Zeit verlieren. Gehen Sie in See mit ihnen, exerzieren Sie, wie Sie es gelernt haben, und so lange, bis die Leute Sie zum Teufel wünschen. Aber eisenhart müssen die Kerle dabei geworden sein.«
Bolitho lächelte zustimmend. Er wäre lieber heute als morgen ausgelaufen. An Land hielt ihn nichts mehr. Er war in Falmouth gewesen, hatte sein Haus und sein Gut besucht. Es hatte ihn – wie jedesmal – innerlich bewegt, daß das Haus auf irgend etwas zu warten schien. Mehrmals hatte er im Schlafzimmer vor ihrem Porträt gestanden. Er hatte ihre Stimme vernommen, ihr Lachen gehört. Und er hatte sich nach dem Mädchen gesehnt, das er geheiratet und kurz darauf durch einen tragischen Unfall verloren hatte: Cheney, Er hatte ihren Namen ausgesprochen, als ob er ihr Bild damit lebendig machen könnte. Und als er weggegangen war, um nach London zu fahren, hatte er sich in der Tür noch einmal umgedreht, um ein letztes Mal ihr Gesicht zu sehen: ihre meergrünen Augen, die der See unterhalb von Pendennis Castle glichen, ihr wehendes Haar, das die Farbe junger Kastanien hatte. Und es war, als hätte auch sie ihm nachgeschaut.
Er schüttelte die wehmütigen Gedanken ab und erinnerte sich des einzigen erfreulichen Erlebnisses während dieser Tage, als Herrick mit seiner alten Lysander nach England zurückgekehrt war. Herrick hatte, ohne lange zu zögern, die Witwe Dulcie Boswell geheiratet, die er am Mittelmeer kennengelernt hatte.
Bolitho hatte die Reise zu der kleinen normannischen Kirche am Wege nach Canterbury bereitwillig unternommen. Die Kirchenbänke waren mit Herricks Freunden und Nachbarn gefüllt gewesen, dazwischen leuchtete viel Blau und Weiß von den Uniformen seiner Marinekameraden.
Bolitho hatte sich irgendwie ausgeschlossen gefühlt; dies Gefühl lastete noch schwerer auf ihm, als er sich seiner eigenen Hochzeit in Falmouth erinnerte, bei der Herrick sein Trauzeuge gewesen war.
Als die Kirchenglocken zu läuten begannen, als Herrick sich vom Altar abwandte und – die Hand seiner Braut auf dem goldbestickten Ärmelaufschlag – dem Ausgang zuschritt, war er bei Bolitho kurz stehengeblieben und hatte schlicht gesagt: »Daß Sie hier sind, hat diesen Tag für mich vollkommen gemacht.«
Nun drängte sich Beauchamps Stimme wieder dazwischen. »Ich hätte gerne noch mit Ihnen gegessen, aber ich muß mit dem Hafenadmiral reden. Außerdem haben auch Sie sicher noch viel zu tun. Ich bin Ihnen aus vielen Gründen zu Dank verpflichtet, Bolitho.« Dabei zog ein scheues Lächeln über sein Gesicht.
»Nicht zuletzt dafür, daß Sie meinen Vorschlag für Ihren Flaggleutnant angenommen haben. Ich bin seiner hier in London etwas überdrüssig.«
Bolitho dachte, daß es wohl noch einige Gründe mehr für diese Bitte gegeben hatte, aber er äußerte sich nicht dazu. Statt dessen sagte er: »Ich verabschiede mich also, Sir. Und vielen Dank, daß Sie mich gerufen haben.« Beauchamp antwortete nur mit einem Achselzucken. Es schien, als koste ihn schon das eine physische Anstrengung. »Es war das mindeste, was ich für Sie tun konnte. Sie kennen Ihre Befehle. Wir haben Ihnen keine bequeme Seereise ausgesucht, aber dafür hätten Sie sich auch kaum bedankt, eh?« Er lachte in sich hinein. »Halten Sie die Augen offen, es könnte Verdruß geben.« Damit sah er Bolitho fest an. »Mehr sage ich nicht. Aber Ihre Taten, Ihre Auszeichnungen, so wohlverdient sie waren, haben Ihnen auch einige Feinde gemacht. Ich warne Sie.« Er streckte die Hand aus. »Nun hinaus mit Ihnen, und beherzigen Sie, was ich gesagt habe.«
Bolitho verließ den Raum und ging an einer ganzen Reihe Leute vorbei, die darauf warteten, bei dem grimmigen kleinen Admiral vorgelassen zu werden, um sich Rat zu holen, Unterstützung zu erbitten oder auch nur, um neue Hoffnung zu schöpfen.
