oder
die Odyssee
eines Innviertlers
Impressum
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
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© 2018 Verlag Anton Pustet
5020 Salzburg, Bergstraße 12
Sämtliche Rechte vorbehalten.
Coverfoto: Kurt Salhofer
Grafik, Satz und Produktion: Tanja Kühnel
Lektorat: Arnold Klaffenböck
Auch als Hardcover erhältlich: ISBN 978-3-7025-0900-2
eISBN 978-3-7025-8054-4
www.pustet.at
„De te fabula narratur“
(Diese Geschichte wird über dich erzählt)
Horaz, Sermones, ca. 30 v. Chr.
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Epilog
Jetzt ist er also wieder da. Ich hatte ja schon im Epilog meines Buches „Der Onkel Franz oder die Typologie des Innviertlers“ die Möglichkeit in Aussicht gestellt, dass der Onkel in Zukunft noch das eine oder andere Mal literarisch auftauchen würde. Und mir vermessenerweise gewünscht, er solle im besten Fall auch gar nicht ganz weggehen. Dass sich ein Stückerl Onkel Franz in den Gehirnwindungen gleichsam festgefressen haben könnte und sich immer dann zu Wort melden möge, wenn’s allzu gleichgebürstet wird.
Meine Tante Jolesch heißt Onkel Franz. Hier wandelt der Onkel in sehr großen Schuhen. Beim verehrten Vorbild Friedrich Torberg beeindruckt mich vor allem die Macht der Feder. Wie es gelingen konnte, durch bloßes Aufschreiben längst verloren Geglaubtes, Totes am Leben zu erhalten und so den Grausamkeiten der Geschichte zu trotzen. Es herüberzuretten in eine Zeit, die Weisheiten und Einsichten jener Kultur, welche Torberg beschreibt, nötiger hat denn je. Für das vorliegende Buch habe ich mir erlaubt, ein weiteres großes Vorbild zu wählen. Eines, das es meisterlich verstanden hatte, mit den Mitteln der Komik und Satire gesellschaftliche Entwicklungen zu karikieren und damit auch vor deren Auswüchsen zu warnen. Mit der Methode des Clowns1 eben.
Die Rede ist von Sir Charles Chaplin und seiner Figur, dem Tramp. Manche glauben ja, Chaplin wäre der Tramp beziehungsweise umgekehrt. Dem ist nicht so. Der Tramp ist „nur“ eine Figur, die Chaplin ersonnen hatte und auch selbst auf der Leinwand darstellte. Wie dem auch sei. Jedenfalls gelang es ihm, in seinem großartigen Film „Modern Times“ diese scheinbar simple Figur derart mit der damaligen industriellen Revolution 2.0, der Erfindung des Fließbandes, kollidieren zu lassen, dass jedem Betrachter klar wird, welche negative Auswirkungen überbordender Technisierungswahn auf das Individuum haben kann. Ein visionärer Film, dessen Aussagen bis jetzt Gültigkeit besitzen.
Und heute, etwa achtzig Jahre nachdem „Modern Times“ in die Kinos kam, sehen wir uns nun mit der industriellen Revolution 4.0 konfrontiert. Eine Entwicklung, vor deren Auswüchsen es auch erlaubt sein muss, zu warnen. Und so erlaube ich mir denn – dem großen Vorbild folgend –, meine Figur, den Onkel Franz, auf eine Reise zu schicken, in deren Verlauf er ebenfalls Bekanntschaft machen wird mit allerhand modernen Errungenschaften und Torheiten. Und dabei gleichsam als Spiegel fungiert für die Leserschaft. Als Spiegel, der den Blick reflektiert und dabei derart umlenkt, dass vielleicht die eine oder andere neue Sichtweise entstehen kann. Das wünsche ich mir zumindest. Möge die Übung gelingen.
