1801: Nach der Schlacht von Kopenhagen kehrt Konteradmiral Richard Bolitho nach Falmouth zurück. Doch der verdiente Landurlaub endet abrupt, als ein Kurier aus London ihm den Befehl überbringt, sich unverzüglich bei Admiral Sir George Beauchamp zu melden. Der alte erfahrene Seelord traut dem Friedensangebot Napoleons nicht und rechnet mit einem Überraschungsangriff. Daher befiehlt er Bolithos Geschwader in die Biskaya, wo dieser die bei Lorient vermutete Invasionsflotte vernichten soll – eine fast unlösbare Aufgabe …
Ein Handstreich in der Biskaya
Roman
Aus dem Englischen
von Klaus D. Kurtz
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Neuausgabe bei Refinery
Refinery ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH,
Berlin August 2018 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2008
© Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München 2000
© 1981 by Highseas Authors Ltd.
Titel der englischen Originalausgabe: A Tradition of Victory
Covergestaltung: © Sabine Wimmer, Berlin
ISBN 978-3-96048-101-0
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Der Sommer 1801 war selbst für das milde West-England außergewöhnlich freundlich und warm; er brachte tagelang blauen, wolkenlosen Himmel und reichlich Sonnenschein. Plymouth lag an diesem geschäftigen Julivormittag unter einem so gleißenden Licht, daß die Schiffe, die von der Reede bis zum Sund dicht an dicht ankerten, im Glast zu wabern und zu tanzen schienen, als wollten sie vergessen machen, wie grimmig ihre Batteriedecks drohten und wie tief die Narben aus der Schlacht waren, die manche von ihnen davongetragen hatten.
Eine schnittige Gig glitt zielstrebig unter dem Heck eines hohen Dreideckers durch und wich dabei geschickt einem schwerfälligen Leichter aus, der bis übers Dollbord mit großen Wasserfässern und Tonnen beladen war. Die hellen Riemen der Gig hoben und senkten sich im Gleichtakt, und auch die sauberen karierten Hemden und frisch geteerten Hüte der Crew machten ihrem Mutterschiff und dessen Bootsmann alle Ehre. Letzterer beobachtete zwar aufmerksam den Bootsverkehr im Hafen, beschäftigte sich aber im Geiste vor allem mit seinem Passagier: Kapitän Thomas Herrick, den er mit der Gig gerade von der Pier abgeholt hatte.
Herrick war sich der Geistesabwesenheit seines Bootsmanns sehr wohl bewußt; er spürte auch die Spannung der Bootsgasten, die seinem Blick auswichen, als sie jetzt ihre Riemenblätter horizontal drehten und die Gig wie einen riesigen Käfer über das helle Wasser gleiten ließen.
Herrick hatte eine lange, ermüdende Reise aus seiner Heimat Kent hinter sich, und je näher er Plymouth gekommen war, um so besorgter hatten sich seine Gedanken mit dem beschäftigt, was ihn erwarten würde.
Sein Schiff, die mit 74 Kanonen bestückte Benbow, war erst vor knapp einem Monat in Plymouth eingelaufen. Kaum zu glauben, daß jenes blutige Inferno, das man inzwischen die »Schlacht von Kopenhagen«[1] nannte, erst drei Monate zurücklag. Das kleine Küstengeschwader, dessen Flaggschiff die Benbow gewesen war, hatte sich im Kampf besonders hervorgetan. Alle waren dieser Ansicht, und die Gazette hatte sogar angedeutet, daß ohne ihren Einsatz die »Dinge« vielleicht ganz anders ausgegangen wären.
Herrick runzelte die Stirn und rutschte unbehaglich auf seiner Ducht herum. Er merkte nicht, daß der Schlagmann unter seinem starren Blick zusammenfuhr, ja, er war sich des Mannes nicht einmal bewußt. Herrick zählte jetzt 44 Jahre und hatte seinen hart erkämpften augenblicklichen Rang weder guten Beziehungen noch einem einflußreichen Gönner zu verdanken. Und das Gerede an Land kannte er bis zum Überdruß, er verachtete gründlich jene Neunmalklugen, die von einem Seegefecht so faselten, als sei es lediglich ein sportliches, von einem Schiedsrichter zu bewertendes Kräftemessen.
Solche Leute bekamen nie das Blut zu sehen, das Gemetzel, die zerfetzten Körper und zerrütteten Gemüter, die der Zoll jeder Schlacht waren. Oder das Verhau aus gebrochenen Stagen und gesplitterten Spieren, das ohne Federlesen gekappt werden mußte, damit der Schaden sich in Grenzen hielt und das Wrack sich wieder in ein Kriegsschiff verwandelte.
Herrick ließ den Blick über die stark befahrene Reede wandern. Überall wurden Schiffe ausgerüstet oder verproviantiert. Eine schlanke Fregatte erregte seine Aufmerksamkeit, die ohne Rigg und mit hohem Freibord über ihrem eigenen schmucken Spiegelbild ritt; noch unbelastet von schweren Geschützen oder voller Mannschaft, schwang sie vor der Helling an ihren Trossen: soeben von Stapel gelaufen. Herrick sah winkende Arme und geschwenkte Hüte, bunte Flaggen über noch leeren Stückpforten und fühlte förmlich die wachsende Selbstsicherheit der neuen Fregatte. Ein Schiff wie ein frisch geworfenes Fohlen, dachte er.
Doch so leicht ließen sich seine Sorgen nicht zerstreuen. Acht Jahre Krieg mit Frankreich und seinen Verbündeten, und England hatte immer noch viel zuwenig Fregatten. Wohin würde wohl dieser Neubau beordert werden? Wer würde ihn befehligen und an Bord Ruhm oder Schande ernten?
