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Klaus Groth ca. 1896
Aufnahme: Ferdinand Urbahns sen.

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Diese Ausgabe wird getragen
von der Klaus-Groth-Gesellschaft e.V., Heide

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ISBN Printausgabe: 978-3-8042-1174-7

Einleitung: Klaus Groth und seine Memoiren

Seine „Gesammelten Werke“ wollte Klaus Groth durch einen Band mit seinen „wissenschaftlichen Arbeiten über Mundarten“ und einen Band „Memoiren“ ergänzen.1 Sein Tod hat diesen Plan verhindert. Dabei waren die Vorarbeiten zum Memoiren-Band schon weit gediehen. Groth hatte bereits einen Herausgeber für seine Erinnerungen gefunden, der entsprechende Texte in Abstimmung mit dem Autor geordnet und redaktionell bearbeitet hatte. Auf eine derartige Mitarbeit hat Groth in seinen späten Jahren gern zurückgegriffen. Auch zur Herausgabe der poetischen Werke in den „Gesammelten Werken“ hat ihm ein „freundlicher Helfer“ (in diesem Falle Karl Köster aus Marne) zur Seite gestanden. Bei den Memoiren war es Theophil Zolling, der Herausgeber der Wochenschrift „Die Gegenwart“. Dieser war 1897 von sich aus an Groth herangetreten und hatte ihn angeregt, für jene Zeitschrift „Autobiographisches von Klaus Groth“ zu verfassen. Groth kannte und schätzte Zolling, der als angehender Schriftsteller einst das Ehepaar Groth in Kiel besucht hatte. Dessen Bitte ließ ältere Pläne wieder aufleben, die in der Zeit um Groths 70. Geburtstag entstanden waren. Damals verstärkte sich das Interesse an Groths Biographie wie auch an seiner Dichtung, das in den Jahrzehnten vorher deutlich zurückgegangen war, und so erreichten Groth damals verschiedene Bitten um autobiographisches Material für Darstellungen seines Lebens. Bezeichnenderweise kamen die drei wichtigsten Anfragen aus den Niederlanden, nämlich vom Antwerpener Stadtbibliothekar Constant Jacob Hansen, der in einer „Dietschen Beweging“ das Bewusstsein eines sprachlich-kulturellen Zusammenhangs „von Dünkirchen bis Königsberg“ zu fördern suchte, von dem Amsterdamer Seminarlehrer Joh. A. Leopold, der an einem Sammelwerk „Mannen van Betekenis“ (Persönlichkeiten von Bedeutung) mitarbeitete, und von dem jungen flämischen Dichter Pol de Mont. Vor allem an Jacob C. Hansen hat Groth daraufhin eine ausführliche Darstellung geschickt, die Hansen auch vielfach wörtlich – allerdings in niederländischer Umsetzung – benutzt hat. Bei späteren Anfragen hat Groth gern auf Hansens Buch verwiesen. Weitere Auskünfte hielt er zurück mit der Begründung: „Augenblicklich gebe ich nicht gern Material aus dem Hause, da ich vielleicht neue Ausgaben meiner Schriften, vielleicht eine Gesamtausgabe machen werde, wozu ich es brauche.“2 Diesen Plan hatte er gewiss im Auge, als er im September 1897 auf Zollings Anregung einging. Zudem hatte Groth kurz zuvor einen ganz neuen Text verfasst, der eigentlich nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, sondern ganz privat niedergeschrieben wurde, um seinem schwer kranken Freund Johannes Brahms eine Freude zu machen. Die Anregung zur Themenstellung dieser Ausführungen kam aus England von einem andern Freund, nämlich dem in Oxford lehrenden Sprach- und Religionswissenschaftler Max Müller, der in einem Aufsatz „Musical Recollections“ von Begegnungen mit musikalischen Berühmtheiten während seiner in Deutschland verlebten Jugend berichtet hatte. Als bescheidenes Gegenstück dazu hat Groth die Aufzeichnung seiner musikalischen Erlebnisse verstanden. Als Groth Zollings Anfrage erhielt, war Brahms bereits gestorben, und Zolling unterstützte lebhaft den Gedanken Groths, seine persönlichen Beobachtungen aufzuschreiben. Groth hat daraufhin seine Erinnerung an den verstorbenen Freund verfasst. Zolling hat dann nach und nach alte und neue Texte bekommen, und dieser hat ein Konzept für die Veröffentlichung entworfen. Er schlug eine Reihenfolge vor und empfahl auch einige Umstellungen innerhalb der Texte, die er dann mit Groths Zustimmung durchgeführt hat – im Wesentlichen „mit der Schere“, wie Dieter Lohmeier es schildert, der die auf die Musik und speziell auf Brahms bezogenen Teile von Groths Memoiren in ihrer ursprünglichen handschriftlichen Gestalt rekonstruiert und herausgegeben hat.3

In der von Zolling hergestellten Gestalt sind Groths Memoiren-Texte auch veröffentlicht worden, und zwar – der Intention des Herausgebers entsprechend – als eine Serie von Aufsätzen, hauptsächlich in der von diesem selbst edierten „Gegenwart“, teils in der Zeitschrift „Deutsche Revue“. Daneben war von vornherein nicht nur von Groth, sondern auch von Zolling die Buchausgabe konkret geplant. Diese sollte allerdings ein wenig anders aussehen als die Folge der Zeitschriften-Aufsätze. Zolling hatte nämlich die Teile, in denen es um die Entstehung des Quickborn und um Groths Aufenthalt in Bonn und Dresden ging, um einige Textpartien gekürzt, die bereits in den von Eugen Wolff 1891 veröffentlichten „Lebenserinnerungen“ erschienen waren. Wolff hatte neben mündlichen Erzählungen Groths, wie es scheint, ausgiebig Groth-Zitate aus C. J. Hansens Groth-Biographie benutzt, die er vermutlich ins Deutsche rückübersetzt hatte. Zolling klagt in einem Brief vom 21.10.1897: „Prof. Wolff hat uns die schönsten Rosinen aus dem Kuchen geklaubt“. Und so hat er „‘Wie mein Qu. entstand’ unter Auslassung aller schon von Wolff abgedruckten Stellen mit vieler Hingabe redigiert“ (Brief vom 16.3.1898). Das Ausgelassene sollte aber im Buch berücksichtigt werden: „Alles von Wolff Gebrachte ist natürlich gestrichen; ich setze es Ihnen für die Buchausgabe an richtiger Stelle wieder ein“ (Brief vom 1.4.1898).

