Über das Buch:
Für die junge, introvertierte Telegrafistin Grace ist die Frauenkolonie von Harpers Station Heimat und Zufluchtsort zugleich. Als sie über die Telegrafenleitung die Bekanntschaft von Amos, einem netten Kollegen, macht, gerät ihr zurückgezogenes Leben in Bewegung.
Doch gerade, als Grace zu hoffen beginnt, dass das Leben noch etwas Glück für sie bereithält, zieht eine ernstzunehmende Bedrohung am Himmel über Harpers Station auf: Ein alter Feind nimmt ihre Spur wieder auf und bedroht das Leben von Grace und ihren Freunden. Als Amos davon erfährt, macht er sich auf den Weg, um der Frau, die er noch nie gesehen hat, beizustehen. Aber kann er, der brillentragende, fahrradfahrende Telegrafist, der mehr Intelligenz als Muskeln besitzt, Grace der Helfer sein, den sie jetzt braucht?
Über die Autorin:
Karen Witemeyer liebt historische Romane mit Happy-End-Garantie und einer überzeugenden christlichen Botschaft. Nach dem Studium der Psychologie begann sie selbst mit dem Schreiben. Zusammen mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie in Texas.
Kapitel 7
Helen Potter strömte mit den anderen Frauen, die sich zur Stadtversammlung eingefunden hatten, in die Kirche. Sie setzte sich in die Nähe des Altarraumes, immer darauf bedacht, Betty Cooper, ihre Arbeitgeberin, zwischen sich und dem Marshal zu haben, der an der Tür Wache stand. Mit Betty als Puffer würde sie ihm nicht in die Augen schauen müssen.
Malachi Shaw hatte zwar bewiesen, dass er zu der anständigen Sorte Männer gehörte, doch Helen fühlte sich in seiner Gegenwart immer noch nicht wohl. Tatsächlich fühlte sie sich in der Gegenwart von Männern niemals wohl. Den meisten gegenüber spürte sie sogar eine starke Abneigung.
Als sie vor einem Jahr nach Harpers Station gekommen war, war es ihr wie der Himmel auf Erden erschienen. Es hatte keinen einzigen Mann gegeben. Es war ihr egal gewesen, wie schwer die Arbeit auf der Hühnerfarm war. Denn keinen Mann zu sehen, das war für sie gleichbedeutend mit keine Angst zu haben und sich keine Sorgen darüber machen zu müssen, woher der nächste Schlag kommen würde. Damals hatte sie sich in Harpers Station keine Gedanken darüber machen müssen, wie sie es vermeiden konnte, den Weg eines Mannes zu kreuzen. Sie hatte keine Furcht davor haben müssen, die falschen Dinge zu sagen. Sie hätte nur zu gerne für den Rest ihres Lebens Hühnermist mit den Händen geschaufelt, wenn das bedeutet hätte, nie mehr einen Mann sehen zu müssen.
Doch die guten Dinge in ihrem Leben schienen nie lange anzudauern und das Paradies in Harpers Station bildete da keine Ausnahme. Die Gründerin der Stadt, Emma Chandler, hatte den Mann geheiratet, der ihr vor einigen Monaten geholfen hatte, den Gesetzlosen zur Strecke zu bringen, der Harpers Station bedrohte. Das bedeutete, dass es in der Stadt nun einen männlichen Bewohner gab. Einen dauerhaften Bewohner. Einen männlichen, dauerhaften Bewohner mit Stimmrecht. Und Emma war nicht die einzige Abtrünnige.
Victoria Adams, eine der vehementesten Anhängerinnen eines männerfreien Lebens – erfolgreiche Geschäftsfrau, Mutter und Mitbegründerin der Stadt –, gestattete es tatsächlich einem Mann, sie zu umwerben. Helen war am Boden zerstört gewesen, als sie davon erfahren hatte. Sie hatte Toris Unabhängigkeit immer bewundert und sie sich als leuchtendes Beispiel dafür vor Augen gehalten, was eine Frau ohne einen Mann an ihrer Seite erreichen konnte. Tori war Helens Inspiration gewesen. Bis sie zur Verräterin geworden war.
Es war, als würden sich die Frauen, mit denen sie sich eng verbunden fühlte, eine nach der anderen vor ihren Augen verwandeln, weil sie sich dem Einfluss von Männern öffneten. Natürlich, die Männer, die sie ausgewählt hatten, waren ehrenhaft und freundlich – bis jetzt –, doch es fühlte sich immer noch nach Verrat an.
Helen folgte Betty in eine der Reihen ganz nach vorne. Als sie sich setzte, schlüpfte Katie Clark neben sie und beugte sich zu ihr, um ihr ins Ohr zu flüstern.
„Hast du von dem neuen Mann in der Stadt gehört?“ Katie schien den neuesten Klatsch keine Sekunde länger für sich behalten zu können. „Ich habe gehört, dass Mr Shaw ihn ins Gefängnis gesteckt hat. Ich weiß nicht, was er getan hat, aber ich glaube, es hat etwas mit Grace zu tun. Ann Marie hat gesagt, dass Grace ins Café gekommen ist und für ihn ein Abendessen bestellt hat. Er ist anscheinend ein Freund von ihr.“ Die junge blonde Frau legte die Stirn in Falten. „Ich weiß zwar nicht, warum er im Gefängnis ist, wenn er ein Freund ist, aber das Treffen heute hat irgendetwas mit ihm zu tun.“
Betty hatte die Mädchen früher in die Stadt gebracht, damit sie vor der Versammlung noch Eier ausliefern konnten, was ihnen die Fahrt am nächsten Morgen ersparen würde. Helen hatte den Korb zur Pension gebracht, während Katie beim Café gewesen war. Dann hatten sie sich mit Betty und den anderen Frauen von der Farm bei Toris Geschäft getroffen und geholfen, den Rest abzuladen. Nun, Helen hatte beim Abladen geholfen. Katie war erst zurückgekommen, als die Arbeit schon fast erledigt gewesen war. Anscheinend war sie im Café in eine angeregte Unterhaltung vertieft gewesen.
Helen sah Katie missbilligend an. „Emma wird uns schon sagen, was wir wissen müssen. Es gibt keinen Anlass für Spekulationen.“
Katie schien Helens Rüge überhaupt nicht wahrzunehmen und plapperte einfach weiter. „Aber bist du denn gar nicht neugierig, was es mit dem Neuen auf sich hat und in welcher Beziehung er zu Grace steht? Sie hat noch nie von ihm gesprochen. Eigentlich hat sie noch nie etwas aus ihrer Vergangenheit erzählt. Er könnte ein alter Verehrer sein oder ein lange verloren geglaubter Bruder, der schon seit Jahren unermüdlich nach ihr sucht.“
„Oder er ist ein Hochstapler, der seine Beziehung zu Grace dafür nutzen will, sich bei uns einzuschleichen und uns das Geld aus den Taschen zu ziehen“, schnappte Helen böse.
