Inhalt



Erster Teil


Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7


Zweiter Teil


Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12


Abspann

Erläuterungen

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Impressum





© 2018, hansanord Verlag


Alle Rechte für diese Ausgabe vorbehalten
Das gilt vor allem für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikrofilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen - nur nach Absprache und Freigabe durch den Herausgeber.


Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Ecken in und um Hamburg, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.



ISBN: 978-3-947145-16-4


Für Fragen und Anregungen: info@hansanord-verlag.de


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Rob Lampe


Hamburger Blut



Kriminalroman

 

 

 

 

über den Autor



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Genau wie der Protagonist im Roman wuchs Rob Lampe im schönen Hamburg an der Elbe auf. Schon während der Schulzeit begann er eine Vielzahl an Kurzgeschichten durch alle Genres zu schreiben, die er allerdings nicht veröffentlichte. Während seines Studiums arbeitete er als Konzeptioner und Texter, nach seinem Studium folgten weitere aufregende Jahre in der Medien- und Werbewelt in Hamburg, Berlin und München u.a. als stellvertretender Anzeigen-Leiter bei BILD im Axel Springer Verlag, als Marketing-Direktor im Hubert Burda Verlag und als Unit-Leiter für Content-Management und Redaktion im Bereich eCommerce. In seiner Freizeit betätigt sich Rob Lampe als Fotograf. Er liebt zeitgenössische Kunst sowie die mediterrane Küche. 

„Hamburger Blut” ist der zweite Kriminalroman von Rob Lampe.


 





Für Felix, Helena, Tom & Zoé.

 




E r s t e r  T e i l



Manche Menschen müssen dem Spiegel dankbar sein, dass er nur ihr Äußeres zeigt.

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Berties 1. Fall


Rob Lampe

UNSCHULDIG SCHULDIG


Freitagabend 20.17h. 

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Leon Artles ist erfolgreich. Er residiert in einem Hamburger Büro im 11. Stock und überblickt die Stadt, den Hafen und sein Leben. Bis zu dem Augenblick, da die Polizei den Marketingmanager Leon Artles am Arbeitsplatz festnimmt.

Leon ist sich keiner Schuld bewusst. Beim Verhör bleibt unklar, was ihm die Ermittler vorwerfen. Leon glaubt, am Ende der Vernehmung zu Frau und Kindern heimkehren zu können. Stattdessen sperren ihn Vollzugsbeamte ins Untersuchungsgefängnis... Ein Fall für Bertie, Ex-Steuerfahnder und umtriebiger Anwalt der Hamburger Society. 


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Das gesamte Verlagsprogramm gibt es unter:

www.hansanord-verlag.de


Kapitel 1



Der Typ mit der Boxernase hatte seine besten Jahre hinter sich. Ohne sie überhaupt erlebt zu haben.

„Max Goedeke, wa’?”

„Ja, das bin ich”, bestätigte Max.

War dieser Typ der erwartete Kontakt? Max erhob sich zur Begrüßung.

Doch die Boxernase behielt die Hände in den Taschen.

Gut, dachte Max, fällt wohl Händeschütteln aus. Ist anders als im Hotel, macht man in einer Dönerbude nicht. Aber seinen Namen könnte der Kerl doch nennen.

„Und Sie sind ...?”

Max schaute sich im Imbiss um und versuchte vergeblich, seine Nervosität zu verbergen. Er entdeckte zwischen Döner-Grill und Kühlschrank ordentlich aufgereiht mehrere Baseballschläger. Max war unentschlossen, ob er sich beschützt oder bedroht fühlen sollte.

„Rosenfeld.”

Abrupt wurde Max aus seinen Gedankenspielen gerissen. Er hielt inne und wartete einen Moment. Vielleicht würde Rosenfeld noch seinen Vornamen preisgeben? Falls der Nachname überhaupt stimmte? Doch es kam nichts. Rosenfeld war von der wortkargen Sorte. Musste es auch geben. Würde er ihm die Details eben aus der plattgemachten Nase ziehen müssen.

„Warum treffen wir uns hier?”

„Sie wollen da drüben rein, wa’?”

Rosenfeld meinte die Genossenschaftsbauten gegenüber der U-Bahnstation Borgweg. In den Genossenschaftsvorständen führten Pensionsfürsten, Professoren und Anwälte das Wort. Sie wollten keine Anteile an Max verkaufen.

Max beugte sich vor, vermied es aber, sich mit dem Cashmere-Mantel auf die Tischfläche zu stützen. „Dabei können Sie mir helfen? Ist das Ihr Angebot?”

„Wie man’s nimmt.”

„Deswegen haben Sie mich kommen lassen?”

Der schwarzbärtige Wirt fragte nach Rosenfelds Bestellung. Eine Cola Light sollte es sein.

Nun brachte Rosenfeld die Hände aus den Taschen; sie waren groß wie Klodeckel und legten Papier auf den Tisch.

„Was ist das?”, fragte Max.

„Unterlagen, wa’.”

„Interna über den Genossenschaftsvorstand?”

Rosenfeld nickte. „Interna, ja.” Der Kiefer mahlte mit Nussknackerstärke. „Weniger über die Genossenschaft.”

Max entfaltete die drei Blätter, überflog die Zeilen des Anschreibens.

Rosenfeld beobachtete ihn.

Es war die schlechte Fotokopie eines behördeninternen Briefs, der so alt war, dass er noch auf einer mechanischen Schreibmaschine getippt worden war. Papas Sekretärin hatte früher auf so einer Maschine getippt, Max erinnerte sich.

„Interessant, wa’?”

Er hatte Reptilienaugen. Sie blieben ausdruckslos und registrierten.

Max legte das erste Blatt auf den Tisch:

„Was soll das?”

„Schauen Sie sich die zweite Seite an. Eine Zeichnung. Macht es klarer.”

Max betrachtete die Zeichnung auf der zweiten Seite. Es war ein Bebauungsplan. Am oberen Blattrand ... das konnte ein Teil des Stadtparks sein.

Was hatte das mit der Genossenschaft zu tun? Vielleicht war Rosenfeld ein Spinner, der Max die Zeit stahl. Er wischte über das Papier. „Sagen Sie einfach, was Sie anzubieten haben.”

„Die Frage ist, was Sie mir anbieten.”

Rosenfeld tippte auf die dritte Seite. „Das Bodengutachten sollten Sie sich auch anschauen. Rundet das Bild.”

„Aha”, machte Max, und sein Unterbewusstsein signalisierte nun Gefahr. Die Wörter auf der dritten Seite waren mit verbrauchtem Farbband geschrieben worden, aber ihm leuchteten sie entgegen:


Boehringer. Bodengutachten. Benzol.


