Über das Buch:
Chicago / Wüste Sinai, 1892: Rebecca und Flora Hawes sind Schwestern, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Während Rebecca von einem unstillbaren Wissensdurst getrieben wird, ist Flora von dem Wunsch beseelt, die Not der Armen zu lindern. Doch eines verbindet sie: ihre Leidenschaft fürs Reisen. Amerika, Europa, den Orient – unzählige Orte haben sie bereits gemeinsam bereist. Doch noch nie standen sie vor so großen Herausforderungen wie bei ihrer aktuellen Reise. Die Wüste Sinai verlangt ihnen alles ab.
Trotzdem ist Aufgeben keine Option. Denn sie sind einer verschollenen Schriftrolle auf der Spur, die ein für alle Mal beweisen könnte, dass die Bibel wahr ist. Und mit der Rebecca den Mann ihres Herzens endlich für sich gewinnen könnte.
Über die Autorin:
Lynn Austin ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt am Lake Michigan. Ihre zahlreichen Romane sind allesamt Bestseller und mit unzähligen Preisen ausgezeichnet worden. In Deutschland gilt sie als die beliebteste christliche Romanautorin.
Kapitel 6
Die Wüste Sinai 1890
Irgendwann während der Nacht war der Sandsturm verebbt und einer tiefen Stille gewichen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als Rebecca von einem Albtraum erwachte, in dem Flora und die Witwe Worthington vorgekommen waren. Sie lauschte den gedämpften Geräuschen draußen vor dem Zelt, wo die Beduinen die Kamele beluden und alles zum Aufbruch und zur Weiterreise bereit machten. Der Geruch von Kerosin und gebackenem Brot drang herein. So leise wie möglich kleidete sie sich an, um Flora und Kate nicht zu wecken. Dabei zog sie Rock und Bluse über die langen Unterhosen und das Hemdchen. Unter ihren Füßen knirschte der Sand auf der Unterlegplane, als sie in ihre derben Stiefel stieg und ihre Jacke überzog. Dann band Rebecca den Zelteingang los und schlüpfte durch die Öffnung hinaus. Doch erschrocken wich sie zurück. Der beduinische Scheich saß auf einem Felsvorsprung, keine zwei Meter von ihrem Zelt entfernt, sein antikes Gewehr im Arm.
„Ach, du liebe Güte!“, rief sie und presste eine Hand auf ihr hämmerndes Herz. „Ich hatte nicht erwartet, Sie auf meiner Türschwelle zu finden!“ Das habichtartige Gesicht des Scheichs zeigte überhaupt keine Emotionen, während er an ihrem Zelt vorbeistarrte. Er war ein Furcht einflößend aussehender Mann, wie ein Schurke aus einem Groschenroman. Das Gewehr hielt er, als würde er einen hohen Würdenträger beschützen. Schnell hatte sich Rebecca wieder gefangen und ging zu der Stelle, an der ihr Koch auf dem Reisekocher Fladenbrote zubereitete.
Petersen, ihr junger Butler, war auch schon auf und angekleidet. Er deckte gerade den Klapptisch für das Frühstück. Als er Rebecca sah, eilte er herüber und begrüßte sie mit einer Verneigung. „Guten Morgen, Miss Rebecca. Ihr Tee ist gleich fertig. Ich hoffe, Sie und Miss Flora konnten bei dem Sturm schlafen.“
„Ja, am Ende haben wir ganz gut geschlafen. Und Sie?“
Wieder verneigte er sich. „Machen Sie sich um mich keine Gedanken, Miss Rebecca.“ Unzählige Male hatte sie Petersen gesagt, dass er mit ihr und Flora nicht so förmlich reden musste und dass seine unterwürfigen Verbeugungen völlig unnötig waren, vor allem hier draußen in der Wüste. Aber ihre Worte hatten an seinem Verhalten nichts geändert. Sie streckte die Hände in Richtung Kocher, um sie zu wärmen, während Petersen eine Tasse nebst Untertasse für sie organisierte und dazu das Teesieb. Sie hatte ihm auch schon oft erklärt, dass er sie nicht bedienen musste, aber auch das hatte keinerlei Wirkung gezeigt. Er reichte ihr eine Tasse mit herrlich starkem Tee und zog dann mit einer eleganten Bewegung einen Falthocker hervor, damit sie sich setzen konnte.