Die Wiederherstellung des ursprünglichen Textumfanges, die Zolling beabsichtigte, können die gegenwärtigen Herausgeber nicht mehr leisten. Zolling war es möglich, sich für seine Bearbeitung auf Groths Einverständnis zu stützen. Heutige Herausgeber, die einen verlässlichen Groth-Text vorlegen wollen, müssen sich dagegen streng an Gedrucktes oder Handschriftliches halten, üblicherweise an die „Ausgabe letzter Hand“, an die Textfassung, die der Autor zuletzt gebilligt hat. Das sind bei Groths Memoiren die Zeitschriften-Aufsätze. Doch sind diese – wie oben gezeigt – gekürzt, um nicht zu viel von dem zu wiederholen, was bereits in den von Wolff edierten „Lebenserinnerungen“ gedruckt war. Deshalb erscheint es angebracht, diese „Lebenserinnerungen“ vor die Reihe der Memoiren zu setzen. Aber nicht nur dieser Zusatz zum Memoiren-Plan von Groth und Zolling bietet sich an. Es existiert weiteres autobiographisches Material von Groth, das aus verschiedenen Anlässen in unterschiedlichen Lebensphasen entstanden ist.

Schon 1858 hat Groth für Louise Petersen eine „Lebensskizze“ geschrieben. Diese Frau war eine wohlhabende Senatorentochter aus Garding, die sich für den Quickborn begeisterte, weil dieses Buch ihr die Augen für die Schönheit und den poetischen Wert ihrer Umwelt geöffnet hat. Dieser Text ist jedoch erst 1932 als Privatdruck in kleiner Auflage veröffentlicht worden. – 1864 verfasste Groth, angeregt durch die Situation des deutsch-dänischen Krieges, „Die patriotische Wirksamkeit eines schleswig-holsteinischen Privatmannes“, wobei er sein eigenes Verhältnis zur schleswig-holsteinischen „Erhebung“ 1848-51 darstellt. Aber auch dieser Text ist erst spät, nämlich 1930, in limitierter Auflage gedruckt worden. – 1870 entstand aus Anlass einer Denkmalseinweihung ein später mehrfach nachgedruckter Zeitungsartikel über „Preußers erstes Debüt als Artillerist auf Fehmarn“ über selbst erlebte Episoden der Erhebungszeit, der das Bild des vorgenannten Textes ergänzt. – 1881 hat Groth eine Betrachtung über seinen Verkehr mit dem politisch engagierten Historiker und Literaturhistoriker Georg Gottfried Gervinus niedergeschrieben, der mit seinem Urteil über Proben aus dem „Quickborn“-Manuskript den Weg zur Veröffentlichung des Buches geebnet hat. Groth kam damit einer Bitte von Gervinus’ Witwe nach, die nach dem Tode ihres Mannes eine Erarbeitung von dessen Biographie plante. Diese kam aber nicht zustande, weshalb Groths Schrift erst 1949 an abgelegener Stelle aus dem Gervinus-Nachlass veröffentlicht worden ist. – 1884 war der Tod von Emanuel Geibel Anlass für Groth, seiner Freundschaft mit diesem Dichter zu gedenken.

Einige auf persönliche Erinnerungen gegründete plattdeutsche Skizzen, die Groth meist als kleine Beiträge für in plattdeutscher Sprachform erscheinende Zeitschriften entworfen hat, können diesem Bild noch einzelne belebende Farbtupfer aufsetzen.

Dieser Textbestand war für die Herausgeber verfügbar: Schon die für die Gesammelten Werke vorgesehene Aufsatzreihe beruht nicht auf einer planmäßig entwickelten Gesamtkonzeption. Das gilt umso mehr für die übrigen Beiträge, die aus unterschiedlichen Anlässen und für wechselnde Adressaten niedergeschrieben worden sind. Aber diese Vielfalt hat auch ihre positiven Seiten. Die zu verschiedenen Zeiten aus verschiedenen Perspektiven verfassten autobiographischen Zeugnisse ergeben zusammengenommen ein differenziertes Bild von Groths Leben und öffnen vielfach aufschlussreiche Blicke auf seine Zeit. Das gilt insbesondere, wenn man die jeweiligen Entstehungsbedingungen berücksichtigt.

Die vorliegende Ausgabe sucht diesen Tatbeständen gerecht zu werden, indem die einzelnen Beiträge chronologisch geordnet mit Angabe der Entstehungsbedingungen erscheinen; nur die plattdeutschen Skizzen bilden eine Gruppe für sich.

Inhaltlich sind es zwei Gesichtspunkte, die die Darstellungen prägen, nämlich einerseits Groths Werk – mit dem Quickborn im Zentrum – und andrerseits Begegnungen mit bedeutenden Persönlichkeiten, mit denen der Dichter in Beziehung gekommen ist. Mit Blick auf das Werk tritt Groths Sendungsbewusstsein hervor. Sein Ziel war es, wie er schon in der ersten Quickborn-Auflage erklärt hat, „poetische Darstellungen aus dem Volksleben“ zu schaffen, „worin das Volk sich selbst idealisirt kennen lernt“; seine Absicht war es, damit „die Ehre der plattdeutschen Mundart zu retten.4 Jedenfalls war dies ein Ziel, das dem hohen Anspruch entsprach, den Groth an sich selbst stellte. Mehrfach betont er, dass ihm dieses Vorhaben nicht wie selbstverständlich zugewachsen wäre. Zwar war er sich seiner Hochbegabung bewusst, doch machte ihn das nicht selbstzufrieden. Vielmehr sah er sich durch die außerordentliche Begabung zu außerordentlicher Leistung verpflichtet. Diese Leistung erbrachte er zunächst vor allem durch die Bewältigung eines ungeheuren selbst auferlegten Lernpensums. Er erarbeitete sich auf den verschiedensten Gebieten ein umfassendes Wissen. Dass der scheinbar so einfache Quickborn auf solchem universalen Hintergrund entstanden ist, lässt Groth in seinen Selbstdarstellungen immer wieder erkennen.

