Mit verschwitzten Fingern lockerte er seine Krawatte. Seine Augen schossen immer wieder zu dem grellen Licht, das erbarmungslos auf ihn strahlte. Wie er diese Tage im Studio hasste. Ständig gab es Änderungen an dem Text, den er sagen sollte; ständig wollten irgendwelche Leute an ihm herumpfuschen, damit er gut aussah, wenn schließlich die Kamera lief. Und jetzt war es fast soweit. Man sollte meinen, als Nachrichtensprecher waren die Vorbereitungen nicht so stressig wie bei hochbezahlten Schauspielern, aber es war genau das gleiche hetzende Spiel: Vor der Kamera musste alles perfekt sein.
Ein letztes Mal wurde ihm zugerufen, dass er sich bereitmachen sollte. Dann signalisierte ihm der dicke Mann hinter der Kamera, dass er auf Sendung war. Das aufgesetzte Lächeln auf seinen Lippen sollte den Stress verbergen. Wahrscheinlich gelang es ihm sogar. Das hatte er schließlich jahrelang geübt. Nervös war er jedoch immer ein bisschen, schließlich sah ihn jetzt ganz Oregon. Für die Nachrichten in den großen Vereinigten Staaten hatte es nicht gereicht, aber er gab sich damit zufrieden, in Oregon der berühmte Nachrichtenmann zu sein, den alle kannten.
»Guten Abend«, begrüßte er die Zuschauer. Seiner Stimme konnte man nicht anhören, wie gerne er jetzt schon in seinem gemütlichen Wohnzimmer sitzen und das Footballspiel sehen würde, das erst in zwei Stunden begann. »Das sind heute unsere Themen«, leitete er ein und war froh, als er aus dem Bild raus war. Stattdessen wurde eine Kurzzusammenfassung von allen Themen gezeigt. Doch es dauerte nicht lange, da war er wieder Mittelpunkt des Geschehens. Mit einem kurzen Blick auf seine Moderationskarte begann er zu sprechen, wobei er nur den vorgegeben Text ablesen musste, der ganz groß auf einem Bildschirm lief:
»Heute Morgen, um kurz vor zehn, spielte sich in der Bank of Treinia in Portland ein etwas anderer Banküberfall ab. Drei schwarzmaskierte Männer stürmten in die Bank in der Harclom Street und bedrohten die rund fünfzehn Kunden und Angestellten, die sich in der Kassenhalle befanden. Einer der Männer forderte das Geld aus dem Tresor, während seine zwei Komplizen die Anwesenden mit Waffen bedrohten. Bis dahin - alles wie gehabt.« Er setzte ein geheimnisvolles Lächeln auf, das die Zuschauer als belustigt verstehen sollten. »Doch anders, als wir es von ähnlichen Banküberfällen kennen, war die Polizei in diesem Fall schon vor dem Eindringen der Räuber anwesend. Wegen eines Unfalls auf dem Parkplatz der Bank waren zufällig drei Beamte vor Ort. Sie griffen sofort ein, als die Männer ihre Waffen zogen. Diese nahmen eine Frau als Geisel und flüchteten in einem schwarzen PKW. Mandy McCorner berichtet.«
Mit einem tiefen Atemzug ließ er sich etwas zurückgleiten, als nun ein Video auf den Bildschirmen der Zuschauer eingeblendet wurde. Darin erklärte seine Kollegin, dass die Männer ihre Geisel während der Fahrt aus dem Auto geschmissen und unerkannt entkommen waren. Die Polizei stufte sie als sehr gefährlich ein.
Doch das alles interessierte ihn nicht. Obwohl er selbst in Portland lebte und die Bank, von der er gesprochen hatte, durchaus kannte, war er nur froh, dass er einen Moment hatte, um sich auf das nächste kurz anzusprechende Thema vorbereiten zu können. Die Zeit, in der er nicht gezeigt wurde, ging zu schnell um und schon musste er wieder sprechen. Diesmal von einem Thema, das nichts mit dem kuriosen Banküberfall zu tun hatte.
Ein greller Blitz schoss durch meinen Kopf und hellte für einen Moment die unendliche Dunkelheit auf, die eine Sekunde danach wieder die Kontrolle über mein Bewusstsein ergriff. Wach war ich trotzdem. Meine Finger regten sich, versuchten nach irgendwas zu greifen. Dann drang ein lautes Brummen an meine Ohren. Es ließ mich erstarren. Die Bedrohlichkeit kam mit dem schwindelerregenden Schaukeln, das von der Erde herrührte. Ich traute mich nicht, meine Augen zu öffnen. Wo war ich? Was war mit mir passiert?
Ich spürte, dass meine Hände verdreht auf meinem Körper lagen. Ganz vorsichtig wollte ich sie auseinanderziehen, doch es ging nicht. Ein Klirren, als würde Metall an Metall stoßen, ließ mich innehalten. Ungewollt öffneten sich meine Augen. Meine Sicht verschwamm. Erst nach mehrmaligem Blinzeln konnte ich erkennen, was direkt über mir war: Eine Art Rohr, das im oberen Bereich von Plastik umhüllt wurde, schlängelte sich an einer Wand hinauf. Es war erwärmt, sodass mein Gehirn mir sofort die richtige Information zusandte: Meine Hände waren an einem Heizungsrohr befestigt.
Erschrocken sah ich mich um, nur um festzustellen, dass der Raum, in dem ich mich befand, kaum größer als eine Kabine auf den Schultoiletten war. Genaugenommen war es exakt das: Ein Toilettenraum. Allerdings gab es hier keine Fliesen, sondern einen gummiartigen Boden, der ausreichend elastischen Schutz für das wirre Erschüttern meiner Umgebung bot. Das winzige Klo befand sich unmittelbar neben dem Waschbecken, über dem ein eckiger Spiegel angebracht war. Was sich darin reflektierte, riss mir den Boden unter den Füßen weg. Hätte ich nicht schon auf der Gummimatte gekauert, wäre ich sicherlich umgefallen, als mir die Spiegelung des Fensters verriet, was sich außerhalb des winzigen Raums befand: dunkle wandernde Wolken. Ich war in einem Flugzeug gefangen.
Diese Erkenntnis setzte panische Angst in mir frei, die meine Gliedmaßen antrieb, sich zu bewegen. Ich wollte prüfen, ob noch alles dran war, doch kaum hatte ich mich ein bisschen bewegt, wurde ich schon aufgehalten. Etwas zerrte an meinen Händen, sodass ich nicht dazu in der Lage war, sie auseinanderzuziehen. Geschockt blickte ich hinab auf die Handschellen. Sie blitzten mir in dem Licht der Bordtoilette silbern entgegen.
Ich schnappte nach Luft. Wieso war ich mit Handschellen an ein Heizungsrohr gekettet? Und warum befand ich mich auf der schäbigen Toilette eines Flugzeuges, das sich zweifellos durch die dunkle Nacht bewegte? Wohin brachte man mich? Warum brachte man mich überhaupt weg?