Sören Petersen war so groß und dünn wie eine Birke und sehr, sehr blond. Es war gar nicht so einfach, am Tag seine helle Haut vor der Wüstensonne zu schützen. Ohne Schutz wurde er so rot wie ein Granatapfel. Ihr Agent, Mr Farouk, hatte ihm ein fließendes weißes Gewand mit Kapuze besorgt, das er über seiner Kleidung trug. Aber darin sah er nicht wie ein Beduine aus, sondern zur Belustigung aller eher wie ein Geist. Petersen mochte dünn sein, aber er war durchaus gesund und kräftig. Rebecca hatte gesehen, wie er am Reck im Garten Klimmzüge machte, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Sie erlaubte nur ihm, ihre schwere Kameraausrüstung zu berühren und zu tragen.
„Nehmen Sie sich doch selbst auch einen Tee und setzen Sie sich zu mir, Sören.“ Sie nannte ihn absichtlich hin und wieder beim Vornamen, weil sie hoffte, sie könnte sein eisiges Äußeres durchdringen und hinter seiner Reserviertheit den wahren Sören Petersen entdecken, aber ihre Versuche, herzlich zu sein, machten ihn nur noch mürrischer. Schon oft hatte sie sich gefragt, ob diese unterkühlte Art ein Überbleibsel seiner skandinavischen Wurzeln war oder ob sie in den kalten grauen Mauern des Waisenhauses von Chicago ihren Ursprung hatte. „Bitte, Sören. Setzen Sie sich“, sagte sie, als er zögerte. „Ich könnte heute Morgen ein wenig Gesellschaft gebrauchen. Das ist ein Befehl.“ Letzteres fügte sie hinzu, obwohl sie es nicht gerne tat, damit er ihrer Aufforderung auch wirklich Folge leistete.
„Gewiss, Miss Rebecca.“ Er zog eine Kiste näher, um sich daraufzusetzen, und füllte einen verbeulten Zinnbecher mit Tee. Aus beiden Tassen stieg der Dampf in die kühle Luft auf.
„Finden Sie es nicht auch erstaunlich, dass die unberechenbaren Wüstentemperaturen von bratpfannenheiß während des Tages bis zähneklappernd kalt des Nachts schwanken?“, fragte sie.
„Doch, Miss Rebecca.“ Petersen wirkte in keiner Weise erstaunt.
„Haben Sie schon einmal so ein Wetter erlebt mit solch extremen Temperaturen und heftigen Sandstürmen?“
„Nein, Miss Rebecca.“
Sie beobachtete, wie Mr Farouk wie eine Ameise durch das Lager huschte, die Heringe des Zeltes herausriss, in dem Petersen und er geschlafen hatten, und ihre Decken und Reiseutensilien neben den Dingen und Lebensmitteln stapelte, die auf den Kamelen befestigt werden sollten. Mit seinen kurzen dünnen Beinen, dem runden Leib und dem dunklen, glänzenden Haar erinnerte Mr Farouk Rebecca an einen Käfer. Er und Sören waren so unterschiedlich wie ein Wolfshund und ein Dackel. Sie blickte zu den blasser werdenden Sternen und dem kahlen Panorama auf, das in der Dämmerung allmählich Gestalt annahm. „Nach dem Sturm von vergangener Nacht glaube ich zu verstehen, warum diese Berge hier so öde und unfruchtbar sind. Der Wind und der Sand schmirgeln alles fort, wie die Borsten eines Besens einen gepflasterten Gehweg von allem befreien.“
„So scheint es, Miss Rebecca.“
„Was halten Sie bis jetzt von der Wüste? Sehen Sie hier irgendwelche Schönheit?“
„Nein, Miss Rebecca.“ Sich mit Petersen zu unterhalten, erinnerte sie an den mühseligen Vorgang, Wasser aus einem Brunnen zu schöpfen, den sie einmal im Heiligen Land gesehen hatte. Das Wasser war bestimmt einhundert Meter unter ihnen gewesen und man konnte es nur erreichen, indem man auf spiralförmig angeordneten schmalen Steinstufen in einen tiefen Schacht hinabstieg, bis man irgendwann am Boden ankam. Dort hatte sie einen Eimer an einem Seil noch tiefer in die Erde absenken müssen, um an das Wasser zu gelangen. Als sie fertig war, hatte sie mehr Durst gehabt als zu Beginn. Mit Petersen zu sprechen, schien ebenso mühsam und sie fragte sich, ob sich die Mühe lohnte.