Das erinnerte Herrick an den jungen Leutnant, der ihn mit der Gig abgeholt hatte. Er mußte an Bord gekommen sein, während er selbst seine sieben kostbaren Tage in Kent verbrachte. So blaß und jung sah er aus, so unsicher, daß Herrick ihn eher für einen neu angemusterten Midshipman[2] gehalten hätte als für einen Leutnant. Aber der Krieg hatte so viele Leben gekostet, daß die ganze Flotte nur noch aus Knaben oder alten Männern zu bestehen schien.
Sinnlos, diesen Jungen danach zu fragen; der fürchtete sich ja vor seinem eigenen Schatten.
Herrick blickte zu seinem breitschultrigen Bootsmann auf, der die Gig gerade unter einem weiteren hochragenden Bugspriet hindurchsteuerte, beobachtet von den glühenden Augen der Galionsfigur.
Doch dieser bibbernde Junge in Leutnantsuniform hatte ihn an der Pier erwartet, hatte ehrerbietig seinen Hut gezogen und atemlos in einem einzigen Satz hervorgesprudelt: »Empfehlung des Ersten Offiziers, Sir, und der Admiral ist an Bord.«
Zum Glück stand also wenigstens der Erste Offizier zu seinem Empfang bereit, dachte Herrick grimmig. Aber weshalb war Konteradmiral Richard Bolitho, ein Marineoffizier, unter dem er in allen Winkeln der Welt gekämpft hatte, den er verehrte wie keinen zweiten, wieso war Bolitho ausgerechnet jetzt auf der Benbow?
Immer noch standen die letzten schrecklichen Augenblicke bei Kopenhagen vor Herricks Augen: Bolitho mitten im rauchdurchzogenen Schlachtgetöse, unter fallenden Spieren und ohrenzerreißendem Geschützfeuer. Wild trieb er seine Leute an, führte sie mit der rücksichtslosen Entschlossenheit, wie nur er sie über sich brachte. Allein Herrick, sein engster Freund, wußte, was diese Entschlossenheit Bolitho kostete. Er kannte die Zweifel und Ängste, die Erregung über eine Herausforderung, die Verzweiflung über unnütz vergeudete Menschenleben.
Gerade für Bolitho hätte der Landurlaub ganz anders aussehen sollen. Diesmal erwartete ihn eine Frau, eine schöne junge Frau, die ihn entschädigen konnte für den tragischen Verlust, den er vor nicht sehr langer Zeit erlitten hatte. Bolitho war kurz nach London zur Admiralität gereist und hatte dann wieder nach Cornwall zurückkehren wollen, in das große alte Haus in Falmouth.
Die Gig näherte sich ihrem Ziel, dem Linienschiff Benbow, dessen Anblick Herrick immer noch den Atem verschlug. Mit ihrer schwarzen, hellbraun abgesetzten Bordwand, die im Sonnenlicht glänzte, schien sie ihn ganz persönlich willkommen zu heißen. Nur ein Berufsseemann, und ganz besonders natürlich ihr Kommandant, konnte erkennen, worüber neue Farbe und Pech, frisch geteertes Rigg und sauber aufgetuchte Segel die anderen hinwegtäuschten. Jetzt drängten sich Leichter und Flöße rund um den fülligen Rumpf der Benbow, die Luft vibrierte vom Lärm der Hämmer und Sägen, und noch während Herrick hinsah, wurde wieder ein großes Bündel mit neuen Leinen zur Besanmaststenge hochgehievt; die alte Stenge war ihnen im Gefecht weggeschossen worden. Aber die Benbow war ein relativ neues Schiff und so stark wie zwei ältere Schiffe ihrer Klasse. Zwar hatte sie schwer gelitten, aber nun war sie ja aus dem Dock heraus und würde binnen weniger Monate wieder mit dem Geschwader in See stechen können. Seine gewohnte Vorsicht vergessend, spürte Herrick Stolz und Genugtuung über das, was sie geleistet hatten. Typischerweise machte er sich nicht klar, daß der Erfolg zum größten Teil ihm selbst zu verdanken war, seiner ansteckenden Begeisterung und seinem unermüdlichem Streben, die Benbow wieder seeklar zu machen.
Sein Blick blieb am Besanmast hängen und an der Flagge, die nur ab und zu an seinem Mastknopf auswehte. Es war die Flagge eines Konteradmirals der Roten Territorien[3], aber Herrick bedeutete er sehr viel mehr. Wenigstens hatte er seine junge Frau Dulcie diesmal daran teilhaben lassen können. Obwohl er erst seit kurzem verheiratet war, hatte Herrick sich wie ein gestandener Ehemann gefühlt, als er seine Schwester am Altar dem baumlangen Leutnant zur See George Gilchrist zugeführt hatte – vor erst vier Tagen daheim in Maidstone. In der Erinnerung mußte er lächeln, wodurch sein rundliches Gesicht alle Strenge verlor. Er – und ein erfahrener Ratgeber in Ehedingen!
Der Buggast erhob sich, den Bootshaken einsatzbereit.
Während Herricks Gedanken abgeirrt waren, war die Bordwand der Benbow immer höher über ihnen emporgewachsen. Nun, da sie fast längsseit lagen, sah er die ausgebesserten Planken, die Farbflecken, die das aus den Speigatten geflossene Blut verdeckten. Es war gewesen, als verblute das Schiff selbst, nicht nur die Besatzung.
Die Riemen wurden gepickt, und Tuck, der Bootsmann, zog den Hut. Als ihre Blicke sich trafen, lächelte Herrick kurz. »Danke, Tuck. Gut gemacht.«
Sie verstanden einander ohne viele Worte.