Mein Kopf drückte sich zurück auf den harten Kunststoffboden und ich kniff eisern die Augen zusammen. Ganz ruhig, Lily. Nicht die Nerven verlieren, versuchte ich mich selbst zu beruhigen. Es brachte nichts. Mein Atem ging immer schneller, je mehr ich mir meiner Situation bewusst wurde. Wie in Zeitlupe öffnete ich meine Augen, als könnte dadurch alles verschwinden und ich mich in meinem Zimmer befinden. So als wäre alles nur ein Traum gewesen. Aber der Toilettenraum befand sich immer noch um mich herum und der unangenehme Druck an meinen Handgelenken hatte nicht nachgelassen.
Langsam setzte ich mich auf, bedacht darauf, nicht zu viele Geräusche zu machen. Ich war allein in diesem Raum und verspürte die starke Hoffnung, dass ich es noch eine Weile bleiben würde. Ruhig bleiben, ermahnte ich mich, während ich versuchte, das rosarote Wirrwarr aus meinem Kopf zu verbannen. Die Ohnmacht hatte ihre Spuren hinterlassen, sodass es mir schwerfiel, mich daran zu erinnern, wie ich überhaupt hierhergekommen war. Denk nach! Was hast du zuletzt gemacht?
Ich kämpfte gegen Angst und Panik, lichtete das Rosarot und sog scharf die Luft ein, als mir meine letzten Erinnerungen wie hinterlistige Bekannte zuwinkten:
»Super Mädels! Damit wird das Spiel morgen ein Klacks. Das schaffen wir schon«, rief unsere Trainerin und hielt ihre Hand mit der Handfläche nach unten in unsere Mitte.
Wir alle wussten, was das bedeutete. Ich legte meine Hand auf die meiner besten Freundin. »Yeey«, riefen wir feierlich im Chor und hoben die Hände wie kleine Kinder. Genau das war es, was ich an unserer Volleyballgruppe so sehr mochte: Wir waren ein eingeschweißtes Team voll aufgestauter Kindes-Energie.
Morgen war das große Frauen-Volleyballspiel unserer Schule gegen eine andere Gruppe. Wir hatten gerade die letzte Trainingsstunde hinter uns, die mich voller Zuversicht auf unseren Gewinn zurückgelassen hatte. Ich ging mit einem guten Gefühl aus der Turnhalle.
Alyssa stützte sich auf meine Schultern und sprang glücklich auf und ab, als wir zusammen zur Umkleidekabine liefen. »Meinst du, Josh wird hysterisch von der Zuschauertribüne stürmen, wenn er unsere Gegnerinnen sieht?«, fragte sie lachend.
Ich setzte in den hellen Klang ihrer Stimme ein. Josh war unser schwuler bester Freund, mit dem typischen schwulen Verhalten, das man sich vorstellte, wenn man von einem High-School-Jungen hörte, der das eigene Geschlecht anziehend fand. Unsere morgigen Gegnerinnen stammten von der Saint August Highschool aus der Nachbarstadt Scappoose. Sie spielten seit Kindheitstagen miteinander Volleyball, was sie erstens zu einem schwer überwindbaren Team machte und zweitens ihrer athletischen Stärke zugutekam. Obwohl Scappoose eine ziemlich kleine, ländlich gelegene Stadt war, von der keiner viel wusste, war die Frauen-Volleyballmannschaft aus Scappoose jedem ein Begriff. Sie galt als äußerst brutal und rücksichtslos. Josh würde daher wahrscheinlich nicht nur schreiend aus der Halle rennen, sondern sich dabei auch noch in die Hosen machen.
»Hoffentlich nicht, sonst ist er die Witzfigur der Schule«, beschwichtigte ich Alyssa trotz meiner Befürchtung und musste nochmal lachen, als ich mir Joshs Flucht vorstellte.
Aly schob mich grinsend in die Kabine, wo wir unser Duschzeug holten, um uns den Schweiß von der Haut zu waschen. Die Generalprobe - das letzte Spiel vor dem großen Spiel - war anstrengend gewesen. Ich war froh, als ich das warme Wasser spürte, das meine Muskeln entspannte.
Es war Herbst, draußen war es nicht warm. Da ich mit nassen Haaren am Kopf frieren würde, föhnte ich sie mir, während mein Blick an den Mädchen vorbei schweifte, die sich vor der langen Spiegelreihe schminkten. Einige waren schon fertig mit dem Föhnen, andere nicht. Sollte ich mich auch schminken? Wer wusste schon, wer mir auf der Straße alles begegnen würde? Es war zwar bereits halb sieben und nicht mehr hell, aber ich hasste es, ungeschminkt aus dem Haus zu gehen. Nicht, weil ich Schminke brauchte, um Makel zu verdecken, sondern vielmehr, um markante Akzente zu setzen. Also griff ich wieder in meine Tasche, holte das kleine Tütchen raus und schminkte mir die Augen dunkel.
»Das ist nicht dein Ernst, oder?«, meinte Alyssa neben mir.
»Das könnte ich dich genauso fragen«, erwiderte ich und betrachtete, wie sie sich lachend wieder ihren Augen zuwandte, die sie mit Wimperntusche bearbeitete. Meiner Meinung nach brauchte sie sie nicht, um ihre Augen zu betonen, denn Aly hatte Riesen-Augen. Sie besaß sehr lange Wimpern, die in ihrem schönen Gesicht auffielen. Pickel und Mitesser waren schon seit Jahren kein Thema mehr und seitdem war sie makellos schön. Ihre dunkelbraunen Haare fielen ihr bis knapp über die Schulter. Sie waren ganz glatt. Der Pony bedeckte ihre halbe Stirn und damit auch die kleine Narbe, die sich dort befand. Mit fünf Jahren war sie vom Baum gefallen und hatte sich dabei böse den Kopf angeschlagen. Seitdem zierte die Narbe ihr Gesicht.
Ich schminkte nur schnell meine Augen, dann packte ich alles ein und wartete, bis Aly fertig war, ehe wir zusammen rausgingen. Dort war es schon dunkler, als ich gedacht hatte. »Bis morgen, Süße«, sagte ich zu ihr und umarmte sie.
Sie erwiderte meine Worte und beeilte sich, hinter Chloe und Madison herzukommen, die beide in ihrer Straße wohnten. Ich musste in eine andere Richtung; in die Richtung, in die sonst niemand ging. Mein Haus stand in einem Viertel, das von Leuten bewohnt wurde, die sich Häuser wie das leisten konnten, in dem ich wohnte. Alle Kinder in meinem Alter, die dort lebten, besuchten eine andere Schule als ich. Damals, als ich auf die Highschool gekommen war, hatte ich darauf bestanden, nicht auf die Elite-Schule gehen zu müssen, auf der sie waren, denn ich wollte normal sein. Ein bescheidenes Leben führen; sofern das mit meinen Eltern möglich war. Als Tochter des Bürgermeisters von Portland gingen die Leute oft mit der Erwartung auf mich zu, ein ungezogenes verwöhntes Mädchen vor sich zu haben. Genau diese Grundhaltung der Menschen wollte ich nicht auf mir sitzenlassen, was mich zu einem weiteren Punkt meiner Persönlichkeit brachte: Ich konnte meinen Mund nicht halten. Noch nie war es mir gelungen, im richtigen Moment still zu bleiben; meine Meinung nicht kundzutun. Als kleines Kind nicht und jetzt - als siebzehnjähriger Teenager - erst recht nicht.