Am Fuß der Treppe, nahe einer überfüllten Kaffeestube, wartete Allday auf ihn. Wie immer. Er würde sich nie ändern. Mit demselben breiten Grinsen auf dem biederen Gesicht, wie stets, wenn er vergnügt war. Er hatte etwas zugenommen in letzter Zeit, dachte Bolitho, aber er stand wie ein Fels. Bolitho lachte in sich hinein. In jedem anderen Fall hätte der Hausdiener einen einfachen Bootssteurer nach hinten in die Küche oder – wahrscheinlicher noch – in die Kälte hinausgeschickt. Nicht jedoch Allday. Der sah in seinem blauen Rock mit den vergoldeten Knöpfen, den neuen Kniebundhosen und blanken Lederstiefeln Zoll für Zoll wie der Bootssteurer eines Admirals aus.
Allday hatte drei Jahre gebraucht, um sich an die Anrede ›Sir‹ zu gewöhnen. Vorher hatte er Bolitho einfach mit ›Captain‹ angeredet. Nun mußte er sich an einen Konteradmiral gewöhnen. Erst am Morgen, als sie vom Hause eines Freundes, bei dem Bolitho ein paar Tage zu Besuch gewesen war, nach Portsmouth aufgebrochen waren, hatte Allday fröhlich gesagt: »Macht nichts, Sir. Bald werden Sie ›Sir Richard‹ sein, und auch daran werde ich mich gewöhnen!«
Nun half ihm Allday in seinen langen Bootsmantel und sah zu, wie er sich den Dreispitz fest auf das schwarze Haar drückte.
»Dies ist ein großer Augenblick, nicht wahr, Sir?« Er wiegte den Kopf. »Wir haben einen langen Weg zurückgelegt.«
Bolitho sah ihn mit Wärme an. Allday fand stets das treffende Wort. Wann und wo auch immer, bei Sturm oder Raute. In schwierigen Lagen und Todesgefahr: Allday war immer da. Bereit zu helfen, seinen Witz ebenso wie seinen Mut einzusetzen. Er war ein wirklicher Freund, wenn er es auch manchmal darauf anlegte, Bolitho zu reizen.
»Aye. Irgendwie kommt es mir vor, als beginne alles noch einmal von vorne.«
Bolitho betrachtete sich kurz im Wandspiegel neben dem Eingang, genau wie damals, als er als frisch gebackener Kommandant der Fregatte Phalarope hier herausgekommen war. Damals war er jünger gewesen als der jüngste Kommandant seines jetzigen Geschwaders.
Er dachte plötzlich an das Landhaus, in dem er zu Besuch gewesen war, und erinnerte sich an eines der Dienstmädchen, ein hübsches Mädchen mit flachsblonden Haaren und schmucker Figur. Er hatte Allday mehrmals mit ihr zusammen gesehen, und der Gedanke beunruhigte ihn. Allday hatte sein Leben oft genug riskiert und Bolithos mehr als einmal gerettet. Nun ging es wieder hinaus, und Allday mußte wegen seiner hartnäckigen Anhänglichkeit mit.
Bolitho spielte mit dem Gedanken, ihm eine Chance zu geben, ihn nach Falmouth zu schicken, wo er in Frieden leben, am Ufer Spazierengehen und mit anderen ehemaligen Seeleuten sein Bier trinken konnte. Allday hatte mehr als seine Pflicht für England getan. Es gab unzählige andere, die nie ihr Leben riskiert hatten, die nie bei Sturm oben in einem Mast herumgeklettert waren oder an den Kanonen gestanden hatten, wenn die Luft voll Eisen war.