Herrick blickte zur Schanzkleidpforte auf und wappnete sich, wie ihm schien, zum tausendstenmal. Er erinnerte sich an die Zeit, als er sich nicht einmal seines Leutnantsranges sicher gefühlt hatte. Dann kam der Schritt von der Offiziersmesse zum Achterdeck, und jetzt war er sogar Flaggkapitän des in seinen Augen besten Marineoffiziers, über den England verfügte; er konnte es immer noch nicht fassen.
Mit seinem neuen Haus in Kent ging es ihm ähnlich. Das war keine Kate mehr, sondern ein stattliches Wohnhaus, sogar mit einem echten Admiral und einigen reichen Kaufleuten als Nachbarn. Dulcie hatte ihn beschwichtigt: »Für dich, mein Liebster, ist nichts zu schade. Das hier hast du dir hart erkämpfen müssen, und eigentlich gebührt dir viel mehr.«
Herrick seufzte. Das meiste Geld war sowieso von ihr gekommen. Womit hatte er bloß das Glück verdient, so eine Frau wie seine Dulcie zu finden?
Ein Wölkchen aus Pfeifentonstaub hing über den starren Gesichtern und schwarzen Hüten, als die Seesoldaten knallend die Musketen aufstampften, während Herrick unter dem Zwitschern der Bootsmannspfeifen grüßend seinen Hut zum Achterdeck hin lüftete und auch Wolfe, seinen überlangen Ersten Offizier, in den Gruß mit einbezog; Wolfe war für Herrick wohl der häßlichste, wahrscheinlich aber einer der besten Seeleute, die ihm je begegnet waren.
Der Lärm verklang, und Herrick musterte die zum Seitepfeifen Angetretenen mit Wehmut. So viele neue Gesichter, die er sich einprägen mußte. Einstweilen sah er hinter ihnen immer noch die der anderen Männer, die in der Schlacht gefallen oder in irgendeinem Marinelazarett verschwunden waren.
Aber Major Clinton von der Marineinfanterie war noch da. Und hinter seiner roten Uniformschulter sah der alte Ben Grubb hervor, der Sailing Master[4]. Eigentlich konnte Herrick sich glücklich schätzen, daß ihm noch so viele erfahrene Leute geblieben waren, die nun Rekruten und Gepreßte zu einer Mannschaft zusammenschweißen mußten.
»Also, Mr. Wolfe, vielleicht erklären Sie mir, warum da oben die Flagge des Admirals weht?«
Er fiel neben dem Leutnant in Schritt, dessen grellrotes Haar wie zwei Leesegel zu beiden Seiten seines Huts hervorstand. Schon kam es ihm vor, als sei er nie von Bord gewesen. Das Schiff hatte ihn vereinnahmt, und das Land dort drüben, mit seinen schimmernden Häusern und gezackten Festungswällen, hatte jede Bedeutung für ihn verloren.
Mit seiner rauhen, trockenen Stimme sagte Wolfe: »Der Admiral kam gestern nachmittag an Bord, Sir.« Seine Pranke schoß vor und deutete auf einen Bunsch soeben aufgeschossener Fallen. »Was soll das sein – ein verdammtes Storchennest?« Er wandte sich von dem versteinerten Matrosen ab und bellte: »Mr. Swale, notieren Sie den Namen dieses Idioten! Er ist ein vermaledeiter Weber, kein Seemann!«
Schweratmend fuhr Wolfe fort, an Herrick gewandt: »Die meisten Ersatzleute sind solche Versager, Sir. Kehricht aus dem Karzer und nur ganz vereinzelt ein paar erfahrene Seeleute.« Er rieb sich die fleischige Nase. »Die hier habe ich von einem Indienfahrer. Behaupteten, sie seien vom Kriegsdienst freigestellt. Wollten angeblich auch Papiere besitzen, in denen das bestätigt wurde.« Herrick grinste schief. »Aber bis Sie die Angelegenheit geklärt hatten, war der Indienfahrer schon ohne die Leute ausgelaufen, nicht wahr, Mr. Wolfe?«
Beide hegten keine sonderliche Sympathie für die vielen erstklassigen Matrosen, die vom Dienst bei der Kriegsmarine freigestellt blieben, bloß weil sie bei der Ostindischen Handelskompanie oder irgendeiner Hafenbehörde dienten. Schließlich befand sich England im Kriegszustand. Gebraucht wurden Seeleute, nicht Krüppel oder Kriminelle. Aber die Lage wurde von Tag zu Tag prekärer. Herrick hatte gehört, daß die Preßkommandos und Werber schon viele Meilen tief im Binnenland umherzogen.
Er blickte zum turmhohen Großmast und dem imponierenden Dickicht der Taljen, Rahen und Taue hoch. Wieder drängte sich ihm die Erinnerung an den Pulverrauch und die zerschossenen Segel auf, an die Seesoldaten in den Marsen, die da oben brüllten und jubelten und ihre Musketen und Drehbassen auf das Tohuwabohu unten abfeuerten.
Gemeinsam betraten sie den Schatten der Poop und beugten die Köpfe unter den schweren, niedrigen Decksbalken.
Wolfe sprach als erster. »Der Admiral ist allein gekommen, Sir.« Er zögerte, als fürchte er, zu weit gegangen zu sein. »Ich dachte, er wollte seine Lady mitbringen?«
Herrick wandte sich seinem Ersten prüfend zu. Wolfe war ein vierschrötiger, manchmal brutaler Mann und hatte auf den unterschiedlichsten Schiffen gedient, von der Kohlenbrigg bis zum Sklaventransporter. Er hatte keine Geduld mit Faulpelzen und kein Verständnis für menschliche Schwächen. Aber er war auch kein Schwatzmaul.