Bevor es aber losgehen kann, ist noch eine Sache zu klären. Ich habe mich nach reiflicher Überlegung gegen eine dialektale Schreibweise bei den Passagen der direkten Rede entschieden. Handelte es sich bei der „Typologie des Innviertlers“ noch um eine Sammlung von Anekdoten und Betrachtungen, ist vorliegendes Buch eine durchgehende Erzählung. Und über dessen ganze Länge ist, wie ich glaube, eine lautschriftartige Ausführung der Dialektpassagen weder Leser noch Autor zuzumuten. Aber keine Angst, der Onkel spricht jetzt nicht plötzlich Hochdeutsch, auf keinen Fall! Es ist vielmehr nun an Ihnen, geschätzte Leserschaft, den Dialekt gleichsam zu imaginieren, ihn in Ihrem Kopf entstehen zu lassen. Dies birgt natürlich auch Vorteile. Dadurch ist es für jeden möglich, das Buch in seinem eigenen Jargon zu lesen, und der Onkel Franz wird so von Basel bis Neusiedl, von Bozen bis Norderney, im gesamten deutschsprachigen Raum verstanden. Wenn bei manchen Äußerungen des Onkels dennoch eine Diskrepanz zur hochsprachlichen Bedeutung für Verwirrung sorgen sollte, so mag eingangs erwähntes Buch „Der Onkel Franz oder die Typologie des Innviertlers“ als Nachschlagewerk dienen.
Der einleitenden Worte sind nun genug gewechselt und ich lade Sie ein, sich mit dem Onkel Franz auf eine Reise zu machen, in deren Verlauf sich Vergnügen einstellen möge, möglicherweise Verwunderung und vielleicht auch die eine oder andere Einsicht.
1 Eine Formulierung, die ich mir aus Michael Köhlmeiers Werk „Zwei Herren am Strand“ entlehnt habe. Er möge mir verzeihen, wenn ich sie hier etwas zweckentfremdet (oder auch nicht?) benutze.
Schon als der Onkel Franz an jenem Mittwochmittag in die Straße einbog, in der sein kleines Haus steht, beschlich ihn ein Gefühl, als könne dies ein besonderer Tag sein. Er war – wie jeden Mittwoch – am Stadtplatz gewesen. Einmal die Woche findet dort ein Markt statt und der Onkel hatte es sich zur Tradition gemacht, diesen regelmäßig zu besuchen. Fernab jeder Kaufabsicht besichtigt er dann die Stände und hält das eine oder andere Schwätzchen. Er kennt viele der Marktfahrer und Besucher und man kennt ihn.
Auch der Albert, sein ehemaliger Arbeits- und nunmehriger Pensionistenkollege, ist verlässlich auf dem Markt anzutreffen und die beiden Freunde hatten die Angewohnheit angenommen, am Ende der Standlschau einen gemütlichen Stadtplatzgastgarten aufzusuchen, um sich ein gepflegtes Vormittagsbier zu genehmigen. Aber nur eines. Denn um zwölf hieß es pünktlichst am Mittagstisch der jeweiligen Gattin zu erscheinen. Welche Sanktionen bei Zuwiderhandeln zur Anwendung kämen, ist nicht bekannt, noch nie hat einer der beiden Herren es je gewagt, diese Regel zu missachten.