Während ich über den verlassenen Bürgersteig lief - mit der Tasche unter den Arm geklemmt und den Blick auf den Boden gerichtet - wurden meine Gedanken von einem Vibrieren in meiner Hosentasche unterbrochen. Ich zog mein Handy heraus und warf einen kurzen Blick auf das Display, ehe ich den Anruf annahm und das Smartphone an mein Ohr führte.
»Hey«, begrüßte ich Cole, dessen Name ich schon gelesen hatte.
»Hi«, erwiderte er und ich hörte an seiner Stimme, dass er ein Lächeln auf den Lippen hatte. »Wie war das Training?«
»Gut. Ich fühle mich jetzt besser auf morgen vorbereitet«, antwortete ich mit einem Grinsen.
Cole McCoutey – einer der süßesten Typen auf unserer Schule, Basketballer, Footballspieler, Spieler aller anderen möglichen Sportarten, und an mir interessiert. Ja, man könnte sagen, dass nicht mehr viel fehlte, bis wir ein Paar wurden. Er war charmant, süß, nett, sexy und höflich. Ich hatte nichts an ihm auszusetzen. Außer eins: Obwohl ich immer versuchte, mir das Gegenteil einzureden, war ich nicht mal ein Stück weit in ihn verliebt. Eigentlich fand ich ihn nur nett; seine Komplimente schmeichelten mir; ich fühlte mich begehrt. Mehr nicht. Ob das auf Gegenseitigkeit beruhte, konnte ich nicht sagen. Vielleicht war es so, vielleicht nicht.
»Dann kann ja nichts schiefgehen. Bist du gerade auf dem Weg nach Hause?«, fragte er weiter, nichts ahnend von meinen inneren Monologen.
»Jap«, erwiderte ich knapp und sah währenddessen einmal nach links und rechts, bevor ich die Straßenseite wechselte.
»Soll ich dich nicht lieber abholen? Ist ja schon dunkel.«
Die Frage überraschte mich, aber ein Lächeln blieb auf meinen Lippen zurück. »Die paar Meter schaffe ich noch«, erwiderte ich. Es war wirklich nicht mehr weit. Ein paar Straßen musste ich noch gehen, dann war ich schon Zuhause.
»Na gut«, antwortete er nachgebend. Ich hörte, dass er mit meiner Antwort gerechnet hatte. Ein kritisches Piepsen am anderen Ende ertönte. »Mist«, fluchte Cole, »mein Akku ist leer. Ich ruf dich später noch mal an, okay?«
»Klar. Bis dann«, antwortete ich und lächelte.
»Bis dann«, wiederholte er und legte auf.
Ich sah noch kurz auf mein Handy, schloss einige Fenster und steckte es dann zurück in die Hosentasche. Mein Blick schweifte auf dem Boden vor mir her und nahm die kleinen Steinchen wahr, die über den Bürgersteig kullerten, wenn ich dagegen trat.
Mit einem Mal wurde ich nach hinten gezogen. Ich schrie spitz auf, aber im nächsten Moment wurde mein Schrei erstickt. Etwas drückte sich auf meinen Mund, unter meine Nase. Panisch versuchte ich, mit den Händen das nasse Tuch wegzuschieben und mich aus den Armen des Unbekannten zu winden. Durch meine hektische Atmung drang ein süßlicher Geruch in meine Nase. Bevor ich noch irgendwas anderes sehen konnte als die dunkle Straße, verschwammen meine Gedanken. Mein Verstand kippte um wie eine unbefestigte Wand. Es fühlte sich an, als täte mein Körper dasselbe. Aber das spürte ich nicht mehr. Ich schwebte bereits in einer komischen Wolkenschicht in meinem Kopf. Sie war rosarot.
Nun war ich hier: gefangen in einem winzigen Raum; vom Dröhnen des Flugzeuges umhüllt, das mich wo auch immer hinbrachte, und gequält von dem schmerzhaften Drücken der eisernen Fesseln um meine Handgelenke. Da ich jetzt auf dem Boden saß, konnte ich den Raum besser überblicken. Die rosaroten Wolken hatten sich gelichtet, sodass ich klarere Gedanken fassen konnte. Welche normale Fluggesellschaft würde eine Geisel mitnehmen?, war einer davon. Vorsichtig schob ich mich etwas näher zur Heizung hin, sodass ich mit den Händen an meine linke Hosentasche kam. Verzweiflung kam zu der Panik, als ich die Leere der Tasche ertastete. Kein Handy. Aber das hätte mir klar sein müssen – kein Entführer war so dumm, dass er mir das Handy nicht weggenommen hätte.
Als ich mich frustriert aufrichtete, durchzuckte mich ein neues Gefühl, das sich jetzt – mit weniger rosarotem Wirrwarr im Gehirn – klarer abzeichnete als die verwirrende Angst: Wut breitete sich in mir aus. Sie richtete sich auf die Leute, die es wagten, mich zu entführen, und auf meinen Vater. Warum zum Teufel war er Bürgermeister? Warum kannten ihn so viele Menschen? Warum gab er damit irgendwelchen dummen Leuten einen Grund, mich zu entführen? Es konnte keine andere Begründung geben, als dass mein Entführer Lösegeld von ihm fordern wollte.
»Ich gehe mal sehen, ob sie schon aufgewacht ist«, ertönte eine gedämpfte Stimme, die auf der anderen Seite der Wand näher kam.
Ich versteifte mich sofort. Irgendwas in meinem Kopf sagte mir, dass mir diese Stimme bekannt vorkam, aber darauf konnte ich nicht achten. Mein Körper konzentrierte sich zu sehr darauf, bloß nicht in Panik zu verfallen und wie am Spieß zu schreien. Ich tat genau das Gegenteil: Mein Mund blieb geschlossen und meine Nase nahm keine Luft mehr auf. Ich saß da, mucksmäuschenstill, und lauschte auf die Schritte, die auf der anderen Seite der Wand ertönten. Dann öffnete sich die Tür.
Irritiert kniff ich die Augen zusammen, als ein grelles Licht in den Raum strahlte. Ich blinzelte. Das Einzige, was ich erkennen konnte, war das Gesicht des Mannes. Wie ein Stromschlag lief der Schock durch meinen Körper. Die markanten Gesichtsknochen; der Dreitagebart, der sein Kinn bedeckte; die dunkelblauen herausstechenden Augen, die so tief schienen, als würde man in ein schwarzes Loch gucken; und die hellen, fast ausgebleichten Haare, die das Einzige waren, das seine dunkle Ausstrahlung wettmachen könnte, wenn er nicht so böse dreinschauen würde – das alles kam mir unglaublich bekannt vor. In meinem Kopf fand eine Rückblende statt, ohne dass ich es gewollt hätte:
»Ich habe gehört, du bist begeisterte Malerin?«, sagte der Mann mit den dunklen Augen. Er war etwas jünger als die anderen Geschäftsleute, mit denen mein Vater sonst essen ging. Ich glaubte, er war in seinen Beruf hineingeboren. Sein Vater, der neben ihm saß, schien stolz auf ihn zu sein.