„Haben Sie eine Ahnung, warum der Scheich heute Morgen vor unserem Zelt Wache hält?“, fragte sie, während sie in ihren Tee pustete, um ihn ein wenig abzukühlen.
„Nein, Miss Rebecca. Er saß heute Morgen schon so da, als ich aufstand.“
Sie sah zu, wie die beduinischen Kameltreiber eilig ihre Arbeiten verrichteten, ihre Kamele fütterten und die dicke Schicht Sand von den Sätteln und allem anderen wischten, das über Nacht draußen geblieben war. Rebecca hoffte nur, dass der Sand nicht ihre Kamera oder die Objektive beschädigt hatte. Der Scheich erhob sich von seinem Wachposten bei ihrem Zelt und betrachtete den Himmel im Osten, während die Sterne nach und nach im zunehmenden Morgenlicht verblassten. Auf seinen Befehl hin ließen alle Männer, auch Mr Farouk und der Koch, ihre Arbeit stehen und liegen und rollten ihre Gebetsteppiche aus, um niederzuknien und zu beten. Dieses Ritual wiederholten sie fünfmal am Tag: vor Sonnenaufgang, wenn sie zu Mittag Rast machten, bei einer Rast am Nachmittag, vor Sonnenuntergang und ein letztes Mal, bevor sie schlafen gingen.
„Was halten Sie von diesem gewissenhaften Beten, Petersen? Haben Sie bemerkt, dass die Männer fünfmal am Tag beten?“
Petersen zögerte so lange mit einer Erwiderung, dass sie nicht sicher war, ob er überhaupt antworten würde. „Ich finde, sie vergeuden ihre Zeit“, sagte er schließlich.
„Hmm … Wollen Sie damit sagen, dass alles Beten eine Zeitverschwendung ist? Oder dass sie ihre Zeit vergeuden, weil sie nicht zu dem Gott der Bibel beten?“
Petersen starrte auf den Becher in seiner Hand hinunter und drehte ihn langsam, als müsste er verhindern, dass das heiße Metall seine Haut verbrannte. Er hatte lange, anmutige Finger – Künstlerhände –, obwohl er kein bisschen fantasievoll oder künstlerisch war, soweit Rebecca das beurteilen konnte. Seit sie ihn vor zwei Jahren als Butler angestellt hatten, war er mit Flora und ihr in die Kirche gegangen, aber in dieser Zeit hatte er nicht zu erkennen gegeben, ob er etwas von all dem glaubte oder nicht. Rebecca hatte ihn schon lange danach fragen wollen – sie mochte den jungen Mann und machte sich Sorgen um seine unsterbliche Seele –, aber Flora bestand darauf, dass sie Geduld haben sollten. Wenn er so weit sei, werde er schon offenbaren, was er dachte und glaubte, hatte sie gesagt. Trotzdem hatte Rebecca beschlossen, die Gunst der Stunde zu nutzen, um seine Meinung in Erfahrung zu bringen, während sie die Beduinen bei ihrem morgendlichen Gebet beobachteten.
