Heinz Jürgen Schneider
Tod am Hafenkai
Historischer Kriminalroman
© eBook: Boyens Buchverlag GmbH & Co. KG, Heide 2013
© Printausgabe: Boyens Buchverlag GmbH & Co. KG, Heide 2011
Alle Rechte vorbehalten.
Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN eBook: 978-3-8042-3008-8
ISBN Printausgabe: 978-3-8042-1330-2
www.buecher-von-boyens.de
Die grüne Fee nennt man den Absinth.
Weil der Schnaps aus Anis, Wermut, Fenchel und anderen Kräutern eine grünliche Färbung annimmt. Bei harten 60 Prozent oder mehr liegt der Alkoholgehalt.
Absinth wurde populär in Frankreich und kam dann in die anderen Länder des Kontinents. Bekannt als das Getränk der Maler und Literaten, aber auch der einfachen Leute. Sein Ruf ist schlecht. Alkoholismus soll er hervorbringen, Übererregbarkeit und Halluzinationen.
Schon vor neun Jahren, 1923, verbot die deutsche Reichsregierung seine Herstellung und sogar die Verbreitung seiner Rezeptur.
Der Absinth aber lebt als Selbstgebrannter weiter. Verkauft unter dem Ladentisch oder aus den Hinterräumen der Lokale. Abnehmer findet er genug. Die Wirkung blieb, wie auch die Farbe, die ihn kenntlich macht.
Die grüne Fee verwirrt die Sinne. Trübt die Erinnerung. Bringt den Rausch. Und manchmal auch den Tod.
1
Auch an diesem frühen Sonntagmorgen geht Hans Gripp zu seinem Lieblingsplatz im Itzehoer Hafen an der Störschleife. Längst steht die Sonne noch nicht im Zenit. Doch es ist schon warm für Ende Juni. Der beginnende Sommer 1932 zeigt sich von seiner besten Seite.
Sein Platz zum Angeln ist abseits von den Liegeplätzen der Kähne, Lastboote und Küstensegler, den Kontoren und der Hafenmeisterei. Das kleine Lagerhaus kann ihm Schatten spenden. Auf der Hafenmauer wird er wieder sitzen. Bedächtig zieht er die Regenwürmer auf die Haken und wirft beide Angeln aus.
Dann ist Zeit, sich zu setzen und den Korb auszupacken. Ein Käsebrot hat seine Frau ihm eingepackt. Wasser ist in einer Flasche.
Knapp zwei Stunden wird sich die Flut noch halten, dann kommt die Ebbe. Die Gezeiten der Nordsee sind hier im Störhafen und im Unterlauf des Flusses, viele Kilometer vom offenen Meer entfernt, noch zu spüren. Und bei Flut beißen die Fische besser.
Im Hafen ist es ruhig. Wer jetzt mit seinem Schiff noch nicht flussabwärts unterwegs ist, muss warten. Erst mit der nächsten Flut sind die Schleuse von Brunsbüttel, das Tor zum Kaiser-Wilhelm-Kanal, oder die Häfen von Glückstadt oder Hamburg sicher zu erreichen.
Gripp beißt in sein Brot. Die Luft tut gut. Sie ist frisch, und man glaubt, der Nordsee näher zu sein. Im Hafen ist es nicht so geschäftig wie an den Werktagen. Dann wird be- und entladen. Spediteure fahren mit ihren Lastautos und Gespannen bis an den Schiffsanleger. Säcke werden aus den Speichern geschleppt und Kisten verladen. Die Fischer haben ihre besonderen Liegeplätze, um den Fang an Land zu bringen und oft auch gleich von Bord zu verkaufen.
Heute morgen ist kaum eine Menschenseele zu sehen. Er schaut sich um. In einiger Entfernung sieht man die kleinen Türme der Zuckerfabrik van de Los, die Halle der Laugen- und Seifenfabrik und die Ölmühle Hirschberg. In der anderen Richtung sind die Zementschlote von Alsen.
Schräg gegenüber wird an einem Boot gearbeitet, wohl eine Reparatur durchgeführt. Ein ganzes Stück entfernt liegen im Schatten eines kleinen Schiffes, das auf Land geholt worden ist, drei Gestalten. Vielleicht späte Zecher, die ihren Rausch ausschlafen. Nicht weit entfernt sind die Kneipen des Hafens. In die geht Hans Gripp nicht. Er besucht ganz gelegentlich noch mal den Alten Ritter, bei sich zu Hause um die Ecke in Sude. Aber auch das nur noch selten. Das Geld fehlt.