Ich hatte keine Lust auf ein Gespräch. Eigentlich wollte ich überhaupt nicht hier sein. An einem Samstagabend hatte ich Besseres zu tun, als mit meinem Vater zu einem seiner Geschäftsessen zu gehen. Aber das war typisch für meinen Dad - immer musste er mir mein Wochenende versauen.
»Ja, ähm … ich mache das als Hobby«, antwortete ich in freundlichem Ton.
»Was machst du denn sonst noch so in deiner Freizeit?«
Dieser Mann schien wirklich interessiert zu sein. Das irritierte mich. Sonst führten zwar auch viele Geschäftspartner von meinem Dad ein Gespräch mit mir, aber das taten sie nur, damit es nicht so wirkte, als wäre es ein todernstes Treffen. Vielleicht wollte dieser Mann, der meines Wissens nach Lucian Krinn hieß, auch nicht hier sein. Vielleicht war er genauso gelangweilt wie ich und vielleicht schleppte ihn sein Vater auch nur zur Zierde mit. Ich wurde immer dazu missbraucht, das nette Vorzeigemädchen zu spielen, welches das intakte Familienleben des Bürgermeisters repräsentieren sollte. Natürlich, ich liebte meinen Vater, aber hätte er nicht auch meine Mutter mitnehmen können? Nein, er musste unbedingt seine talentierte Tochter vorzeigen. Vielleicht ging es Mr. Krinn genauso.
»Ich spiele Volleyball«, sagte ich zu ihm. »Aber das läuft über die Schule.«
Er setzte ein Lächeln auf. »Du gehst auf die … wie heißt sie noch?« fragte er und zeigte mit dem Finger nach rechts hinten.
»Ja«, erwiderte ich lächelnd, damit er wusste, dass ich verstand, welche Schule er meinte, obwohl ich mich darüber wunderte, woher er das wusste. Ihm fiel zwar der Name nicht ein, aber die Richtung, die er anzeigte, machte klar, dass er die richtige Highschool meinte.
»Wie oft hast du denn da Training? Das ist doch ein anstrengender Sport«, echtes Interesse legte sich in seine Stimme.
Ich unterdrückte den Drang, die Stirn zu runzeln und mich zu fragen, warum er sowas von mir wissen wollte. So, wie er die Betonungen setzte, machte er es mir ohnehin unmöglich, darüber nachzudenken. Er hatte ein unglaubliches Talent dafür, mit seiner Stimme jeden Zweifel aus dem Weg zu räumen. »Dreimal die Woche. Aber in letzter Zeit öfter, weil bald ein Spiel ansteht«, antwortete ich und sah hinunter in mein Glas Wasser.
Ich hörte ihm an der Stimme an, dass er jetzt die Augenbrauen hob. »Wirklich? Wann ist denn das Spiel?«
»In zwei Wochen.«
»Scheiße, verdammt!«, rief der Mann und riss mich damit aus meiner Erinnerung an unser erstes Treffen.
Er machte einen Satz zurück und knallte die Tür zu. Ich zuckte zusammen, als sie mit einem so lauten Krachen ins Schloss fiel, dass die Wand klapperte. Meine Augen starrten auf die Tür, doch eigentlich sah ich nur zwei Gesichter vor mir: Das Gesicht des Mannes, den ich beim Geschäftsessen kennengelernt hatte, und das des Mannes, der gerade hereingekommen war. Sie waren eindeutig identisch.
»Welcher Idiot hat vergessen, ihr die Augenbinde umzutun?«, brüllte der Mann hinter der Tür. Es fühlte sich an, als würde ein Schwall ungezügelter Wut mit seinen Worten unter der Schwelle zu mir hindurchkriechen. Wut, die sich genau auf mich richtete, obwohl er nicht mich anschrie.
Es kam keine Antwort.
»Jeffrey! Komm sofort her. Jeffrey«, dröhnte er weiter.
Ich hörte, wie er mit harten Schritten von der Tür wegstampfte. Zittrig atmete ich die Luft aus, die ich die ganze Zeit angehalten hatte. Die Erkenntnis, dass es wirklich Lucian Krinn war, der mich entführt hatte, sickerte nur ganz langsam in meinem Kopf. Offensichtlich war er nur einer von mehreren Entführern, denn zumindest war da noch Jeffrey.
Im Hintergrund vernahm ich einige Stimmen, die durcheinander redeten. Ich konnte nichts von dem verstehen, was sie sagten. Nicht nur, weil sie zu weit weg waren, sondern auch, weil der Puls in meinen Ohren zu laut pochte. Daher bekam ich nicht mit, wie irgendwann Schritte auf die Tür zukamen. Erst, als sie geöffnet wurde, starrte ich erneut in das Gesicht von Mr. Krinn. Ich konnte die Züge der Wut deutlich in seinem Blick erkennen, doch er versuchte, gefasst zu wirken, als er mich ansah und bedächtig die Tür hinter sich schloss. Damit waren er und ich allein in dem engen Raum.
»Du erinnerst dich doch bestimmt noch an mich?«, fragte er in süffisantem Ton. Ein sarkastisches Lächeln bildete sich auf seinen Lippen.
Ich schluckte. Sonst konnte ich immer auf alles sofort antworten, aber bei dieser einfachen Frage wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Natürlich erinnerte ich mich noch an ihn, aber ich wollte nicht nur Ja sagen. Schließlich brachte meine Stimme dieses einfache Wort doch zustande, sogar mit einem recht kräftigen Tonfall, was ich zuvor nicht erwartet hätte.
Mr. Krinn zeigte keine Reaktion, blieb einfach stehen und sah mich von oben herab an.
»Warum tun Sie das?«, ergriff ich daher vorsichtig die Initiative. »Warum? Sie werden doch bestimmt gut bezahlt. Was wollen Sie also? Lösegeld? Wozu?« Ich kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und sah ihn anklagend an. Erst danach wurde mir bewusst, wie unklug es in meiner Position als Geisel sein könnte, derart rügend mit ihm zu reden.
Jetzt lächelte er wieder sein unheimliches ironisches Lächeln. »Das braucht dich doch gar nicht zu interessieren«, sagte er.
»Ist es so abwegig, dass ich verstehen will, warum Sie es wagen, so eine Tat zu begehen?«, antwortete ich. Mein Tonfall spiegelte den gleichen Sarkasmus wider, den auch er benutzte. Ich konnte einfach nicht anders, obwohl ich meinem Entführer gegenüberstand.
Langsam machte er zwei Schritte auf mich zu, gleichzeitig rutschte ich etwas zurück. Er kam - dessen ungeachtet - noch näher, ich aber konnte nicht weiter zurück, da mich die Handschellen an meinen Gelenken daran hinderten, weiter von dem Heizungsrohr wegzurücken. Ganz langsam, so als wollte er es für mich in Zeitlupe gestalten, ging er vor mir in die Hocke. Ich hatte keine Angst davor, ihm in die Augen zu sehen, wohl war es mir dabei dennoch nicht.