Er schaute in Alldays Gesicht und entschied sich anders. Es würde ihn verletzen und ärgern. Er selber hätte genauso empfunden. Bolitho sagte: »Manche Väter werden auf den Seemann scharf sein, der ihren Töchtern zu nahegetreten ist, nicht wahr, Allday?« Ihre Blicke trafen sich. Es war ein Spiel, das beide sehr gut beherrschten.
Allday grinste. »Ganz meine Meinung, Sir. Es wird Zeit für eine kleine Veränderung.«
Kapitän Thomas Herrick trat unter dem Überhang der Hütte hervor und blieb – die Hände auf dem Rücken verschränkt – stehen, um sich in dem feuchten kalten Wind, der die Decks übersprühte, wieder seelisch und körperlich an das Schiff zu gewöhnen.
Der Vormittag war fast vorüber, und mit geübtem Blick sah Herrick, daß die Seeleute, die an Deck, auf den Laufbrücken oder oben auf den Rahen bei der Arbeit waren, sich langsamer als sonst bewegten. Sicher waren sie in Gedanken schon beim Mittagessen, bei ihrer Rum-Ration, bei der kurzen Erholungspause, die sie mit ihren Kameraden in den vollgefüllten unteren Decks verbringen würden.
Herrick ließ seinen Blick über das breite Achterdeck schweifen, über den stocksteif dastehenden Midshipman der Wache, der sich der Anwesenheit seines Kommandanten offenbar bewußt war, über die sauber ausgerichteten Kanonen, überall hin. Er hatte sich noch immer nicht an das neue Schiff gewöhnt. Sein altes Schiff, die Lysander; 74 Kanonen, hatte er nach vielen Monaten ununterbrochenen Dienstes heimgebracht. Die Jahre, Sturmschäden und schwere Wunden aus vielen Gefechten hatten ihre tiefen Spuren in dem alten Schiff hinterlassen. Herrick war nicht überrascht gewesen, als er den Befehl erhielt, seine Besatzung auszuzahlen und seine Lysander bei der Marinewerft abzuliefern. Er hatte viel erlebt und durchgemacht auf diesem Schiff, und bei vielen Gelegenheiten hatte er auch etwas über sich selber dabei gelernt, über seine Möglichkeiten und seine Grenzen. Als Flaggkapitän von Kommodore Richard Bolitho hatte er mehr Arten der Pflichterfüllung kennengelernt, als er für möglich gehalten hatte.
Die Lysander würde nie wieder in einer Schlachtlinie stehen. Zu viele Beschädigungen hatten ihren Tribut gefordert, aber ihre vielen Dienstjahre würden wahrscheinlich ohne Lohn bleiben. Sie mochte ihre Tage als Vorratsschiff oder – schlimmer noch – als schwimmendes Gefängnis beenden.
Ihre Besatzung war nun über die ganze Flotte verteilt und stillte den nie endenden Bedarf an guten Leuten. Herrick hatte es vorausgesehen und sich mehr als einmal gefragt, wie seine eigene Zukunft wohl aussehen werde. Zu seiner Überraschung hatte man ihm dieses Schiff gegeben: Seiner Britischen Majestät Linienschiff Benbow, 74 Kanonen, funkelnagelneu aus der Hauptmarinewerft in Devonport. Es war das erstemal, daß Herrick auf einem Neubau Dienst tat, ihn sogar befehligte.
Seit Monaten war er nun schon an Bord, arbeitend und sich sorgend, während die Werft ihren Teil tat, und die Benbow wuchs und wuchs, bis sie schließlich ihren gegenwärtigen Zustand erreicht hatte.
Alles war noch neu und unerprobt: dies galt nicht zuletzt für die Männer, die sich in ihrem Achtzehnhundert-Tonnen-Rumpf zusammengefunden hatten. Herrick hatte jede Unze Erfahrung gesegnet, die er seinem langsamen Emporklettern auf der Leiter des Erfolges und der Beförderung verdankte.