Seit gut zwei Jahren ist er erwerbslos. Die Suder Getreidemühle hatte ihm Lohn und Brot gegeben. Bis Mai 30, da wurden vier der Arbeiter entlassen, weil die Geschäfte schlecht gingen. Nur gut 30 Reichsmark sind sein wöchentliches Stempelgeld. Für sich, seine Frau und drei Kinder. Sie putzt noch bei einer Arztfamilie, zweimal die Woche. Viel von dem Geld muss er für die kleine Wohnung ausgeben. Im Transportunternehmen seines Schwagers konnte er manchmal aushelfen, für ein paar Mark. Aber auch dessen Geschäft lief schlechter wie überall. Die Schlange der Arbeitslosen an der Stempelstelle wurde länger und länger. Kurz vor Heiligabend wird er 40 Jahre alt werden.
Er angelt deshalb nicht nur zum Zeitvertreib. An guten Tagen kann er Brassen, Güstern oder mal eine Flunder für den heimischen Kochtopf mitbringen. Oder Aale. Das wird dann ein Festessen mit Pellkartoffeln und Dillsoße. Das Leib- und Magengericht seiner Kinder.
Hans Gripp weiß nicht, wie das alles so weitergehen soll. Er würde jede Arbeit annehmen, aber es gibt keine. Nur nach unten geht es noch. Die Familie aus der Parterrewohnung ist zwangsgeräumt worden. Mit Gerichtsvollzieher und Polizei, mit Tränen und Kinderschreien. Dann kommt nur noch das, was ganz früher Armenhaus genannt wurde. Das Ende. Und heute wollen nicht einmal die Fische beißen. Die beiden Schwimmer lässt er nicht aus den Augen.
Lautes Geschrei kommt von den Männern, die das Boot reparieren.
In der Stempelstelle erzählen sie, dass es Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen geben soll. Straßen bauen, Moore kultivieren. Alles für wenig Lohn, aber immerhin. Aber er weiß nicht einmal, wo er sich darüber erkundigen kann. Vielleicht ist es auch nur Gerede.
Jetzt hat er Glück. Er greift die eine Angel und kurbelt. Die seidengeflochtene Schnur spannt sich. Mit einem Schwung holt er den Fang an Land. Ein Brassen. Nicht sehr groß, zu wenig für eine Familienmahlzeit, aber ein Anfang.
Ein Aal wäre ihm lieber gewesen. Er kann den Kindern selten eine Freude machen. Woher das Geld für Spielzeug oder kleine Geschenke nehmen. An ihren Geburtstagen backt seine Frau immer einen Schokoladenpuffer, das können sie den Kindern gerade einmal bieten.
Es dauert eine ganze Zeit, bis er noch mal einen Fang macht. Wieder ein Brassen, der ist größer als der erste. Die Sonne kommt jetzt stark heraus, und Gripp trinkt einen ordentlichen Schluck Wasser.
Noch ein weiterer Fisch ist nötig, sonst bleiben die Fische nur Zutaten und die Kartoffeln die Hauptsache beim Sonntagsmahl. Fleisch haben sie nur noch sehr selten. Obst und Gemüse häufiger, denn die Schwiegereltern besitzen einen kleinen Bauernhof in Kaaks.
Als die Sonne kraftvoll strahlt und das Wasser sich zurückzieht, wird es Zeit zu gehen. Zwei Brassen sind die Ausbeute geblieben. Morgen ist er im Geschäft des Schwagers, vielleicht kann er noch danach angeln oder am Dienstag. Stempeln gehen zum Arbeitsamt muss er morgen auch wieder. Dann gibt es das Arbeitslosengeld auf die Hand.
Mit wenigen Schnitten seines Taschenmessers nimmt er die beiden Fische aus. Dann kommen sie in den Blecheimer. Sorgsam rollt er die Schnüre der Angeln auf und packt die leere Wasserflasche in den Korb.
Die Männer arbeiten nicht mehr am Boot, sondern rauchen. Das hat er sich schon lange abgewöhnt. Gripp nimmt den kürzeren Weg zurück.
Die drei Männer liegen auf seinem Weg. Da muss er direkt vorbei. Als er auf ihrer Höhe ist, kann er nicht widerstehen. „Besoopen, noch nich utsloopen. Is Sündach“, ruft er laut lachend. Und er glaubt ein leises Stöhnen zu hören.
Sachte stupst er den am nächsten liegenden Mann mit seinem Fuß an. Jetzt ist das Stöhnen in ein Knurren übergegangen. Er lächelt. Sind junge Leute.