So begab sich also dann der Onkel um drei viertel zwölf zu seinem Waffenrad der Marke Steyr, um dem heimatlichen Herd zuzustreben. Entgegen allen Unkenrufen der jüngeren Verwandtschaft fand er das Rad unversehrt an der Stelle vor, wo er es Stunden zuvor abgestellt und angekettet hatte. Das tadellos im Originalzustand erhaltene Gefährt könne gestohlen, begehrte Teile davon abgeschraubt und entwendet werden, hatte man ihn gewarnt. Aber nichts dergleichen war je eingetreten. Weder der chromblitzende Scheinwerfer noch die eiserne Luftpumpe fehlten. Der mächtige, stahlgefederte Ledersattel befand sich an seinem Platz, auch die ebenfalls lederne, dreieckige Werkzeugtasche samt Inhalt war dort, wo sie hingehörte. Einer seiner Großneffen versuchte seit Langem ihn zu überreden, sich von dem altertümlichen Gefährt zu trennen. Schöne neue Fahrräder gäbe es mit bis zu vierundzwanzig Gängen und allerlei Stoßdämpfern. Auch elektrische Tretunterstützung wäre heute ein Thema. Für einen älteren Herrn wie den Onkel ein Komfort, den man sich gönnen solle. Großzügig bot der Herr Neffe an, die Transaktion zu übernehmen, für das alte Rad wären Käufer zu finden. Der Onkel Franz ließ ihn reden und dachte gar nicht daran, sich von seinem geliebten Drahtesel zu trennen. Genauso wenig, wie er aus lauter Angst vor Diebstahl darauf verzichten mochte, ihn regelmäßig zu benutzen. Das war seine Einstellung nicht. Ständig Risiken abzuwägen und ihnen auszuweichen hieße die eigene Freiheit einschränken, und dem konnte der Onkel noch nie etwas abgewinnen.
Den braunen Cordhut auf dem Kopf und die gefüllte Ledertasche auf dem Packelträger – ein bisschen was hatte er doch eingekauft – radelte er also um fünf vor zwölf durch seine Straße. Und da bot sich ihm nun ein seltsames Bild. Etliche seiner Nachbarn waren vor ihre Häuser getreten. Denn einige Kleintransporter parkten davor, beinahe wie am eben verlassenen Markt ging es zu. Aus den dunkelbraunen, weißen und gelben Gefährten stiegen ebenso gekleidete Männer augenscheinlich südlicher Herkunft und übergaben Pakete an die Nachbarn. DPD, EMS, DHL und UPS war auf den Logos zu lesen, die die Kleinlaster und die Uniformen ihrer Fahrer zierten.
Der Onkel hatte derlei natürlich schon wahrgenommen, eine Invasion dieses Ausmaßes war ihm aber neu. Zufall natürlich. Die hatten sich das sicher nicht ausgemacht, zeitgleich in der Wohnstraße des Onkels einzufallen. Und dennoch waren sie letztlich alle demselben Moloch zugehörig – Endtentakeln des Riesenkraken Internet. Der Onkel Franz fragte sich gerade, ob er der einzige Mensch war, dem dabei derartige Gedanken in den Sinn kamen, als er vor seinem Haus vom Rad stieg.
Und da parkte nun auch eines dieser Fahrzeuge. Die Tante wird doch nicht …? Aber nein, Entwarnung. Es war nur der Postler, der da vor der Tante stand und ihr einige Briefe übergab, der Herr Brandecker. Altgedient und kurz vor der Pensionierung. Früher kam er immer in schneidiger Uniform auf einem Postlermoped angeritten. Einem Puch-Einsitzer, auch der Onkel besaß so ein Modell. Und die damalige Uniform stand der eines Offiziers in nichts nach. Die dunkelblaue Tellerkappe, mit silbernem Posthorn und rotweißroter Kokarde geschmückt, wies ihren Träger als Amtsund Respektsperson aus. Vergangenheit. Heute erschien der Herr Brandecker in graugelber Funktionskleidung und war damit den Kollegen der privaten Paketdienste nicht unähnlich. Welche mittlerweile wieder verschwunden waren. Sie hatten ihre Waren abgeliefert und waren weitergezogen. Auch der Herr Brandecker verabschiedete sich, nachdem er die Tante noch für ein Einschreiben hatte unterzeichnen lassen. Dabei tippte er gewohnheitsmäßig an den nicht vorhandenen Mützenrand.