Deshalb sagte Herrick, was er dachte. »Das hatte ich ebenfalls gehofft. Weiß Gott, der Mann hätte es verdient …«
Der Rest des Satzes wurde übertönt vom Ruf des Wachtpostens vor der Kajüte, der mit seiner Muskete auf den Boden stampfte und ankündigte: »Der Flaggkapitän, Sir!«
Wolfe wandte sich grinsend ab. »Verdammte Holzköpfe!«
Die Tür wurde ihnen von Ozzard, Bolithos Steward, geöffnet. Ozzard war ein seltsamer Kauz. Jetzt galt er als tüchtiger Steward, aber man munkelte, daß er früher ein noch besserer Anwaltsgehilfe gewesen sei, der vor einer langen Kerkerstrafe oder dem Galgen mit knapper Not zur Marine entkommen war.
Die große Achterkajüte, von weißen Lamellentüren in einen Schlaf- und einen Speiseraum unterteilt, war frisch gestrichen, und den Boden bedeckte wieder eine schwarz-weiß gewürfelte Persenning, welche die Narben der Schlacht den Blicken entzog.
Bolitho hatte sich aus einem Heckfenster gebeugt, wandte sich aber jetzt um, seinen Freund zu begrüßen. Erleichtert stellte Herrick fest, daß er sich äußerlich nicht verändert hatte. Sein goldbetreßter Admiralsrock lag achtlos über einen Stuhl geworfen, er trug nur Hemd und Kniehose. Mit dem schwarzen Haar, von dem eine Strähne übers rechte Auge fiel, und mit seinem raschen, warmherzigen Lächeln wirkte Bolitho eher wie ein Leutnant als wie ein Flaggoffizier.
Ihr Händedruck war kurz, enthielt für beide aber eine ganze Welt gemeinsamer Erinnerungen. Dann sagte Bolitho: »Bring uns Wein, Ozzard.« Er zog einen Stuhl für Herrick heran. »Setzen Sie sich, Thomas. Es tut gut, Sie wiederzusehen.«
Bolithos graue Augen ruhten etwas länger als sonst auf seinem Freund; Herrick wirkte breiter, sein Gesicht etwas voller, aber das lag wohl an den Kochkünsten seiner fürsorglichen jungen Frau. Sein braunes Haar hatte hier und da hellgraue Lichter, wie Reif auf einem struppigen Busch. Aber die klaren blauen Augen, die so trotzig, aber auch so verletzt blicken konnten, waren noch dieselben.
Sie stießen an, und Bolitho fragte: »Wie steht’s mit Ihrer Einsatzbereitschaft, Thomas?«
Herrick verschluckte sich fast am Wein. Einsatzbereitschaft? Sie lagen erst seit einem Monat im Hafen, und zwei Schiffe des Geschwaders waren während der Schlacht verlorengegangen! Sogar ihr leichtester Zweidecker, die mit 64 Kanonen bestückte Odin unter dem Kommando von Kapitän Inch, hatte nur mit knapper Not bis zur Nore[5] hinken können, so tief war sie schon weggesackt. Und hier in Plymouth lagen die Indomitable und die Nicator, beides 74er wie die Benbow, im Reparaturdock fest.
Deshalb sagte Herrick vorsichtig: »Die Nicator wird als erste fertig, Sir. Der Rest des Geschwaders sollte bis September einsatzbereit sein, wenn diese Räuber in der Werft ein Einsehen haben.«
»Und was ist mit der Styx?«
Bei der Frage nach der einzigen Fregatte des Geschwaders, die das Gefecht überlebt hatte, trat ein geistesabwesender Blick in Herricks Augen. Sie hatten damals ihre zweite Fregatte und eine Korvette verloren – ausgelöscht mit allen Menschen, als hätte es sie nie gegeben.
Herrick wartete, bis Ozzard ihre Weingläser wieder gefüllt hatte, dann antwortete er: »Auf Styx wird Tag und Nacht gearbeitet, Sir. Kapitän Neale bringt seine Leute dazu, ein Wunder nach dem anderen zu wirken.« Entschuldigend fügte er hinzu: »Ich selbst bin gerade erst aus Kent zurückgekehrt, Sir, kann Ihnen aber bis heute abend einen vollständigen Bericht über die Benbow geben.«
Bolitho war aufgesprungen, als hielte es ihn nicht länger auf seinem Stuhl.
»Aus Kent?« Er lächelte. »Vergeben Sie mir, Thomas, ich vergaß. Ich hatte zu viele eigene Sorgen im Kopf, um mich zu erkundigen: Wie war die Hochzeit?«
Aber als Herrick den Ablauf der Ereignisse zu schildern begann, der schließlich in der Hochzeit seiner Schwester mit seinem ehemaligen Ersten Offizier den Höhepunkt erreichte, schweiften Bolithos Gedanken schon wieder ab.
Als er nach der Schlacht von Kopenhagen nach Falmouth zurückgekehrt war, hatte er sich gefühlt wie der glücklichste und zufriedenste Mensch. Denn erstens hatte er überlebt; zweitens konnte er mit seinem Neffen Adam Pascoe und seinem Bootsmann und Freund John Allday ins Haus der Bolithos zurückkehren. Vor allem aber erwartete ihn dort Belinda. Immer noch konnte er nicht an sie denken, ohne jedesmal zu fürchten, daß diese Frau nur ein Traum, ein grausamer Scherz des Schicksals war, aus dem ihn eines Tages die bittere Wirklichkeit reißen würde.
Er hatte die Schlacht, das Geschwader und alles andere vergessen, als sie gemeinsam das alte Haus erforscht hatten, als seien sie hier fremd. Sie hatten Pläne geschmiedet, hatten sich geschworen, nicht eine einzige Minute von Bolithos Landurlaub zu vergeuden.