„Ich weiß nicht“, sagte Petersen schließlich. „Was halten Sie denn von der Religion dieser Leute, Miss Rebecca?“
„Also, sie haben recht, wenn sie sagen, dass es nur einen Gott gibt und nicht mehrere. Aber nachdem ich gehört habe, wie Muslime beschreiben, wie ihr Gott ist und was er von den Gläubigen verlangt, muss ich zu dem Schluss kommen, dass sie nicht denselben Gott kennen wie ich.“
Petersens eisblaue Augen blickten einen Moment lang in ihre, so als bitte er um eine Erklärung.
„Man könnte es so erklären“, sagte sie. „Nehmen wir an, ich würde fragen: ‚Kennen Sie John Smith?‘, und Sie antworten: ‚Ja, ich kenne ihn sehr gut‘. Aber wenn wir dann über John sprechen und ich ihn als groß und schlank mit roten Haaren beschreibe und Sie daraufhin sagen: ‚Nein, Sie irren sich. John ist klein und dick und kahlköpfig‘, dann ist es doch klar, dass wir nicht denselben John Smith meinen, nicht wahr?“
„Das leuchtet ein, Miss.“
„Ihr Gott ist ganz anders als unserer. Trotzdem“, sagte sie und zeigte auf die sich verneigenden Männer, „wären wir Christen gut beraten, wenn wir immer wieder während des Tages unsere Arbeit niederlegen und beten würden, meinen Sie nicht? Immerhin hat der Apostel Paulus gesagt, wir sollen ohne Unterlass beten. Aber zurück zu meiner Frage, Petersen. Meinen Sie, alles Beten ist eine Zeitverschwendung …?“
„Guten Morgen, guten Morgen!“, unterbrach Floras fröhliche Stimme sie, bevor Rebecca den Satz beenden konnte. „Seht euch nur den Sonnenaufgang an. Was für ein herrlicher Anblick!“ Sie zeigte auf die Stelle, an der der Himmel sich rosa und violett färbte. „Und der Sand hat uns letzte Nacht doch nicht bei lebendigem Leibe begraben, also haben wir heute Morgen viel Grund zur Dankbarkeit, nicht wahr?“
„Gewiss, Miss Flora.“ Beim Klang ihrer Stimme war Petersen sofort aufgesprungen und lief jetzt, um einen Falthocker und eine Tasse Tee für sie zu holen. Als sie sich gesetzt hatte, hob er vorsichtig den Klapptisch mit dem Frühstück hoch, das der Koch zubereitet hatte, und stellte ihn zwischen Rebecca und Flora.
„Danke, Petersen. Das sieht wundervoll aus“, sagte Flora. „Sie können sich gerne zu uns setzen und mitessen, wissen Sie. Hier draußen in der Wüste Sinai gibt es keinen Grund für Förmlichkeiten.“
„Ich muss Ihre Sachen packen, Miss Flora.“ Er öffnete für sie die Dose mit Dattelhonig, als er sah, dass sie sich damit abmühte. Dann sagte er: „Sollte Ihre Zofe Ihnen nicht helfen?“
Flora lächelte zu ihm auf. „Ich lasse Kate ein bisschen länger schlafen, die Arme. Der Sturm in der Nacht hat sie nicht schlafen lassen.“
„Er hat uns alle nicht schlafen lassen, Miss. Sie ist da keine Ausnahme.“ Petersen sah aus, als hätte er am liebsten die Zeltplane zurückgerissen und die schlafende Kate von ihrem Feldbett gezerrt. Stattdessen verneigte er sich ein wenig, nahm wortlos die Kiste, auf der er gesessen hatte, und stapfte davon, damit Kate keinen Sitzplatz hatte, wenn sie endlich aufstand. Rebecca sah, wie er auch die anderen Falthocker einsammelte und in der Nähe der angebundenen Kamele stapelte, weil er wusste, dass Kate sich nicht in die Nähe der launischen Tiere trauen würde. Dann kehrte er zum Zelt zurück und trug die sperrige Kameraausrüstung ebenfalls zur Karawane, bevor er das Gleiche mit seinem ordentlich zusammengerollten Bettzeug und der Reisetasche tat.