Aber etwas lässt ihn stehenbleiben. Der eine, der am nächsten zum Boot liegt, mit dem stimmt etwas nicht. Der hat keine Schuhe an, nur Strümpfe. Das ist das erste, was Hans Gripp auffällt. Und der hat Blut unter der Nase. Er stellt Korb und Angeln ab und geht da hin.
„Moin, Moin“, spricht er ihn an. Nichts passiert. Die Nase ist ganz rot. Die linke Hand liegt merkwürdig und unbequem unter dem Körper. Zweimal tippt er den Mann mit seiner Schuhspitze an. Einmal leicht, dann doller. Keine Reaktion.
Geht ihn ja eigentlich nichts an, aber nun steht er hier. Und dann ist da auch das Blut unter der Nase. Gripp fasst an die Stirn des Mannes. Kalt. Nun schüttelt er den Körper stark und ruft den Liegenden an. Nichts.
Er nimmt Korb und Angeln, und dann geht es im Laufschritt zur Hafenmeisterei. Da ist immer jemand. Die sollen sich kümmern. De Mann is dot.
Mit zwei Polizisten kommen nach einiger Zeit auch Schaulustige. Spaziergänger, Leute vom Frühschoppen der Kneipen, Hafenarbeiter. Hans Gripp ist Zeuge und muss warten, bis auch die Kriminalpolizei herbeigerufen ist. Er wartet gern. Jetzt kommt es mal auf ihn an. Das Mittagessen muss warten.
Nach einer knappen Stunde sind viele Uniformen zu sehen. Sie suchen die Gegend ab. Ein Arzt ist gekommen. Polizisten in Zivil fotografieren, kriechen auf dem Boden neben der Leiche, messen, füllen Papiertüten mit kleinsten Gegenständen, untersuchen die Kleidung und wollen Fragen beantwortet haben.
Die beiden Männer neben der Leiche sind wach, aber nicht klar. Sie werden weggebracht. Hans Gripp steht Rede und Antwort. Der Kommissar ist dick und schwitzt. Aber er ist freundlich. Viel gibt es nicht zu sagen. Halb neun muss es gewesen sein, als er zum Angeln in den Hafen kam. Da lagen die drei schon da. Eine andere Person hat er bei ihnen die ganze Zeit über nicht gesehen. Nur die gegenüber, die am Boot arbeiteten, sind ihm aufgefallen. Persönlich kennt er keinen der Männer. Einen Termin zur schriftlichen Aussage bekommt Hans Gripp für Montag. Dann darf er nach Hause gehen. Da hat er jetzt was zu erzählen.
Die meisten Neugierigen haben sich zerstreut. Ein Getränk ruft oder das Sonntagsessen.
Viel gab es nicht zu sehen. Die Polizisten sagen nur wenig. Gedämpft wird geredet. Ein Arbeitsunfall war das nicht. Wer ist das denn, der da liegt? Wen bringt die Polizei weg?
Die ganze Zeit über steht ein Mann etwas abseits und beobachtet die Szenerie. Er verlässt seinen Platz vor der einfachen Hafenkantine nicht und fragt auch niemanden. Er schaut nur und raucht seine Pfeife. Erst als die Leiche weggebracht wird, geht auch er.
In der Stadt hört man an diesem Sonntag einige Leute davon erzählen. Es gab einen Toten im Störhafen. Mehr weiß man nicht.
2
In der Redaktion der Itzehoer Nachrichten am Sedanplatz wird Montagmittag an allen Schreibtischen gearbeitet. Es ist die größte Zeitung der Stadt mit ihren 10 000 Seelen und ihrer ländlichen Umgebung. Tausende lesen das Blatt hier in der Mitte der preußischen Provinz Schleswig-Holstein oder geben dort ihre Inserate auf.
Auch Arno Nolte hackt auf seine Schreibmaschine ein. Seit 11 Jahren ist er Redakteur. Kennt die Stadt wie seine Westentasche, kennt vor allem die, auf die es ankommt. Lokales ist seine Strecke. Am liebsten schreibt er über Sachen, die der Courier oder die verschiedenen Parteiblätter mit Sitz in der Stadt, wie das Norddeutsche Echo der Sozialdemokraten oder die Schleswig Holsteinische Tageszeitung der Nationalsozialisten, nicht haben. „Viele Pfennige ergeben eine Mark“ – so lautet seine Devise.