Die wiederholten Hinweise auf die selbsterarbeiteten Qualifikationen haben noch eine andere Seite: Nach Groths eigenen Intentionen sollte die Fülle seiner Kenntnis ihm einen würdigen Platz im Wissenschaftsbereich verschaffen. Dass das nicht in der Weise und auf dem Wege erreichbar war, wie er es erstrebte, hat Groth bis zu seinem Lebensende nicht gesehen und eingesehen. Und die Memoiren lassen in der Tat erkennen, inwiefern es für Groth nicht einsehbar sein konnte. Denn eigenes kritisches Forschen mit der „Andacht zum Unbedeutenden“ und dem Streben zur Exaktheit, wie sie der wissenschaftliche Alltag fordert, lagen ihm fern. Demgegenüber stellt Groth im Rahmen seiner Erinnerungen wiederholt heraus, wie er mit führenden Vertretern verschiedener Fächer als qualifizierter Partner über deren wissenschaftliche Vorhaben gesprochen hat. Und diese Leistung ist imponierend, auch wenn sie nicht zum erstrebten Ziel geführt hat. Ein Kopf mit einem so weiten Horizont ist und bleibt selten.

So zeigen die Memoiren: Das Phänomen „Groth“ beschränkt sich nicht auf seine Eigenschaft als Quickborn-Dichter, er ist eine herausragende Erscheinung seiner Zeit und – selbst wenn man ihn kritisch betrachtet – eine achtunggebietende Persönlichkeit.

Eine Lebensskizze

 (1858) 

Fräulein Louise Petersen in Garding

Ein Andenken an Ihren Freund K. G.

Louise Petersen (*1814, †1895), für die Groth die vorliegende Lebensskizze geschrieben hat, war die Tochter des Senators Peter Petersen in Garding, der eine Brauerei betrieb und einen beträchtlichen Landbesitz hatte. 1852 ging der Betrieb an ihren Bruder über, der unverheiratet blieb und dessen Hausstand sie leitete; nach dessen Tod 1874 übernahm sie selbst den Betrieb und den Besitz. Sie hat den „Quickborn“ früh bewundert und ist eine verlässliche Freundin der Familie Groth geblieben.

Das Manuskript Groths ist vom Großneffen Louise Petersens zur Verfügung gestellt worden; es wurde als Privatdruck veröffentlicht unter dem Titel: Klaus Groth: Eine Lebensskizze von ihm selbst / Herausgegeben durch die Dithmarscher Landesschule in Lunden, 1932. Druck: Westholsteinische Verlagsdruckerei Heider Anzeiger, Heide. Der Druck ist versehen mit einem Vorwort und Anmerkungen von Detlef Cölln. Der Verbleib des Manuskripts ist unbekannt.

Ich bin Autodidakt in allem, was ich weiß und kann – wenn es noch erlaubt ist, in jetziger Zeit von Selbstbildung zu sprechen, da alle Hülfsmittel der Bildung so zugänglich geworden sind wie niemals früher. Aber ich habe mir selbst die Ziele erkannt und gesteckt, schon frühzeitig darüber das Bewusstsein gehabt, habe die Wege mir dazu selbst gesucht und sie mit der eisernen Willenskraft eines Norddeutschen verfolgt und nie verlassen, bis ich es erreicht, was ich wollte. Habe ich Unterricht genossen, so hat er mir nur dazu als ein erkanntes Mittel geholfen. – Meine ersten Gedichte schrieb ich hochdeutsch von meinem 14.-16. Jahre1. Ich bin ein Spätreifer, sang noch in meinem 20. Jahre mit mädchenhaftem Angesicht, obgleich eines Kopfes länger als mittelgroße Männer, einen ungebrochenen Knabendiskant. Um jene Zeit meines 16. Jahres sah ich ein, dass meine Verse sich nicht über die Mittelmäßigkeit erhoben; ich dachte klar und konsequent, damit sei niemand gedient, weil genug von Mittelgut da sei, und nahm mir fest vor, erst etwas Ordentliches zu lernen, nach allen Richtungen hin Verstand und Herz offen zu halten und nicht eher einen Vers wieder zu schreiben, als wenn ich’s durchaus nicht lassen könnte. Das hielt ich wenigstens bis zu meinem 24. Jahre; nicht einmal ein Gelegenheitsgedicht habe ich gemacht; niemand hat geahnt (bis zuletzt auf ein paar Freunde), als mein Quickborn in meinem 33. Jahre erschien, dass ich einen Reim machen könnte. Dennoch habe ich nie den Gedanken aus dem Herzen verloren, einmal meinem Volke ein Dichter zu werden, der ihm seine Geheimnisse offenbare, ihm den Spiegel vorhalte. Meine äußeren Lebensverhältnisse sind daher untergeordnet für meinen Entwicklungsgang. Ich weiß freilich wohl, dass vielleicht etwas anderes aus mir geworden sein möchte, wenn sie anders gewesen; allein die Grundzüge meines Innern hätten sie nicht geändert.