Im Haus empfingen den Onkel Franz ein gedeckter Tisch und himmlische Gerüche. Krautwickler! Wohl das Lieblingsgericht des Onkels und seine Frau setzte es etwa zweimal im Monat auf den Speisezettel. Wie alle klugen Frauen wusste sie, dass das Besondere nur dann besonders bleibt, wenn man es einer gewissen Verknappung unterzieht. Der Onkel setzte sich an seinen angestammten Platz auf die Eckbank und begann bedächtig sein Weißbier einzuschenken. „War was Wichtiges dabei?“, fragte er dabei seine Gattin, auf die Briefe Bezug nehmend, die der Herr Brandecker gebracht hatte. „Ja, nein, eh nichts Besonderes. Stromrechnung, Wahlinformation und Werbung. Und ein Einschreiben von irgend so einem Wiener Anwalt.“ – „Aha.“ Man wünschte sich eine gesegnete Mahlzeit und begann mit derselben. Herrlich! Das Kraut ein bisserl angebrannt, so wie er es mochte, und die Fülle aus Reis und Faschiertem nicht zu trocken, aber auch nicht zu patzig. Viel Sauerrahm und Kartofferl aus dem eigenen Garten dazu, ein Gedicht.
„Wahlinformation“, fragte er zwischen zwei Bissen nach, „müssen wir leicht schon wieder wählen?“ Es war eine rhetorische Frage, der Onkel wusste natürlich, dass erneut zur Urne gerufen wurde. Zum wievielten Male in den letzten Jahren, konnte er gar nicht sagen. Grund war oft ein vorzeitiges Aufkündigen der Regierungszusammenarbeit, meist einhergehend damit, dass mindestens eine der Parteien den eigenen Obmann absägte. Oder es wurde wieder einmal von bekannter Seite eine Wahl angefochten und musste wiederholt werden. Evident war nur, dass diese Schüsse immer mehr nach hinten losgingen. Die Bürger hatten die Nase voll von diesem Kasperltheater. Zu durchsichtig waren jene Spielchen und man empfand Derartiges als lästig und unnötig. Und somit schadete es den Taktierern mehr, als dass es ihnen nützte. Und dennoch kamen sie immer wieder mit solchen Blödheiten daher.
Aber egal, kein Thema fürs Essen. Schon gar nicht, wenn es Krautwickler gab. „Und das Einschreiben, das interessiert dich gar nicht?“, fragte die Tante eine Weile später nach. Der Onkel hatte nämlich nach seiner letzten Einlassung das Thema Post scheinbar für beendet erklärt und sich mit Hingabe seinem Teller gewidmet. „Da schaun wir dann nach dem Essen hinein“, bestimmte er, „oder nach dem Mittagsschlaferl.“
Das sogenannte „Mittagsschlaferl“ pflegte der Onkel Franz auf dem Küchenkanapee zu absolvieren, allerdings nicht, bevor er der Tante beim Abräumen des Tisches und beim Abwasch assistiert hatte. Sie staubte ihn dabei zwar regelmäßig von einem Eck ihres Revieres in ein anderes und war mit der Qualität seiner Handlangerdienste nie vollständig zufrieden, dennoch erbot er sich täglich aufs Neue, sie beim Abtrocknen und Verstauen der Essutensilien zu unterstützen. Ein lieb gewonnenes Ritual des altgedienten Ehepaares. Die Tante kam auch dabei nicht erneut auf besagtes Einschreiben zu sprechen. Zu gut kannte sie ihren Gatten, wusste genau, der Franzl würde schon noch von sich aus nach dem Schriftstück verlangen. Und so war es dann auch. Nach halbstündiger Verdauungsruhe auf dem Kanapee streckte sich der Onkel Franz ausgiebig, rieb sich mit den Knöcheln beider Zeigefinger die Augen und erhob sich. Er ordnete seine leicht verrutschte Kleidung und strich sich die vom Polster etwas zerzausten Haare glatt. Alsdann trat er an die Küchenkredenz und öffnete die mittlere Schublade. In der pflegte er allerlei Utensilien aufzubewahren, deren Bestimmung keine eindeutige Zuordnung zu anderen Laden oder Fächern zuließ. Dementsprechend