Die Zeiten sind schlecht. Die Not macht vor der Presse nicht halt. Wer arbeitslos wird, spart schnell an einer Zeitung. Wer bankrott ist, dem hilft keine Annonce mehr. Im Verlag gab es Kündigungen. Jungredakteure waren betroffen, aber auch Arbeiter aus der Druckerei. Seit drei Jahren, als mit dem Schwarzen Freitag an der Börse im fernen New York die Wirtschaftskrise der Welt begann, geht es auch hier in Mittelholstein bergab. Und das Tempo der Talfahrt wird immer schneller.
Nur wer schwimmt, geht nicht unter. Das will Nolte, er hat Frau und zwei Kinder.
Weniger Redakteure bedeutet mehr Arbeit für die verbliebenen. Heute früh war er auf der zentralen Stempelstelle der Stadt. Ein Erwerbslosenausschuss hatte zu einer Protestaktion vor dem Gebäude des Arbeitsamtes aufgerufen. Von den Roten inszeniert. Reden wurden gehalten. Mehr Stütze wurde verlangt und vom Staat finanzierte Gemeinschaftsarbeiten. Eine neue Regierung für das Volk wird gefordert. Nächsten Monat sind wieder Reichstagswahlen. Zugehört und geklatscht haben viele. Als dem Leiter des Amtes eine Petition übergeben werden sollte, gab es Tumulte. Polizei hatte den Eingang abgeriegelt. Nur Arbeitslose mit Stempelkarte fanden in kleinen Gruppen Einlass. Da riefen die Redner zu einer Demonstration durch die Innenstadt auf, zum Rathaus sollte es gehen. Der Aufzug wurde erlaubt, viele gingen aber nicht mehr mit.
Nolte hat aufmerksam zugehört und einen verteilten Handzettel mit in die Redaktion genommen. Daraus schreibt er jetzt einen kleinen Artikel. Zwei Fotos hat er auch geschossen. Aber der Chefredakteur will nur einen Text. Das Ganze nicht zu groß, ist seine Meinung. Die Zeitung ist parteipolitisch neutral.
Am Nachmittag will Nolte zum kleinen Zirkus, der auf den Malzmüllerwiesen spielt. Da kann er ein Foto schießen, das passt. Vielleicht fallen auch Freikarten ab für seine Kinder. Gebrannt hat es in Tegelhörn, aber wohl nichts Großes. Da kann er bei der Feuerwehr anrufen und einen weiteren kleinen Artikel schreiben. Um sechs beginnt die Ratssitzung. Die Tagesordnung hat man ihm geschickt. Die Sitzungen sind ermüdend, aber da muss er hin.
Mit dem Arbeitslosenartikel ist er fertig. Jetzt geht er durch, was Nansen gebracht hat. Ein Freier, der nicht festangestellt ist, sondern mit Zeilenhonorar bezahlt wird. Der ist auch schon viele Jahre bei der Zeitung und schreibt Berichte über die Itzehoer Gerichtsprozesse. Ein ganz Netter, schwer kriegsbeschädigt, bessert seine kleine Rente auf. Seine Berichte muss er einem festen Redakteur vorlegen. Nolte macht das bei ihm meistens. Auch dieser ist ordentlich geschrieben, fast fehlerfrei und kann zum Setzen gehen. Ein Heiratsschwindler ist verurteilt worden. Dass es so was in diesen Zeiten auch noch gibt, denkt Nolte. Aber 14 Jahre nach dem großen Krieg gibt es auch viele Kriegerwitwen und andere Frauen auf der Suche nach dem kleinen–großen Glück.
Sein Telefon klingelt.
Die Stimme kennt er. Aber was redet der Mann von einem kranken Kind? Klar, der kann wohl nicht offen reden. Jetzt geht es. Es ist eine von Noltes Polizeiquellen. Beamte, die er kennt, manchmal zum Bier einlädt oder denen er auch mal einige Mark zusteckt. Im Gegenzug erhält er Informationen, die gar nicht oder wesentlich später bekannt werden sollen. Sie sind das Salz in der Suppe eines Lokalreporters. Viele Pfennige ergeben eine Mark.
„Moin, Hanno, wie geht’s und was gibt’s?“
Was er hört, lässt Arno Nolte nach Ende des Anrufs erst einmal die Schnupftabakdose aus seiner alten Anzugjacke nehmen. Er genehmigt sich eine Prise für beide Nasenlöcher.