Am liebsten hätte Max das Gutachten vom Tisch gefegt. Aber er rührte es nicht an.

All die Worte begannen mit B. Das war jedoch nicht das Entscheidende.

Die Reptilienaugen studierten ihn und genossen sichtlich den Ausdruck auf Max‘ Gesicht, als er mit einem Mal begriff, was der Grund dieses Treffens war.

„Sie wollen mich erpressen!”

Rosenfeld zeigte ein zerschlagenes Lächeln unter der knorpellosen Nase.

„Sie werden zugeben, ich habe gute Argumente, wa’.”

Max lockerte die Seidenkrawatte, während Rosenfeld aus der Flasche trank. Seine Fingerknöchel waren verhornt. Er wischte sich die Lippen mit dem Handrücken ab, Cola-Tropfen spritzten auf das Gutachten. „Sorry, Goedeke. Ist nur ’ne Kopie, wa’.” Rosenfeld wischte die Finger am Jackenstoff ab. „Ich mach ’ne neue. Wenn Sie wollen.”

Die Ablichtung des jahrzehntealten Gutachtens war adressiert an den Leiter des Dezernats für Bauen und abgezeichnet von einem Angestellten des Bezirksamts Wandsbek. Ein Geologe war mit der Bodenuntersuchung des Flurstücks 905 beauftragt worden und zu dem Ergebnis gekommen, dass der Grund in erheblichem Maße mit Chlorbenzol belastet sei. Zudem bestände die Gefahr, dass die Chemikalie ins Grundwasser sickerte. Weitere chemische Stoffe wurden aufgeführt, die im Erdreich des Geländes gefunden worden waren. Im letzten Briefabschnitt wies der Gutachter auf die Gefahren hin, die von den Chemikalien ausgingen. Bei direktem Kontakt drohten Hautauschläge, Leberschäden, Haarausfall. Bei längerer Einwirkzeit war mit einer gesteigerten Zahl von Krebserkrankungen zu rechnen. Schwangere mussten befürchten, missgebildete Kinder zu gebären. Gliedmaßen könnten fehlen, Gaumenspalten auftreten sowie offene Rücken.

„Schlimm, was da steht.”, sagte Max, „Was hat das mit mir zu tun?”

„Flurstück 905 steht da.”

„Und das bedeutet?”, fragte Max, obwohl er es wusste.

„Es ist Ihr Flurstück, wa'.”

„Wie kommen Sie darauf?”

„Ihr Vater hat das Imperial drauf gebaut.”

„Das ist Unsinn.”

„7,5 Millionen. Dann bleibt der Unsinn unter uns.”


Celina van de Laar fragte: „Wie hat Goedeke reagiert?”

„Er hat es abgestritten, wa’.”

Celina nahm einen Zigarillo aus der Schachtel und zündete ihn an, kurbelte die Seitenscheibe einen Zentimeter herunter. Rauch entwich, Winterluft strömte herein.

Und Rosenfeld ergänzte: „Obwohl er wusste, dass er aus der Nummer nicht rauskommt.”

„So sind sie”, sagte Celina. „Vielleicht müssen wir auch bei der Mutter ansetzen.”

Beide schauten aus der Windschutzscheibe des alten Jaguar auf den Schriftzug Imperial, der am Ende der Straße über dem Eingang des Fünf-Sterne-Hotels leuchtete.

Aus dem Autoradio plätscherte Swing. Noch immer war es auf den Deutschlandfunk eingestellt; das war der Sender, den Celinas Vater gern gehört hatte. Celina fuhr seinen Jaguar weiter. Ihr gefiel die Einrichtung: Wurzelholz und weinrotes Leder. Sie mochte vieles, was ihr Vater gemocht hatte.

„Rufen Sie Goedeke an”, sagte sie und streifte Asche in den verchromten Aschenbecher.

„Ich denke, das ist rückverfolgbar?”

„Denken ist nicht Ihre Stärke. Besser Sie lassen es ganz.” Celina zog das Kopftuch fester und stellte die Automatik auf Fahren. „Morgen rufen Sie ihn an. Über Nacht schmort er weich.”

„Und was sage ich ihm?”

Kapitel 2



Max Goedeke wusste kaum, wie er aus dem Imbiss gekommen war. Er ließ die feuchte Februarnachmittagsluft in seine Lungenflügel strömen und hoffte, sich zu beruhigen. Einige Kanten der Gehwegplatten am Borgweg standen hoch, die Stadt tat wenig zur Pflege. Er achtete darauf, nicht ins Stolpern zu geraten.

Bis zum Imperial waren es nur einige hundert Meter, Max sah die Rhododendren und die mächtigen Buchen, die den Beginn des Stadtparks signalisierten.

Hinter sich hörte er einen Schrei.

Gegenüber der Dönerbude entdeckte er eine Frau mit schulterlangem, schwarzem Haar. Sie wurde von einem Mann mit orientalischem Aussehen bedrängt und geschlagen; er war größer und älter als sie. Die Wucht des Schlags schleuderte ihr Kopf zur Seite, der Klang ihres Schmerzes wurde von den Klinkern der Hauswand zurückgeworfen.

„Hey, lassen Sie das!”, rief Max Goedeke.

Wieder schlug der Mann die Frau. Sie versuchte zu fliehen, der Peiniger erwischte ihr Haar, zog so heftig, dass die Frau das Gleichgewicht verlor.

Max Goedeke eilte zurück:

„Lassen Sie das!”

Statt abzulassen, ballte der Mann die Faust und trommelte auf den Hinterkopf der Frau, die auf den Knien kauerte und mit Unterarmen versuchte, den Kopf zu schützen.

Der Mann überschüttete sie mit Beschimpfungen in einer Sprache, die Max nicht verstand.

„Hören Sie auf damit.” Er packte den Schläger an der Schulter.

Der Mann schaute auf, in den Augen unter buschigen Brauen loderte es. Max erschrak und ließ die Schulter los.

Die Frau befreite sich und kam auf die Beine. Der Schläger fauchte Max an: „Was willst du?”

„Kommen Sie besser”, sagte die Frau und zog Max weg.

Doch der Schläger folgte ihnen: „Nicht so schnell, Alder. Ich mach dich tot. Bleib stehen!”

„Kommen Sie”, drängte die Frau und zog Max über die Fahrbahn zum U-Bahneingang.

„Wir sollten die Polizei rufen.”

„Das hat keinen Zweck. Er ist mein Ehemann.”

„Was?” Max schaute zurück. - Der Schläger war stehen geblieben und pöbelte nun einen Jugendlichen an, der ein Smartphone in der Hand hielt. Es war derselbe Junge, der vorhin vor dem Imbiss gestanden hatte.