Ich bin geboren in Heide, dem Hauptflecken2 der Nordhälfte des Ländchens Dithmarschen. (Sie finden über Ort und Landschaft hübsche Nachrichten in Müllenhoffs3 Einleitung zur 6. Aufl. des Quickborn). Meine Vorfahren sind von uralt freie Dithmarscher Bauern gewesen; ich vermute, dass ein Urahn wegen seiner Körpergröße einmal unseren Namen Groth (der Große) erhalten hat. Mein Vater4 hatte einen kleinen Landbesitz, worauf wir gegen 10 Stück Kühe und Jungvieh weideten. Eigentlich hatte er das Müller- und Zimmerhandwerk gelernt, kam aber heim und fasste seines Vaters Besitz an, als seine Mutter starb. Erst später kaufte er eine Windmühle, die, aus unserm Fenster sichtlich, einige hundert Schritte von unserm Hause ihm immer ins Auge gestochen. Bis dahin trieb er aus dem Hause den Verkauf von Mehl und Grütze. Es herrschte eine gewisse Wohlhabenheit und gänzliche Unabhängigkeit bei uns. Wir hatten Überfluss am schönsten Mehl, Milch, Butter, Fleisch und Gemüse und lebten fröhlich dabei. War doch genug da, dass noch immer ein armes Kind nebenbei mit ins Haus genommen und durchgefüttert wurde, und noch nennen zwei jetzt tüchtige Handwerker meinen Alten Vater.5 Ich verdanke diesem Leben alles, zumal eine Gesundheit, die zähe genug war, wirklich unglaubliche geistige Anstrengungen zu ertragen, ehe sie sich beugte, und noch blüht jetzt wieder nach zehnjährigem Druck meine Farbe jugendlich auf. – Mein Obbe (Großvater)6 wiegte mich, seinen erstgeborenen Enkel, auf den Knien; er hielt mir seine große silberne Taschenuhr ans Ohr, die noch hier vor meiner Schreibmappe glänzt als Andenken an den teuren Alten. Züge von ihm kommen im „Gewitter“ und im „Sonntagmorgen“ vor,7 in welchem letzteren mein Vater der Pockennarbige ist. Übrigens sprechen meine plattdeutschen Gedichte fast nie Selbsterlebtes in Goethescher Weise aus; man suche weder mich, noch andere in persona darin. Es sind lauter Ideale; natürlich aber ist jeder Zug in anderer Weise innerlich von mir erlebt. Großvater lehrte mich lesen, schreiben, rechnen, so früh, dass ich die Anfänge nicht erinnere. Ich weiß nur, dass mir in einem Rechnenbuche, das ich schon in meinem 5. oder 6. Jahre durchgemacht haben muss, die Brüche etwas Lebendiges, etwas Ameisenartiges hatten. Und nun entstand eine Wut zur Mathematik in mir, die noch meine Leidenschaft ist. Bis zu meinem 15. Jahre habe ich ganze Quartanten voll Lösungen von mathematischen, algebraischen, geometrischen, trigonometrischen Aufgaben schön zierlich geschrieben. Oft rechnete ich schon als 10-11jähriger Junge, selbst an Sonntagen, von morgens 6 Uhr bis abends 9, vergaß Spiel und alles, und mein Vater musste mich jeden Abend, den Gott werden ließ, von der Tafel zu Bette jagen. Ich denke noch an diese Zeit mit wahrhafter Wonne. Alles Übrige, was in der Schule getrieben wurde, kümmerte mich kaum; mein Gedächtnis hielt alles von selbst fest; nur das Rechnen war mir wie Übung, wie Arbeit, das andere wie Spiel. Ich erinnere nur, dass ein Kursus Naturgeschichte mich fesselte und eine Zeitlang ein geometrischer Unterricht. Natürlich verschlang ich nebenbei eine Masse Lektüre; doch ausgenommen etwa Coopers Lotse8, den Großvater sehr bewunderte und den ich abends vorlas (ich war vielleicht 9 Jahre alt), machte alles gegen jene Geistesgymnastik nur vorübergehenden Eindruck. Gedichte interessierten mich wenig; ich erinnere nur, dass Schillers Bürgschaft einen großen Eindruck machte, als ein Lehrer sie vorlas. Zur Schule ging ich mit solcher Lust und Leidenschaft, dass ich schon Jahre vor meinem Abgange die Tage berechnete, die ich noch nach hatte, und ich zog oft traurig wieder einige Wochen ab, die verflossen waren; Ehrgeiz mag mit dabeigewesen sein, hauptsächlich war es Lern- und Spiellust. Ich erinnere die Zeit nur als eine des immerwährenden innern Jubels. Strafe bekam ich nie, nur ein einziges Mal aus Versehen. Seit meinem 10. Jahre war ich gewohnt, der Oberste in den Klassen zu sein oder es gleich mit einiger Anstrengung, deren Gelingen ich mir sicher war, zu werden. Ich besuchte übrigens nur die Bürgerschule; die sog. Rektorschule, wo etwas Latein und Französisch gelernt wurde, war meinem Vater zu teuer; auch lag sie außer unserm Stande, und das fürchtete er noch mehr, und dazu konnte man dort nicht im Sommer einige Monate fehlen, wo ich mit aufs Feld an die Arbeit musste. Damals dankte ich ihm in meiner Lernwut nicht dafür; jetzt sei er aus tiefster Seele dafür gesegnet. Ich habe bei ihm auf dem Felde was Besseres gelernt. Erst in männlichen Jahren ist es mir durch Vergleich aufgefallen, welch scharfe Sinne wir Groths hatten. Mein Vater war selbst bis zum Geruch fast wie ein Wilder, und ich möchte wohl noch mit einem Indianer für Auge und Ohr einen Wettkampf eingehen. Da habe ich denn im Sonnenlicht Auge und Ohr vollgesogen in Gottes freier Welt, habe abends vor der Tür gesessen, müde, hungrig wartend aufs schöne Essen, Weisheit gehört vom Großvater, Kraft des Geistes und