Es geht um den Toten von gestern. Davon weiß er natürlich schon. Aber jetzt kommt Neues. Der Tote ist ein junger Lehrer von der Kaiser-Karl-Schule, dem Itzehoer Jungengymnasium. Den Namen hat Nolte jetzt auch. Wo mag dessen Familie leben? Er soll wohl erschlagen worden sein. Mehr weiß seine Quelle nicht. Jedenfalls nicht die Polizisten in Uniform, denkt der Redakteur.
Dann muss Arno Nolte beinahe lächeln.
Zwei junge Männer lagen im Hafen direkt bei dem Toten. Sie waren sturzbetrunken und wurden mit Mühe auf die Wache gebracht. Zwei Minderjährige, Gymnasiasten, glaubt die Quelle. Am Sonntagnachmittag mussten ihre Väter sie von der Polizei abholen.
Jetzt spitzt er die Lippen und pfeift leise den Anfang von „Ein Jäger aus Kurpfalz“, seinem Lieblingslied in der Volksschule. Auf dem Redaktionstisch von Arno Nolte ist, durch einen Telefonanruf, so was wie ein üppig gepackter Präsentkorb angekommen. Mit Würsten, gutem Bohnenkaffee, einem edlen Wein, Lübecker Marzipan und teuren Zigarren aus Übersee. Nolte muss nur zugreifen.
Der eine Junge ist der Filius von Johannes Butenschön, dem Vorsitzenden der Sozialdemokraten in der Itzehoer Ratsversammlung und einem hohen Tier bei den Gewerkschaften.
Und der andere Vater, der in die Wache kommen musste, ist Marcus van de Los, der Zuckerfabrikant und Förderer von Kultur in der Stadt.
Nolte muss nicht lange kombinieren, um zu wissen, dass dies eine Geschichte für ihn ist.
Die Sprösslinge des ersten SPD-Bonzen und des vielleicht reichsten Mannes der Stadt liegen betrunken neben einem Erschlagenen. Der ist vielleicht ihr Lehrer. Sind sie eines Mordes verdächtig? Aber doch zumindest wichtige Zeugen. Wie kommen sie betrunken in den Hafen? Was verbindet die drei? Was ist im Störhafen geschehen? Warum wurde der Lehrer totgeschlagen? Und von wem?
Was sagen die Jungs? Was ihre Väter? Was macht die Kriminalpolizei?
Nur die letzte der Fragen kann rasch beantwortet werden.
Kommissar Mock, der Chef der Itzehoer Kripo, will zur Mittagspause aufbrechen und ist am Telefon kurz angebunden. Nolte und er stehen sich eigentlich ganz gut.
„Gibt es denn schon Erkenntnisse zu der Leiche im Hafen“, fragt der Redakteur ihn mit freundlicher Stimme.
„Mein Gott, Nolte, er ist grad mal 24 Stunden kalt. Wir ermitteln.“
„Und die Todesursache ist auch noch nicht bekannt?“
„Wir sind Kriminalbeamte, keine Hexer oder Wahrsager.“
„Aber ein natürlicher Tod ist doch wohl auszuschließen?“
Mock macht einen Grunzlaut, den Nolte als Zustimmung wertet.
„Gibt es denn Zeugen der Tat. Es sollen junge Männer ganz in der Nähe der Leiche gefunden worden sein?“
„Verschonen Sie mich, Nolte, mein Magen knurrt. Wir warten die Leichenschau ab, dann wissen wir mehr. Die Polizei ermittelt, das dürfen Sie gerne schreiben. Oder fragen Sie den Staatsanwalt Rohwedder.“
„Und die beiden jungen Männer bei der Leiche sind …“
Doch Nolte kann nicht einmal die Frage zu Ende bringen. Der Kommissar hat aufgelegt.
Dann lässt der Redakteur sich von der Vermittlung mit Staatsanwalt Rohwedder verbinden. Der ist nicht zu erreichen.
Diesen Artikel wird er schreiben. Das soll seine Geschichte werden. Da ist doch was draus zu machen. Vielleicht so wie der „Scheunenmord“ im letzten Herbst. Der junge Pole, der ganz augenscheinlich die Bauerntochter auf einem Dorf gehängt hatte und zu lebenslänglich verurteilt wurde. Eigentlich zu milde, wie Nolte immer noch denkt.