„Was meinst du, warum Petersen Kate so sehr hasst?“, fragte Rebecca, als Flora ihr den Dattelhonig reichte. Der klebrige Sirup schmeckte köstlich auf dem frisch gebackenen Fladenbrot des Kochs.
„Er hasst sie nicht. Hass ist ein so starkes Wort. Aber ich frage mich, ob er vielleicht etwas eifersüchtig auf sie ist. Was denkst du?“
„Du meinst, weil er uns mehr als ein Jahr lang für sich hatte, bevor wir Kate aufgenommen haben?“
„Ja. Und weil sie aus ganz anderen Gründen zu uns kam als er. Seit dem Tag, als sie uns beraubt hat, traut er Kate nicht über den Weg.“
„Petersen hat sehr starre Ansichten, was Verbrechen und Strafe betrifft“, erwiderte Rebecca. „Ich glaube, es wäre ihm lieber gewesen, wenn wir Kate ins Gefängnis geschickt hätten. Oder in ein dunkles, feuchtes Verließ. Oder sogar an den Galgen. Ich glaube, es wäre ihm immer noch lieber.“
„Ich glaube nicht, dass es so schlimm ist. Petersen will dich und mich nur beschützen, das ist alles. Das liegt in seinem Wesen. Er kann nicht anders.“
„Wer sagt denn, dass wir Schutz brauchen?“, entgegnete Rebecca stirnrunzelnd. „Sind wir beide nicht in all den Jahren bestens zurechtgekommen? Wann hatten wir schon einmal Angst, alleine zu reisen?“
Flora lächelte. „Das stimmt, Becky. Wir sind ganz furchtlos, nicht wahr? Wir brauchen Petersen nicht und Kate brauchen wir eigentlich auch nicht. In der Wüste Sinai braucht niemand eine Zofe oder einen Butler.“ Sie lachte und beugte sich vor, um hinzuzufügen: „In Wahrheit brauchen Kate und Sören uns. Haben wir sie nicht deshalb mitgenommen?“
Rebecca aß noch einen Bissen von ihrem Brot. „Ja, aber diese beiden Armen hatten ja keine Ahnung, was sie da freiwillig auf sich genommen haben, oder?“ Flora und sie lachten noch immer, als Kate endlich aus dem Zelt kroch, verärgert und ungepflegt, die roten Haare vom Schlaf zerzaust.
„Was gibt es da zu lachen?“, fragte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie hatte genug Feuer und Mumm für ein Mädchen, das dreimal so groß war wie sie. Rebecca dachte an die Lektionen in damenhaftem Betragen, die Mrs Worthington ihr damals hatte einimpfen wollen, und sie lächelte angesichts der Ironie, dass sie jetzt selbst versucht war, einer anderen jungen Frau damenhaftes Betragen beizubringen.
„Wir genießen nur den Morgen“, sagte Flora. „Und diesen herrlichen Dattelhonig. Komm und iss etwas mit uns.“
„Ich habe keinen Hunger.“
„Aber später wirst du welchen bekommen. Wir haben heute eine lange Reise vor uns.“
Kate schnaubte und verdrehte die Augen. „Woher wissen diese dummen Kameltreiber überhaupt, wohin sie gehen?“
„Also, du darfst die Leute nicht als dumm bezeichnen, Katie, Liebes“, sagte Flora mit erhobenem Zeigefinger.