»Schätzchen, du solltest deine Zunge etwas zügeln. Du bist hier die Gefangene, nicht ich«, drohte er, während er mit dem Gesicht noch näher an meines kam.
Innerlich verfluchte ich mich dafür, dass die nächsten Worte aus meinem Mund kamen, als wäre Mr. Krinn ein harmloser Mitschüler, der respektlos mit mir redete: »Mir hat noch nie jemand verboten, zu reden.« Ich sagte es nicht laut, da er genau vor mir war, und es klang auch nicht so selbstsicher wie jene Worte davor – riskant war es trotzdem. So riskant, dass ich mir gerne auf die Zunge gebissen hätte, um mich dafür zu bestrafen.
In diesem Moment erblickte ich einen Gedanken in seinen Augen. Losgelöst von der Respektlosigkeit, mit der wir einander Worte zuwarfen, sprang dieser Gedanke von seinen kalten Augen in mein verwirrtes Gehirn über. Ich verstand plötzlich, was es bedeutete, dass ich ihn gesehen und erkannt hatte.
Er stand auf. Kurz blickte er noch auf mich herab, dann drehte er sich einfach um und ging aus dem Raum. Er schloss die Tür hinter sich. »Wir haben ein Problem«, hörte ich ihn direkt dahinter sagen. Es war nur schwer zu verstehen.
Ein anderer Mann antwortete ihm: »Was machen wir jetzt?«
Kurz blieb es still. »Wir machen erst mal so weiter, wie wir es geplant haben. Und dann … wenn ihr Vater gezahlt hat …« Mr. Krinn verstummte.
»Das willst du nicht wirklich machen?«, fragte der andere Mann. Er klang entsetzt.
»Luc, das können wir nicht machen. Wir sind doch keine Mörder«, mischte sich ein anderer ein, viel lauter als die beiden übrigen. Ich atmete unregelmäßig ein und aus, mir der Bedeutung ihrer Worte deutlich bewusst.
»Wir müssen. Sie hat mich erkannt. Und sie ist keines der Mädchen, die eingeschüchtert Zuhause sitzen, nachdem …«, einen Teil von dem, was er sagte, verstand ich nicht, da er zu leise redete. Erst ein paar Sätze später konnte ich wieder hören, was er sagte: »Wir brauchen das Geld. Die eine Sache haben wir vermasselt. Monsieur Dupont wird uns alle zur Schnecke machen, wenn es schon wieder schiefgeht. Also reißt euch gefälligst zusammen.«
Mein Gehirn versuchte die fehlenden Sätze zu ergänzen. Ich war keins der Mädchen, die eingeschüchtert Zuhause saßen, nachdem … nachdem was? Sie mich freiließen? Mein Vater Lösegeld gezahlt hatte? Wollten sie überhaupt Lösegeld oder ging es um etwas anderes? Nein, natürlich wollten sie Geld. Das war das Einzige, was sie reichlich von meinem Vater bekommen konnten.
Ich verstand Mr. Krinn. Ich hatte ihn gesehen; ich hatte ihn erkannt und wenn ich die Chance dazu haben würde, wäre mein erster Gang der zur Polizei, um ihn zu verraten. Vielleicht war das der Rest des Satzes. Wenn er sich nicht stellen wollte, hatte er keine andere Wahl, als mich umzubringen.
Ungläubig glitt mein Blick in die Ferne. Ich hatte meine Schule vor Augen, wo ich noch vor ein paar Stunden gewesen war. Vielleicht noch vor Minuten. Wer wusste schon, wie lange mich der rosarote Nebel eingehüllt hatte? Nun fühlte es sich an, als hätte er mich wieder ergriffen. Einen Moment lang kam es mir so vor, als säße ich Zuhause auf meinem Sofa und sähe einen schlechten Krimi im Fernsehen. Aber das war nur in diesem Moment, denn im nächsten konnte ich nicht mehr zu meinem normalen Leben durchblicken. Jetzt war ich wieder im Flugzeug, angekettet an das Rohr, und ich wusste, dass ich irgendwas unternehmen musste. Doch ich konnte nicht.
Langsam schob ich mich nach vorne, sodass ich mich am Rohr anlehnen konnte. Vorsichtig legte ich meine Stirn an die Plastikhülle und starrte in die Leere, während ein verzweifelter Film voller Dunkelheit durch meinen Kopf spulte.
Ich konnte nicht einschätzen, wie lange es dauerte, bis das Flugzeug an Höhe verlor. Mittlerweile drangen durch das runde Fenster einzelne Sonnenstrahlen. Ein paar Mal war jemand vor meiner Tür hin- und hergelaufen, aber nie war jemand eingetreten. Jetzt hörte ich, wie mehrere Leute umhertigerten. Es schien, als würden sie packen.
Mir kam die Zeit bis zur Landung wie zehn Stunden vor, obwohl es vielleicht nur zehn Minuten waren. Als wir zum Stehen kamen, ging die Tür auf. Mr. Krinn schritt herein und steuerte ausdruckslos auf mich zu. Ich zuckte zurück, als er nach meinen Handschellen griff. Daraufhin packte er grob meinen Arm und zog mich mit einem Ruck zu sich. Er kümmerte sich nicht darum, dass ich meine Arme nach vorne streckte, um mit dem Körper so weit wie möglich von ihm weg zu sein. Mit einem kleinen silbernen Schlüssel schloss er die Handschellen auf. Ich sah unsicher zu ihm. Was sollte das? Ließen sie mich frei? Nein, ich hatte mich zu früh gefreut, denn gerade, als ich das dachte, zog er etwas aus seiner Hosentasche hervor. Es war ein schwarzes Tuch.
»Nein«, protestierte ich, als er damit auf meinen Kopf zukam. Ich zog ihn zurück, was ein Fehler war.
Er packte gewaltsam meine Haare und zerrte mich damit zu sich hin. »Halt still«, zischte er.
Also hielt ich still und wartete verängstigt ab, bis er mir das Tuch um die Augen gebunden hatte, während in meinem Körper undefinierbare Gefühle umherschwirrten. Das Band war an meinem Hinterkopf so fest verschlossen, dass es drückte. Ich wusste, dass mir das Kopfschmerzen machen würde, aber ich hatte kein Recht, dagegen zu protestieren.
Mr. Krinn packte mich am Pulli und zog mich hoch. Unsicher machte ich einen Schritt nach vorne. Die ganze Nacht hatte ich nur gesessen, wodurch mein linkes Bein eingeschlafen war und unangenehm kribbelte. Die harte Hand in meinem Rücken schob mich vorwärts. Sie führte mich durch die Tür, was ich an den veränderten Geräuschen bemerkte. Ich musste zu einer Treppe gehen, die Mr. Krinn mit einem einzigen Wort ankündigte. Eisige Luft stieß mir entgegen, als ich auf die erste Stufe trat.
Hier war es viel kälter als in Portland. Mit einer Hand drückte ich meinen Schal enger vor meinen Hals; die andere streckte ich nach vorne, damit ich nicht vor irgendetwas Unsichtbares knallte. Nach mehreren Stufen erreichte ich den Boden und stolperte gleich darauf, weil ich mit einer weiteren Stufe gerechnet hatte. Hier mussten einige Leute sein. Ich hörte sie reden, ohne verstehen zu können, was sie sagten.