Es gingen sogar Gerüchte über einen Friedensschluß um. Nach dem jahrelangen Krieg, nach Blockade und gewaltsamem Tod sollten nun endlich Geheimverhandlungen in London und Paris stattfinden, in denen es um einen Waffenstillstand ging, um eine Atempause, bei der keine der kriegführenden Parteien fürchten mußte, an Prestige zu verlieren. Für Bolitho hatte das in seinem Glücksrausch ganz plausibel geklungen.
Aber nach den ersten beiden Wochen war ein Kurier aus London eingetroffen und hatte Bolitho den Befehl überbracht, sich umgehend auf der Admiralität bei Admiral Sir George Beauchamp zu melden, seinem alten Vorgesetzten und Gönner, der ihm seinerzeit das Kommando über das Ostseegeschwader übertragen hatte.
Doch selbst dann noch hatte Bolitho im dramatischen Auftritt des Kuriers nichts weiter gesehen als eine kurze Unterbrechung.
Belinda war mit ihm zur Kutsche geschlendert, hatte sich lachend und Wärme ausstrahlend an ihn geschmiegt, als sie ihm weiter von ihren Plänen erzählte, von den Hochzeitsvorbereitungen während seines Londoner Aufenthalts. Bis zu ihrer Heirat sollte sie im Gutshaus des Richters wohnen, denn in einer Hafenstadt wie Falmouth gab es immer lose Zungen, und Bolitho wollte keinen Schatten auf ihrem gemeinsamen Anfang. Zwar verabscheute er Richter Lewis Roxby von ganzem Herzen und konnte immer noch nicht begreifen, weshalb seine Schwester Nancy ausgerechnet ihn geheiratet hatte. Aber wenigstens würde es Belinda dort nicht langweilig werden, denn er besaß einen Reitstall und ein wachsendes Imperium von Bauernhöfen und Weilern. Roxbys Bedienstete nannten ihn hinter seinem Rücken den »König von Cornwall«.
Der Schreck war Bolitho erst in die Glieder gefahren, als er in Admiral Beauchamps Dienstzimmer gebeten wurde. Der Admiral war zwar immer schmal und gebrechlich gewesen, schien an seinen Epauletten und Goldlitzen ebenso schwer zu tragen wie an seiner ungeheuren Verantwortung; wo ein britisches Kriegsschiff im Dienste des Königs segelte, dort war er mit seinen Gedanken. Aber jetzt saß er tief über seinen papierbeladenen Schreibtisch gebeugt und konnte sich zu Bolithos Begrüßung nicht einmal erheben. Obwohl erst sechzig, sah er aus wie ein Hundertjähriger. Nur in seinen hellwachen Augen funkelte immer noch das alte Feuer.
»Wir wollen keine Zeit verlieren, Bolitho. Ihnen bleibt nämlich nur noch ganz wenig und mir überhaupt keine mehr.«
Es war ihm anzusehen, daß mit jedem mühsamen Atemzug, mit jeder verstrichenen Stunde mehr Leben aus ihm entwich. Bolitho war erschüttert, aber auch fasziniert von der Intensität des schmächtigen Mannes, dessen stärkster Charakterzug immer sein Enthusiasmus gewesen war.
»Ihr Geschwader hat sich tapfer gehalten.« Seine klauenartige Hand tastete blindlings über die Papierhaufen. »Zwar haben wir viele gute Männer verloren, aber andere stehen bereit, ihre Stelle einzunehmen.« Sein Kopf sank vornüber, als seien die Worte für ihn zu schwer. »Ich verlange viel von Ihnen, Bolitho, wahrscheinlich sogar zu viel – ich weiß es nicht. Sie haben von dem Waffenstillstandsangebot gehört?« Durch die hohen Fenster fiel Sonnenlicht und reflektierte von Beauchamps tiefliegenden Augen, als brenne Licht in einem Totenschädel. »Diese Gerüchte entsprechen den Tatsachen. Wir brauchen Frieden – zu Bedingungen, die trotz aller Scheinheiligkeit noch akzeptabel sind, damit wir Zeit gewinnen, eine Atempause vor der endgültigen Entscheidung.« Bolitho hatte leise gefragt: »Sie trauen den Franzosen nicht, Sir?«
»Niemals!« Der Ausruf schien Beauchamp die letzten Kräfte gekostet zu haben, denn er konnte erst nach längerer Pause fortfahren: »Die Franzosen wollen uns für sie vorteilhafte Bedingungen aufzwingen. Um Druck auf die Verhandlungen auszuüben, sammeln sie in ihren Kanalhäfen bereits eine Invasionsflotte, meist Prähme und Schuten, und an Land Truppen und Artillerie, die diese Flotte aufnehmen soll. Bonaparte hofft, unser Volk so einzuschüchtern, daß wir Vertragsbedingungen akzeptieren, die nur für ihn von Vorteil sind. Später, wenn die Wunden der Franzosen verheilt, ihre Schiffe ersetzt und ihre Regimenter aufgefüllt sind, wird er den Vertrag zerreißen und uns angreifen. Wenn es erst so weit kommt, haben wir keine zweite Chance.«
Wieder eine Pause, dann murmelte Beauchamp fast tonlos: »Wir müssen England sein Selbstvertrauen zurückgeben. Müssen beweisen, daß wir immer noch angreifen können, nicht nur verteidigen. Einzig auf diese Weise erringen wir eine gleichberechtigte Verhandlungsposition. Jahrelang haben wir die Franzosen zurück in ihre Häfen gescheucht oder sie gestellt und bekämpft, bis sie sich ergeben mußten. Blockade und Patrouille, die Kiellinien-Formation oder Einzelaktionen – das hat die englische Kriegsmarine mächtig gemacht. Aber Bonaparte ist Infanterist, vom Seekrieg versteht er nichts, und Gott sei Dank hört er nicht auf den Rat von Leuten, die sich auskennen.«
Die Stimme war immer schwächer geworden, und Bolitho hatte schon überlegt, ob er Hilfe herbeirufen sollte.