Oder das neue schwere Verbrechen, das die Stadt erschüttert: der „Mündel-Mord“. Vor drei, vier Wochen passiert und vielleicht noch in diesem Sommer vor dem Schwurgericht. Ein Mann aus dem Westfälischen erwürgte einen pensionierten Amtmann in Itzehoe. Es gab zunächst keinen Hinweis, dass die beiden sich überhaupt kannten. Dann wurde ermittelt, dass der eine vor langer Zeit der Vormund des Mörders war. Das Mündel lebte über Jahre in dessen Haushalt. Nun, anderthalb Jahrzehnte später und als erwachsener Mann kam er in die Stadt, beging die Bluttat und stellte sich der Polizei. Seither schweigt er im Gefängnis. Wenig ist bekannt, viel wird spekuliert. Etwas Dunkles muss damals geschehen sein. Warum kam der Mann, ein Waisenkind, mit solchem Hass nach langen Jahren zurück?
Jetzt muss er aber erst mal zum Chefredakteur. Wegen der neuen Sache. Der sitzt hinter Glasscheiben mit Blick auf die Redaktion. Nolte klopft, und ihm stößt süßlicher Pfeifentabak entgegen. Nicht sein Geschmack.
Nolte erzählt kurz die Fakten. Der Chef weiß, dass er spezielle Informanten hat, duldet es und will auch nie wissen, wer Noltes Quellen sind.
„So, so …“ sagt er nach einer kleinen Nachdenkpause und bläst Rauch aus. „Es gibt also wenig Konkretes, außer den Jungen und dem Toten natürlich. Aber ihre Rolle ist unklar, so ist es doch.“
„Von einem Verbrechen kann man wohl ausgehen. Dafür sprechen schon die Umstände. Und die jungen Herren sind mit Sicherheit wichtige Zeugen, vielleicht mehr. Das gilt es herauszufinden.“
„Gut, Nolte, schreiben Sie einen Artikel, zweispaltig, für die erste Lokalseite. Mit allem, was wir bisher haben. Sie können der Sache auch weiter nachgehen. Aber nur Tatsachen. Wir können keinen Ärger brauchen, von keiner Seite.“
Der Chefredakteur beginnt die Pfeife auszukratzen.
„Sollte ich vielleicht versuchen, die Familien um eine Stellungnahme zu bitten, ich …“
Nun klopft der Chefredakteur mehrmals mit der Pfeife auf den Rand des Aschenbechers, um den Pfeifenkopf ganz zu leeren.
„Unterstehen Sie sich. Keinen Ärger habe ich gesagt. Beide Väter stehen ja im öffentlichen Leben. Herr van den Los unterstützt generös den Theaterverein, wo auch meine Frau … Natürlich soll alles berichtet werden. Aber nur das, was für Polizei und Staatsanwaltschaft gesichert ist.“
„Nun ja, ich verstehe. Über den Toten kann ich aber Erkundigungen einholen?“
„Natürlich, Nolte. Das können Sie. Aber ansonsten alles mit Fingerspitzengefühl.“
Der Chef ist bei diesem Thema also Diplomat. Aber verboten hat er nichts. Es kommt nur auf den richtigen Dreh an. Und man muss die Sache sich entwickeln lassen. „Eile mit Weile“ und dranbleiben. Das kann Nolte.
Zurück an seinem Platz, beginnt er, an dem Artikel zu arbeiten. Viel hat er nicht. Aber es würde ja auch nur sein allererster Artikel zum Mord im Störhafen sein. Oder besser erst mal nur vom „Verbrechen im Störhafen“ schreiben. Da kann er später nachlegen, wenn die Leichenschau beendet ist. In der Schule sollte er mal anrufen. Die machen doch sicher eine Trauerfeier. Oder er könnte vorbeigehen. Auf dem Weg zum Zirkus. Die Freikarten locken. Den kleinen Artikel zum Brand kann ein Kollege verfassen.
Und Vater Butenschön sieht er ja am Abend auf der Ratssitzung. Der rote Jonny. Ein Sozi ist Nolte nicht. Aber mit Butenschön werden Sitzungen manchmal unterhaltsam. Er liebt eine deftige Ausdrucksweise. Und was vertragen nach den Sitzungen, im Gasthof Zur Linde, kann er auch.
Den könnte er vielleicht mal kurz unter vier Augen fragen, ob der Filius schon wieder ausgenüchtert ist und was er so erzählt. Jonny ist doch nie um eine Antwort verlegen. Beim Zuckerbaron ist es schwieriger. Der ist ganz oben und sehr angesehen. Mit dem hat er noch nie zu tun gehabt. Der hat viele Freunde in der Stadt. Aber doch sicher auch Neider. Vielleicht wissen die was. Die muss er finden.
Nolte schmunzelt beim Tippen. Viele Pfennige ergeben eine Mark.