„Du hast gefilmt, Alder?”, fauchte der Schläger. „Mich gefilmt? Mach dich tot!”

Der Jugendliche stritt es ab. Er hatte die Haare an den Seiten kurz rasiert, einen blonden Pony, der hin und her schwang.

„Doch hast du gefilmt, Alder!” Peng - der Jugendliche bekam einen Schlag vor die Brust, torkelte nach hinten. Er fing sich, drehte sich, wollte davonlaufen. Der Schläger stellte ihm ein Bein, der Junge fiel … Sein Smartphone schlidderte über die Straße, prallte gegen die Bürgersteigkante fast vor die Füße der Frau, der Akku sprang heraus.

„Nehmen Sie es!” Die Frau griff das Smartphone und drückte es Max in die Hand.

„Aber, was soll ich -”

„Er nimmt es mir weg!” Sie zeigte auf ihren Mann, und schon war sie auf den Treppen hinunter zum Bahnsteig.

„Soll ich es der Polizei geben?”

Sie schaute hinauf zu ihm. Nickte sie ihm zu?

„Wie heißen Sie?”, rief er.

„Aische …” Den Rest verstand Max nicht, Aische verschwand in der geöffneten Tür der wartenden U-Bahn.

Max Goedeke guckte zurück. Der Jugendliche war aufgestanden und lief davon. Der Schläger wurde indes von dem Wirt, der aus dem Imbiss gekommen war, am Arm festgehalten.

Er wollte die Situation beruhigen. In der anderen Hand hatte der Wirt einen seiner Baseballschläger. Besser verschwindest du jetzt, dachte Max. Vom Bahnsteig tönte ein Warnpiepen, die Zugtüren schlossen. Aische schien in Sicherheit. Max Goedeke schob das Smartphone in die Manteltasche und brach auf zum Wiesendamm, so käme auch er aus dem Sichtfeld des Schlägers.

Könnte der Junge nicht auch sein Treffen mit Rosenfeld gefilmt haben?


Der Wiesendamm bedeutete einen Umweg zum Imperial. Das war Max Goedeke recht. Er brauchte frische Luft und Zeit, sich zu sortieren.

Der Schläger schien ihm nicht zu folgen. Früher gab es das nicht, dass Frauen auf offener Straße geschlagen wurden. Oder wurde er alt und das Früher verklärte sich?

Er nahm die scharfe Kurve in den kleinen Wiesenstieg, der ihn wieder näher an den Stadtpark heranführte.

Es war Feierabendzeit und in der nächsten Stunde würden die unbefestigten Seitenstreifen auf beiden Seiten des Stiegs mit Autos dichtgeparkt werden. Die letzten Heimkehrer, die Überstunden gemacht hatten und die informellen Plätze an den Seitenstreifen belegt fanden, rangierten ihre Wagen dann mit gewagten Manövern schräg unter die U-Bahnbrücke oder quetschten das Blech dicht an die Hecken der Kleingartenanlage. Nach hinten wurde der Wiesenstieg schmaler, so dass es für manche Autofahrer morgens schwierig war, überhaupt wieder mit dem Wagen herauszukommen, da sie über Nacht zugeparkt worden waren. Seit die Stadtverwaltung auf dem Wiesendamm Parkplätze durch Poller unnutzbar gemacht hatte, wurde es immer enger.

Langsam beruhigte Max sich, der Verstand begann wieder normal zu funktionieren. Er holte tief Luft.

Rosenfeld wollte ihn erpressen. Das war ihm klar geworden.


Der Asphalt endete, der Boden war aufgeweicht, Max wich Pfützen aus. Am Kindergarten vorbei gelangte er wieder auf festen Belag, der angestrahlte Schriftzug des Imperials wurde sichtbar. Max kam sich wie ein Abenteurer vor, der heimkehrte. Das Imperial bedeutete Familie und Geborgenheit, es bedeutete Wissen um die eigene Herkunft und es bedeutete Erfolg. Es bildete das Fundament von allem, was ihm wichtig war.

Rosenfeld wollte das gefährden? Mit der Kopie eines alten Gutachtens? Im ersten Moment war das schwer vorstellbar. Max Goedeke knöpfte den Mantel auf, fasste in die Innentasche, raschelte mit der Kopie, als wolle er sich versichern, die Sache nicht geträumt zu haben.

Seine Aufgabe war es, das Hotel für die nächste Generation zu sichern. Laura, seine Schwester, war dazu nicht in der Lage. Er würde mit Sascha telefonieren. Sascha hatte Ideen und Beziehungen. Er war Max' Freund und von Max pro forma als Finanzberater beschäftigt. Saschas eigentliches Talent lag woanders. Sascha hatte eine Nase für Immobilien.

Max griff zum Handy - das Falsche, es war das Smartphone des Jungen vom Borgweg. Da er es in der Hand hatte, prüfte er, ob das Handy eine Speicherkarte hatte. Das war nicht so. Schade, dachte Max. Er hätte die Speicherkarte herausgenommen, in seinen Laptop gesteckt und geschaut, ob ein Film mit Rosenfeld und ihm auf der Karte wäre. - Max steckte das Handy wieder ein und holte sein eigenes Handy heraus.

Sascha war gleich dran. Im Hintergrund hörte Max Klatschen und Johlen, als feiere Sascha eine Party. Was vorstellbar war, Sascha liebte Partys. Fast so sehr wie schwere Geländewagen und schöne Frauen. Seit Sascha das Steuerbüro des Vaters zuerst geerbt und dann versilbert hatte, war er finanziell unabhängig.

„Sascha, wir müssen etwas bereden.”

„Unbedingt, und zwar schnell.”

„Wie meinst du das?”

„Deine Schwester, Max … Wann kannst du hier sein?”

„Wo bist du?”

„Im Imperial. Deine Schwester auch. Leider.” Das Johlen im Hintergrund schwoll an zu einem Begeisterungssturm.


Er wollte zum Imperial schlendern wie ein Stadtparkspaziergänger. Flanieren wie ein Tourist, der vom Hauptbahnhof Süd die U3 genommen und am Borgweg ausgestiegen war: mit Appetit auf ein Steak im Imperial-Grill, Vorfreude auf das Wellness-Spa in der obersten Etage, auf eine gediegene Suite für die anschließende Nachtruhe. So hatte Max Goedeke es sich vorgenommen, als er kurzzeitig glaubte, Rosenfeld würde ihm helfen, Genossenschaftsanteile zu kaufen.

Nun ging Max schneller als ein Tourist und banger als ein Abenteurer. Er hatte eine Erpressung am Hals und seine Schwester Laura schien wieder einmal über die Stränge zu schlagen.