»Okay, wir können gehen«, kommandierte Mr. Krinn hinter mir.
Er führte mich über Asphalt. Ich konnte mich nicht orientieren. Schon nach wenigen Metern wusste ich nicht mehr, wo das Flugzeug war, was durch die mich umgebenden Geräusche nicht verbessert wurde. Ich hörte die Schritte mehrerer Menschen, die entweder hinter oder vor mir gingen, und ihren Atem. Er lag schwer in der Luft.
Kurze Zeit später führte mich die Hand vom Weg ab und plötzlich hatte ich weichen Boden unter meinen Füßen. Es fühlte sich an wie Erde. Ich schluckte schwer. Wo brachten sie mich hin? Mit der Zeit wurde es anstrengender, den vorgegebenen Pfad zu laufen, was mich irgendwann absolut sicher stimmte, dass wir gar nicht über einen Weg liefen, sondern querfeldein über Waldboden staksten. Es wurde steiler und steiler. Ständig lenkte mich die Hand nach links oder rechts, was vielleicht nur dazu diente, mich nicht vor einen Baum laufen zu lassen. Der Atem der anderen Menschen wurde immer schwerer. Meiner auch, aber ich merkte das kaum noch. Die kalte Luft in meiner Lunge betäubte alles.
Wir machten zwei Pausen. Ich wurde dabei auf dem Boden abgesetzt und durfte mich nicht bewegen. Währenddessen hörte ich zu, wie gegessen und getrunken wurde, aber ich bekam nichts ab. Vor all diesen Leuten traute ich mich nicht, nach Wasser zu fragen. Die Ungewissheit, wer alles da war, ließ mich stumm das tun, was man mir sagte: Als ich weitergehen sollte, ging ich weiter; als ich mich setzen sollte, setzte ich mich. Die ganze Zeit war die Hand in meinem Rücken.
Irgendwann, nach stundenlangem Wandern, blieben wir endlich stehen. Das war keine Pause. »Endlich«, schnaubte ein Mann mit einer sonderbar hellen Stimme.
Die Hand schob mich vorwärts. Ein Klirren und metallisches Kratzen ertönten vor mir. Ich kreuzte verunsichert meine Finger ineinander, bis es wehtat, und fragte mich dabei, ob es mir nur so vorkam oder ob wir wirklich bis auf einen hohen Berggipfel geklettert waren. Auf dem langen Weg war längst klar geworden, dass mich niemand finden würde. Nicht hier oben.
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als vor mir ein lautes Quietschen ertönte. Etwas ratschte über den Boden und wurde dann wieder leise. Die Hand stieß mich nach vorne. Panisch drehte ich mich um, als ich bemerkte, dass ich irgendwo drin sein musste, denn die Luft hatte sich verändert. Sie war viel feuchter. Es schwebte ein unangenehm muffiger, beinahe schimmeliger Geruch hier drin und vor meinen Augen wurde es noch dunkler. Das bisschen Licht, das die ganze Zeit durch die Augenbinde gesickert war, verschwand jetzt völlig. Es musste hier drin stockduster sein.
Meine Finger griffen nach dem Mann hinter mir. »Hey«, beschwerte er sich und stieß mich weg, sodass nicht mal mehr die leitende Hand in meinem Rücken war.
»Nein, nein«, kreischte ich. Ich riss mir die Augenbinde ab. Jetzt drang wieder mehr Licht zu mir durch, aber die Dunkelheit im Raum blieb.
»Geht zurück«, rief Mr. Krinn.
Ich wirbelte zu seiner Stimme herum und sah gerade noch zwei Gestalten aus dem Metall-Türrahmen verschwinden, die dadurch für mich nicht mehr sichtbar waren. Draußen erstreckte sich ein weiter Wald. Es war mittlerweile ganz hell, sodass ich hohe Nadelbäume erkennen konnte, die sich auf weich aussehendem Waldboden verteilten, der mit viel Moos bedeckt war. Blätter lagen hier und da.
Bevor ich noch mehr sehen konnte, tauchte Lucian Krinn vor mir auf. Er schubste mich grob zurück. Ich torkelte und ratschte an einer feuchten Wand aus Stein entlang. Eine Hand packte mich an der Kehle. Ich rang nach Luft. Vor meinen Augen erschien sein Kopf, dessen gruselige Augen unentwegt in meine starrten und mich zu durchbohren schienen. Ich starrte verängstigt zurück, während ich mit meinen Händen versuchte, seine große Pranke von meinem Hals zu zerren, doch er war viel zu stark, als dass ich es geschafft hätte.
»Tut mir leid, Süße. Dich müssen wir leider hierlassen, bis dein Daddy gezahlt hat«, sagte er mit einem fiesen zischenden Unterton.
Er drückte mich noch fester gegen die Wand. Seine Augen fixierten dabei einen Punkt zwischen den Steinen neben mir, den ich nicht sehen konnte. Eigentlich dachte ich, er würde mich jetzt loslassen, doch stattdessen schob er mich mit brutalem Druck an der Wand entlang. Es fühlte sich an, als würde mein Pulli am Rücken zerfetzt und der Stein meine Haut aufreißen. Aber es tat nicht mal annähernd so weh wie das, was dann passierte: An meinem linken Arm pikste etwas. Es drückte sich durch den Ärmel meines Pullovers und schnitt meine Haut auf. Ich spürte, wie sich mein Fleisch dort zerteilte.
Obwohl ich keine Luft hatte, schrie ich. Daraufhin war die Hand an meinem Hals weg, aber im nächsten Moment landete sie mit einem Knall in meinem Gesicht. Mein Kopf flog zurück und knallte gegen die unbeugsame Steinwand. Ein Dröhnen in meinen Ohren übertönte alles, was ich hätte hören können, und Blitze flackerten vor meinen Augen. Ich glaube, ich sank an der Wand zusammen. Das Letzte, was ich hörte, war eine Stimme, die sagte: »Lass dir das eine Lehre sein.« Es war die von Lucian Krinn. Dann wurde die eiserne Tür geschlossen und verriegelt. Ich war allein.
Meine rechte Hand tastete sich zum linken Oberarm, aber bevor sie überhaupt bei der Wunde angekommen war, lief Blut über meine Finger. Es brannte höllisch, als ich meine Hand darauf drückte. Ich schluchzte und merkte, wie mir Tränen über die Wangen liefen. Warum?, war die letzte Frage, die sich mir stellte, bevor alles vor meinen Augen verschwamm. All das fahle Licht, das durch ein paar Spalten am Rande der Tür gelangte, ging fort. Das Schwarz des dunklen Zimmers vermischte sich mit dem Schwarz in meinem Kopf.