Doch dann hatte Beauchamp sich ruckartig aufgerichtet und hervorgestoßen: »Wir brauchen eine Geste! Eine Demonstration unserer Stärke. Und unter all den jungen Offizieren, die ich im Laufe der Zeit beobachtete und förderte, haben nur Sie mich nie enttäuscht.« Eine Fingerklaue hob sich und winkte wie eine Karikatur des Mannes, den Bolitho einmal gekannt hatte. »Na ja, jedenfalls nicht in dienstlichen Angelegenheiten.«
»Besten Dank, Sir.«
Beauchamp hörte ihn gar nicht. »Machen Sie möglichst viele Ihrer Schiffe möglichst schnell klar zum Auslaufen. Ich habe Instruktionen ausgefertigt, wonach Ihnen das Oberkommando über ein Blockade-Geschwader vor Belle Ile[6] übertragen wird. Weitere Schiffe werden zu Ihrer Verstärkung abgestellt, sobald meine Depeschen den Hafenadmirälen ausgehändigt sind.« Er hatte Bolitho starr angeblickt. »Ich brauche Sie draußen auf See. In der Biskaya. Ich weiß, ich verlange viel von Ihnen, aber schließlich habe auch ich mein Letztes gegeben.«
Das Bild des hohen Dienstzimmers in der Admiralität, der Blick auf die belebte Straße, die eleganten Kutschen, vielfarbigen Damenroben und scharlachroten Uniformen verschwamm vor Bolithos Augen und wich wieder dem Anblick der Kapitänskajüte auf der Benbow. Er sagte: »Admiral Sir George Beauchamp hat mir befohlen auszulaufen, Thomas. Es darf keine Widerrede und nur die geringstmögliche Verzögerung geben. Unvollendete Reparaturen, Unterbemannung, noch nicht gelieferte Munition, fehlendes Pulver – ich brauche alle Angaben bis ins letzte Detail. Deshalb schlage ich ein Treffen aller Kommandanten meines Geschwaders vor. Gleich anschließend lasse ich einen Brief an Kapitän Inch aufsetzen, der sofort mit Kurier nach Chatham auf sein Schiff gebracht werden muß.«
Herrick konnte Bolitho nur anstarren. »Das klingt nach Zeitdruck, Sir.«
»Kann sein.« Bolitho dachte wieder an Beauchamps Worte: ›Ich brauche Sie draußen auf See.‹ Mit einem Blick in Herricks besorgtes Gesicht sagte er: »Tut mir leid, daß ich Ihr junges Glück stören muß.« Er zuckte die Schultern. »Ausgerechnet in die Biskaya segeln wir.«
Vorsichtig erkundigte sich Herrick: »Als Sie nochmals kurz nach Falmouth zurückkehrten, Sir …«
Bolithos Blick fiel durch die Heckfenster auf ein Proviantboot, das sich der Benbow näherte. Er antwortete: »Als ich zurückkam, stand das Haus leer. Zum großen Teil war das meine eigene Schuld. Belinda ist mit meiner Schwester und deren Mann nach Wales gereist, wo sie sich ein von meinem Schwager erworbenes Gut ansehen wollen.«
Er wandte sich ab, um seine Verbitterung, seine Verzweiflung zu verbergen.
»Wer hätte auch vermutet, daß ich nach dem Dienst in der Ostsee und nach dieser Hölle von Kopenhagen schon so bald wieder auslaufen muß?« Er blickte sich um, wie nach den Toten und Verwundeten, welche diese Kajüte schon gesehen hatte. »Wie wird sie es aufnehmen, Thomas? Was bedeuten Worte wie ›Pflicht‹ und ›Ehre‹ für eine Frau, die schon so viel verloren hat?«
Herrick beobachtete Bolitho und scheute sich fast zu atmen. Er konnte es sich so gut vorstellen: Bolithos hastige Rückkehr nach Falmouth, die vorher zurechtgelegten Erklärungen – unter anderem, wie sehr er Beauchamp verpflichtet war, auch wenn die geforderte Geste sich als fruchtlos erweisen sollte. Beauchamp hatte im Krieg gegen Frankreich seine Gesundheit verschlissen. Er hatte Bolitho zum erstenmal die Chance geboten, ein ganzes Geschwader zu kommandieren. Nun war er dem Tode nahe und seine Lebensaufgabe immer noch unvollendet.
Herrick kannte Bolitho besser als sich selbst. Also deshalb war Bolitho auf sein Schiff gekommen! Sein Haus hatte leer gestanden, und er selbst hatte keine Möglichkeit mehr gehabt, Belinda Laidlaw über die jüngsten Entscheidungen zu informieren.
»Sie wird mich verachten, Thomas. Jemand anderer hätte an meiner Stelle segeln können. Konteradmirale, besonders so junge wie mich, gibt es dutzendweise. Warum gerade ich? Was bin ich – ein Übermensch?«
Herrick mußte lächeln. »So etwas denkt sie ganz bestimmt nicht, Sir, das wissen Sie auch. Wir wissen es beide.«
»Wirklich?« Bolitho legte Herrick im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter, als suche er eine Bestätigung. »Ich wollte ja noch bleiben. Aber ich hatte Beauchamps Drängen zu folgen. Es war das mindeste, was ich ihm schuldete.«
Es hatte ihn an den Alptraum erinnert, der ihn gelegentlich heimsuchte: Er kam zurück in ein menschenleeres Haus, wilde Blumen blühten auf der Gartenmauer über der Steilküste, umsummt von Bienen, aber die Hauptakteure waren nicht da, um sich an dem Anblick zu freuen, nicht einmal sein Neffe und Erbe Adam Pascoe. Unglücklicherweise hatte er wenige Stunden nach Bolithos Aufbruch mit dem Kurier einen Gestellungsbefehl auf ein anderes Schiff erhalten.