Körpers schätzen gelernt vom Vater, freier Männer freie Gesinnung empfunden. Großvater erzählte mir beim Heuen oder beim Torf von Odysseus, Homer, Sokrates, Alexander, von Napoleon, von den Kämpfen der alten Dithmarscher, deren Schlachtfelder wir rund um uns sahen. Heldengedanken kamen dabei aber nicht in mir auf, ich war eine Mädchenseele. Ich habe geweint, wenn ich im Bette lag und draußen der Nachbar die Flöte blies. Die wahre Poesie ist immer das gemeinsame Werk eines Volkes, niemals das eines einzelnen Menschen. Der Dichter wird geboren und erzogen: geboren mit reizbaren Nerven für die Eindrücke von außen, erzogen von seinem Volke, das ihm die Eindrücke liefert. Ich bin genug in der Welt umhergewandert, um mit klarer Erkenntnis sagen zu können, ein Völkchen wie meines, von solcher Wahrhaftigkeit, Treue, Verstand und Charakter, möchte schwer auf Erden zu finden sein. Meine Bücher sind nichts anderes als die Darstellung desselben. Wenn man es daraus erkannt hat, wird man mir einen großen Teil des Verdienstes abziehen können, und ich wäre glücklich, wenn ich sähe, dass man’s täte; ich weiß meinem Vaterlande nicht besser Dank zu sagen. Man hat noch nicht darauf aufmerksam gemacht, dass der berühmte Niebuhr9 vielleicht nirgends in der Welt hätte zu dem Historiker werden können, der er geworden, als in einem Ländchen, das länger als jedes andere in Europa seine alte Freiheit verteidigt, seine freien Institutionen bewahrt. In diesem gesegneten Lande Dithmarschen bin ich aufgewachsen. Nur in einem solchen Ländchen dringt man in das innerste Wesen der Menschenseele schon als Kind. Es gibt nirgends vielleicht eine solche allgemeine Personenkunde; man weiß von Tausenden, „was an ihnen“, weil niemand sich scheut, seine Meinung über jede zu sagen. Nirgends kommen Leute sich so nahe. Mich kennt fast jeder Norderdithmarscher; mein Vater wusste von Hunderten, wie es um Vermögen, Ruf, Zuverlässigkeit stand, da er mit halb Dithmarschen in Handelsverkehr stand. In unserer ganzen Feldmark kannte ich jedes Fleckchen Land, wem’s gehörte, was es wert sei, ob vernachlässigt, ausgepowert; jede Koppel hatte ein Gesicht und eine Geschichte. Wegebauten, Armenpflege, Prozesse, Familienangelegenheiten waren mir schon als Kind Sachen, an denen mein Herz teilnahm. Meine Mutter10 war eine hübsche, rasche Frau; mehr noch als sie wirkte meines Vaters Schwester auf mich, eine große, schöne, sanfte Gestalt. Ich habe ihr in meinen „Hundert Blättern“ 4 Sonette gewidmet.11 Sie beschützte mich gegen des Vaters härtere Weise. Strafe bekam ich freilich auch von ihm nie. Aber sein Blick und seine Vorwürfe waren mir schon schrecklich. Und wieder, wenn ich ihn mir vorstelle, wie er in seiner Mühle in der Tür lehnte, am Abend über den stillen Ort sah, so kenne ich kaum ein Bild größerer Ruhe und stilleren Friedens als diese markige Mannesgestalt mit den wunderbaren blauen Augen. Er kannte das Wetter wie keiner; er war kein Wetterprophet, sondern hatte einfache Grundsätze, so klar, wie ich nur später sie von den Meistern der Physik und Meteorologie Dove12, Kämtz13 und Humboldt14 ausgesprochen gefunden. Dies ist keine blinde Vergötterung. Ein Kenner der Naturwissenschaften, der in Berlin studiert hatte,15 hörte mit Erstaunen von mir meines Vaters Aussprüche, sagte, das seien Doves Grundsätze, und ging gleich zu dem Alten nach der Mühle, um mehr davon zu hören. Ich habe mit Verwunderung zugeschaut, wenn ein Gewitter aufkam, wenn wir draußen im Freien waren. Nichts entging ihm; jede Wolkenbildung wusste er zu deuten, Windrichtung, Niederschlag von Regen oder Hagel vorherzusagen. Dabei war er ernst und ruhig. Er war in der ganzen Nachbarschaft der Rater und Helfer; außer Arzt und Prediger wurde Hartwig Groth zu jedem Sterbenden geholt, und wenn er stille zu Haus kam und sagte: „De ward ni wedder“, so war man sicher, dass es eintraf. Er war nicht etwa ein Mann, der Mittelchen wusste oder religiösen Trost spendete. Er wirkte nur durch seine kraftvolle, ernste, ruhige Gegenwart. Ich habe ihn selbst am Krankenbette des Großvaters gesehen, wo er neun Wochen nicht aus den Kleidern kam, immer ruhig dabei aussah, alles tat mit geschickter Hand, was nur eine Wartefrau vermag. Und als der Obbe heimgegangen war, kam er nachts an mein Fenster (ich war nicht mehr zu Haus), klopfte an, und noch klingt mir seine ernste, ruhige Stimme: „Grotvadder is nu dot“16. Gottlob, er selber lebt noch, um zu sehen, dass er sich nicht getäuscht, als er mich 10 Jahre um einen Preis ringen sah, den ich nur halb, er gar nicht kannte. Nie habe ich eine Ermahnung von ihm bekommen, nie einen Zweifel gehört. Ich erinnere, dass er einmal lachend sagte, die Leute hätten ihn auf dem Markt gefragt, was ich eigentlich mache und vorhätte; er habe geantwortet, darnach möchten sie mich selbst fragen, er verstände es nicht.17 Es charakterisiert übrigens unser Volk: Vertrauen zur Menschennatur, Selbstvertrauen und Glauben, beides ist die Treue.