Katie schüttelte den Kopf und eine allzu bekannte Traurigkeit legte sich auf ihre Züge. „Warum musst du immer das Schlimmste von Menschen denken?“
„Nicht von Menschen“, korrigierte Helen sie, während sie ihr Gesicht demonstrativ nach vorne wandte. „Nur von Männern.“
„Du weißt, dass das nicht normal ist, oder?“, flüsterte Katie.
Helen presste die Lippen zusammen. Sie hätte darauf ohnehin nicht geantwortet, doch dass gerade Emma Shaw nach vorne trat, gab ihr die perfekte Ausrede, um zu schweigen.
Normal? Wahrscheinlich nicht. Aber es war besser, klug zu sein als normal. Eine kluge Frau konnte sich selbst schützen, Konfrontationen aus dem Weg gehen, bevor sie geschahen, und so dem Unausweichlichen entgehen. Klugheit bedeutete Sicherheit. Und Sicherheit war das, was Helen erreichen wollte.
Katie war so jung, so naiv, so schrecklich romantisch. Sollte das Mädchen Harpers Station jemals verlassen, würde sie sicher innerhalb eines Monats von einem charmanten Mistkerl ausgenutzt und sitzen gelassen werden. Sie träumte von Märchen, von gut aussehenden Prinzen und galanten Rittern, wo sie doch eigentlich in einer Welt voller Klapperschlangen und Kojoten lebte. Helen mochte nur drei Jahre älter sein als Katie – fünfundzwanzig anstatt zweiundzwanzig –, doch was ihre Erfahrungen anging, war sie uralt. Und eben diese Erfahrungen sagten ihr, dass es nur zu Schwierigkeiten führen würde, sollte tatsächlich ein weiterer Mann hier in Harpers Station sein.
Alle wurden still, als Emma Shaw nach vorne trat und den Blick über die Versammelten schweifen ließ. „Danke, dass ihr gekommen seid, Ladys. Wie haben heute Abend etwas Wichtiges zu besprechen. Eine von uns wurde bedroht und wir wollen euch informieren, damit ihr Schutzmaßnahmen ergreifen könnt.“
Helen richtete sich auf, ihre Instinkte waren erwacht. Als sie nach Harpers Station gekommen war, hatte sie einen Eid geleistet – das hatten alle hier. Dass sie jeder Schwester zur Seite stehen würde, die Hilfe brauchte. Diese Gemeinschaft funktionierte, weil jede sich auf die andere verlassen konnte, die andere unterstützte, der anderen vertraute. Sie waren eine Familie. Und diese Familie hielt zusammen, egal was geschah.
„Grace Mallory hat uns gebeten, dass sie heute hier sprechen darf“, fuhr Emma fort. „Bitte schenkt ihr euer Ohr.“ Sie trat zur Seite und nickte ihrer Freundin in der ersten Reihe zu. „Grace?“
Die Telegrafistin erhob sich und trat langsam nach vorne, dann schlüpfte sie hinter das Podium und klammerte sich daran fest, als würde sie jeden Augenblick umfallen. Mit gesenktem Kopf richtete sie den Blick auf einen Punkt irgendwo weit vor der ersten Sitzreihe.
Helen wand sich vor Mitleid. Sie wusste, was es bedeutete, die Schatten dem Rampenlicht vorzuziehen. Den Großteil ihrer Kindheit hatte sie damit verbracht, möglichst unsichtbar zu sein. Hatte sich in dunklen Ecken versteckt und war kaum zu sehen gewesen. Das alles hatte sie aus Notwendigkeit und nicht aus Veranlagung getan. Ihr war klar, welche Überwindung es Grace kosten musste, vor eine Gruppe von über fünfzig Frauen zu treten, auch wenn es ihre Freundinnen und Vertrauten waren.
Grace räusperte sich und hob den Blick ein klein wenig. „Ein Mann namens Chaucer Haversham sucht mich seit etwa einem Jahr. Gestern hat mich die Nachricht erreicht, dass er herausgefunden hat, dass ich hier in Harpers Station bin.“ Sie warf einen schnellen Seitenblick zu Emma. „Ich habe angeboten, die Stadt zu verlassen, aber Emma und Malachi finden, dass ich nur hier in Sicherheit bin.“
„Du wirst nirgendwo hingehen, Gracie“, rief Henry Chandler aus der ersten Reihe. Alle in der Kirche nickten zustimmend, auch Helen.
„Danke“, murmelte Grace und ihre Wangen wurden rot. „Ihr seid so gute Freundinnen. Ihr habt keine Ahnung, was mir eure Unterstützung bedeutet.“ Endlich schien sie sich etwas aufzurichten und schaffte es auch, die versammelten Frauen anzuschauen. „Aber ihr müsst wissen, welche Gefahren auf euch zukommen. Ich habe zwar keinen Beweis dafür, aber ich bin vollkommen sicher, dass dieser Mann oder jemand, der für ihn gearbeitet hat, meinen Vater erschossen hat.“
Helen schnappte nach Luft. Ein Mörder?
Katie griff nach Helens Hand und drückte sie. Helen blickte ihre Freundin fest an und sie nickten sich zusichernd zu. Ja, sie würden aufeinander achtgeben.
„Ich habe etwas, das er haben will“, erklärte Grace. „Etwas, das sein Erbe in Gefahr bringt, da es rechtmäßig eigentlich seiner älteren Halbschwester gehört. Mein Vater wollte die entsprechenden Dokumente einem Pinkerton-Agenten übergeben, wurde aber auf dem Weg zu der Verabredung ermordet.“ Grace trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und ließ den Blick wieder sinken.
Hatte sie etwa mit angesehen, wie ihr Vater gestorben war? Helen biss sich auf die Unterlippe. Sie konnte sich so etwas Schreckliches gar nicht vorstellen. Sooft sie sich auch gewünscht hatte, ihr eigener Vater wäre tot, hätte sie seinem Sterben niemals zusehen können. Vor allem nicht, wenn es auf so grausame und gewalttätige Art und Weise geschehen war. Und wenn Grace ihren Vater geliebt hatte? Es musste unglaublich schmerzhaft gewesen sein.