Trotz seines Kummers mußte Bolitho lächeln. Die Royal Navy brauchte dringend erfahrene Offiziere, und Adam Pascoe war versessen auf jede Gelegenheit, die ihn seinem großen Ziel, dem Kommando über ein eigenes Schiff, näher bringen konnte. Also verdrängte Bolitho die besorgten Gedanken. Adam war gerade einundzwanzig geworden, das ideale Alter. Er durfte sich nicht zu sehr um ihn sorgen.
Gedämpft drang die Stimme des Wachtpostens durch die Tür: »Der Bootsführer des Admirals, Sir!«
Allday trat ein und lächelte breit zu Bolitho hinüber, Herrick begrüßte er mit einem fröhlichen Nicken: »Captain Herrick, Sir …« Dann stellte er einen großen Seesack auf dem Boden ab.
Bolitho schlüpfte in seinen Uniformrock und ließ Ozzard den Haarzopf über dem goldbetreßten Kragen zurechtzupfen. Die ganze Angelegenheit hatte nur eine gute Seite, und beinahe hätte er sie vergessen.
»Ich werde meine Flagge auf Styx setzen, Thomas. Je früher ich zu den anderen Schiffen meines Geschwaders vor Belle Ile stoße, desto besser.« Aus der Innentasche seines Rocks holte er einen langen Briefumschlag hervor und reichte ihn dem erstaunten Herrick. »Von den Lordschaften der Admiralität, Thomas, und zwar mit Wirkung von morgen mittag zwölf Uhr an.« Bolitho nickte Allday zu, der einen langen scharlachroten Kommodorewimpel aus dem Seesack zog und ihn wie einen Teppich auf dem Boden ausbreitete. »Sir, Kapitän Thomas Herrick, Kommandant des Kriegsschiffes Seiner Majestät Benbow, werden hiermit zum Kommodore dieses Geschwaders ernannt und mit allen entsprechenden Pflichten und Vollmachten betraut.« Bolitho drückte Herrick das Couvert in die eine Hand und schüttelte ihm die andere herzhaft. »Herrgott, Thomas, wenn ich Ihr verdattertes Gesicht sehe, geht es mir gleich viel besser.«
Herrick hatte einen Kloß in der Kehle. »Ich, Sir – Kommodore?«
Allday grinste breit. »Gut gemacht, Sir!«
Herrick starrte auf den roten Wimpel zu seinen Füßen nieder. »Und mit einem eigenen Flaggkapitän? Wen – ich meine, was …«
Bolitho ließ mehr Wein kommen. Der Kummer drückte ihm immer noch das Herz ab, er fühlte sich Belinda gegenüber weiterhin als Versager, aber die Verwirrung seines Freundes hatte ihn doch etwas aufgeheitert. Hier waren sie in ihrer Welt. Jene andere Welt, in der von Heirat gesprochen wurde und von Geborgenheit, von Frieden und einer gesicherten Zukunft, sie hatte hier an Bord nichts zu suchen.
»Bestimmt ist in den Depeschen, die Sie aus London erreichen werden, alles Nähere erläutert, Thomas.« Herricks Verstand hatte die Neuigkeit jetzt sichtlich akzeptiert und begann, sie zu verarbeiten. Die Navy brachte einem das bei – das und mehr. Wer diese Flexibilität nicht besaß, erlitt Schiffbruch. »Denken Sie doch daran, wie stolz Dulcie sein wird«, schloß Bolitho.
Herrick nickte bedächtig. »Ja, wahrscheinlich.« Aber dann schüttelte er den Kopf. »Doch wie dem auch sei – Kommodore!« Er sah Bolitho mit seinen blauen Augen offen an. »Ich hoffe, daß wir dadurch nicht allzu weit auseinanderdriften, Sir …«
Nun mußte Bolitho sich abwenden, um seine Rührung zu verbergen. Wie typisch für Herrick, als erstes an so etwas zu denken! Nicht an die längst überfällige Beförderung, die sein Recht und sein Verdienst war, sondern an die Auswirkungen, die sie auf ihre Freundschaft haben mochte.
Alldays Aufmerksamkeit schien plötzlich ganz von den beiden Säbeln, die am Querschott hingen, in Anspruch genommen. Der eine war eine Prunkwaffe, Bolitho in Anerkennung seiner Tapferkeit im Mittelmeer und bei der Schlacht von Abukir[7] von der Stadt Falmouth überreicht. Der andere Säbel war weder so prunkvoll noch so glänzend, er wirkte sogar etwas altmodisch und schäbig, mußte aber vollendet ausbalanciert in der Hand liegen. Dennoch konnte die Prunkwaffe, und hätte es sie auch hundertfach gegeben, mit ihrem ganzen Gold und Silber nicht den Wert der alten Waffe aufwiegen. Es war der Familiensäbel der Bolithos, auf mehreren Porträts in dem alten Haus in Falmouth zu sehen und Allday von vielen heißen Gefechten her wohlvertraut: einmalig, unbezahlbar und unersetzbar.
Sogar Allday konnte diesmal den überraschenden Einsatzbefehl nicht mit seinem gewohnten Gleichmut akzeptieren. Kaum länger als für eine Hundewache hatte er den Fuß an Land gesetzt, und nun sollten sie wieder auslaufen. Schon vorher hatte er vor Wut geschäumt über die himmelschreiende Ungerechtigkeit und Dummheit, die daran schuld war, daß Bolitho nach der Schlacht von Kopenhagen nicht die ihm gebührende Anerkennung erhalten hatte: den Adelstitel. Sir Richard Bolitho. Das hatte den richtigen Klang, sinnierte er.