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Otto Speckter, Illustration zu Groths Gedicht „De Sünndagmorgen“

In meinem 16. Jahre kam ich zu einem Beamten in Heide,18 der nur eine kurze Strecke von uns wohnte. Ich hatte dort wenig zu tun, hauptsächlich die Visa in den Wanderbüchern der reisenden Handwerksgesellen zu besorgen, dann und wann eine Abschrift zu machen und über die Haushaltungsausgaben Rechnung zu führen, denn er war unverheiratet. Mein Vater hätte mich können studieren lassen, wenn auch mit einigen Opfern; warum er es nicht tat, ist für einen Landesunkundigen nicht gut begreiflich zu machen. Sich sein Brot zu verdienen, ist bei uns keine Sache der Angst. Für meinen Vater war leben und ein ordentlicher Mensch sein wichtiger als jede Art sozialen Ehrgeizes. Ich konnte auf dem Wege lernen und später ins Zollfach oder sonst eine Karriere ergreifen. Er wusste zu gut aus Erfahrung, wie wenig Studierte etwas Tüchtiges wurden. So ließ er mich gehen mit einer Gemütsruhe, die andern Gleichgültigkeit heißen würde. Ich ging also ans Lernen nach Herzenslust, zunächst freilich ganz ohne Lehrer. Doch das war ich von der Mathematik her gewohnt, wo es mir nicht einfiel zu fragen, da gerade die Lust darin bestand, jede Aufgabe ohne Hülfe zu lösen. So hatte ich 7 Rechenbücher durchgemacht. Also jetzt ging ich an das, was mir Bedürfnis war. Dahin gehörte zunächst eine schöne Handschrift. Die bildete ich mir in kurzer Zeit mit zäher Geduld aus, so dass die meinige im ganzen Lande berühmt war. Dann sah ich, dass ich nicht richtig deutsch schrieb. Also holte ich mir grammatische Bücher herbei und lernte bald, dass hinter dem brauchbaren Wissen noch höhere Wissenschaft steckte, die mir noch nicht erreichbar war, die ich mir aber ruhig und klar für später aufsparte; Jacob Grimms19 Name blieb mir wie ein Stern, dessen Licht und Wärme ich richtig auch in meinem 23. Jahre genoss. Die Mathematik wurde vorläufig bis weiter aufgesteckt. In den Jahren von 20-22 trieb ich sie wieder eifrig für die Physik. Vom 30.-32. Jahre habe ich nochmals während Ausarbeitung des Quickborn nebenbei fast nur Differenzial- und Integralrechnung getrieben; Poisson20, Lagrange21 kamen kaum von meinem Tisch. Einer meiner früheren Lehrer erbot sich damals (in meinem 16. Jahre), mir, da ich nicht gut zu anderer Zeit aus dem Hause konnte, morgens früh Privatstunden zu geben. Er stellte mir die Gegenstände frei. Ich hielt einen guten Stil für ein Haupterfordernis. Daher schlug ich ihm vor, Aufsätze bei ihm zu schreiben. Das tat ich denn mit grenzenlosem Eifer. Ich schrieb ganze Berge Papier voll. Ich hatte von Franklins22 Stilübungen gehört; daher schlug ich ihm etwas Ähnliches vor und machte es so an einem historischen Schriftsteller (Bredow23), dessen Stil mir sehr gefiel. Nebenbei musste ich bei ihm aus dem Stegreif etwas aufsetzen. Er gab mir eine Aufgabe: Unterscheidung von Achtung und Ehre. Ich sann darüber nach und sagte nachher, eigentlich wüsste ich nichts Rechtes darüber, ob man davon nicht vorher etwas lernen könnte. Ich sehe noch sein schmunzelndes Gesicht, als er mir wichtig ein geschriebenes Heft holte; es war ein Abriss der Psychologie. Diese (recht gute) Schrift packte mich wie mit Klammern. Oft kam ich in einen eigenen Zustand, wo mir vor Grübeln gleichsam die äußere Gedankenschicht einschlief, so dass ich nicht die Macht hatte, weiter zu lesen, weil die Augen stillstanden und der Mund gähnte. Um mich zu bezwingen, stieg ich in einen Birnbaum, so dass ich hinunterfallen müsste, wenn ich einschlief. Es war mir, als wenn alle Geheimnisse mir gelöst wurden. Paragraph für Paragraph grübelte ich das Buch durch. Da fand ich am Ende, dies seien nur die kurzen Resultate der tiefen Forschungen des größten Denkers Kant24. Ich sage ausdrücklich Denkers; denn Denken, das war seitdem lange das Lösungswort für das Rätsel des Wissens für mich. Was nicht Denken war, verachtete ich, das Spiel der Phantasie, beinahe die Dichtkunst selber, das historische Wissen, besonders aber die anschauende, beschreibende Naturwissenschaft, die doch später einmal Jahre meines eifrigsten Studiums einnehmen sollte. Aber Kant war mir seitdem ein neuer Stern. Ich schaffte mir seine Anthropologie an; seine Kritiken verschob ich instinktiv; ich habe sie im 21. Jahre meines Lebens versucht, studiert erst nach meinem 23. Jahre. Aber welch ein Glück, welche Gunst des Schicksals, das mir die Sterne vorhielt, dass es mir gewährte, was jetzt so wenigen wird: Respekt und geistigen Hunger.