chaotisch ging es darin zu. Kugelschreiber fanden sich neben Klebstofftuben, Postkarten unter Rabattmarkenhefterln, eine Rolle Spagat in inniger Umarmung mit Geschenkschleifen und Reserveschuhbändern. Und eben der Brieföffner, ein Mitbringsel aus Maria Taferl, wie das Bild auf dem emaillierten Griff verriet. Eine der wenigen Reisen, die das Paar gemeinsam unternommen hatte. Nicht, dass der Onkel Ausflüge in Gesellschaft der Tante nicht mochte, im Gegenteil. Er genoss es, in ihrer Begleitung außer Haus zu gehen, sich mit ihr zusammen einen schönen Tag zu machen. Was er allerdings nicht ausstehen konnte, waren Gesellschaftsreisen. Womöglich noch mit dem Bus. Eingesperrt mit den lieben Mitmenschen, auf Gedeih und Verderb deren Konversation ausgeliefert. Am besten noch mit Reiseleiter. Der von besagtem Busausflug nach Maria Taferl hatte auch noch ein Mikrofon zur Verfügung gehabt und davon ausgiebigen Gebrauch gemacht. Zu allem Überfluss war der Obmann des Siedlervereins auch noch der irrigen Annahme gewesen, im Besitz einer schönen Singstimme zu sein. Mit Schaudern meldeten sich diese Erinnerungen beim Anblick des Brieföffners. Der Onkel schüttelte sich unmerklich und verdrängte dieselben. Drehte sich, das Stilett wie eine Taufkerze erhoben, zur Tante um und sah sie abwartend an. Wozu auch viele Worte machen, die Geste war ja nicht zu missdeuten. Der Onkel hatte beschlossen, dass es nun an der Zeit sei, das Einschreiben zu öffnen.
Der Nachname des Anwaltes war schier unaussprechlich. Er war sehr lang, begann mit Sz und endete mit szky. In Wien nicht ungewöhnlich. Wer Zweifel an der Durchmischung im K.-u.-k.-Vielvölkerstaat haben sollte, dem sei die Lektüre des Wiener Telefonbuches empfohlen, dachte der Onkel, als er den Absender des Briefes studierte. Der wies den Herrn Doktor der Rechte als Inhaber einer Kanzlei im zehnten Bezirk – in Favoriten also – aus. Adressiert war das Schriftstück an den Onkel Franz persönlich, der Herr Brandecker hatte sich demnach einer Fahrlässigkeit im Amt schuldig gemacht, als er die Tante dafür hatte unterschreiben lassen. Diesen Gedanken teilte er seiner Frau mit, welche darauf ebenso scherzhaft antwortete: „Wirst schon nichts angstellt haben, oder? Jetzt mach schon auf.“ Er setzte den Brieföffner aus Maria Taferl am rechten oberen Eck des Umschlags an und begann denselben betont langsam aufzusäbeln. Zog daraufhin das zweifach gefaltete Schriftstück heraus und strich es bedächtig auf dem Küchentisch glatt. Erst als er seine Lesebrille abgenommen, sie mit dem Zipfel seiner Strickweste ausgiebig geputzt und wieder aufgesetzt hatte, begann er zu lesen. „Sehr geehrter Herr …, und so weiter, aha, mhm, … teilen wir Ihnen mit, mhm, ach so, … zur Verwaltung des Nachlasses … auweh!“ – „Jetzt sag schon, Franzl, was steht denn drin?“ Der Onkel nahm die Brille ab, legte den Brief zur Seite und gab nun seiner Frau Auskunft über das eben Gelesene. „Der Hubert, du kennst ihn, glaub’ ich, gar nicht, ist gestorben, in Wien. Eher weitschichtig verwandt. Seine und meine Oma waren Schwestern. Somit ein Großcousin, oder? War schon länger in einem Pflegeheim und ich wär’ jetzt sein letzter lebender Verwandter. Hab’ ihn ja selbst kaum gekannt und sicher vierzig Jahre nimmer gesehen. Na, und der Herr Anwalt schreibt, dass ich jetzt nach Wien fahren müsst’, wegen dem Nachlass.“