Es fühlte sich an, als würden Regentropfen an meinem Arm hinunterrennen. Seit mehreren Stunden war ich wieder wach und saß, an die kalte Wand gelehnt, im rabenschwarzen Raum. Mittlerweile musste es draußen dunkel geworden sein. Die ganze Zeit drückte ich meinen Schal fest auf die brennende Wunde an meinem Arm. Sie war nicht das Einzige, das brannte. Mein ganzer Rücken fühlte sich an, als hätte ich auf einer glühend heißen Herdplatte gelegen. Mittlerweile hatte ich erkannt, dass mein Oberteil dort kaputt und die Haut aufgerissen war. Allerdings war die kalte Wand für diese Diagnose meine einzige medizinische Maßnahme. Sie kühlte es ab, obgleich mir klar war, dass sie nicht sauber sein konnte.
Meine Tränen waren versiegt. Im Moment saß ich nur regungslos da und starrte einen Punkt auf der anderen Seite des Raumes an, den ich nicht erkennen konnte. Alles war schwarz. Ich fühlte mich so verloren, als säße ich überhaupt nicht mehr auf der Erde, sondern schwebte in einem Raum ohne Wände, ohne Boden, ohne alles. Einfach nur Leere. Neben mir lagen zwei Ein-Liter-Wasserflaschen. Meine Entführer hatten sie in den dunklen Raum geworfen, bevor sie die Tür verriegelt hatten. Ein stilles Zeichen dafür, dass ich hier länger bleiben sollte. Ein Viertel des kostbaren Wassers hatte ich schon ausgetrunken.
Ich malte mir aus, wie meine Eltern einen Zettel in ihrem Briefkasten fanden, in dem Lösegeld für mich gefordert wurde, oder wie meine Mutter ans Telefon ging und einen Mann mit tiefer unheimlicher Stimme erzählte, dass er ihre Tochter entführt hatte. Es fielen mir noch viele Möglichkeiten ein, aber diese beiden fand ich am plausibelsten. Wahrscheinlich hatten sich meine Eltern keine Sorgen gemacht, als ich nicht pünktlich nach Hause gekommen war, denn das war nicht unbedingt eine Seltenheit. Meist war ich nach dem Training noch mit Aly unterwegs oder Cole holte mich ab und wir fuhren irgendwohin, bevor er mich nach Hause brachte. Mittlerweile hatten sich meine Eltern daran gewöhnt. Eine ganze Nacht lang blieb ich jedoch nie weg, schon gar nicht unangekündigt.
Langsam begannen die Tränen wieder zu laufen. Ich wollte nicht weinen; ich wollte es wirklich nicht. Aber komischerweise konnte ich Tränen nur aufhalten, wenn jemand bei mir war, der sie nicht sehen sollte. Jetzt war ich alleine, also hatte ich keinen Grund, dass es mir peinlich sein könnte. Ich schloss die Augen und öffnete sie wieder; konnte mich nicht entscheiden. Es war egal - ich sah immer schwarz. Mit der einen Hand wischte ich die Tränen unter meinen Augen weg und rieb mir dann über meine Augenlider, weil ich das Gefühl hatte, dass meine Sicht verschwommen war. Zu spät bemerkte ich, dass sich damit all die Schminke verwischte. Hätte ich sie doch bloß nicht aufgetragen. Wahrscheinlich sah ich jetzt wie ein Monster aus. Aber wen kümmerte das schon? Ich war allein in einem schwarzen Loch und niemand würde mich je finden. Ich würde sterben.
Am nächsten Morgen blinzelte ich in den Lichtstrahl, der schwach durch einen kleinen Spalt unter der Tür hereinkam. Ich musste mehrmals schlucken, um den Kloß in meinem Hals herunterzubekommen. Meine Kehle war ganz trocken, ich war durstig. Finger für Finger löste ich meine Hand von der Wunde. Die ganze Zeit musste ich den Arm umklammert gehalten haben, während mich der Schlaf heimgesucht hatte. Es brannte, sobald ich sie wegzog.
Nachdem ich etwas getrunken hatte, löste ich mich langsam von der Wand. Ein stechender Schmerz fuhr mir durch den Rücken und ich stöhnte auf. Ich zog einen Fuß vor und platzierte ihn stabil auf dem Boden, ehe ich mich darauf stemmte und mit dem ganzen Körper hochkam. Es tat weh, aber zu stehen war im Nachhinein ein ungewohnt angenehmes Gefühl, was ich nicht gedacht hätte. Schritt für Schritt ging ich auf die Tür zu.
Ich hielt erst inne, als ich auf etwas Weiches trat. Es war nicht der nasse Kieselsteinboden, sondern nachgiebig und klein. Sofort schoss mir der Gedanke an ein totes Tier durch den Kopf, was mich augenblicklich einen Schritt zurücktrieb, während meine Augen zu erkennen versuchten, was dort unten von der Schwärze verschluckt wurde. Wachsam beugte ich mich runter und berührte es zögerlich mit dem Zeigefinger. Mein Puls beruhigte sich, als ich erkannte, dass es das schwarze Tuch war, welches ich mir von den Augen gerissen hatte. Ich hob es auf und hielt es fest in der Hand, als ich weiter zur Tür hin ging. Meine anderen fünf Finger ertasteten den kalten Stahl, suchten nach irgendwelchen Lücken, während mein Blick an dem Rand der Tür hinunterglitt. Hier und da drangen schwache Lichtstrahlen hindurch, aber nichts war so groß, dass ich meine Finger hätte durchstecken können. Enttäuscht drückte ich meine Hände gegen die Tür und versuchte daran zu rütteln.
»Hilfe«, schrie ich dagegen, »Hilfe.« Natürlich würde mich niemand hören. Es war einfach nur meine Verzweiflung, die aus meinem Mund rief: »Hallo … Hilfe.« Meine Stimme versagte beim letzten Wort, während mir Tränen in die Augen stiegen. Ich sank an der Tür zusammen und meine Hände fuhren mir durch die Haare, beschmutzten sie, vermutlich auch mit Blut.
Den ganzen Tag verbrachte ich teils wach, teils in einem komischen Halbschlaf. Oft wusste ich nicht, ob ich bei Bewusstsein war oder nur die Augen zu hatte. Die Schwärze in diesem Raum war unerträglich. Mein Magen begann irgendwann ununterbrochen zu knurren und meine Lunge fühlte sich anls würde sie bei der kleinsten Bewegung zu Staub zerfallen, weil ich mir nicht mehr gönnte zu trinken. Irgendwann bekam ich Panik, dass ich ausbluten könnte, aber nur ein paar Stunden danach ließ die Blutung am Arm etwas nach. Ich war froh darüber, denn in meiner rechten Hand hatte sich von dem Versuch, den Schal die ganze Zeit auf der Wunde zu halten, ein Krampf gebildet. Mit nachlassender Blutung konnte ich ihn am Arm festbinden.
Erst, als das Licht von draußen schon lange wieder verschwunden war, schlief ich ein. Als sich meine Augen das nächste Mal öffneten, war es wieder hell. Ich versuchte erst gar nicht, irgendwas im Raum zu erkunden oder etwas zu suchen, das mich hätte befreien können, denn dazu hatte ich zu viel Angst, mich in die tiefere Schwärze des Bunkers zu begeben. Also verging der Tag, ohne dass ich mich viel bewegte. Ich lief manchmal kleine Kreise in dem dunklen Raum, die nie so groß waren, dass ich irgendwo hätte gegenstoßen können, doch den Rest der Zeit saß ich einfach da, hatte die Augen geschlossen und sehnte mich nach etwas zu essen und zu trinken, nach Wärme und Geborgenheit, nach meinem Zuhause.