Ich hatte mich ohne viel Besinnen entschlossen, Schullehrer zu werden. Mein Vater hatte nichts dagegen. Eine Stellung, wie sie z.B. die Lehrer an der Heider Bürgerschule hatten, war ganz anständig nach Besoldung und in der Gesellschaft. Die Auslagen für einen dreijährigen Kursus auf dem vielbesuchten Seminar in Tondern hoffte er bestreiten zu können. Ich dachte bloß an das Glück, 3 Jahre lang ganz meinem Innern leben zu können; an eine Stellung im Leben dachte ich gar nicht; etwas lernen außer für ein inneres Bedürfnis, das verstand ich gar nicht. Dies Bedürfnis zeigte mir von selbst die Objekte; um die Mittel war ich nie verlegen. Als mich der Hunger nach Musik ergriff, lieh ich mir einfach ein Klavier und Cramers Klavierschule25, und in einigen Wochen spielte ich Mozartsche und Beethovensche leichtere Sonaten. Ich spielte dann aber auch wochenlang von morgens, wo ich mich an einem Faden am Arm durchs Fenster wecken ließ, und das war vor 4 Uhr, bis zum Zubettgehen, und das war um 10 Uhr abends. Um etwas über Musik zu erfahren, las ich viele Jahrgänge der Leipziger Musikzeitung26, Generalbasslehre, musikalische Lexika; auf einige Bände kam’s mir nicht an. – Um jene Zeit lockte mich das Geheimnis irgendeiner fremden Sprache. Ich lernte daher bei meinem Lehrer, der mir spät abends Stunden geben konnte, in kurzer Zeit Dänisch und hatte meine innige Lust daran, in alle Eigentümlichkeiten des fremden Idioms meine Empfindung zu versenken. Vielleicht wurde ich dabei zuerst auf meine eigentliche Muttersprache, das Niedersächsische (Plattdeutsch), aufmerksam. Mein Vater spricht das Plattdeutsche sehr schön; er hielt strenge darauf, dass wir es rein und ordentlich sprächen. Er sprach nie ein Wort hochdeutsch, als wenn er mit Oberdeutschen zu tun hatte. Ich hörte oft darüber spotten, dass eines Nachbars Vetter aus der Fremde zu Haus gekommen und kein Wort seiner Muttersprache zu können in seiner Eitelkeit vorgab. In unserer nächsten Nachbarschaft wohnten zufällig Leute aus den verschiedensten plattdeutschen Distrikten, Lauenburger, Hamburger, Hadeler, Hildesheimer. Über deren Mundarten machten wir uns lustig, und sie wurden mir daher schon in der Kindheit interessant und bekannt. Ich erinnere sogar, dass ich einen hochdeutschen Vers ins Plattdeutsche übersetzte und einem Knaben Geld dafür bot, ihn unter die Jungen zu bringen, was ihm indes nicht gelang.27 So war mir auch plattdeutsche Schrift nicht unbekannt, da mein Großvater mit Vorliebe unsere alten Dithmarscher Chroniken las. Gedichte wie unser berühmtes: „Nu, min Dochter, segg von Harten“ wusste ich auswendig;28 aus Hübners 4bändiger Geographie29 hatte ich richtig die bekannten plattdeutschen Grabschriften in der Doberaner30 Kirche herausgefunden: „Wik Döwel wik, wik wit von mi“. Bei einem Freunde las ich zuerst Goethe31. Schiller kannte ich schon; sein Schwung hatte mir allerdings Staunen erweckt, ich hatte Nächte bei den Räubern und Fiesco gesessen und war mit Grauen zu Bette gegangen; aber sein Pathos, seine idealen Gestalten blieben mir doch fremd. Der Freund gab mir vorsichtig zuerst den Reineke Fuchs. Der gefiel mir gar nicht. Ich vergoss beinahe Tränen in Ärger und Wut; i, du bist ein Esel oder Goethe. Dann bat ich ihn, mir doch Werthers Leiden zu geben. Nach einigem Zögern erhielt ich es, und ich las es mit einem Herzpochen, dass ich nach 10 Jahren das Buch nur beinahe zeilenweise ertragen konnte. Was mich am meisten ergriff, war wohl die Schönheit der Sprache, deren ebner Gang, deren Sicherheit in der Bezeichnung, ihre Realität, ihre Musik. Vielleicht hatten meine vielen stilistischen, grammatischen, synonymischen Übungen meine Sinne gerade dafür geöffnet. Ich erinnere wenigstens, dass ich bei der Stelle aus Ossian: „Stern der dämmernden Nacht“ in lautes Klagen und Weinen ausbrach. Sie erdrückte mich in ihrer Schönheit. Ich hielt sie für ursprünglich griechisch und jammerte nur, dass mir die Schönheit des klassischen Geistes sollte ewig verschlossen sein. Dann konnte ein solcher Jammer mehrere Tage anhalten, wo ich buchstäblich nicht aus strömenden Tränen herauskam, als wenn ich entschlief. Doch bald raffte meine Natur sich wieder auf; mit Wut ging ich daran und übersetzte gleichzeitig aus dem Lateinischen, Englischen und Französischen. Als ich aber sah, dass es erreichbar sei, legte ich es vorerst wieder zur Seite, weil ich Näherliegendes zu tun hatte. In meinen Stil- und Sprachübungen ließ ich nicht nach. Ich las eine Reihe unserer Klassiker durch, besonders die älteren, die mir wegen ihrer reinen Sprache am durchsichtigsten waren, Gellert32, Claudius33, Hölty34, Matthisson35. Wegen der klaren Sprache zog mich besonders Lessings36 Nathan an; von Lessing wusste ich sonst nichts, Shakespeare37 hatte ich in der Bendeschen Übersetzung bloß stofflich genossen. Klarissa interessierte mich sehr.38 Ich versuchte, in die Mechanik des Baus einzudringen. Ich setzte z. B. ein prosaisches Musterstück auf verschiedene Weise in gebundene Rede um. Aber immer mehr drängte es mich aus der Form ins Reale. Psychologische, physikalische, naturphilosophische Bücher verdrängten alle leichtere Lektüre. – So kam ich ringend nach Wissen mehr als nach Klarheit in meinem 19. Jahre aufs Tondernsche Seminar und blieb dort 3 Jahre. Ich fragte nie jemand um Rat; vielleicht hätte mir ihn auch niemand geben können; ich fragte nur nach Büchern und hatte die feste Überzeugung, dass ich nur Zeit und Freiheit bedürfe. Was es zu lernen gab, war mir gleich; ich assimilierte mir das Meinige daraus. Nach Tondern ging ich mit dem Gedanken, 3 Jahre zu lernen, dann etwas Geld zu verdienen, um wieder einige Jahre nach Berlin zu gehen. Dort winkten mir große Sterne. Was das Seminar mir bot, war nicht wenig, und ich bin noch dankbar dafür. Es betrifft nicht so sehr die Gegenstände, obgleich mehrere gut vorgetragen wurden: mir war es wichtig, einmal zu schauen, wie das wissenschaftliche Leben (auf seinen Umfang kommt’s nicht an) in Menschen wirke. Mir war das Wissen nie der Endpunkt gewesen, sondern ein Mittel zur eignen Befreiung. Ich konnte nur beobachten, wie weit es in den Lehrern dies getan, wie es in die Schüler einging. Solche Beobachtung war mir nicht so klar bewusst, wie ich sie jetzt niederschreibe. Doch weiß ich noch sehr gut, wie ich eigentlich mit dem Seminar fertig war, als