Das Imperial kannte Max seit Kindertagen, er war praktisch darin aufgewachsen. Dadurch war es schwierig, einen frischen Blick zu behalten. Den brauchte er, um zu ergründen, woran es lag, dass die Auslastung des Hotels auf 40 Prozent abgesackt war. Noch bescheidener sahen die Buchungen für den Sommer aus.

Die spätklassizistische Fassade war angeschmutzt. In der Dämmerung fiel das kaum auf. In Katalogen und Prospekten glänzte das Haus frisch, daran konnte der Buchungsrückgang kaum liegen. Im Frühjahr würde dennoch ein neuer Anstrich fällig sein. 80.000 Euro wären zu investieren … okay, wenn Max nur die Fassade streichen ließe, die Seitenwände ungestrichen blieben, dann käme er mit 40.000 hin; seine polnische connection mochte es sogar für 20.000 machen. Allerdings bestände dann die Gefahr, dass der Anstrich fleckig ausgeführt wurde. Außerdem würde er den Chef der Leiharbeitsfirma aus Posen mit einigen Frei-Urlauben für die Familie locken müssen.

Zu Zeiten von Max' Vater begrüßte ein Portier den Besucher und öffnete die messingbeschlagene Flügeltür. Der Portier war eingespart worden. Das war eine der ersten Amtshandlungen des nerdigen Hotelmanagers Paul gewesen, den Max vor einigen Jahren engagiert hatte, da sich der Buchungsrückgang abzuzeichnen begann. Max öffnete die Türen selbst und betrat die Hotelhalle.

Warme Luft quoll ihm entgegen, hüllte ihn mit dem Geruch ein, der entstand, wenn viele Personen sich in der Halle aufhielten. Hinein mischte sich der Duft der Abendparfums vermögender Damen. Die Lobby war voller Hotelgäste. Eine volle Lobby, das war eigentlich der Traum von Hotelmanagern und Hotelbesitzern. Nur hatten weder Max, noch Paul für heute eine Veranstaltung an Land gezogen oder selbst organisiert. Es musste einen anderen Grund für den Menschenauflauf geben.

Das Licht des Kronleuchters setzte Damenfrisuren in Szene, brachte auch die breiten Scheitel angejahrter Lebemänner zur Geltung. Max sah Erregung in rotwangigen Gesichtern. Er sah Irritation und wohlige Empörung bei Damen. Man redete, schnatterte, kicherte.

Sascha bahnte sich einen Weg, grüßte hier, lächelte da, sah blendend aus. Er hatte welliges Haar, das mit Gel zurückgekämmt war. Den Abendanzug trug er mit einer Nachlässigkeit, die jahrelange Erfahrung in der Gesellschaft erforderte sowie das Geld für einen Maßschneider, der sich noch darauf verstand, schmiegsame Rosshaareinlagen mit eng gesetzten Handstichen am Jackenoberstoff zu fixieren.

„Was ist hier los, Sascha?”, erkundigte sich Max.

Sein Freund knipste das Gesellschaftslächeln aus, schaute verdrießlich. „Laura hat eine Show abgezogen.” Er wedelte die Hand, was bedeutete: „Oh,- lá -lá und was für eine Show.”

„Wo ist sie jetzt?”

Sascha machte eine Kopfbewegung zur Rezeption, wo Emmy, die hübsche Rezeptionistin mit Pferdeschwanz, sich bemühte, einen professionellen Gesichtsausdruck zu behalten. „Ins Büro verschwunden”, sagte Sascha.

Die Bürotür hinter der Rezeptionistin flog auf, Laura kam heraus, sprang auf den Tresen der Rezeption.

„Liebe Leute! Der zweite Teil”, rief sie, „der Höhepunkt!”

„Oh”, „Ah”, „Los doch” tönte es aus der Menge. Hälse reckten sich, Doppelkinne verschwanden.

„Nein, ist nicht wahr”, stöhnte Max, und Sascha spitzte den Mund.

Laura rief: „Darauf habt Ihr gewartet, oder?!”

„Jaa!”, „Zeig’s uns!”, riefen die Dreisten unter den Gästen. Gern hätte Max sie rausgeworfen.

Laura streifte ihr Jäckchen ab und schwang es über dem Kopf. Sie war noch jung, hatte Modelmaße und verstand es, sich zu bewegen.

Wie sie da auf High Heels zwischen Kreditkartenlesegerät und Prospekten für die Stadtparksternwarte stand, war sie eine Attraktion welche die Reeperbahn schmücken würde! Aber Gift war für das Ansehen des Imperial.

Laura warf ihre Jacke in die Menge. Ein Hüne mit mehr Vermögen als Benehmen eroberte sie, schwenkte das Stoffstück wie eine Trophäe. Bis seine Frau, eine nordische Walküre mit Versace-Täschchen, ihm eine Ohrfeige knallte. Der Hüne verlor jeden Enthusiasmus und ließ sich von seiner Frau Lauras Jäckchen abnehmen. Die Umstehenden lachten. Das Niveau sank, die Stimmung stieg.

Laura knöpfte die Bluse auf.

„Du musst sie stoppen, Sascha”, flehte Max.

„Ich? Wieso ich?”

„Warum macht sie das? Warum tut sie uns das an?”

„Warum tut sie sich das an? Das ist die Frage.”

„Wo ist der Hotelmanager?” Als ob der junge Mann etwas ändern könnte. „Hör auf, Laura”, sagte Max. Wiederholte es lauter, brüllte es.

„Mach keinen Skandal”, warnte Sascha.

„Den macht sie doch!”

Sascha winkte Emmy, der Rezeptionistin mit dem Pferdeschwanz, sie wurde aufmerksam, Sascha machte Zeichen. Emmy schien zu verstehen und verschwand im Büro. Max sah, wie sie die graue Blechtür des Verteilerschranks aufklappte.

Laura hatte den Rezeptionstresen zum Laufsteg umfunktioniert, sie ließ ihre Bluse von den Schultern gleiten, warf den Kopf in den Nacken, lachte kehlig.

Männer johlten, die jüngeren holten ihre Smartphones raus, Damen wandten sich ab: „Empörend.”

Da erlosch der Kronleuchter, ebenso die LED-Lampen über der Rezeption. Ein Raunen ging durch die Menge. Das Kaminfeuer aus der Sitzecke spendete knappes Licht, über die Wände mit den braunen Textilgewebetapeten aus den 1960er-Jahren des vorigen Jahrhunderts flackerten Schatten.

Emmy hatte die Hauptsicherung ausgeschaltet. Max sagte: 

„Danke, Sascha.”

„Hab dir den Arsch gerettet.”

„Der ist sowieso ab.”

„Wie meinst du das?”