Ich befand mich gerade wieder in einem Zustand zwischen Schlaf und Wachheit - draußen war es wieder dunkel geworden und die kalte Luft drang zu mir durch -, da hörte ich ein Geräusch. Unüberlegt sprang ich auf die Füße. Mir hätte klar sein müssen, dass mich das nach zwei ganzen Tagen, in denen ich fast nur rumgesessen hatte, aus dem Gleichgewicht bringen würde. Ich schwankte stark und versuchte, irgendwo Halt zu finden, aber die Wand war zu weit weg, weshalb ich wieder hinfiel und mit dem Hintern auf den kalten Kieseln landete.
Draußen ertönte ein dumpfes Bellen und darauffolgendes Rascheln. Es hörte sich an, als würde etwas vor der Tür auf- und ablaufen. Eine Welle von Hoffnung überrannte mich, doch genau in dem Moment, in dem ich etwas rufen wollte - in dem ich um Hilfe bitten wollte -, fiel mir ein, dass es auch die Entführer sein könnten. Das war sogar noch viel wahrscheinlicher. Wie lange hatten wir gebraucht, um hierherzukommen? Welcher Wanderer würde so weit gehen, bis er diesen Bunker fand? Niemand. Ich befand mich mitten im tiefsten Wald, wo es nichts als wilde Tiere gab. Das Ding vor der Tür war bestimmt ein Wolf oder so etwas. Es hatte schließlich gebellt.
Wo musste ich sein, wenn es hier Wölfe gab? Unwillkürlich machte ich einen Schritt zurück, danach noch einen, während ich daran dachte, irgendwo mal gelesen zu haben, dass Wölfe gar nicht bellen konnten. »Hallo?«, fragte ich unsicher. Meine Stimme war rau und mein Hals brannte, als ich sprach. Er forderte nach Wasser, das ich allerdings kaum noch hatte.
Das Rascheln verstummte, ehe erneut ein Bellen ertönte, das diesmal viel lauter war. Das Tier stand genau vor der Tür. Ich ging erneut einige Schritte zurück und nahm das schwarze Tuch ganz fest in die Hand.
»Anouk«, hörte ich die entfernte Stimme eines Mannes.
Mein Herzschlag beschleunigte sich um tausend Schläge pro Sekunde, so fühlte es sich an. Der Puls in meinen Ohren raste.
»Anouk«, ertönte die Stimme noch mal, diesmal klang sie wütend. Sie war nähergekommen.
Mit riesigen Augen starrte ich auf die Tür. Es schien nicht so, als wäre die Person dahinter einer der Entführer. Ihre Stimme klang jünger als die der Männer und soweit ich wusste, hatten sie keine Hunde dabeigehabt, die Anouk hießen. Aber … wie verrückt musste ein Mensch sein, um hier oben mitten im Wald spazieren zu gehen? Ein zwiegespaltenes Gefühl schlich sich in meinen Bauch.
Ich vernahm mehr Rascheln. Ein leises Winseln war zu hören. Es klang, als wären da mehrere Hunde. Ich hielt den Atem an und lauschte. Schritte ertönten, ein paar Blätter raschelten. Dann war alles still.
Ich fasste allen Mut zusammen, um meinen Mund aufzumachen: »Hallo? … Ich bin hier drin«, hauchte ich unsicher, so laut ich konnte.
Stille.
»Wer bist du?« Ich zuckte zusammen, als die Stimme direkt vor der Tür ertönte. Es war die Stimme eines jungen Mannes. Sie klang misstrauisch, alarmiert und völlig verwirrt. Ich schluckte mehrmals, während Hoffnung meinen Körper erfüllte.
»Ich wurde entführt. Sie haben mich hierhin gebracht«, erklärte ich fester. Vorsichtig machte ich einige Schritte auf die Tür zu.
Es blieb wieder einen Moment still. Ich hörte nur Rascheln, das von den Hunden zu kommen schien. »Okay, warte. Ich versuche, das Schloss zu knacken«, sagte der Mann dann, noch immer mit Misstrauen in der Stimme, aber wohl begreifend, dass ich die Wahrheit sagen musste. Es würde sich immerhin kein Mensch, der klar bei Verstand war, selbst hier einsperren.
Ich atmete tief ein und wieder aus. »Danke«, sagte ich leise. Innerlich schien etwas in mir zu explodieren, Glück sprühte aus allen Poren, besonders dann, als ich hörte, dass der Mann am Schloss herumhantierte.
Es waren zehn Sekunden, die ich zählte, bis ein lautes Knacken ertönte und die Tür einen Spalt breit nach außen aufsprang. So erleichtert ich in diesem Moment auch war, plötzlich war mir unwohl. Was musste das für ein Mensch sein, der um diese Zeit irgendwo im Wald herumlief? Das tat keine normale Person. War er vielleicht doch einer der Typen, die mich entführt hatten? Oder vielleicht ein Komplize, der nur auf mich aufpassen sollte? Doch warum befreite er mich dann?
Meine Aufmerksamkeit wurde auf eine Bewegung am Rande meines Sichtfeldes gelenkt. Dort standen drei Hunde. Ein braungrauer, sehr großer Hund mit langem Fell und spitzen Ohren. Erst beim zweiten Hinsehen fiel mir die Rasse ein: Er musste ein Husky sein. Seine braunen Augen fixierten mich neugierig. Neben ihm stand ein schwarzer Hund, der einen weißen Stern auf der Stirn hatte und sonst nur an der Brust und an drei seiner Pfoten mit weißem Fell gekleidet war. Er war etwas kleiner als der Husky, sein Fell sah seidiger aus und schien weniger borstig zu sein. Mir kam diese Art von Hund bekannt vor, aber ich wusste nicht, wie die Rasse hieß.
»Wer bist du?«, fragte der Junge im selben Moment nochmal die Frage, die er mir schon mal gestellt hatte. Seine Stimme entsprach seinem Aussehen: jung, misstrauisch und irgendwie ganz schön.
»Und du wurdest entführt?« Seine Augen musterten mich genau. Er beobachtete jede meiner Bewegungen, als könnte er mich dadurch studieren und herausfinden, wer ich war. Misstrauen lag zwischen ihm und mir. Es war beinahe greifbar.
»Warum?« Sein Blick wich für eine Sekunde zu den Hunden, dann wieder zu mir.
Nein Lily, wo denkst du hin?
»Du bist verletzt«, stellte der Junge fest.
Sein Blick schien in der Ferne zu versinken. Ich erkannte, wie er abzuwägen versuchte, was er tun sollte. »Du verarschst mich nicht, oder? Du bist nur ein Mädchen, das entführt wurde und du hast keine krummen Dinger gedreht oder so?«, fragte er dann und blickte mich im gleichen Moment wieder an.
Der Junge sah mich noch eine Weile an, dann blickte er zu den Hunden, als bräuchte er eine Bestätigung seiner Gedanken. »Komm mit«, kommandierte er dann, als er mich wieder ansah.