Glücklicherweise war es ihm möglich gewesen, einige seiner alten Recken von der Lysander bei sich zu behalten, einige vom Stamm der erfahrenen Maate und Deckoffiziere, die man sogar jetzt, nach der gerade hinter ihnen liegenden Sturmnacht, auf dem Oberdeck herumbrüllen hören konnte, weil sie sich – genau wie der Kommandant – ihrer Verantwortung und dessen, was die nächste Stunde bringen würde, bewußt waren.
Herrick schaute zur Spitze des Besanmastes empor und fühlte, wie ihm dabei der Gischt ins Gesicht sprühte. Sogar vor Anker konnte es in Spithead sehr bewegt sein. Bald würde die Flagge eines Konteradmirals vom Besan wehen. Sie würden wieder zusammen sein. Mit anderen Aufgaben, mit größerer Verantwortung, aber sie hatten sich bestimmt nicht verändert.
Herrick trat an die Finknetze[2] und schaute zur verschwommenen Uferlinie hinüber. Sogar ohne Fernglas konnte er den Portsmouth Point sehen, seine Gebäude, die so eng zusammengerückt waren, als fürchteten sie, über die Felskante in die See zu stürzen. Da war die Kirche von Thomas à Beckett, und irgendwo weiter links der alte George Inn.
Er kletterte auf einen Poller und schaute hinab auf das gurgelnde Wasser, das an der kräftigen, schwarz und gelb gemusterten Bordwand vorbeiströmte. Boote tanzten auf und nieder, Ladegeschirr hob und senkte sich, um in letzter Minute noch Vorräte an Bord zu hieven, Brandy für den Schiffsarzt, Wein für die Offiziere der Seesoldaten – kleine Annehmlichkeiten, von denen man nicht wußte, wie lange sie vorhalten mußten.
Die letzten Monate hatten Herrick nicht nur viel abgefordert, sondern ihn auch vielfältig belohnt. Von einem kleinen Seeoffizier ohne Beziehung oder Vermögen hatte er sich zu einem Mann entwickelt, der Wurzeln geschlagen hatte. Mit Dulcie hatte er Geborgenheit und ein Glück gefunden, wie er es sich nicht einmal erträumt hatte, und zu seiner größten Überraschung – das war typisch für ihn – hatte er eines Tages entdeckt, daß er mit einer Frau lebte, die, wenn auch nicht gerade reich, so doch recht wohlhabend war.
Dulcie hatte in der Nähe des Schiffes gewohnt, so lange die letzten Ausrüstungsarbeiten noch dauerten: Rahen aufbringen, das stehende Gut teeren und durchsetzen, Segel anschlagen, Kanonen an Bord hieven, vierundsiebzig Stück, und viele Meilen langes Tauwerk, Hunderte von Blöcken und Taljen, von Körben, Fässern und sonstigen Gegenständen, die einen nackten Schiffsleib in die modernste, am meisten begehrte und wahrscheinlich schönste Schöpfung des Menschen verwandelte. Die Benbow war jetzt ein Kriegsschiff, ja mehr als das, sie war das Flaggschiff dieses kleinen Geschwaders, das hier auf Spithead-Reede lag.
»Ihr Glas, bitte, Mr. Aggett!« rief er scharf.
Herrick hatte sich Namen schon immer gut merken können. Den Charakter ihrer Träger kennenzulernen, dazu brauchte er länger.
Der Midshipman der Wache flitzte über das Achterdeck und überreichte ihm das große Teleskop des Signaloffiziers. Herrick richtete es durch die Steuerbordnetze und über die anderen Schiffe hinweg auf die nebligen Buckel der Insel Wight. Dann studierte er mit fachkundigem Blick sorgsam jedes Schiff. Die anderen drei Zweidecker glänzten fast im trüben Licht, und ihre geschlossenen Stückpforten hoben sich wie Schachbrettmuster von der kabbeligen See ab. Indomitable, Kapitän Charles Keverne. Bei jedem Schiffsnamen trat sein Kommandant vor Herricks geistiges Auge. Keverne war Bolithos Erster Offizier auf der großen Prise Euryalus gewesen. Nicator, Kapitän Valentine Keen. Sie hatten zusammen auf einem Schiff irgendwo auf den Weltmeeren gedient.