„Oje, Franzl“, war die Reaktion der Tante und bezog sich einerseits auf den Todesfall an sich und andererseits auf die Notwendigkeit der Reise, weil sie wusste nur zu gut, dass ihr Gatte so gar nicht gern fortfuhr, „wann müssen wir denn dann dahin?“ Bereits Montag in einer Woche wäre der Termin angesetzt, antwortete ihr der Onkel Franz. Und eben an diesem Tag hatte aber die Tante schon der Mitzi, einer betagten Verwandten, versprochen, sie zum Arzt zu begleiten. Was sich aber sicher verschieben ließe. Das komme gar nicht infrage, bestimmte der Onkel darauf, dann fahre er eben alleine. Nicht, dass er seine Frau nicht gerne dabei gehabt hätte. Nur wusste er genau, dass ihn die aufgezwungene Reise übellaunig machen und die Tante notgedrungenerweise dabei einen Teil seines Grants abbekommen würde. Weder könne man die Mitzi alleine zum Doktor gehen lassen noch verantworten, die angesetzte Untersuchung zu verschieben, argumentierte er. Und das Fahrgeld nach Wien und zurück wäre schon für einen teuer genug.
Ersteres sah die Tante ein, die Fahrtkosten betreffend vermeinte sie, eine Lösung zu haben. Vor Tagen wäre eine Werbung ins Haus geflattert, die eine Neuerung im Personenverkehr anpries. Fernbusse führen nun regelmäßig unter anderem nach Wien, und das für unglaublich günstige neunzehn Euro. Das wär’ doch was. „Ja freilich, so weit käme es noch“, erwiderte der Onkel Franz, „ich mit dem Bus, auf gar keinen Fall.“ Wo denn der Unterschied zum Zug sei, wollte seine Frau wissen, obwohl sie die Antwort kannte. Denn die wenigen Busreisen der Vergangenheit hatten – wie schon erwähnt – beim Onkel eine tiefe Abneigung für dieses Transportmittel hinterlassen. Im Zug hingegen wäre man seiner Erinnerung nach ein klein wenig unabhängiger, mobiler und auch anonymer. Dieser Überzeugung war der Onkel, wenngleich er schon des Längeren nicht mehr mit der Bahn gereist war. So war die Entscheidung also gefallen und er würde gleich morgen beim Bahnhof vorbeiradeln, um sich nach der geeigneten Zugverbindung zu erkundigen.
Nun saß er also im Regionalexpress, der ihn seinem Ziel, der Bundeshauptstadt, ein Stück näher bringen sollte. Der Onkel Franz hoffte das – nämlich im richtigen Zug zu sitzen – zumindest. Seine diesbezüglichen Recherchen hatten sich zwar nicht als schwierig, dennoch aber als nicht gerade vertrauenerweckend erwiesen.
Wie geplant war er am Tag nach Erhalt des Einschreibens zum Bahnhof gefahren. Nicht mit dem Rad, wie er es vorgehabt hatte, sondern mit dem Moped. Die Puch MS 50 holte der Onkel aus der Remise, wenn ihm der Weg aufgrund der tatsächlichen Länge oder der persönlichen Tagesverfassung mit dem Fahrrad zu mühevoll erschien. Letzteres war an jenem Tag der Fall, sein Stammtischaufenthalt am Vorabend war länger als üblich ausgefallen. Er liebte seinen „Hühnerstauber“, wie das Gefährt umgangssprachlich auch genannt wurde. Einer Theorie zufolge war dieser Kosename aufgrund der Tatsache entstanden, dass das laute Knattern des Zweitakters bestens dazu geeignet war, friedlich pickende Hühner aufzuscheuchen, zu „verstauben“. Eine andere, wenn auch ähnliche, führte zum Vorgänger des Mopeds, dem Fahrrad mit Hilfsmotor zurück. Wenn auch heutzutage Heerscharen von Rentnern mit Omnipräsenz auf den Straßen die Erfindung des E-Bikes feiern, neu ist die Idee nicht. Bereits 1938 entwickelte der Österreicher Anton Fuchs den nach ihm benannten Hilfsmotor, der in der Folge an Fahrrädern verschiedenster Marken zum Einsatz kam. Ein springender Fuchs zierte das Emblem des Aggregats und Besitzer derartig auffrisierter Gefährte nannten sie liebevoll „Fuchserl“. Und da der Fuchs von jeher der natürliche Feind des Huhnes ist, soll die Bezeichnung „Hühnerstauber“ hier ihren Ursprung haben.