„Sehen Sie sich doch nur um!“, fuhr sie ungeachtet dessen fort. „Hier gibt es nichts als Steine! Keine Straßen oder Schilder, die einem den Weg weisen, nur Kilometer um Kilometer nichts! Was ist, wenn wir uns verlaufen haben und sie es nur nicht zugeben wollen? Woher sollen wir wissen, ob wir überhaupt in die richtige Richtung reiten? Wer weiß schon, wohin sie uns bringen?“
„Du hast recht, all das wissen wir nicht“, sagte Rebecca. „Wir müssen ihnen und Mr Farouk einfach vertrauen.“
Kate warf die Arme in die Luft. „Na, das ist ja fantastisch! Wir könnten alle hier draußen sterben und es würde keinen Menschen kümmern!“
Sie wäre hübsch, dachte Rebecca, wenn sie nicht so stachlig wie eine Drahtbürste wäre. „Trink erst einmal einen Tee, meine Liebe. Irgendwo muss es noch eine Tasse geben.“ Sie hörte ein rauschendes Geräusch und drehte sich um. Petersen hatte die Mittelstange aus einem Zelt gezogen, sodass es in sich zusammenfiel und die Luft hörbar entwich. Gleich darauf kroch er unter der Plane hervor, die Stange in der Hand, und sah aus, als wollte er sie Kate über den Schädel ziehen.
„Da bist du ja“, knurrte er. „Wird auch Zeit. Ist in eurem Zelt alles gepackt? Wir müssen aufbrechen, bevor die Sonne zu heiß wird.“
Sie funkelte ihn an, das Kinn trotzig vorgereckt. „Packen Sie es doch selbst, wenn Sie es so eilig haben.“
„Das ist deine Aufgabe, Kate. Eine, für die du gut bezahlt wirst, wie du weißt.“
Sie schnaubte verächtlich. „Ich würde lieber wieder in der Hemdenfabrik arbeiten als an Ihrer Seite!“ Sie fuhr herum und stapfte ins Zelt zurück.
„Diese Fabrik hat dich bestimmt gefeuert!“, rief Petersen ihr nach. „Wahrscheinlich aus gutem Grund!“ Kate verschwand im Zelt und riss die Zeltplane hinter sich zu, als würde sie eine Tür zuknallen. Eine Dusche aus Sand regnete von dem schrägen Zeltdach. „Ich weiß, dass ich wahrscheinlich nicht das Recht habe, das zu sagen“, bemerkte Petersen, während er ihr nachblickte, „aber sie sollte nicht so respektlos sein.“
„Da haben Sie völlig recht“, sagte Rebecca lächelnd. „Vielleicht sollten wir sie umgehend nach Hause schicken. Ganz allein. Durch die Wüste.“
„Es geschähe ihr recht, Miss Rebecca.“
„Ehrlich gesagt, glaube ich, dass ihr das sogar das Liebste wäre“, fügte Flora lachend hinzu.
Rebecca hörte die Rufe von Männern und stand auf, um zu sehen, was los war. Die Beduinen hatten ihr Gebet beendet und der Scheich und Mr Farouk stritten sich. Der Scheich stand wild gestikulierend vor dem kleinen Mann, so als wollte er ihn wie einen Kegel umstoßen. Aber was Rebecca beunruhigte, war die Tatsache, dass er auf ihr Zelt zeigte und dabei mit seinem Gewehr wedelte. Sie eilte auf die Männer zu, aber der Scheich stapfte davon, noch bevor sie bei ihnen war. „Was ist los, Mr Farouk?“, fragte sie den klein gewachsenen Agenten.