Max hörte die Frage seines Freundes nicht mehr. Er wollte zu Laura, die mit hängenden Schultern auf dem Tresen stand. Ihre Energie war weg.

Max streckte Laura die Arme entgegen: „Ich helfe dir.”

„Max! Du bist hier?!”

Seine Schwester ließ sich in seine Arme fallen.

All die Vorhaltungen, die er ihr machen wollte - im Moment, da er sie hielt, waren sie vergessen.

„Du zitterst ja”, sagte er, packte sie in seinen Mantel. Die Menge teilte sich vor ihnen, da er Laura quer durch die Halle zum Feuer geleitete. Es war still geworden; stiller als gewöhnlich, da auch das untergründige Rauschen der Klimaanlage aufgehört hatte.

Sie setzten sich in die Ledergarnitur, die seit fünfzig Jahren an dieser Stelle stand.

„Du weinst, Laura”, sagte Max, „warum weinst du?”

Laura kauerte an seiner Schulter. Sascha kam hinzu, das Licht flammte wieder auf.

„Es gibt nichts zu sehen”, erklärte Sascha den Gästen, die aufmerksam wurden, da sie die Frau, die eben noch auf dem Tresen vor Lebenslust zu sprühen schien, mit tränenverlaufender Wimperntusche an die Schulter eines Mannes gelehnt sitzen sahen.

„Ein empörendes Persönchen”, urteilte eine Dame, „hier übernachten wir nicht mehr, Konrad.”

Sascha breitete die Arme aus. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. Genießen sie ihn. Vielleicht bei Souvlaki und Rotwein in unserem Grill.” Er zeigte sein gewinnendstes, von tadellosen Veneers überkrontes Lächeln.

Die Menge verlief sich: zum Aufzug, in den Stadtpark oder in den Imperial-Grill. Sascha sah den Hotelgästen nach, besonders den feinen, nicht mehr ganz so jungen Damen. Ihr Urteil war das entscheidende, und es würde nicht günstig ausfallen, das ahnte er. Sie mochten solche Auftritte junger Frauen nicht, er brachte ihre Männer auf Gedanken. Die Männer hatten zwar das Geld, aber ihre Frauen bestimmten, in welchem Hotel sie das nächste Mal absteigen würden. Seine Überlegungen behielt Sascha für sich. Max hatte genug um die Ohren.

Max tupfte Laura die Tränen ab. „Warum machst du so was?”

„Lass mich doch.”

„Nein, ich bin dein Bruder.”

„Ändert das was? Ich kann machen, was ich will.”

„Striptease in der Lobby? Wirklich? Das kann nicht -”

„Immer wollt ihr mich bevormunden! Erst Papa, jetzt du.”

„Aber -”

Sie schluchzte, was argumentieren schwierig machte.

Er nahm sie in den Arm. „Was ist los? Erzähl es mir. Etwas ist vorgefallen.”

Doch Laura zögerte.

„Wie fühlst du dich, Schwesterherz?”

„Überhaupt nicht mehr!”

Dann nach einer kurzen Pause sprach sie weiter:

„Mit Elias ist es vorbei.”

Sollte ihn das erschüttern? Max wusste nicht mal, wer Elias war. Lauras Favoriten wechselten. Sie liebte das Leben und die Liebe.

„Wir wollten heiraten und eine Familie gründen.” Lauras Stimme zitterte. Es fiel ihm schwer, zu beurteilen, wie ernst Laura es meinte. - Ziemlich ernst, ihrer derzeitigen Verfassung nach zu urteilen. Aber vielleicht bildete sie sich ihre Ernsthaftigkeit auch nur ein. Wie meistens.

„Und dann …”, sie hob den Kopf von seiner Schulter, „… jetzt ist sowieso alles egal.”

„Was ist passiert?”

„Er sagte, ich sei zu leicht zu haben und deswegen …” Laura vergrub sich in Max' Brust. Er legte den Arm um sie, schaute ins Feuer, ließ ihr Zeit.

„Da kann ich genauso gut das tun, was ich seiner Ansicht nach am liebsten mache”, sagte sie, „tanzen und Männerauf mich aufmerksam machen.”

Max strich seiner Schwester über das Haar.

Wie konnte er ihr helfen? Er fühlte sich von der Situation überfordert.


Max thronte hinter dem Chippendale-Schreibtisch, den sein verstorbener Vater angeschafft hatte. Vor ihm saß Sascha in einem Samtsessel.

Die zwei Freunde hatten sich in das Büro im Penthouse von Max' Vater zurückgezogen. Ursprünglich nahm das Penthouse die gesamte obere Etage des Imperial ein. Dann aber hatte der Vater zwei Drittel des Penthouses niederreißen lassen, um dort ein Spa für die finanzstarken Hotelgäste zu errichten.

Unter dem Glasdach des Spa wuchsen Palmen und Orchideen, bildeten zusammen mit den Baumwipfeln des Stadtparks eine grüne Landschaft, die bis zum Horizont reichte, effektvoll unterbrochen von der Kuppel des Hamburger Planetariums. Wenn die Besucher des Spa auf dem Dach im Whirlpool planschten oder im Liegestuhl ruhten, konnten sie glauben, sie seien umgeben von unberührter Natur. Gleichzeitig wussten sie, dass sie nur den Aufzug nach unten zu nehmen brauchten, um sich ins Großstadtgetümmel zu stürzen.

Max' Vater Egon hatte Millionen in das Spa gepumpt: Fast die gesamten Gewinne, die er seit Eröffnung des Imperial in den Fünfzigerjahren erzielt hatte. „17 Millionen Ostdeutsche haben 30 Jahre gewartet, Hamburg zu besuchen. Wir wollen sie nicht enttäuschen”, begründete er seine riskante Investition. Der alte Herr behielt Recht. Die Kombination aus Wellness und Großstadt funktionierte. Es war eine Art Gelddruckmaschine.

Das Imperial war in der Wirtschaftswunderzeit ein gutgehendes Hotel gewesen. Der Imperial-Grill hatte in der Nachkriegsfresswelle mit üppigen Portionen gepunktet. Zum Beispiel dem dreifachen Souvlaki-Spieß, den Egon Goedeke auf die Speisekarte bringen ließ und gern selbst bestellte. Er hatte den Fleischspieß auf Rhodos kennengelernt, während seiner ersten Auslandsreise. Auf welche er seine Frau Theda nicht mitgenommen hatte. Ein Leben lang hielt sie ihm das vor. Auslandsreisen, gar Flugreisen, waren damals ein unvorstellbarer Luxus gewesen, Egon Goedeke hatte sparen wollen.