3
Das Gasthaus Laage am Sandberg serviert seinen Mittagsgästen das Tagesgericht oder ein Essen von der Karte. Groß ist der Speiseraum nicht, aber schon ein bisschen gediegen. Die weißen Tischdecken sind zwar etwas abgewetzt, aber immer frisch-sauber. Es gibt einen festen Kreis von Stammgästen, neue Gesichter sind eher selten.
Fräulein Gerda, die Serviererin, ist eine Institution. Freundlich und mit den kulinarischen Vorlieben ihrer Gäste vertraut. Jetzt nimmt sie die Bestellung vom hinteren Fenstertisch auf.
Dort sitzen an diesem Montag zwei ihrer Stammgäste. Johannes Blum und Peter von Brixen. Zwei Männer von Mitte dreißig. Rechtsanwälte in ihrer Geburtsstadt und enge Freunde, seit sie gemeinsam von der Sexta an alle Klassen der Kaiser-Karl-Schule besucht haben.
Die Unterschiedlichkeit ist die Basis der jahrzehntelangen Freundschaft. Brixen ist aus verarmtem Adel, hat aber reich geheiratet. Blums verstorbener Vater war Tischler. Brixen trägt einen guten blauen Anzug, heute auch mit Kavalierstaschentuch. Blum trägt einen seiner drei abgetragenen Büroanzüge. Brixen hat eine Ehefrau und zwei Söhne. Blum ist unverheiratet. Blum war Brixens Trauzeuge. Brixen wäre das gern auch für ihn.
Brixen liebte auf der Schule Latein und Blum Geschichte. Blum zog als Freiwilliger in den Krieg des Kaisers und kam verwundet und desillusioniert zurück. Brixen war wegen eines Gelenkleidens nur garnisonstauglich und blieb zu Hause. Der eine ist seit der Schulzeit „Blumi“ und der andere wegen seines Hinkens „Ente“.
Unterschiedlich sind auch ihre beruflichen Tätigkeiten. Blum arbeitet schon immer als Strafverteidiger, er vertritt Klienten, die wegen kleiner oder größerer Straftaten vor Gericht stehen. Brixen hat durch seine Frau Zugang zu den höheren Kreisen und ist ein gesuchter Anwalt für Ehescheidungen und arbeitet für Firmen.
Ihre Freundschaft wird manchmal auf die Probe gestellt, bewährt sich aber eigentlich immer.
Fräulein Gerda muss nicht lange fragen. Beide Herren nehmen das Tagesgericht. Das Holsteinische Bauernfrühstück, Bratkartoffeln, Rührei, Schinken und eine große Gurke. Nach dem Essen wird sie einen starken Kaffee bringen und wohl auch einen Weinbrand. So wie immer.
„Ist mit Margaretha alles in Ordnung?“, fragt Blum. Sie ist schwanger.
„In gut drei Monaten soll es soweit sein. Du kennst sie ja. Wenig könnte meine Gattin einschränken. Und eine gewisse Übung hat sie ja auch schon“, erwidert Brixen mit halbvollem Mund.
„Und mit Fräulein Nissen, ein Herz und eine Seele?“
Seit Monaten ist Blum mit einer Kunstlehrerin der Höheren Töchterschule liiert. Sein Freund kennt sie auch. Denn Frau von Brixen und Agnes Nissen gehören zum Itzehoer Kunstverein.
Blum wischt sich mit der Stoffserviette den Mund. „Agnes und ich, das ist schön.“
„Und?“ Brixen lächelt beim Essen.
„Was, und?“ Blum lächelt auch. „Du möchtest mit mir zu Kirche und Standesamt?“
„Drum prüfe, wer sich ewig bindet …“ Brixen deklamiert.
„Ob er nicht noch was Besseres findet“, fällt ihm Blum ins Wort.
„Banause. Wir haben Schillers Gedicht beide auswendig lernen müssen: Drum prüfe, wer sich ewig bindet. Ob sich das Herz zum Herzen findet.“
Beide müssen lachen und sind bald mit dem Essen fertig.
Zum Kaffee zündet Blum sich eine Sanoussi, seine Zigarettenmarke, an. „Bevor Du mit Deiner ständigen Fragerei weitermachst. Ich würde mich gern mit Agnes verloben. Ich warte auf einen günstigen Moment.“
„Nur nicht zu lang.“ Brixen trinkt seinen Weinbrand.