„Es ist nichts, Miss. Keine Sorge.“
„Ich habe deutlich gehört, wie Sie sich gestritten haben. Und warum saß der Scheich heute Morgen mit seinem Gewehr vor meinem Zelt?“
„Keine Sorge. Ich kümmere mich um ihn.“ Er verneigte sich mehrmals und machte einige Schritte rückwärts, bevor er davoneilte, um den Kameltreibern beim Beladen der Karawane zu helfen. In ihrer Eile befestigten die Männer eine Kiste mit Hühnern verkehrt herum, sodass wütendes Gekreische und Federnschlagen die Folge war, während das Geflügel sich neu sortierte. Einer der Männer half Rebecca, auf das liegende Kamel zu steigen, und dann stand es schwankend auf, sodass sie kurz nach hinten geworfen wurde, während das Tier die Vorderbeine ausstreckte. Schließlich wurde sie wieder aufgerichtet, als das Kamel sich auf die Hinterbeine erhob. Das Ganze war völlig anders, als auf einem Pferd zu reiten. Erstens saß Rebecca ziemlich hoch über dem Erdboden. Zweitens waren Kamele viel mürrischer als Pferde. Man konnte sich unmöglich mit ihnen anfreunden, vermutete sie, selbst ihre eigenen Kameltreiber schafften das nicht. Die schaukelnde Bewegung, wenn die Tiere liefen, erinnerte sie an eine Segelfahrt auf einer sehr stürmischen See. Ihr armer Vater wäre zweifellos seekrank geworden, wenn er auf einem solchen Tier hätte reiten müssen. Und Kamele rochen auch sehr viel strenger als Pferde. Trotzdem waren Flora und sie das Kamelreiten aus vergangenen Reisen bereits gewohnt. Petersen und Kate taten sich viel schwerer, vor allem, da sie kein Ziel hatten, das sie am Ende ihrer Reise erreichen wollten, so wie es bei ihr war. Anders als Rebecca waren sie nicht von der Vorfreude auf die Entdeckung und das erhebende Gefühl erfüllt, endlich ein lange verborgenes Geheimnis zu enthüllen.
Sie waren ungefähr eine Stunde geritten, als Rebecca feststellte, dass Kate neben ihr ritt, und sie beschloss, sich mit dem Mädchen zu unterhalten. „Darf ich dich etwas fragen, Kate? Du hast heute Morgen erwähnt, dass du lieber in der Hemdenfabrik arbeiten würdest als für Flora und mich. Ich weiß aus eigener Erfahrung, welche schrecklichen Arbeitsbedingungen in diesen Fabriken herrschen, deshalb habe ich mich gefragt, ob du bei uns wirklich unglücklich bist. Denn wenn es so ist, dann möchte ich dich um Verzeihung dafür bitten, dass wir dich hierher mitgeschleppt haben. Flora und ich haben versucht, dich auf das vorzubereiten, was dich hier erwarten würde, und ich dachte, wir hätten dir ganz klargemacht, dass du auch in Chicago hättest bleiben können, wenn es dein Wunsch gewesen wäre. Wir wollten dir die Entscheidung überlassen, ob du mitkommst oder nicht.“
„Ich weiß, ich weiß. Ich bin selbst schuld, weil ich Ja gesagt habe“, gab sie widerwillig zu.
„Darf ich fragen, warum du beschlossen hast mitzukommen?“
„Ich dachte, in der Stadt zu bleiben und auf der Straße zu leben, kann auch nicht schlimmer sein.“ Sie lachte auf. „Da sieht man mal, wie man sich täuschen kann! So habe ich mir das nicht vorgestellt.“ Sie zeigte auf die endlosen Hügel, so unfruchtbar und braun und faltig wie eine alte Kartoffel.