Dann, nach dem Upgrading durch den Spa-Ausbau, spielte das Imperial in einer anderen Liga: maß sich mit dem Atlantik und dem Vier Jahreszeiten. Die hanseatischen Vorzeigehotels prunkten mit Blattgold, blasierten Kellnern und Bussi-Gesellschaft. Das Imperial bot seinen Gästen neben einem leichten Hauch von Arroganz immer auch sympathische und entkrampfende Attribute wie zum Beispiel das neue Spa: eine unternehmerische Punktlandung angesichts des aufkommenden Wellnessbooms. Die Umsätze gingen durch die Decke, die Auslastung lag bei über 96 Prozent. Man warb nicht um Übernachtungsgäste, man teilte zu und notierte sommerliche Urlaubsbegehren in einer Warteliste oder empfahl, schon für die übernächste Saison zu buchen.

Max beugte sich vor. Diese Zeiten waren vorbei. Die Excel-Tabelle auf dem Laptop zeigte niederschmetternde Zahlen. Seit Vater gestorben war, sank die Bettenauslastung. Max machte sich Vorwürfe. Er hatte sich um Immobilienprojekte gekümmert und geglaubt, der junge Hotelmanager Paul würde es richten. Paul hatte tadellose Referenzen, war IT-Experte bei booking.com, danach Vizechef des SAS Radisson in Singapur gewesen.

Sascha zupfte seine Manschetten hervor. „Sieht nicht gut aus.”

Max klappte den Laptop zu. „Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll?”

„Am besten mit einem Single Malt.” Sascha kam aus dem Samtsessel, schob die in Plexiglas gegossene alte Silbermünze mit Hamburger Wappen beiseite, um an den Barschrank zu kommen. Flaschen mit weißen, roten und bernsteinfarbenen Flüssigkeiten verhießen Entspannung.

Sascha servierte, sie tranken und schwiegen. Sascha trat an die Panoramascheibe, sein Blick schweifte, fand Halt am Planetarium, das angestrahlt wurde und sich vom Nachthimmel abhob. Sascha und Max kannten sich seit knapp dreißig Jahren. Saschas Vater hatte das Steuerbüro geleitet, welchem Egon Goedeke Buchhaltung und Steuersachen übertragen hatte.

So war Sascha, als die Zeit der beruflichen Orientierung gekommen war, über väterliche Verbindungen an eine Ausbildungsstelle als Hotelkaufmann beim Imperial gelangt. Bald hatte er die Illusionen über die Arbeitswelt verloren und die Ausbildung geschmissen, jedoch einen Freund gewonnen: Max. Mit dem Sascha sich in den nächsten Jahren durch die Partys der Schönen und Reichen, der Reeder und Reeperbahnkönige feierte, Frauen eroberte und die Standfestigkeit elterlicher Grundsätze und Finanzmittel testete.

Max holte die Kopie heraus, die Rosenfeld ihm im Imbiss zugeschoben hatte. „Deswegen habe ich dich angerufen.”

Sascha stellte sein Glas auf spröde gewordenes Nussbaumfurnier, nahm die Kopie, ohne einen Blick darauf zu werfen: „In Finanzdingen bin ich nicht perfekt. Aber mit Frauen kenne ich mich aus, bilde ich mir ein.”

Laura schlief währenddessen im übrig gebliebenen Gästezimmer des verkleinerten Penthouses. Max hatte ihr ein Beruhigungsmittel gegeben. Sie war zehn Jahre jünger als er und lebte auf einem anderen Planeten. So kam es Max vor.

Sascha meinte: „Du solltest sie bei der Hand nehmen.”

„Laura?”

„Gibt es eine andere Frau in deinem Leben? Ich meine, außer eurer Mutter.”

„Ich hab wirklich genug andere Probleme am Hals.”

„Alle lösbar.”

„Ich will mich nicht um meine Schwester kümmern müssen. Nicht mehr. Nach 30 Jahren sollte sie es schaffen, auf eigenen Beinen zu stehen.” Max nippte am Single Malt. „Schau dir bitte jetzt mal das Gutachten an.”

Sascha überflog das Schreiben:

„Oha.”

„Ja, dachte ich auch.”

„Könnte ein Problem werden.” Sascha blätterte um, schaute die Zeichnung an. „Wo hast du das her?”

Max erzählte von Rosenfeld.

„Ist das Gutachten echt?”

„Keine Ahnung. Wenn es echt ist, kann es viel kaputtmachen.” Max drehte sich auf dem Bürostuhl und schaute zum Planetarium. „Eigentlich sogar alles.”

„Was will der Typ konkret?”

„7,5 Millionen fordert er.”

„Was? Das ist doch völlig abwegig. Damit musst du zur Polizei.”


Am nächsten Morgen saß Max in dem schmucklosen Büro hinter der Rezeption. Er hatte schlecht geschlafen. Natürlich. Hatte er doch in der Nacht ständig an Rosenfeld und die Erpressung denken müssen. Sollte er zur Polizei gehen? Er war zu keiner Entscheidung gekommen. Nun durchpflügte er mit verquollenen Augen eingetroffene Mails.

Von der Frankfurter Touristikmesse meldete sich Paul, wo er versuchte, Bettenkontingente des Imperials für die nächste Saison an die TUI loszuwerden. Bisher ohne Erfolg, aber er hoffte noch.

Hartmut Reschke, Leiter Risk Management der Hamburger Sparkasse und auf dem Sprung in den Vorstand, bat um eine Unterredung.

Lucas Pohl von der Deutschen Bodenkreditbank kündigte den Kontokorrentkredit für Max Goedekes Immotrust. Die Immotrust gehörte zu dem Geflecht aus Unternehmungen, das Max gewoben hatte, um Gewinne und Investitionen steueroptimiert zu verwalten. In den letzten Monaten war Max die Verwaltung der Unternehmungen durcheinander geraten.

Sigbert Hansen, Büroleiter des Ersten Bürgermeisters, sagte mit Bedauern ein verabredetes Mittagessen im Block House Winterhude ab, da er terminlich verhindert wäre. Max hatte mit ihm Möglichkeiten besprechen wollen, wie er an eine Genehmigung gelangen könnte, den Parkplatz für Hotelgäste hinter dem Imperial erweitern zu lassen.

Beim letzten Mittagessen mit Sigbert Hansen hatte Max vorgeschlagen, in den nächsten Wochen ein Mendelssohn-Konzert in der Elbphilharmonie zu besuchen. Hansen mochte klassische Musik. Zum Konzert könnte er sich von seiner Gattin sowie Tochter Amelie begleiten lassen. Die hohlwangige Schönheit der zweiten Kategorie wurde im Frühjahr 30 Jahre alt und entwickelte sich zum Ladenhüter, wie Hansen es Max gegenüber letzten Herbst im Ratskeller zu mitternächtlicher Stunde unverblümt formuliert hatte.