Wie dem auch sei, der Onkel erreichte damit also den Bahnhof und stellte das Moped unmittelbar vor dem Eingang zum Schalter ab. Er wollte es im Blick behalten, da das Lenkerschloss kaputt war. Ob dieses unvorschriftsmäßige Parken der Grund war oder einfach die Chemie zwischen dem Onkel Franz und dem Herrn Fahrdienstleiter nicht gestimmt hatte, wir wissen es nicht. Auf jeden Fall gestaltete sich die Konversation der beiden von Anfang an schwierig.
„Montag übernächste Woche bräucht’ ich einen Zug auf Wien, gibt’s da was?“, war des Onkels Eröffnungsfrage. Selbstverständlich gebe es Züge nach (der Uniformierte betonte dieses „nach“) Wien, jede Menge sogar. Man müsse nur das Datum und die gewünschte Tageszeit der Reise exakter benennen, dann könne er weiterhelfen. Ob der Onkel nicht zu Hause und in aller Ruhe sich die Verbindung selbst heraussuchen wolle? Die entsprechende Internetseite wäre sehr einfach zu bedienen. Dieses damit verbundene grundsätzliche Voraussetzen, jedermann habe Internet, war dem Onkel sofort ein Dorn im Auge, was er der Amtsperson auf – seiner Meinung nach – höfliche und sachliche Art mitteilte. „Kein Internet?“, replizierte diese leicht herablassend, „wohnen S’ recht exponiert oder warum haben S’ keines?“
Das war nun genau jene Art, mit der man beim Onkel Franz nicht allzu gut ankam. „Aber nein“, antwortete er sodann auch ruhig, jedoch in einem Ton, der sich automatisch jede weitere süffisante Entgegnung verbietet, „meine Wohnlage ist schon in Ordnung, ich denke nur recht exponiert. Und jetzt schaun Sie bitte für mich, wann am Montag, den zwanzigsten, am Vormittag ein Zug auf (jetzt war er es, der dieses Wort betonte) Wien geht. Vor halb elf möcht’ ich ankommen. Ist das möglich?“ Wer den Onkel Franz kennt, weiß, dass dies eine für ihn ungewöhnlich lange Rede gewesen war. Meist beschränkt er sich auf knappe Entgegnungen und kurze Sätze. Hier aber war ihm daran gelegen gewesen, seinen Standpunkt unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen und weitere Umwege, die der Dialog noch hätte nehmen können, von vornherein zu unterbinden. Was auch gelang. Ohne noch ein Wort zu entgegnen, hatte sich der Bahnbedienstete seinem Bildschirm zugewandt, das Gewünschte herausgesucht und dem Onkel mit einem leidlich höflichen „Bitteschön“ einen Ausdruck desselben überreicht. Nachdem dieser die ebenso höflich gestellte Frage, ob er denn gleich für die vorgeschlagene Verbindung eine Karte lösen möchte, bejaht hatte, wurde auch diese Transaktion erfolgreich abgeschlossen. Natürlich hatte sich der Onkel vorm Schalter nicht die Blöße gegeben, die Daten der Reise näher zu studieren oder gar diesbezüglich Fragen an sein Gegenüber zu richten. Erst zu Hause hatte er Zug- und Bahnsteignummer sowie Umsteigezeiten und -orte widerwillig einer eingehenden Untersuchung unterzogen. Nicht, dass er grundsätzlich mit dergleichen überfordert gewesen wäre. Es verhielt sich vielmehr so, dass er jede von außen aufgezwungene Abänderung seiner gewohnten Routinen nicht mochte. Und Reisen schon gar nicht.