Grace schien sich wieder gefasst zu haben und reckte erneut das Kinn. „Haversham besitzt eine Mine in Colorado und einige Pinkerton-Agenten stehen auf seiner Gehaltsliste, also weiß ich nicht, ob derjenige, mit dem mein Vater sich treffen wollte, ein Betrüger war oder ob er sich als vertrauenswürdig herausgestellt hätte. Malachi wird mir helfen, mit dem Leiter der Agentur in Philadelphia Kontakt aufzunehmen, um das herauszufinden. In der Zwischenzeit bitte ich euch, auf der Hut zu sein und jeden männlichen Besucher in Harpers Station zu melden.“
Katie sprang auf und riss Helens Hand mit sich. „Was ist mit dem Mann im Gefängnis?“
Graces Wangen wurden brennend rot, doch sie zuckte nicht zusammen. „Sein Name ist Amos Bledsoe. Er ist ein Freund, der gehört hat, dass ich in Schwierigkeiten bin, und gekommen ist, um zu helfen. Er bleibt vielleicht einige Tage hier, stellt aber absolut keine Bedrohung dar.“
Helen versteifte sich. Noch ein Mann in Harpers Station. Na wunderbar. Sie vermehrten sich wie die Karnickel.
Es war gut, dass die Farm fünf Meilen vor der Stadt lag. In den nächsten Tagen würde sie sich einfach weigern, die Auslieferungen zu übernehmen. Und dann hätte sich die Sache hoffentlich bald wieder erledigt.
„Mr Bledsoe stammt aus Denison und hat keinerlei Verbindungen zur Familie Haversham oder der Pinkerton-Agentur“, erklärte Grace. „Er ist einfach nur ein Freund und ich hoffe, dass ihr ihn als solchen willkommen heißt.“ Sie blickte sich im Raum um und sah den anderen Frauen tapfer in die Augen. „Hat jemand etwas dagegen, dass Mr Bledsoe einige Zeit hierbleibt?“
Helen rutschte unruhig auf ihrem Platz herum, sagte jedoch nichts. Sie wollte natürlich nicht, dass ein weiterer Mann sich hier aufhielt, hatte aber auch keine guten Argumente, um zu widersprechen. Die Tatsache, dass der Besucher Hosen trug, schien nicht auszureichen, um ihn aus der Stadt zu verbannen. Für Helen hätte das als Begründung ausgereicht, doch die anderen Frauen waren nicht so extrem in ihren Ansichten.
Oder vielleicht doch? Helens Herz schlug schneller, als Henrietta Chandler in der ersten Reihe aufsprang.
„Mir kommt es aber ziemlich komisch vor, dass dieser Kerl so schnell aufgetaucht ist, nachdem deine Freundin dir gestern Abend das Telegramm geschickt hat. Was, wenn er doch für diesen Haverdings arbeitet? Vielleicht war er derjenige, der dem reichen Kerl deinen Aufenthaltsort verraten hat.“
Gedämpftes Murmeln breitete sich in der Kirche aus und Helen hielt den Atem an. Bitte schickt ihn weg. Doch Grace schüttelte den Kopf und Helens Hoffnungen erstarben.
„Ich weiß, wer meinen Aufenthaltsort preisgegeben hat – eine Frau, die früher einmal mit meiner Mutter zusammengearbeitet hat. Sie hat mich in den letzten neun Monaten über alle Entwicklungen im Zusammenhang mit dem Tod meines Vaters und Mr Havershams Geschäft auf dem Laufenden gehalten. Haversham wird nicht lange gebraucht haben, um herauszufinden, dass ich Telegrafistin bei der Western Union bin. Danach muss er nur noch einen lokalen Telegrafisten auf seine Seite gezogen haben, der sich am Draht nach Hinweisen über meinen Aufenthaltsort umhört.“
Das Rot wich allmählich aus Graces Gesicht und ihre Haut nahm wieder ihre normale Farbe an, während sie mit ihren Erklärungen fortfuhr. „Ich hatte natürlich Sicherheitsvorkehrungen getroffen“, sagte sie. „Hatte mit keinem meiner alten Freunde in Denver Kontakt, nur mit der alten Freundin meiner Mutter in Colorado Springs. Ich habe sogar mein Kürzel geändert und persönliche Nachrichten nur nach Dienstschluss gesendet. Aber kein Plan ist wasserdicht und ich wusste, dass die Gefahr besteht, dass Haversham die Verbindung zwischen Rosie und mir erkennt. Ich habe ihr das Versprechen abgenommen, dass sie alle Informationen preisgeben soll, die Haversham haben will, sollte er ihre Familie bedrohen.“ Grace senkte den Blick und blinzelte mehrmals, um gegen die aufsteigenden Tränen anzukämpfen. „Ich wollte nicht, dass noch eine Familie so zerstört wird wie meine.“ Sie schniefte einmal, hob dann aber trotzig ihr Kinn. „Als ich Rosies Warnung erhalten habe, wusste ich genau, was geschehen ist, und ich kann ihr keinen Vorwurf machen. Mr Bledsoe hat die Warnung am Draht mitgehört und sich sofort auf den Weg hierher gemacht. Nicht viele Männer hätten ihre Arbeit und ihre familiären Verpflichtungen im Stich gelassen, um einer Freundin in einer weit entfernten Stadt beizustehen, doch Mr Bledsoe hat genau das getan. Ich denke, das zeigt seinen hervorragenden Charakter.“
Oder seine Fähigkeiten zur Manipulation. Helen biss sich auf die Innenseite ihrer Wange, damit die Bemerkung ihr nicht über die Lippen rutschte.
„Außerdem“, fuhr Grace fort, „haben Malachi und ich ihn befragt und ich bin überzeugt davon, dass er genau der ist, der er zu sein vorgibt. Er ist ein besorgter Freund, wie jede von euch. Und genau jetzt brauche ich jeden Freund, den ich haben kann.“
Jetzt fühlte sich Helen schuldig, dass sie sich den Hosenträger weggewünscht hatte. Ihre Schultern sanken, als Henry Chandler sich wieder setzte. Niemand sonst schien nach dieser flehentlichen Bitte weitere Einwände zu haben.
Grace verließ das Podium und Emma übernahm wieder, gab Anweisungen, wie man sich verhalten sollte, wenn man einen Fremden sah. Helen hörte nicht zu. Das brauchte sie nicht. Emma sagte immer die gleichen Dinge. Tut nichts, was euch in Gefahr bringen könnte. Stellt euch dem Eindringling nicht in den Weg. Lauft zu Malachi. Holt Hilfe und so weiter und so fort.
Anstatt zuzuhören, überlegte Helen, wie sie es schaffen konnte, den Problemen der nächsten Tage aus dem Weg zu gehen. Nicht, weil sie Grace nicht helfen wollte. Das wollte sie auf jeden Fall. Doch niemand erwartete, dass sie hier in der Stadt war. Immerhin arbeitete sie auf der Farm.
Helen richtete sich auf, als ihr eine Idee kam. Die Pekannussbäume bei der alten Hütte am Fluss südlich von Bettys Farm warfen langsam ihre Früchte ab, das hatte sie gesehen, als sie vor ein paar Wochen dort spazieren gegangen war. Es würde zwei oder drei Tage dauern, die Nüsse zu sammeln, da die Ernte dieses Jahr üppig zu werden schien.