Im Türrahmen tauchte Emmy auf, die Rezeptionistin mit dem Pferdeschwanz. Sie verdrängte Max' Gedanken an Amelie.

„Geht es Ihrer Schwester besser?”

„Sie schläft noch, Emmy.” Max schloss das Mailprogramm.

Emmy hieß mit vollem Namen Emilia, sie war Hotelkauffrau im zweiten Lehrjahr. Frisch und ausgeruht sah sie aus. Dabei hatte sie die Spätschicht hinter sich und konnte kaum mehr als fünf Stunden geschlafen haben.

„Wie machen Sie das?”, erkundigte sich Max.

Emmys Augen fragten, was ihr Chef meine; er fand ihre unschuldige Ratlosigkeit anziehend. Natürlich finge er mit Emmy niemals etwas an. Zum einen galt never-in-the-office, zum anderen war sie zu jung.

„Sie standen gestern Abend am Empfang und haben uns gerettet, als Sie die Sicherung herausdrehten.” Emmy errötete und dem Hotelbesitzer ging das Herz auf. Er fragte: „Seit fünf Uhr morgens sind Sie wieder im Dienst?”

„Kein Problem, es macht mir Spaß.” Ihr Strahlen besiegelte, dass sie die Wahrheit sprach.

Wenn Emmy wollte, könnte sie im letzten Lehrjahr nach Singapur, um Auslandserfahrung zu sammeln. Er würde es ihr anbieten und seine Kontakte spielen lassen, das nahm er sich vor.

„Würden Sie für mich zum Fotoladen rüberlaufen und einen Akku besorgen?” Er hielt ihr das kaputte Smartphone hin, mit dem der Jugendliche gestern Nachmittag vor der Dönerbude hantiert hatte. Hatte er das Ding erst wieder zum Leben erweckt und tauchte ein Kennwortschutz auf, würde er Paul bitten, diesen zu knacken.

Emmy versprach, zum Fotogeschäft zu gehen. An der Rezeption würde sie sich vertreten lassen.

Max' Handy meldete sich.

Bin da. Warte draußen

schrieb Sascha. Max stand auf:

„Könnten Sie auch noch in der Küche Bescheid geben, Emmy? Bevor Sie zum Fotoladen gehen. Ich werde das Frühstück mit Laura ausfallen lassen müssen. Aber Lauras Gedeck kann liegen bleiben, sie kommt bestimmt gleich herunter.”

„Selbstverständlich, Herr Goedeke.”

Sie sah Max Goedeke hinterher. Zwar hatte Hotelmanager Paul sie eingestellt, und sie in der darauffolgenden Woche zu einem nächtlichem Kiez-Bummel über die Große Freiheit eingeladen, aber der gutaussehende Max Goedeke war der eigentliche Boss hier, das hatte Emmy bald begriffen. Sie überlegte, ihren jägergrünen Rock - Teil der Dienstkleidung der weiblichen Angestellten des Hauses - einen Zentimeter kürzen zu lassen. Ihre Mutter konnte mit Nadel und Faden umgehen und so kämen die Beine besser zur Geltung.

Max stieg zu Sascha in den Geländewagen.

„Was tippst du?”, fragte Sascha. Er brachte den Geländewagen auf die Otto-Wels-Straße, welche durch den Stadtpark führte. Gestern Abend hatten sie sich fast gestritten: Sascha meinte, Max solle die Polizei über die Erpressung informieren. Max war dagegen. Es brauchte nur eine Andeutung durchsickern von der angeblichen Giftmülldeponie, auf welcher das Imperial stand - dann würden die Buchungen endgültig wegbrechen.

„Ich wünsche Laura einen guten Morgen.” Max tippte Herzen dazu. „Ich wollte sie nicht wecken. Sie soll sich erholen.”

„Ihr Auftritt gestern wird dich Gäste kosten.”

„Ja, kann sein.”

„Hast du Stornierungen im System gesehen?”

„Habe ich nicht angeschaut. Das soll Paul machen, wenn er zurück ist.”

Auf dem vierspurig ausgebauten Überseering durch die City Nord beschleunige Sascha den V8. In den 1980er-Jahren galten die Bürohochhäuser der City Nord als futuristisch. Sie waren ein Aushängeschild der modernen Stadt. Zehn Jahre später standen die meisten Gebäude leer, Asbest wurde entdeckt, und der Nordwind pfiff durch die aufgeständerte, menschenleer gewordene Fußgängerzone mit dem Charme einer Betonbrache.

Die Außenrolltreppen wurden defekt, Einzelhändler schlossen die Geschäfte; nur eine Postfiliale hielt die Stellung. Dort hatte Max ein Postfach eingerichtet und bald die Möglichkeiten erkannt, welche sich in der verwaisten City Nord boten. Max wollte wenigstens eines der verwaisten Hochhäuser kaufen.

Doch selbst als er Sascha von der Idee überzeugt hatte, reichte die gemeinsame Finanzkraft nicht, um als Investor und Projektentwickler ernst genommen zu werden. Die City Nord erwies sich als eine Nummer zu groß für die beiden Unternehmer. Zehn Jahre später machten Immobilienfonds das Geschäft.

Max' Vater Egon Goedeke hätte dazu gesagt: „Mund abwischen und weitermachen.” So wollte Max es halten.

Heute würde Sascha ihm das Stellmoorer Tunneltal zeigen. Es lag knapp vor den Toren der Stadt. Noch war es Naturschutzgebiet.

Sascha hatte im Regionalausschuss Rahlstedt der Bezirksversammlung Wandsbek einen Gewährsmann sitzen: den Architekten Sebastian Nielsen, einen Mann mit Ambitionen und Einfluss. Sascha zeigte sich begeistert von den bisherigen Arbeiten Nielsens und machte dem Architekten Hoffnungen, dass er für ihn und einen finanzkräftigen Freund Zinshäuser errichten dürfte. Wenn … ja wenn sich endlich stadtnaher Baugrund fände. Hamburg brauche dringend preisgünstigen Wohnraum. Nielsen, natürlich sehr interessiert, erzählte vom naturgeschützten Tunneltal und versprach, sich zu melden, sobald Bewegung in die Sache käme … Gestern hatte Nielsen bei Sascha angerufen.

Der Geländewagen passierte das Rahlstedter Ortsschild. Sie befanden sich noch auf Hamburger Stadtgebiet, aber der Charakter der Stadt änderte sich. Dörfliche Satteldächer, klassizistische Bürgerhäuser und Nachkriegseigenheime versprachen Gemütlichkeit. Dann fingen endlich Wald und Wiesen an.

„Wie weit ist es noch?”