Schon auf dem Bahnsteig war der Onkel Franz erstaunt gewesen, was da bereits um sechs Uhr früh so los war. Einer seiner Nachbarn, der aufgrund seiner Schichtarbeit um diese Zeit schon oder noch auf war, hatte ihn zum Bahnhof gefahren. Da dachte der Onkel noch, er würde dort dann wohl alleine mit seiner ledernen Tasche in der Hand auf den Frühzug warten. Aber weit gefehlt. Allerlei Leute bevölkerten schon Vorplatz und Halle. Hauptsächlich jüngere Menschen, wohl Schüler. Bei den Reisenden mittleren Alters vermutete der Onkel berufliches Pendeln. Deren Gesichtern waren Müdigkeit und ein gewisser Unwillen der frühen Stunde gegenüber anzusehen. Dafür konnte er Verständnis aufbringen, er war selbst kein Morgenmensch.
Was den Onkel Franz jedoch erstaunte, war das Verhalten der Jungen. Angesichts der vielen Jugendlichen hatte er schon gar arge Lärmbelästigung auf der Fahrt befürchtet, dem aber war nicht so. Weder auf dem Bahnsteig, während sie auf die Einfahrt des Regionalzuges warteten, noch später im Abteil – hier war der Onkel von ihnen regelrecht umzingelt – gab das Jungvolk nennenswerte Geräusche von sich. Er hatte laut geführte, alberne Unterhaltungen zwischen den Schülern erwartet, schrilles Gekicher und die eine oder andere kleine Zankerei. Das hätte er dem Alter entsprechend als normal erachtet, der frühen Pubertät, in der die meisten wohl gerade steckten, angemessen. Und hätte sich auch nicht wirklich daran gestört. Seine oft zur Schau gestellte leicht grantelnde Art war zur Gewohnheit gewordenes Gehabe, das seinem Wesen gar nicht so sehr entsprach. Gerade für die Jugend brachte er weitaus mehr Verständnis auf als die meisten seiner Generation.
Nicht verstehen allerdings konnte er das, was sich ihm nun hier bot. Beinahe unheimlich still war es im Abteil. Denn so gut wie jeder der Buben und Mädchen hatte kleine Stöpsel im Ohr stecken, deren Kabel mit flachen Geräten verbunden waren, die sie in den Händen hielten. Darauf war mit leicht gesenktem Kopf ihr Blick geheftet und darauf huschten Daumen und Zeigefinger in schnellen Wisch- und Tippbewegungen herum. Die einzigen Geräusche – abgesehen von gelegentlichem Hüsteln und Räuspern – waren Signale verschiedenster Art, seltsame Töne, die sich in einer gewissen Regelmäßigkeit wiederholten. Da gab es Dingdongs und Plingplings, Harfen- und Klopftöne und einen – der einzige, der den Onkel zum Schmunzeln brachte – Ton einer alten Autohupe. Was ihn weniger belustigte als erschreckte, war aber die gleichförmige Teilnahmslosigkeit der Jugendlichen. Und noch bevor sich diesbezüglich Vorurteile bei ihm bilden konnten, erblickte er am Ende des Waggons etliche der vorhin erwähnten Pendler gesetzten Alters, deren Verhalten dem der Schüler aufs Haar glich. Der Onkel kam sich vor, als wäre er zu Besuch auf einem anderen Planeten, dessen Sitten und Gebräuche ihm vollkommen fremd sind.