Zum ersten Mal, seit sie in die Stadt gekommen war, hatte Helen einen Grund zu lächeln. Nicht nur, dass sie einen deutlichen Abstand zwischen sich und dem männlichen Eindringling bringen würde, indem sie auf der Farm blieb, sie konnte die Distanz auch noch vergrößern, indem sie sich um die Nussernte kümmerte.
Körbe voller Pekannüsse, um den Schurken zu entgehen – perfekt!
Kapitel 8
Grace konnte erst wieder durchatmen, nachdem die letzte Frau die Kirche verlassen hatte. Nur Emma und Victoria waren noch da und Grace wusste, dass sie sie nicht mit unbeantwortbaren Fragen belästigen würden. Würde Haversham ihnen etwas tun, um an Grace zu gelangen? Bitte, Herr, lass das nicht zu. Warum konnte sie nicht einfach die rechtmäßige Erbin kontaktieren und ihr die Dokumente zukommen lassen? Weil ich den Namen der Frau nicht kenne und auch nicht weiß, wo sie lebt. Warum hatte sie ihren Vater nicht gefragt, wo die Dokumente versteckt waren, bevor sie ihn hatte gehen lassen?
Diese Frage verfolgte sie immer und immer wieder. Sie hätte ihn bedrängen sollen, ihr die Details zu verraten, doch er war so fokussiert auf das Treffen mit dem Pinkerton-Agenten gewesen, dass er sich nicht auf ihre Fragen eingelassen hatte. Er war abgelenkt und reizbar gewesen, aber nur, weil er sie liebte und versuchte, sie zu beschützen und gleichzeitig seinem Gewissen zu folgen und das Richtige zu tun. Also hatte sie ihm einfach vertraut. Er war ihr Vater. Wenn er sagte, dass er die Beweise hatte, dann hatte er sie auch. Er hatte keinen Grund zu lügen. Es wäre sicherer für sie beide gewesen, wenn er alles hätte unter den Tisch fallen lassen.
Doch so ein Mann war ihr Vater nicht gewesen. Integrität hatte zu seinen hervorragendsten Eigenschaften gehört und hatte seine Gedanken und sein Handeln bestimmt. Er konnte Dinge, die getan werden mussten, genauso wenig ignorieren wie sie eine Nachricht am Draht. Beides erforderte eine Reaktion und die Mallorys reagierten.
„Geht es dir gut?“ Victorias sanfte Stimme riss Grace aus ihren Gedanken. Tori legte eine Hand auf Graces Schulter, ihre blauen Augen voller Mitgefühl.
Grace nickte und zwang sich zu einem Lächeln. „Niemand wollte, dass ich die Stadt verlasse, also denke ich, das Schlimmste ist überstanden.“
Emma trat an Graces andere Seite und hob ihre Brauen. „Du bist eine größere Optimistin als ich, wenn du wirklich glaubst, dass das Schlimmste vorbei ist. Wir wissen ja nicht einmal, was das Schlimmste ist, bis dieser Haversham, oder wen auch immer er engagiert hat, hier auftaucht.“
„Ich weiß nicht.“ Grace lachte selbstironisch auf. „Ich glaube, ich stelle mich lieber Haversham entgegen, als noch einmal vor so vielen Menschen zu sprechen. Da kann ich wenigstens meine Deringer benutzen.“ Sie klopfte auf die kleine Pistole, die in ihrem Holster rechts an ihrem Rock steckte – eine Waffe, ohne die sie niemals das Haus verließ. „All diese Augen, die mich angestarrt haben …“
Emmas Augen wurden vor Unglauben groß. „Du weißt doch, dass diese Frauen alle auf deiner Seite stehen!“
„Ja, aber nicht alle von uns haben deine Gabe der Leitung.“ Grace sah Emma fest in die Augen. „Ich habe immer beneidet, wie unbefangen du vor großen Gruppen sprechen kannst.“
Emma zuckte mit den Schultern. „Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ich stehe einfach auf und sage, was zu sagen ist.“
Grace lächelte. „Ich weiß.“ Emma führte die Stadt, leitete die Bank und jedes andere Projekt, das Aufmerksamkeit brauchte. Ihre verblüffenden Fähigkeiten wären lästig gewesen, wäre sie nicht auch die mitfühlendste und liebevollste Person gewesen, die Grace jemals kennengelernt hatte.
„Ben kommt morgen vorbei und liefert Waren“, sagte Tori, während die drei durch die Kirchentür gingen. „Ich sage ihm, dass er in der Gegend die Augen offen halten soll. Wenn ihm irgendetwas verdächtig vorkommt, wird er uns sofort informieren.“
Grace klammerte sich am Geländer fest, als sie die Treppe nach unten ging. In den letzten Monaten hatte sie sich gestattet, sich sicher zu fühlen. Sie hatte zu träumen gewagt, ein normales Leben führen zu können. Vielleicht sogar mit einem Verehrer – der weit genug entfernt war, um nicht mit ihren Problemen in Kontakt zu kommen.
Und jetzt so etwas. Sie kam sich vor wie im Auge eines Wasserstrudels, der alle Freunde um sie herum mit in die Tiefe zu reißen drohte. Doch ohne deren Hilfe würde sie erst recht ertrinken.
Grace setzte ein tapferes Lächeln auf. „Danke, Tori. Mr Porters Unterstützung zu haben, wird ein Segen sein.“
Emma legte ihren Arm um Graces Schultern und Grace wandte sich ihr zu. „Du bist nicht allein, Grace. Du hast Verbündete. Eine ganze Stadt voll. Und wir werden dir zur Seite stehen, egal was kommt.“
Grace blinzelte peinlich berührt die Tränen zurück, die ihr die Sicht nehmen wollten, und senkte den Kopf, als sie sich kurz in Emmas Umarmung lehnte. „Danke.“ Dann blickte sie Tori an. „Ich könnte mir keine besseren Freundinnen wünschen.“
„Du warst auch für uns da“, sagte Tori voller Überzeugung. „Wir erwidern einfach deinen Gefallen.“
Emma nickte. „Das tun Schwestern eben so.“ Sie drückte Grace noch einmal, dann ließ sie sie los, als hätte diese einfache Aussage Grace nicht gerade fast den Boden unter den Füßen weggerissen.
Schwestern?
Sie hatte nie eine Schwester gehabt. Oder einen Bruder. Und jetzt, wo Graces Probleme ihrer aller Leben bedrohten, standen diese Frauen ihr bei und schenkten ihr eine Unterstützung, die weit über jede Freundschaft hinausging. Nur Gott konnte solchen Segen bringen.
„‚Ein Freund liebt allezeit und ein Bruder wird für die Not geboren‘“, zitierte Grace leise den bekannten Vers aus dem Buch der Sprichwörter, der ihr noch nie so zu Herzen gegangen war wie am heutigen Tag.