Die Odin, ein kleinerer Zweidecker mit nur vierundsechzig Kanonen. Herrick lächelte trotz seiner vielen Sorgen. Ihr Kommandant war Francis Inch. Er hätte nie geglaubt, daß der eifrige Inch mit seinem Pferdegesicht es so weit bringen würde. Noch weniger, als er das für sich selber erwartet hatte.
Die beiden Fregatten, Relentless und Styx, ankerten weiter achteraus, und die kleine Korvette Lookout zeigte ihre kupferbeschlagene Unterseite, als sie vor ihrer Ankertrosse heftig hin- und herdümpelte.
Insgesamt war es ein gutes Geschwader. Den meisten Offizieren und Mannschaften fehlte zwar Erfahrung, aber ihr jugendlicher Eifer würde das bald wettmachen. Herrick seufzte. Er war dreiundvierzig und alt für seinen Dienstgrad, aber er war zufrieden, wenn er auch gerne ein paar Jahre von seinem Lebensalter abgestrichen hätte.
Füße stampften über das Achterdeck, und er sah Henry Wolfe, den Ersten Offizier, mit großen Schritten auf sich zukommen. Herrick konnte sich nicht vorstellen, wie er in den letzten Monaten der Ausrüstung der Benbow ohne Wolfe hätte zurechtkommen sollen. Wolfe sah außergewöhnlich aus: sehr groß, über sechs Fuß, schien er Schwierigkeiten zu haben, seine langen Arme und Beine unter Kontrolle zu halten. Sie waren genauso lebhaft in Bewegung wie der ganze Mann. Er hatte Fäuste wie Schmiedehämmer und Füße so groß wie Drehbassen. Das Ganze wurde gekrönt von einem leuchtend roten Haarschopf, der unter seinem Dreispitz wie zwei Vogelschwingen hervorflatterte.
Wolfe bremste ab und berührte kurz seinen Hut. Er holte mehrmals tief Luft, als könne er seine Energie, die nicht unbeträchtlich war, nur auf diese Weise zügeln.
»Alles klar, Sir!« Er hatte eine rauhe, tonlose Stimme, die den nahe dabeistehenden Midshipman zusammenzucken ließ. »Ich habe alles an seinen Ort gebracht und für alles auch einen Platz gefunden. Geben Sie uns noch ein paar Leute, und wir werden mit jedem Wetter fertig.«
»Wieviel mehr?« fragte Herrick.
»Zwanzig gute Seeleute oder fünfzig Idioten!«
Herrick hakte da ein. »Sind die Leute, die gestern von den Preßkommandos gebracht wurden, brauchbar?«
Wolfe rieb sich das Kinn und beobachtete einen Matrosen, der an einem Backstag herunterglitt.
»Das übliche, Sir. Ein paar Lümmel und ein paar Galgenvögel, aber auch einige gute Leute. Sie werden hineinpassen, wenn der Bootsmann sie sich erst vorgenommen hat.«
Eine Talje quietschte, und einige in Segeltuch eingeschlagene Kisten wurden angehievt und über die Laufbrücke an Deck geschwenkt. Herrick sah, wie Ozzard, Bolithos Diener, die Kisten in Empfang nahm und mit Hilfe einiger Seeleute nach achtern brachte.
Wolfe folgte seinem Blick und bemerkte: »Keine Bange, Sir. Die Benbow wird Sie nicht enttäuschen.« In seiner unverblümten Art setzte er hinzu: »Es ist für mich was Neues, unter einer Admiralsflagge zu fahren, Sir. Ich nehme gern jeden Rat an, den Sie für angebracht halten.«
Herrick musterte ihn ruhig und sagte nur: »Admiral Bolitho duldet keine Nachlässigkeiten, Mr. Wolfe, genausowenig wie ich. Aber ein anständigerer Mann ist mir nie begegnet, und auch kein tapferer.« Er ging wieder nach achtern und fügte in anderem Ton hinzu: »Rufen Sie mich bitte, sowie Sie das Admiralsboot sichten.«
Wolfe blickte ihm nach und bemerkte zu sich selber: »Und es gibt auch keinen besseren Freund für dich, möchte ich wetten.«
Herrick begab sich in seine Kajüte und registrierte auf dem Weg dahin viele geschäftige Gestalten, wie auch Essensdüfte und den starken Geruch nach jungem Holz, Teer, frischen Farben und neuem Tauwerk. Alles war neu auf diesem Schiff, vom Kiel bis zu den Mastspitzen. Und es war seines.