„Das tut mir leid, Kate. Ich bin sicher, du hast in deinem Leben schon genug durchgemacht. Flora und ich wollten dem nicht noch mehr Beschwernis hinzufügen.“
„Ich habe kein Problem mit Ihnen und Miss Flora … Was Petersen betrifft, so kann ich das allerdings nicht behaupten.“
„Er macht nur seine Arbeit.“
Sie stieß einen Seufzer aus, so endlos wie der wolkenlose Himmel. „Es ist nur … Ich weiß nicht … Ach, ist auch egal.“
„Sprich mit mir, Kate. Du kannst mir alles sagen, was du willst. Wir haben den ganzen Tag Zeit.“
Es dauerte lange, bis Kate antwortete, und als sie es tat, klang ihre Stimme kleinlaut und bedrückt, ganz anders als die forsche Kate Rafferty, die Rebecca kannte. „Ich fühle mich hier draußen so verloren. Und mit jedem Schritt, den wir uns weiter von zu Hause entfernen, komme ich mir noch verlorener vor. Alles ist so … anders! In Chicago komme ich gut alleine klar, da brauche ich niemanden. Aber hier draußen fühle ich mich so … klein.“
„Hier sind wir aufeinander angewiesen, nicht wahr? Vor allem brauchen wir Mr Farouk und die Beduinen.“
„Aber das gefällt mir nicht. Ich bin nicht gerne von jemand anderem als mir selbst abhängig. Woher sollen wir wissen, dass wir ihnen trauen können? Und der Scheich starrt mich immerzu an.“
Rebecca konnte nur ahnen, was Kate in ihrem kurzen Leben schon alles mitgemacht hatte, wenn ihr Vertrauen in andere Menschen so gründlich zerstört war, dass sie sich nur noch auf sich selbst verließ. „Mr Farouk wurde uns vom Erzbischof von Kairo empfohlen“, erwiderte Rebecca. „Er hat die besten Referenzen. Aber du hast recht, wir wissen wirklich nicht, ob wir diesen Männern trauen können. Aber wir dienen einem Gott, der ganz und gar vertrauenswürdig ist, und Flora und ich glauben, dass er uns auf dieser Expedition führt. Wir sind seine Dienerinnen, so wie Petersen und du unsere Bediensteten seid. Wir gehorchen Befehlen, genau wie ihr.“
Als Kate nicht antwortete, warf Rebecca ihr einen Blick zu und sah, wie sie vornübergebeugt auf dem schwankenden Tier saß, das Kinn gesenkt. Ihr Strohhut war mit dünnem Leinen zugehängt, um sie vor der Sonne zu schützen, deshalb konnte Rebecca ihr Gesicht nicht sehen. Sie fragte sich, ob Kate weinte. Seitdem Rebecca sie kannte, hatte Kate Rafferty noch nie geweint. Das arme Kind war hier so fehl am Platze wie die dunkelhäutigen Beduinen es in den Straßen von Chicago wären. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Rebecca.
„Ja“, schniefte sie. „Ich mag es nur nicht, wenn ich mich so klein fühle.“
„Das verstehe ich. Aber denk doch nur daran, was du alles verpasst hättest, wenn du daheimgeblieben wärst. Du hättest nie die Weite des Meeres gesehen oder die salzige Luft geschmeckt oder die ungeheure Kraft der Wellen erlebt. Du hättest keine Menschen aus anderen Ländern und Kontinenten kennengelernt, hättest nie ihr Essen probiert und nicht entdeckt, wie wunderbar unterschiedlich wir alle sind. Du hättest nie die Berge oder Palmen oder Krokodile im Nil gesehen … und wärst nie auf einem Kamel geritten. All diese Erinnerungen kannst du mit nach Hause nehmen und sie begleiten dich, solange du lebst. Es mag sein, dass du deinen Besitz verlierst, so wie es bei Flora und mir einmal war, aber deine Erinnerungen kann dir niemand nehmen.“
„Das gilt aber auch für die schlechten.“
Diese Antwort schockierte Rebecca. So eine negative Sicht bei einem so jungen Menschen. „Vielleicht werden all deine schlechten Erinnerungen unter einem Haufen neuer begraben sein, wenn wir wieder nach Hause zurückkehren“, sagte sie sanft.
„Falls wir jemals wieder zu Hause ankommen“, murmelte Kate.
Rebecca wollte etwas erwidern, ließ es dann aber. Flora hatte ihr geraten, sie solle nicht versuchen, auf Kate oder Petersen einzuwirken, um sie zu verändern, sondern den Allmächtigen seine Arbeit tun lassen. Da ein langer Tag vor ihr lag, beschloss Rebecca, in den reichen Schatz ihrer eigenen Erinnerungen einzutauchen und durch die Zeit zurückzureisen, wie sie es in der Nacht getan hatte, um einige ihrer vielen Erlebnisse noch einmal zu durchleben – die guten wie die schlechten.