Emma drehte sich auf der Treppe zu ihr um und grinste. „Wie Tante Henry sagen würde, mach aus dem Bruder eine Schwester und du hast ein Versprechen, an dem du dich festhalten kannst.“
Grace schüttelte belustigt den Kopf, als sie die Stufen hinunterging. Sie hörte die Worte förmlich über Henrietta Chandlers Lippen kommen. Es hätte Grace nicht überrascht, wenn Tante Henry, eine erklärte Frauenrechtlerin, heimlich an einer Version der Heiligen Schrift gearbeitet hätte, in der sie alle Brüder und Jünger durch das weibliche Äquivalent ersetzte.
„Obwohl“, warf Tori ein und grinste frech, „Grace scheint auch einen brüderlichen Freund zu haben, der ihr zur Seite steht.“
„Das stimmt.“ Emma drängte Grace in die Mitte und hakte sich bei ihr unter, sodass es keine Chance zur Flucht gab.“ Warum habe ich bisher noch nie etwas von diesem Mann gehört? Du hast nicht einmal gestern Abend etwas über ihn gesagt, als du bei Malachi und mir warst.“
Grace starrte zu Boden. Er war so trocken, dass er sie hätte aufsaugen können, wenn sie es in diesem Moment nur irgendwie geschafft hätte, sich zu verflüssigen. Wie sollte sie erklären, dass sie über Monate hinweg eine äußerst persönliche Unterhaltung mit einem vollkommen Fremden geführt hatte? Dass sie bis heute nicht einmal seinen echten Namen gekannt hatte? Bestimmt würden ihre Freundinnen sie für eine Närrin halten. Doch sie waren ihre Schwestern. Und Schwestern teilten Geheimnisse.
„Amos und ich korrespondieren seit einigen Monaten miteinander. Abends, über den Draht. Gestern Abend haben wir uns auch gerade unterhalten, als die Nachricht aus Colorado kam. Er hat mitgehört. Ich hätte aber nie gedacht, dass er herkommen würde. Wir haben uns noch nie gesehen.“
Emma zog Grace an sich. „Und trotzdem ist er hergeeilt, um dich zu retten.“ Sie schaute an Grace vorbei zu Tori. „Wenn du mich fragst, liegt da viel mehr als brüderliche Freundschaft in der Luft.“
Hitze stieg in Graces Wangen auf. Doch auch wenn Emmas Kommentar sie peinlich berührte, konnte sie nicht umhin, die nervöse Aufregung in ihrer Brust zu spüren. Sie hatte schon den gleichen Gedanken gehabt. Immerhin hatte Amos zugegeben, sich für sie zu interessieren, als sie ihn vorhin befragt hatte. Er wollte sie besser kennenlernen. Das bedeutete doch, dass sie eine gemeinsame Zukunft haben könnten?
„Das glaube ich auch“, sagte Tori. „Ben hat in den ersten Monaten unzählige Ausreden gefunden, um mich zu besuchen, bis ich ihm schließlich erlaubt habe, um mich zu werben. Er hat gesagt, er wollte mir die Möglichkeit geben, mich an ihn zu gewöhnen. So, wie man sich einem Wildpferd auch erst nach und nach geduldig nähert, bevor man es zähmen kann.“
Grace lachte laut auf. „Er hat dich mit einem Pferd verglichen?“
Tori lächelte schief. „Ich habe mich daran gewöhnt, an seinen Worten vorbei auf die eigentliche Bedeutung seiner Aussagen zu schauen. Sonst wäre ich schon Hunderte Male beleidigt gewesen, wenn er mich mal wieder mit irgendeinem Tier verglichen hat, sei es Pferd oder Frosch oder Huhn …“
„Tja“, sagte Emma und beugte sich vor. „Ben liebt seine Pferde, also ist es wahrscheinlich das schönste Kompliment, das er dir machen kann.“
„Stimmt.“ Tori legte den Kopf in den Nacken und schloss genüsslich die Augen, um die warmen Sonnenstrahlen zu genießen. Dann wandte sich die Ladenbesitzerin wieder Grace zu. „Kein Mann ist perfekt“, erklärte sie. „Aber wenn er dich liebt und respektiert und dich freundlich behandelt, macht das die Mängel mehr als wett.“
„Es sei denn, ihr streitet euch“, sagte Emma. „Dann werden sie umso größer.“
Grace und Tori glucksten. Es war wohlbekannt, dass die Stadtgründerin und der Marshal öfter Meinungsverschiedenheiten darüber hatten, wie die Dinge in der Gemeinde laufen sollten. Meinungsverschiedenheiten, die mitunter auch etwas ungestümer werden konnten.
„Natürlich ist das eine Sache des Temperamentes.“ Emma ignorierte ihr Lachen und erhob ihre Stimme wie eine Lehrerin, ebenso den Zeigefinger. „Diese Mängel schrumpfen aber auf nicht mehr wahrzunehmende Größe zusammen, wenn er dir ein Kompliment macht oder dich in die Arme nimmt. Oder dich küsst.“
Grace nagte an ihrer Unterlippe. Sie hatte keine Ahnung, wie Mr Bledsoes „Mängel“ aussahen. Sie kannte ihn ja gar nicht. In den letzten Monaten hatte sie sich ein Ideal erschaffen, das mit der Realität aller Wahrscheinlichkeit nach nicht sehr viel gemein hatte. Ein Ideal, dem kein Mann standhalten konnte.
Sie hatte sich einen großen Mann mit schwarzem Haar und von der Arbeit im Freien brauner wettergegerbter Haut vorgestellt, was absolut unsinnig war, da sie ja wusste, dass Mr A für die Western Union arbeitete. Trotzdem hatte sie das nicht davon abgehalten, von seiner Männlichkeit und seinem Selbstvertrauen zu träumen. Von einem Mann, dessen Äußeres sie in ihren Bann zog. Ein Mann, der Ähnlichkeit mit Malachi Shaw oder Benjamin Porter besaß.
Amos Bledsoe war allerdings nicht mit solchen Attributen gesegnet. Er hatte mit Sicherheit seine eigene, viel subtilere Art der Schönheit, die vor allem von seinen Augen ausging – klare blaue Augen, die jedoch nicht hart, sondern unglaublich intelligent wirkten. Sie waren ehrlich und schienen direkt in sie hineinschauen zu können. Selbst durch seine Brille hindurch. Sein Charakter war genauso freundlich und aufgeweckt, wie sie ihn am Draht kennengelernt hatte. Und die Tatsache, dass er ihretwegen hierhergeeilt war, ließ ihr Herz flattern.