„Fünf Minuten”, meinte Sascha.

„Können wir danach bei meiner Mutter vorbeifahren?” Witwe Theda Goedeke, Max Goedekes Mutter, lebte seit elf Monaten in einer noblen Seniorenresidenz.

Sascha sagte: „Dich beschäftigt Rosenfeld.”

„Bevor ich irgendwas unternehme, möchte ich wissen, was sie davon hält. Ob das Gutachten echt sein könnte.”

„Du willst es ihr sagen?”

„Ich will es versuchen.”

Sascha räusperte sich, er wollte nicht widersprechen. Seiner Meinung nach war Theda Goedeke dement.

Max' Smartphone brummte.

„Bestimmt Rosenfeld.” Max stellte das Handy auf laut.

Rosenfeld meldete sich: „Sie werden sich besprochen haben.”

„Mit wem sollte ich mich besprechen?”

„Mit Ihrem Freund. Mit Ihrer Mutter.”

„Sie sind gut informiert. Glauben Sie, das beeindruckt mich?”

„Ich weiß es, wa´.”

„Gut, Sie wissen, dass ich einen Freund habe und eine Mutter. Soll mich das einschüchtern?”

„Ich hoffe, Sie lassen sich nicht so leicht einschüchtern, Herr Goedeke. Auch nicht von der Summe.”

„7,5 Millionen sind illusorisch, Rosenfeld. Genauso könnten Sie 10 sagen oder 20.”

„Sie wollen nicht zahlen, wa’?”

„Nein.” Es war eine spontane Eingebung, und Max konnte hören, wie Rosenfelds übersichtliches Nachdenkgetriebe in den Overdrive schaltete. Das freute Max, er genoss Rosenfelds Schweigen und das Säuseln des V8.

Dann sagte Rosenfeld: „Okay. Dann nehmen wir 20, wa´.”

„20?!”

Rosenfeld wiederholte. „20 Millionen.”

„Aber … das ist …” Max suchte das richtige Wort. „Schwachsinn. Schwachsinn ist das!”

Rosenfeld legte auf.

„Geben Sie zu, dass das Schwachsinn ist, Rosenfeld! … Rosenfeld?”

Kapitel 3



„Das lief jetzt kacke, Max.”

„Ach hör auf.” Immer noch starrte Max sein Smartphone an. „Ich hab’ seine Nummer.”

„Du hast sogar seinen Namen.”

„Der könnte falsch sein. Aber die Nummer -”

„Prepaid?”

Max nickte.

„Zwecklos”, meinte Sascha, „der kauft die Karte in einem Kiosk, gibt eine falsche Adresse an oder er lässt kaufen.”

„Du weißt Bescheid.”

„Jeder Feierabend-Gauner macht es so.”

Max schaute auf die vorbeiflitzenden Ladengeschäfte und dachte nach. „Ich hab’ trotzdem einen Trumpf.”

„Und der wäre?”

Sie fuhren auf der Jenfelder Allee stadteinwärts. Max erzählte von dem Jugendlichen, der vor der Dönerbude mit dem Handy gefilmt hatte. Womöglich auch Rosenfeld gefilmt hatte. Und Max, so berichtete er Sascha stolz, hatte das Handy des Jungen. Emmy besorgte dazu den verlorengegangenen Akku. Paul könne sicher den Kennwortschutz knacken.

„Aha.” Etwas mehr Begeisterung könnte Sascha zeigen, fand Max. Eine Filmaufnahme des Erpressers - das war wirklich ein Trumpf.

Sascha nahm die Auffahrt zur A 24 mit Schwung.

Max sagte: „Das ist doch ein Ansatzpunkt.”

„Was willst du damit?”

„Damit gehe ich zur Polizei.”

„Ich denke, die willst du raushalten?”

„Wenn Rosenfeld auf dem Film ist … Der Typ hat eine Visage wie gemacht für die Verbrecherkartei. Der ist bekannt. Garantiert. Die nehmen den gleich hops, da brauche ich nur sagen, der hätte mich bedroht.”

„Aha.”

„Noch besser, ich führe Rosenfeld den Film vor und sage, wenn er mich nicht in Ruhe lässt, gehe ich damit zur Polizei und zeige ihn an.” Max klatschte in die Hände. „Peng. Und erledigt.”

Er begann, sich besser zu fühlen.


Sachte lehnte sich Rosenfeld in dem dunklen Lederpolster zurück.

Die Möbel, die Holzdecken, die Teppiche. Alles in Celina van de Laars Haus war dunkel.

Spärlich drang Licht durch die Fenster, behindert von Gardinen, die wohl vor 40 Jahren modern waren.

Die bescheidene, rot geklinkerte Stadtvilla von Celina van de Laar stand im Schatten.

Eine fensterlose Hauswand des Nachbargebäudes nahm der Villa das Sonnenlicht. Es überragte sie um mehrere Meter und war direkt auf der Grundstücksgrenze platziert.

Rosenfeld saß regungslos. Sonst quietschte das Leder. Celina van de Laar hantierte in der Küche.

„Kandis oder Zucker zum Tee?”, rief sie.

„Kandis.”

Kaffee wäre ihm lieber, aber den gab es nicht. Noch leckerer wäre ein Astra, aber er traute sich nicht zu fragen, hatte im Gefühl, dass die Frage nach einem Morgenbier bei einer Frau wie Celina nicht gut ankäme, ihr einen falschen Eindruck von ihm vermittelte.

Celina van de Laar war in dem Haus aufgewachsen. Das hatte sie ihm erzählt. Sie hatte im ersten Stock im Arbeitszimmer bei ihrem Vater mit Bauklötzen gespielt, während der Vater Semesterarbeiten von Studenten korrigierte und nebenher Ideen für Aufsätze in Fachzeitschriften auf einem Block notierte, bei dem die Blätter am oberen Rand jeweils einen eleganten Aufdruck in kleinen Lettern von purpurner Farbe hatten:

Professor Horst van de Laar

Seit dem Tod des Vaters hatte sie das Haus unverändert gelassen. Rosenfeld stellte sich vor, dass oben auf dem väterlichen Schreibtisch sogar noch ein altmodisches Wählscheibentelefon stand. Draußen bröckelte Putz von den Gesimsen. Drinnen roch es nach Zigarillos und letztem Jahrhundert.

Beim Eingießen hielt Celina den Deckel der Silberkanne fest, damit er nicht auf den Tisch mit der Spitzendecke purzelte.

„Einen Keks dazu?”

Artig lehnte Rosenfeld ab. Womöglich waren die Kekse ähnlich alt wie die Einrichtung.

Durch das Porzellan schimmerte der Tee. Celina van de Laar schaute, wie Rosenfeld nippte.