Aber nein, diese Trottel bei der Admiralität hatten absichtlich unterlassen, was aller Welt nur recht und billig schien. Allday starrte die beiden Säbel an und ballte unwillkürlich die Fäuste. Immerhin munkelte man in der ganzen Flotte, daß Nelson genauso schnöde behandelt worden war – ein kleiner Trost. Vor Kopenhagen hatte Nelson allen aus dem Herzen gesprochen, als er sich weigerte, das Signal seines Oberbefehlshabers zu bestätigen, womit dieser ihm Abbruch des Gefechts und Rückzug befahl. Genau das machte den Mann bei seinen Leuten so beliebt und bei den Seelords, die sich nicht aufs Wasser wagten, so verhaßt.
Seufzend dachte Allday an die junge Frau, die er erst vor wenigen Monaten aus der umgestürzten Kutsche geborgen hatte. Daß Bolitho nun Gefahr lief, sie doch noch zu verlieren – bloß wegen eines blödsinnigen Einsatzbefehls –, das wollte nicht in seinen Kopf.
»Einen Toast auf unseren neuen Kommodore«, schlug Bolitho mit einem Blick auf die gefüllten Pokale vor.
Auch der Erste Offizier war nach achtern gekommen, gefolgt von Master Grubb, der breitbeinig dastand und durstig auf den Pokal herabstarrte, der in seiner Pranke so klein wirkte wie ein Fingerhut.
Herrick rief Allday herbei. »Angesichts der besonderen Umstände möchte ich, daß Sie mit uns trinken.«
Allday wischte sich die Hände an dem rötlich gelben Baumwolltuch seiner schneidigen Nanking-Breeches sauber und murmelte verlegen: »Besten Dank, Sir.«
Bolitho erhob sein Glas. »Ihr Wohl, Thomas. Auf alte Freunde und auf alte Schiffe!«
Herrick lächelte nachdenklich. »Das ist ein guter Trinkspruch, Sir.«
Allday trank seinen Wein und zog sich in den Schatten der Achterkajüte zurück. Er war Herrick dankbar, daß er ihn miteinbezogen hatte, und das vor aller Augen. Sie fuhren auch schon eine kleine Ewigkeit miteinander, hatten andere, nicht so Glückliche, kommen und gehen gesehen. Nun würde Bolithos Geschwader bald im Golf von Biskaya stehen. Fremde Schiffe bildeten den Verband, so unbekannt wie die Aufgaben, die den Admiral erwarteten.
Aber warum ausgerechnet die Biskaya? Allday schlüpfte durch eine Seitentür aus der Achterkajüte und strebte dem Sonnenlicht auf dem Hauptdeck zu. Es gab doch Schiffe und Mannschaften zuhauf, die dort seit Jahren den zermürbenden Blockadedienst versahen, bis der Bewuchs auf den Rümpfen so lang war wie eine Schleppe. Aber wenn Beauchamp den Befehl gab und speziell Bolitho dafür ausersehen hatte, dann mußte es sich um eine harte Nuß handeln. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Allday trat in den Sonnenschein hinaus und spähte zur Flagge auf, die am Besanmast auswehte.
»Trotzdem bleibt’s dabei: Es müßte Sir Richard heißen!«
Der junge wachhabende Offizier wollte Allday schon zur Ordnung rufen, dann bedachte er jedoch, was er über den Bootsmann des Admirals gehört hatte. Deshalb schritt er lieber wortlos zur anderen Seite des Achterdecks hinüber.
Als sich schließlich Dunkelheit über die Reede senkte, nur hin und wieder erhellt von Ankerlichtern und dem Strahl eines Festfeuers an Land, schien auch die Benbow in Schlaf zu sinken. Erschöpft von der langen Arbeit in der Takelage und an Deck, lag die Mannschaft dicht an dicht in ihren Hängematten und schlief wie eine Reihe Kokons in einer versiegelten Höhle. Zwischen den Hängematten warteten die Kanonen stumm hinter ihren Stückpforten und träumten vielleicht von der Zeit, als sie Tod und Verderben spien und alles sich vor ihrer brüllenden Wut duckte.
Achtern saß Bolitho in der großen Tageskajüte noch an seinem Schreibpult, während eine Laterne über seinem Kopf leise im Kreis schwang, im Takt zu den Bewegungen des Schiffes an seiner Ankertrosse.
Für das Geschwader, für seine Mannschaft war er ein Name, ein Anführer, dem man blind gehorchte. Manche hatten schon unter ihm gekämpft und waren stolz darauf. Andere mußten sich erst ein Bild von ihm machen, in den Erfolgen des jungen Konteradmirals einen kleinen Anteil Ruhm und Unsterblichkeit für sich selbst verkörpert sehen. Und dann gab es die wenigen, die wie der getreue Ozzard – der jetzt in seiner Pantry so wachsam schlief wie eine kleine Maus – Bolithos Stimmungen am frühen Morgen, nach einem wilden Sturm oder einer wüsten Verfolgungsjagd kannten. Zu ihnen gehörte auch Allday, der Bolitho selbstlos ergeben war, obwohl er als Gepreßter eigentlich Haß und Demütigung hätte empfinden müssen. Herrick, der über einem Stapel mit Dienstpapieren eingeschlafen war, hatte Bolitho in Augenblicken höchster Erregung und tiefster Niedergeschlagenheit erlebt. Besser als jeder andere hätte er jetzt den Mann durchschaut, der in straffer Haltung an seinem Pult saß, die Schreibfeder über einem Stück Briefpapier, in Gedanken völlig bei der Frau, die er an Land zurücklassen mußte.
Mit Bedacht und Sorgfalt begann Bolitho zu schreiben: »Meine geliebte Belinda …«