Doch sie hatte auch ihre Zweifel. Welcher Mann ließ schon seinen Job und seine Familie zurück, um zu einer Frau zu reisen, die er noch nie zuvor gesehen hatte? Es schien ihr ein wenig extrem. Vielleicht investierte er etwas zu viel in diese Beziehung. Würde es sie in Gefahr bringen, wenn sie ihm gestattete hierzubleiben? War nicht diese Sängerin in Tarrant County von einem verblendeten Verehrer getötet worden? Der Draht hatte nach diesem Vorfall wochenlang vor Tratsch geglüht.
Grace schüttelte den Kopf. Jetzt ging ihre Fantasie mit ihr durch. Der Mann, den sie vorhin in der Zelle gesehen hatte, wirkte vollkommen normal. Wie ein Gentleman, ernsthaft und aufrichtig, was seine Absichten anging. Absichten, die ihr Herz immer noch schneller schlagen ließen, wenn sie an sie dachte, auch wenn er so gar nicht ihren Vorstellungen entsprach.
Plötzlich traf sie ein Gedanke. Was waren seine Vorstellungen von ihr gewesen? Und wie sehr entsprach sie seinen Wünschen? Hatte er sie sich als hübsche Blondine vorgestellt, wie es Tori war, oder mit frechen Locken und grünen Augen wie Emma? Mit Sicherheit hatte er keine winzige, schüchterne, verschlossene Frau erwartet, der ein Bergwerksmagnat auf den Fersen war.
Ein Seufzen entrang sich ihren Lippen. Sie war nicht gerade ein Hauptgewinn. Doch er hatte gesagt, dass er bleiben wollte. Dass er froh war, hergekommen zu sein. Selbst, nachdem sie ihn in Malachis Gefängniszelle hatte sitzen lassen. Das zählte doch mehr als breite Schultern und muskulöse Arme.
Kapitel 9
„Bertie bereitet bei uns einen Übernachtungsplatz für Sie vor“, sagte der Marshal, als er Amos’ Zellentür aufschloss. „Die Pension ist voll und einige der Frauen dort würden einen Mann sowieso nicht in ihrer Nähe haben wollen, also dachten wir, es ist am besten, wenn Sie bei uns unterkommen.“
Amos setzte seinen Hut auf und trat in die Freiheit hinaus. Seltsam, wie frisch die Luft auf der anderen Seite der Gitterstäbe wirkte. Und er war nur ein paar Stunden in der Zelle gewesen. Wie musste es sich für jemanden anfühlen, der tatsächlich für ein Verbrechen bestraft worden war?
Amos rollte seine steifen Schultern und legte den Kopf zur Seite, als Malachi Shaw die Tür hinter ihm schloss. Die Unsicherheit, wie die Frauen auf der Stadtversammlung sich entscheiden würden, hatte ihm ganz schön zugesetzt.
„Bertie ist eine gute Köchin“, fuhr der Marshal fort, als müsste er noch mehr Überzeugungsarbeit leisten, „und ich habe Henry schon gesagt, dass sie auf keinen Fall wieder eine Waffe auf Sie richten darf.“
Moment. Diese Namen. Er sollte doch nicht etwa bei der Revolver-Oma und der Plätzchen-Oma unterkommen?
Der Schock schien ihm ins Gesicht geschrieben zu sein, denn Shaw lachte laut auf und klopfte ihm auf den Rücken. „Machen Sie sich keine Sorgen. Emma und ich werden auch da sein. Wir passen auf Sie auf.“
Er zwinkerte, doch auf Amos wirkte diese Stichelei alles andere als entspannend. Er hatte noch allzu genau den stechenden Blick der Revolver-Oma vor Augen. Dieser Blick hatte ihn förmlich herausgefordert, ihr einen Anlass zum Schießen zu geben.
Amos unterdrückte ein Schaudern und warf einen schnellen Blick zurück in die Zelle. „Eigentlich war diese Pritsche gar nicht so schlecht“, kommentierte er. „Wenn Sie die Tür auflassen, könnte ich hierbleiben.“ In sicherem Abstand zu den verrückten Omas.
„Nein. Wir brauchen Platz für die echten Kriminellen.“ Shaw öffnete die oberste Schublade seines Schreibtisches und verstaute den Schlüssel. „Außerdem wollen Sie sich vielleicht bei uns mit Miss Mallory treffen. Sie können eine Dame nicht in einer Zelle umwerben.“
Amos durchbohrte den Marshal mit seinem Blick. Hatte er nur so getan, als verstünde er nichts, während Grace und er sich mit Morsezeichen unterhalten hatten?
Shaw grinste. „Ihre Absichten sind ziemlich offensichtlich, Bledsoe. Vor allem hier.“ Er schloss die Schublade wieder und lehnte sich dann an seinen Schreibtisch. „Es gibt nur einen Grund, warum sich ein Mann in Harpers Station aufhält: um das Herz einer Frau zu gewinnen. Einer ganz speziellen Frau. Bisher haben es nur zwei geschafft, diese Meisterleistung zu vollbringen, aber Ben Porter und ich sind der lebende Beweis, dass es möglich ist, wenn man es nur will.“
Wollte er es denn wirklich? Genug, um unter dem gleichen Dach wie die Revolver-Oma mit ihrem riesigen Gewehr zu schlafen?
Die Antwort war ihm klar, als sich die Gefängnistür öffnete und einige Frauen hereinkamen. Eine ging direkt auf Shaw zu und ließ sich seinen Arm um die Taille legen, als sei er das fehlende Accessoire zu ihrem Kleid. Doch die andere? Sie blieb zögernd am Eingang stehen, wo das Licht der frühen Abendsonne goldene Strähnen in ihr Haar zauberte. Amos’ Herz blieb kurz stehen, dann klopfte es in doppelter Geschwindigkeit weiter.
Oh ja. Er wollte es auf jeden Fall.
Bewaffnet oder nicht – Revolver-Oma, ich bleibe hier!
Amos nahm den Hut vom Kopf und nickte der zarten Frau zu, die jetzt nur noch eine Armlänge von ihm entfernt stand. „Miss Mallory. Schön, Sie wiederzusehen.“
Sie nickte zur Antwort und kurz verdeckten ihre Wimpern die Wärme ihrer wunderschönen braunen Augen. „Mr Bledsoe.“ Langsam hoben sich ihre Lider wieder und er hätte schwören können, dass die Temperatur im Raum um ein paar Grad anstieg. „Es tut mir leid, dass ich Sie ohne weitere Erklärungen hiergelassen habe. Ich hoffe, Sie können mir meine Unhöflichkeit verzeihen.“
„Das Essen, was Sie mir geschickt haben, war schmackhaft“, erwiderte er, noch nicht gänzlich dazu bereit, ihr zu vergeben – zumindest nicht offiziell. „So konnte ich die Zeit überbrücken.“
Bestimmt hatte sie ihn auch hier schmoren lassen, um herauszufinden, wie ernst er es wirklich meinte. Verständlich. Sie machte sich sicher darauf gefasst, dass es in Harpers Station bald sehr stürmisch zugehen würde, und musste wissen, auf wen sie sich dann verlassen konnte. Doch er konnte nicht zulassen, dass sie ihn für einen Weichling hielt, der sich von einer Frau schikanieren ließ. Sie brauchte einen starken Mann an ihrer Seite, den sie respektieren und auf den sie sich verlassen konnte. Für seine Mutter und seine Schwester war er in den letzten zehn Jahren dieser Mann gewesen, seit sein Vater in dem Sommer starb, als Amos achtzehn geworden war. Und jetzt wollte er dieser Mann für Grace Mallory sein. Wenn sie ihn ließ.