Vor dem Türvorhang hielt er kurz an und beobachtete seine Frau, die am Tisch in der Kajüte saß. Sie hatte ein angenehmes, ebenmäßiges Gesicht und Haare im gleichen Braun wie er selber. Sie war Mitte Dreißig, aber Herrick hatte ihr sein Herz geschenkt wie ein Jüngling einem Engel.
Der Offizier, mit dem sie gerade gesprochen hatte, stand auf und schaute zur Tür.
Herrick nickte ihm zu. »Keine Eile, Adam, Sie werden jetzt noch nicht an Deck benötigt.«
Adam Pascoe, Dritter Offizier der Benbow, war froh über die Unterbrechung. Nicht, daß es ihm unangenehm gewesen wäre, mit der Frau seines Kommandanten zu plaudern, ganz und gar nicht. Aber er war sich, genau wie Herrick, an diesem Tage besonders bewußt, was es für ihn und sie alle heute und in Zukunft bedeutete, wenn die Flagge seines Onkels hier an Bord gesetzt wurde.
Pascoe hatte schon auf der Lysander unter Herrick gedient. Er hatte als Unterleutnant angefangen und war dann, durch Beförderung oder Tod seiner Vorgesetzten, zum Vierten Offizier aufgestiegen. Jetzt, als Dritter Offizier der Benbow, war er immer noch sehr jung, gerade zwanzig. Innerlich war er hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, bei Richard Bolitho zu bleiben oder sich auf ein kleineres, unabhängiges Schiff, eine Fregatte oder Korvette, versetzen zu lassen.
Herrick beobachtete ihn und erriet, was Pascoe dachte.
Ein gutaussehender Junge, dachte er selbst, schlank und sehr dunkel, Bolitho ähnlich, mit der Unruhe eines noch nicht eingerittenen Jungpferdes. Sein Vater, wenn er noch lebte, wäre stolz auf ihn gewesen.
Pascoe sagte: »Ich gehe jetzt lieber zu meiner Division, Sir. Ich möchte nicht, daß heute was schiefläuft.« Er verbeugte sich leicht zu der Dame hin. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen, Ma’am.«
Allein mit seiner Frau, sagte Herrick nachdenklich: »Ich mache mir manchmal Sorgen um ihn. Er ist noch ein Knabe und hat doch schon mehr Blutvergießen und Scheußlichkeiten gesehen als die meisten in diesem Geschwader.«
Sie antwortete: »Wir sprachen gerade über seinen Onkel. Er hält sehr viel von ihm.«
Herrick ging hinter ihrem Stuhl vorbei und legte ihr die Hand auf die Schulter. ›Großer Gott, ich muß dich bald verlassen‹ dachte er. Laut sagte er: »Die Wertschätzung ist gegenseitig, Liebste. Aber im Krieg hat ein Offizier des Königs seine Pflichten.«
Sie griff nach seiner Hand und drückte sie gegen ihre Wange.
»Unsinn, Thomas! Du sprichst mit mir und nicht mit einem deiner Seeleute!«
Er beugte sich über sie und fühlte sich zur gleichen Zeit unbeholfen und als ihr Beschützer. »Du wirst gut auf dich aufpassen, wenn wir fort sind, nicht wahr, Dulcie?«
Sie nickte kräftig. »Ich gebe auf alles acht. Und ich sehe auch darauf, daß deine Schwester bis zu ihrer Hochzeit mit allem versorgt ist. Wir werden bis zu deiner Rückkehr eine Menge zu besprechen haben.« Sie stockte. »Wann mag das sein?«
Durch sein neues Kommando und seine unerwartete Heirat hatte Herrick den Kopf so voll gehabt, daß er kaum weiter über den Tag hinaus gedacht hatte, an dem er sein Schiff von Plymouth nach Spithead zum Treffpunkt mit dem übrigen Geschwader bringen sollte.