Die Anwälte sprechen dann über Fälle, die sie in ihren Büros haben. Besonders Brixen kennt immer süffisante Geschichten aus den besseren Kreisen. Aber selbst bei ihm nimmt die Zahl der Klienten ab. Auch kleine Geschäftsleute oder Handwerksbetriebe sind von der Krise bedroht oder müssen sogar aufgeben. Das trifft auch zum Teil seine Mandantschaft. Bei Blum gibt es ebenfalls weniger Arbeit. Nicht, dass die Zahl der Straftaten sinkt. Aber viele können sich keinen Anwalt an ihrer Seite mehr leisten.
„Am 10. Juli, einem Sonntag, würde ich gerne mit Dir und unseren kunstsinnigen Damen nach Hamburg fahren. Die können in Kunst machen, und wir könnten uns die Wahlkampfrede von Hitler anhören. Er spricht, und ich möchte einfach nur hören, was so viele Leute an dem finden.“
Blum glaubt, sich verhört zu haben. „Was hast Du vor?“
„Er spricht dort, öffentlich, auf dem Heiligengeistfeld. Ich habe es gelesen. Zu den Reichstagswahlen Ende Juli. Ich möchte mit eigenen Augen sehen und mit meinen Ohren hören, warum ihm so viele hinterherlaufen, hier ja schon die Mehrheit.“
„Also, ich weiß nicht. Du hast Ideen. Kauf Dir ihre Zeitung, oder geh in der Stadt in ihre Versammlungen. Du spinnst. Ich will ihn nicht wählen und nicht hören.“
„Wählen will ich ihn auch nicht. Aber hören schon. Millionen Deutsche machen dort ihr Kreuz. Besonders viele in unserer Gegend. Und Versprechungen machen auch alle anderen Parteien. Er bekommt aber die Stimmen, warum?“
„Und Deine sehr schwangere Frau willst Du dahin mitnehmen?“
„Nein. Für Margaretha und Deine Agnes gibt es sicher etwas von Interesse in der Kunsthalle. Und wir alle zusammen könnten essen und an der Alster spazieren gehen. Die Kundgebung ist erst am Nachmittag.“
Blum ist unwillig und wechselt das Thema. Er möchte etwas über Brixens Verlobungsantrag wissen. Aber der macht den langen Zeitablauf geltend und findet, das sollte ein Mann ganz für sich entscheiden.
„Ich habe es schon mal gemacht, vor Jahren“, sagt Blum. „Es hat mir viel Schmerz bereitet“: Eine Verlobung nach bestandenem Examen in Berlin war gescheitet.
„Fass Dir ein Herz. So eine wie die patente Lehrerin findest Du nicht wieder. In Deinem Alter.“ Brixen trinkt den Rest Weinbrand.
„Und wenn Du erst Ehemann bist, gilt für Dich ein Leben lang regum regum rogamus. König der Könige.“ Brixen liebt seine lateinischen Zitate. Und lacht unverhohlen.
Die Freunde brechen auf. Brixens Büro ist in der Breiten Straße. Blum hat seine Kanzlei in der Nähe von Gericht und Gefängnis.
Der kleine Fußmarsch in der Junisonne tut ihm gut. Im Büro warten Akten und seine Nachmittagssprechstunde.
Seine Sekretärin, Clara Hansen, tippt. Seit er vor fast sieben Jahres das Büro eröffnete, ist sie bei ihm angestellt. Loyal, tüchtig und herzlich. Einige Jahre älter als er, noch ganz jung war sie Kriegerwitwe geworden. Ihr Mann fiel an der Westfront. Seitdem lebt sie allein. Das würde sich bald ändern. Im Juli heiratet sie einen ebenfalls verwitweten Justizbeamten. Blum ist zur Hochzeit eingeladen.
Nach dem Durchsehen der Post und dem Unterschreiben fertiger Briefe beginnt seine Sprechstunde.
Sein erster neuer Klient ist am Kopf bandagiert. Es gab eine Schlägerei. Jetzt wirft man ihm Körperverletzung vor. Wie mag der andere aussehen, denkt Blum, und lässt sich eine Vollmacht unterzeichnen.
4
In der Dienstagsausgabe der Itzehoer Nachrichten vom 28. Juni 1932 ist Arno Noltes Artikel nur klein gebracht. Er steht unten auf der ersten Lokalseite.
Darunter sind Kleinanzeigen für getragene, aber „herrschaftliche“ Herrenkleidung aus einer Konkursmasse, und für 5 RM im Monat wird Klavierunterricht angeboten. Daneben ist ein Kasten mit Veranstaltungen, die heute in Itzehoe stattfinden. Ein Vortrag, freiwilliges Blutspenden und eine Wahlversammlung mit Aussprache.