„Haben die Bewohnerinnen zugestimmt, dass ich bleiben kann, oder sollte ich mich auf eine Horde Rock tragender Eiferer einstellen, die sich mir mit Mistgabeln und Fackeln entgegenstellen, sobald die Sonne untergeht?“
Graces Lippen zuckten und sie schien ihre Belustigung unterdrücken zu müssen, als die Stimme des Marshals ertönte und den Augenblick ruinierte.
„Keine Mistgabeln, Bledsoe. Unsere Frauen benutzen Blei.“ Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. „Habe ich ihnen persönlich beigebracht.“
„Jetzt sei aber still“, verlangte die Brünette und stieß Shaw den Ellenbogen in die Rippen, was er allerdings nicht zu merken schien. „Es gibt keinen Grund, unserem Gast zu drohen.“
Mrs Shaw strahlte Amos an und versuchte, sich von ihrem Mann loszumachen. Er ließ es nicht zu. Sie sah ihn schräg an, bevor sie sich wieder Amos zuwandte.
Ein Grinsen verzog das Gesicht des Marshals, sobald sich seine Frau abgewandt hatte. Amos musste sich zusammenreißen, nicht zurückzugrinsen. Er biss sich auf die Innenseite seiner Wange und hielt seine Miene so ernst wie möglich, als Emma Shaw ihm seine Sicherheit beteuerte.
„Sie dürfen gerne so lange hier in Harpers Station bleiben, wie Sie wollen, Mr Bledsoe. Grace betrachtet Sie als ihren Freund. Das genügt uns als Referenz.“
Amos schaute wieder zu Grace hinüber. Sie sagte nichts, blickte ihn aber fest an, was ihm einen Schauer über den ganzen Körper jagte. Sie hatte sich vor der ganzen Stadt für ihn ausgesprochen. Hatte ihn einen Freund genannt. Und doch schienen ihre Augen ihn jetzt zu erforschen – vorbei an der Brille, den Staubspuren und dem zerknitterten Anzug. Sie schien ihn immer abschätzen und einordnen zu wollen, nach Anzeichen zu suchen, dass sie ihm wirklich vertrauen konnte.
Er musste es ihr beweisen. Amos reckte den Hals aus dem gestärkten Kragen hervor und hob das Kinn. Er würde sich dieser Aufgabe stellen. Was auch immer sie beinhaltete.
„Was geschieht also als Nächstes?“, fragte er.
Grace holte Luft, um ihm zu antworten, doch Mrs Shaw war schneller.
„Ich gehe zurück nach Hause und helfe meinen Tanten mit dem Abendessen. Malachi muss seine Runde machen, aber Sie dürfen sich gerne in dem Zimmer einrichten, das Tante Bertie vorbereitet hat. Es ist im Keller, aber niemand kann es einem so gemütlich machen wie Bertie, egal wo. Es werden Decken, eine Waschgelegenheit und vielleicht sogar ein Teller mit Haferkeksen auf Sie warten.“
Die gute alte Plätzchen-Oma! Doch momentan klang die Waschgelegenheit noch deutlich angenehmer als der Teller mit den Keksen. Er hätte schwören können, dass immer noch der Gestank von Maultierdung von seinen Stiefeln aufstieg. Er hätte sich selbst nie als eitel bezeichnet, da er sich nicht als gut aussehend beschreiben würde. Aber sauber? Auf jeden Fall! Und die wunderbare Miss Mallory hatte bisher nur die zerzauste, staubige Version von Amos Bledsoe kennengelernt. Kein Wunder, dass sie sich bisher mit Freudenausbrüchen noch zurückhielt. Vielleicht hatte sie Angst, dass sein zerknautschtes Erscheinungsbild einen liederlichen Charakter widerspiegelte. Er würde hoffen müssen, dass ein zweiter, dritter oder zehnter Eindruck den schlechten ersten überwiegen würde.
Amos nickte. „Ich bin sicher, die Unterkunft wird mir mehr als genügen. Sie und Ihre Tanten sind sehr freundlich, dass Sie mich bei sich aufnehmen. Ich würde natürlich gerne auch für Kost und Logis aufkommen.“
Mrs Shaw winkte ab. „Darum machen wir uns später Gedanken. Jetzt sollen Sie sich erst einmal willkommen fühlen. Ihre Tasche und die Satteltaschen sind schon im Haus und wir haben uns um Ihr Maultier gekümmert.“
Unwillig. Amos musste ein Schaudern verbergen. „Ich muss das Tier möglichst schnell zurück zu Strantons Pferdevermietung bringen.“
„Strantons?“, unterbrach der Marshal. „Das erklärt einiges. Ich habe mich schon gefragt, wie ein Mann mit einem Fünkchen Verstand so ein widerspenstiges Tier auswählen kann. Ich hätte mir fast die Schulter ausgekugelt, als ich dieses Biest davon abhalten wollte, den Gemeinschaftsgarten der Frauen leer zu fressen. Das sture Vieh wollte sich einfach nicht bewegen.“
Amos spürte, wie die Scherben seiner Männlichkeit sich allmählich wieder zusammenfügten. Wenn Malachi Shaw – ein bewaffneter, Cowboyhosen tragender Riese von einem Mann – es kaum schaffte, Unwillig auf die Koppel zu bringen, musste Amos sich wegen seines Versagens nicht schämen.
„Er ist etwas schwierig, das stimmt.“ Amos deutete an sich herab. „Auf dem Weg hierher hatten wir auch eine kleine Meinungsverschiedenheit, wie Sie sich sicher anhand meines Äußeren schon gedacht haben.“ Er warf Miss Mallory einen schnellen Blick zu und freute sich, dass sie ihn mitfühlend anschaute. „Aber ich hatte es so schrecklich eilig hierherzukommen und er war das einzige Tier, das noch im Stall stand.“
„Aha.“ Der Marshal führte seine Frau zur Tür und bedeutete Amos und Grace, ihm vorauszugehen.
Amos drückte sich seinen Hut wieder zurück auf den Kopf und lächelte Grace an. Sie erwiderte sein Lächeln scheu. Er folgte ihr durch die Tür und bewunderte ihren filigranen Nacken und die zarte Rundung ihrer Taille.