»Es geht nordwärts, glaube ich. Mag ein paar Monate dauern.« Liebevoll drückte er ihre Hand. »Keine Angst, Dulcie, mit der Flagge unseres Dick im Masttopp sind wir in guter Hut.«
Eine Stimme gellte über ihnen: »Klar Deck überall! Ehrenwache antreten!«
Pfiffe und Kommandolaute schrillten durch die Decks, und Füße stampften über Holzplanken, als die Seesoldaten nach oben stürzten und sich an der Fallreepspforte aufstellten.
Es klopfte kräftig an die Tür, und Midshipman Aggett meldete atemlos, während seine vom Wind geröteten Augen sich auf das halb aufgegessene Stück Kuchen auf dem Tisch richteten: »Meldung vom Ersten Offizier, Sir: Das Admiralsboot hat eben von der Pier abgelegt.«
»Sehr gut, ich komme.«
Herrick wartete, bis der Junge gegangen war. »Gleich werden wir mehr wissen, Liebste.«
Er nahm seinen Säbel aus der Wandhalterung und befestigte ihn am Gürtel. Dann stand er auf und marschierte durch die Kajüte, wobei er das Halstuch und seinen Rock mit den weißen Aufschlägen zurechtzupfte.
»Thomas, Liebster, ich bin stolz auf dich.«
Herrick war kein großer Mann, aber als er jetzt die Kajüte verließ, um seinen Admiral zu empfangen, fühlte er sich wie ein Gigant.
Richard Bolitho saß kerzengerade auf dem Hecksitz seines Admiralsbootes und beobachtete die vor Anker liegenden Schiffe, die mit jedem Schlag der Riemen näher kamen, ohne daß er sich bewußt wurde, was jetzt auf seinem Flaggschiff oder gar auf dem übrigen Geschwader vorging.
Als er in das Boot eingestiegen war, hatte er unter den Kuttergästen einige seiner alten Leute von der Lysander wiedererkannt. Für sie ging es jetzt abermals hinaus, wahrscheinlich hatten sie in der Zwischenzeit nicht einmal Familie und Heimat gesehen.
Allday saß dicht neben Bolitho und beobachtete aufmerksam, wie die weiß gemalten Riemen sich hoben und senkten wie blankpolierte Spinnenbeine. Ein Leutnant führte das Kommando im Boot, der jüngste Offizier der Benbow, und er fühlte sich unter Alldays kritischem Blick ebenso unbehaglich wie wegen der Anwesenheit des Admirals.
Bolitho war fest in seinen Bootsmantel eingewickelt, der sogar noch seinen Hut umhüllte, damit er nicht über Bord geweht wurde.
Er musterte den an der Spitze liegenden Zweidecker; als das Schiff langsam im überkommenden Gischt Umriß und Gestalt annahm, rief er sich in Erinnerung, was er von ihm wußte.
Ein Linienschiff dritter Klasse[3], etwas größer als die Lysander. Sieht blendend aus, dachte er und schätzte, daß Herrick ebenso beeindruckt hatte sein müssen. Er sah die Galionsfigur aus dem Schiffsleib ragen; es schien, als wolle sie mit ihrem erhobenen Säbel seinem Boot ein Zeichen geben. Sie trug den Namen von Vizeadmiral Sir John Benbow, gestorben 1702, nachdem er sein Bein durch ein Kettengeschoß verloren hatte, aber nicht eher, bis er der Hinrichtung seiner Kommandanten beigewohnt hatte, die in der Schlacht feige gekniffen hatten. Es war eine schöne Galionsfigur, dem toten Admiral sicher ähnlich. Würdevoll blickend, mit wehendem Haar und einem schimmernden Brustharnisch, wie man ihn zu jener Zeit getragen hatte. Der alte Izod Lambe aus Plymouth, einer der Besten seines Faches, hatte sie geschnitzt, obwohl er – wie es hieß – blind war.