„Das nächste Mal, wenn Sie in Seymour sind, gehen Sie zu Bart Porter.“ Die Stimme des Marshals riss Amos aus seiner Betrachtung von Miss Mallory und er blickte sich zu ihm um. „Seine Pferdevermietung ist etwas weiter entfernt, ein paar Straßen südlich des Bahnhofes, aber seine Tiere sind viel besser ausgebildet. Alle Einheimischen gehen zu Porters Mietstall.“
„Danke“, sagte Amos, obwohl er alles andere als dankbar war, dass er sich mit dem Marshal über Maultiere und Pferde unterhalten musste, wo sein ganzes Interesse doch eigentlich der Frau galt, die wenige Schritte von ihm entfernt stand. „Das werde ich mir merken.“
„Tori hat erzählt, dass Ben morgen eine Lieferung für sie bringt“, fügte Mrs Shaw hinzu und verlängerte die Unterhaltung dadurch unnötig. „Er ist Barts Bruder. Ich bin sicher, er nimmt das Maultier gerne mit und bringt es für Sie zurück. Er könnte Ihnen ein besseres Tier mitbringen, wenn er das nächste Mal hierherkommt.“
„Eigentlich bevorzuge ich ein Fahrrad.“ Amos trat näher an Grace heran und hoffte, er würde ihr endlich seinen Arm anbieten können.
„Ein was?“
Wirklich? Sabotierte der Marshal ihn etwa aus Absicht? Jeder wusste doch, was ein Fahrrad war. Im Osten waren sie der letzte Schrei.
Amos runzelte die Stirn. „Ein Veloziped. Ein zweirädriges, mit Muskelkraft betriebenes Fahrzeug. Sie wissen schon, ein Fahrrad.“
„Sie sind ein Fahrradfahrer?“ Mrs Shaw sprang vor Aufregung fast auf und ab, was ihren Ehemann nur noch finsterer dreinblicken ließ. „Ich habe schon Bilder davon in Zeitschriften gesehen, aber noch nie eines dieser Fahrzeuge in echt. Oh, Mal, kannst du dir Tante Henrys Reaktion vorstellen?“ Sie wirbelte herum, strahlte ihren Mann an und ignorierte gekonnt seinen finsteren Blick. „Sie hat doch gelesen, wie sehr ein Veloziped Frauen unabhängig machen kann. Sie wird begeistert sein, eins im Einsatz zu sehen! Die Fahrradmode mit den Pluderhosen und den geschlitzten Röcken, die Freiheit, dorthin fahren zu können, wohin man will, und die Unabhängigkeit, seine eigene Mobilität zu erzeugen … sie wird hin und weg sein!“ Sie flitzte an Amos vorbei zu Grace und ergriff ihre Hände. „Ich gehe zu Tori und gebe eine Bestellung auf. Was meinst du? Vier? Fünf? Ich weiß, dass Tante Henry eins haben wollen wird und ich würde es auch gerne ausprobieren. Glaubst du, eine von den anderen Frauen hätte auch gerne eins? Wenn Amos uns zeigt, wie man damit umgeht, könnten wir eine Stadt voller Fahrräder haben! Viel günstiger im Unterhalt als ein Pferd und außerdem ist es gesund.“
„Meinst du nicht, dass du etwas voreilig bist, Emma?“ Der Marshal runzelte die Stirn, während er zu seiner Frau ging. „Henry ist dreiundfünfzig Jahre alt. Wenn sie auf eines dieser Dinger steigt, bricht sie sich vielleicht das Genick. Sagen Sie es ihr, Bledsoe.“ Shaw hielt Amos mit einem Blick gefangen, der vollkommene Zustimmung verlangte.
Doch Amos hatte genug von dieser Unterhaltung und war verrückt genug, starrsinnig zu sein. Vielleicht hatte auch Unwillig auf ihn abgefärbt. „Meine Mutter fährt ab und zu mit dem Fahrrad und sie ist ungefähr im gleichen Alter. Es sind sichere Fahrzeuge, wenn man gelernt hat, die Balance zu halten.“
Shaws Augen wurden schmal und die Muskeln seines Kiefers zuckten auf bedrohliche Art und Weise. Amos entschied, dass er ihn genug gereizt hatte.
„Obwohl die Straßen in Denison in viel besserem Zustand sind als hier“, fügte er schnell hinzu. „Schlaglöcher erschweren das Lernen natürlich enorm.“
„Die Stelle, an der wir unser Haus bauen, ist flach und festgetreten“, bestand Emma auf ihren Plänen, vollkommen unbeeindruckt von der schwarzen Wolke, die über dem Kopf ihres Mannes zu schweben schien. „Dort können wir üben. Ich suche Tori.“ Sie wandte sich zurück zu Grace. „Gleich morgen früh musst du eine Bestellung übermitteln.“
Dann wirbelte sie mit wehenden Röcken herum und eilte in Richtung eines großen Gebäudes, dessen Schild die Gemischtwarenhandlung anzeigte. Der Marshal schüttelte den Kopf und seufzte leise, wobei jedoch ein kleines Lächeln seine Lippen umspielte. Er liebte diesen Wirbelwind sehr, der seine Frau war.
„Bis zum Ende des Monats wird sie die ganze Stadt dazu bringen, auf Rädern unterwegs zu sein.“ Shaw beäugte Amos. „Warum können Sie nicht einfach auf einem Pferd reiten wie jeder andere normale Mensch?“
Amos zuckte die Schultern. „Meine Familie sagt, dass ich schon immer etwas speziell war.“
Eine starke Hand legte sich auf Amos’ Schulter. „Dann werden Sie sich hier in Harpers Station wie zu Hause fühlen.“ Shaw nickte Grace zu, der Einzigen, die sich nicht an dieser verrückten Unterhaltung beteiligt hatte. „Würden Sie Miss Mallory nach Hause bringen? Ich muss mich darum kümmern, dass Em uns mit diesen Fahrrädern nicht in den Bankrott stürzt.“
Amos schaute die Frau an, die schweigend vor ihm stand und deren Augen viel mehr sagten, als der Mund eines Menschen es jemals konnte. Und gerade in diesem Moment schienen sie sich mit der gleichen Freude zu füllen, die auch er empfand.
Eine Chance, alleine zu sein. Endlich. Über Dinge zu sprechen, die wirklich wichtig waren. Zum Beispiel darüber, wer sie bedrohte und wie er ihr helfen konnte.
Oder darüber, wie gut sie zusammenpassten und ob sie neue Facetten ihrer Beziehung kennenlernen sollten.
Und er würde sie fragen können, ob er ihre Hand halten durfte, um herauszufinden, ob ihre Haut tatsächlich so unglaublich zart war, wie sie erschien.
Ohne den Blick von der Frau vor sich zu nehmen, antwortete Amos. „Ja. Ich bringe Miss Mallory sehr gerne nach Hause.“