Wie viele Male hatte es Bolitho in dieser Zeit gereizt, schnell einmal von Falmouth herüberzukommen, um Herrick bei den letzten Arbeiten zuzuschauen. Aber Herrick hätte das vielleicht als einen Mangel an Vertrauen gedeutet. Mehr als einmal hatte Bolitho jetzt schon zur Kenntnis nehmen müssen, daß das einzelne Schiff ihn direkt nichts mehr anging. Er schwebte darüber wie seine Flagge. Ein freudiger Schauer lief ihm über den Rücken, als er die übrigen Einheiten seines Geschwaders musterte; vier Linienschiffe, zwei Fregatten und eine Korvette. Insgesamt fast dreitausend Offiziere, Seeleute und Soldaten, und alles, was darin inbegriffen war.
Das Geschwader mochte neu sein, aber von den Gesichtern waren ihm viele altvertraut. Er dachte an Keverne und Inch, an Neale und Keen, und an den jungen Kommandanten der Korvette, Matthew Veitch. Er war Herricks Erster Offizier gewesen. Admiral Sir George Beauchamp hatte sein Versprechen gehalten. Jetzt war es an ihm, sich zu bewähren.
Mit Männern, die er kannte und denen er vertraute, mit denen er so viel erlebt und geteilt hatte.
Trotz der augenblicklichen Erregung lächelte er bei dem Gedanken an die Reaktion seines neuen Flaggleutnants, als er versucht hatte, ihm seine Gefühle deutlich zu machen.
Der Leutnant hatte gesagt: »Aus Ihrem Mund klingt es sehr bedeutend. Wie schon der Dichter sagt: ›Wir Auserwählten‹.«
Vielleicht war er damit der Wahrheit näher gewesen, als er ahnte.
Das Admiralsboot drehte auf, fiel in ein Wellental hinab und wurde wieder hochgehoben, als der Leutnant auf die glitzernde Bordwand des Flaggschiffs zuhielt.
Dann waren sie längsseits. Rote Uniformröcke und weiße Kreuzbänder, das Blau und Weiß der Offiziersröcke, die Menge der Seeleute dahinter. Und über ihnen, wie um sie zu beschützen und einzuhüllen, die drei großen Masten und die Rahen, die Masse der Wanten, Stage und des laufenden Guts, ein unfaßbares Gewirr für jede Landratte, aber Bürge der Geschwindigkeit und Beweglichkeit eines Schiffes. Mit der Benbow war jedenfalls zu rechnen.
Die Riemen federten wie auf einen Schlag in die Senkrechte, und der Bugmann hakte in die Kette des Rüsteisens ein.
Bolitho übergab Allday seinen Mantel und drückte den Hut fest in die Stirn.
Alles ging ganz ruhig vonstatten; abgesehen von dem Tidenstrom zwischen dem Schiff und dem dümpelnden Boot wirkte die Szene fast friedlich.
Auch Allday war aufgestanden und hatte seinen Hut abgenommen. Nun stand er wartend da, bereit Bolitho zu helfen, wenn er den Absprung aufs Fallreep verpassen sollte.
Bolitho faßte Fuß und zog sich zur Einlaßpforte hoch.
In diesem Augenblick nahm er laute Befehle war, die Geräusche präsentierter Waffen und den Einsatz der Spielleute, die das ›Heart of Oak‹ intonierten.
Wie durch einen Schleier sah er Gesichter, die auftauchten und sich näherten, als er das Deck betrat. Und während die Bootsmannsmaatenpfeifen und die Kommandorufe verstummten, nahm Bolitho seinen Hut ab und salutierte nach achtern, zur Flagge hin, und dann vor dem Kommandanten des Schiffes, als er auf ihn zuschritt, um ihn zu begrüßen.
Herrick nahm ebenfalls seinen Hut ab und schluckte heftig. »Willkommen an Bord, Sir!«
Beide schauten nach oben, als die Flaggleine vom Signalgasten straff geholt wurde.
Da war es, Symbol und Aussage: Bolithos eigene Flagge wehte nun vom Besanmast wie ein Banner.
Die Nächststehenden hätten gern ein besonderes Zeichen gesehen, als der jugendliche Admiral seinen Hut wieder aufsetzte und ihrem Kommandanten die Hand reichte.
Aber das war alles, was sie zu sehen bekamen. Denn was Bolitho und Herrick in diesem Augenblick miteinander verband, war für jeden anderen unsichtbar.