ich die Lehrer in ihrer Persönlichkeit in mich aufgenommen hatte. Alsdann hörte ich gleichmütig ihrem Vortrage zu, und wenn er mir langweilig wurde, las ich heimlich unterm Tisch oder durchdachte irgend einen Gegenstand. Merkwürdig ist es vielleicht, dass ich dabei immer dem Vortrage folgen konnte und der eine Professor sich immer vergeblich bemühte, mich auf einer Unaufmerksamkeit zu ertappen: ich dachte wohl gleichzeitig zwei Gedankenreihen. Es waren damals drei Gymnasiasten auf dem Seminar, die mit völliger Universitätsreife von dem Gymnasium abgegangen waren und sich dem Lehrerfache zugewandt hatten. Sie waren älter als ich. Der älteste von ihnen gab mir mit vieler Aufopferung Unterricht in Latein.39 Die Formen wurden mir nun doch sehr schwer; ich hatte alle Willenskraft nötig, nicht von meinem Vorsatz abzuweichen. Ich lernte hier auch etwas Schwedisch und Französisch. Dass die Quantitäten des realen Wissens, die ich allmählich bezwingen konnte, immer größer wurden, versteht sich von selbst. Ich zehrte mit wahrhaftem Heißhunger. Ich will hier nicht eine Reihe Bücher aufrechnen. Aber eins war für meine Entwicklung von großem Wert; ich biss mir sozusagen die Zähne daran durch, es gab mir gewissermaßen die Reife. Meine Sprachstudien hatten mich über meine Lehrbücher der Grammatik hinaus zu andern Fragen geführt; mich lockte der Geist der Sprache in seine Tiefe; die Konstruktion, die Topik40, das Gewebe, das Geheimnis, wie die Seele des Lautes mit der Seele des Menschen stimme, zogen mich mit unwiderstehlicher Gewalt. Damals verschaffte ich mir Herlings Syntax der deutschen Sprache41. Dies Buch löste die Fragen nicht; aber es lehrte mich, die Formen der Sprache in abstracto anschauen; ich lernte Satz und Rede auftrennen wie ein Gewebe; mir war, als gewönne ich einen Apparat zum geistigen Schauen, unter dem ich jedes Objekt zur beliebigen Klarheit bringen konnte. Ich erschrak vor keinem wissenschaftlichen oder Kunstwerke der Rede mehr; die Kategorie der Schwierigkeit war für mich aufgehoben. Ich konnte Kant, Hegel42, Goethe mit der Sicherheit lesen, dass ich sie verstehen würde, soweit Verstand darin sei. Inwiefern das Buch von Herling dazu den Grund gelegt oder nur die Veranlassung gewesen, weiß ich nicht zu sagen. Vielleicht hat nur meine gänzliche Hingabe an eine Methode in mir eine eigne Methode gemerkt. Ich studierte mit einem Eifer, einer Freude, einer Selbstvergessenheit daran, wie ich sie nie gekannt, nie wieder empfunden und geübt. In den Weihnachtsferien konnte ich mich nicht entschließen, ins geliebte Vaterhaus zu reisen; ich las und grübelte und schrieb in wahrer Trunkenheit; ich bin öfter laut vor Freude aufrufend in die Höhe gesprungen und habe mir den Kopf am niedrigen Zimmerbalken gestoßen. Nebenbei gewahrte ich daran, dass ich wie eine Pappel in einem Jahre emporgewachsen war. Die Arbeit hielt ununterbrochen vom Herbst bis zum nächsten Sommer an. Zum ersten Male empfand ich sommers eine Abspannung, die mich wie eine angenehme Müdigkeit lange hinträumen ließ. Ich war dabei voll und sicher. Nun hatte ich auch gelernt, die Fäden an einem Gedicht aufzutrennen bis an die Wurzel des Gefühls heran, und eine Ahnung entstand in mir, dass auch der umgekehrte Weg vom Gefühl bis zum Ausdruck mir aufgetan sei. Doch schrieb ich nichts Poetisches; kaum dass ich mich noch einmal mit dem Handwerk der gebundenen Rede, der Metrik und Prosodie, so weit abgab, als mir, wenigstens in den mir bekannten Lehrbüchern, gereicht wurde. Sie hat sich bewährt, ich wüsste sie aber doch keinem zu beschreiben; aber ich pflege noch in derselben Weise beim Produzieren z. B. mit kaltem Kopf ein Gefühl in mir zu betrachten, bis ich es an einem Objekte messen und anderen wiedergeben kann, indem ich dieses Objekt in Worte fasse. Damals bewahrte ich ruhig meinen Schatz, sicher, dass ich ihn anwenden könnte, wenn es nötig sei. Ich ging nicht einmal an philosophische Werke damit, sondern versparte mir die noch. Vorläufig hatte ich am Erlernen von Sprachen, besonders aber an realem Wissen, hinreichend Stoff zu verarbeiten. Physikalische Studien, Astronomie und Chemie traten allmählich in den Vordergrund. Die Natur mit ihrem Dunkel, ihrer Allgewalt, ihrer Ruhe zog mich immer wieder zu sich hin. Auch musste ich allerlei gleichgültige Dinge fürs Examen lernen, was mir viel Mühe machte und oft meine ganze Willenskraft erforderte, wenn meine Lieblingsbücher mich anlockten. Nach der Arbeit las ich abends im Bett eine große Reihe der englischen Romanschriftsteller durch, zum Teil in dänischer Übersetzung: Smollet, Sterne, Bulwer, Marryat, Cooper und Scott43, auch deutsche, die ich noch nicht gekannt. Ganz besonders zog Walter Scott mich an. Ich war, wenn ich einen Roman von ihm begann, sogleich wie in eine eigene Atmosphäre getaucht, in der ich auch am Tage fortatmete, bis ich mit Trauer von ihm schied, aber auch sogleich in neuer Hoffnung einen andern begann. Ich lebte wie in ewiger Freude dabei; wenn mir etwas schwer wurde, so dachte ich an meinen stillen Genuss für den Abend und war getröstet. Da es mit dem Lesen nicht rasch gehen konnte, so dauerte es Jahre; ich habe sehr oft in der Zeit dankbar zu den Manen des großen Dichters hinaufgeblickt. Ich sprach über Kunstwerke dieser Art mit leidenschaftlicher Freude, sobald ich nur jemand finden konnte, der teil daran nahm. Leider musste ich meine Vorliebe für Scott damals vor den Spöttereien meiner Mitschüler über seine Langweiligkeit fast verbergen. Es waren mehrere junge, geistvolle Leute auf dem Seminar, mit denen ich diese Gespräche führte. Was dabei eigentlich den Gegenstand abgab, erinnere ich nicht; doch muss es ein formelles ästhetisches Interesse gewesen sein; sonst hätte es nicht so vorgehalten. Auch weiß ich, dass ich einem älteren Freunde auf seine vorwurfsvolle Frage, was ich denn in den Romanen suche, antwortete, ich sähe nach, durch welche Mittel ein Mann wie Scott diese Wirkung auf den Leser hervorzubringen vermöge.

Bei meinen Lehrern und Mitschülern galt ich für nichts Besonderes, höchstens für einen scharfen, klaren Kopf. Ich selbst hielt mich aber auch für nichts anders; ich dachte überall nicht über mich. Denn als einer meiner Freunde mir gelegentlich sagte, ich würde wahrscheinlich eins der besten Abgangszeugnisse erhalten, war ich freudig überrascht. Ich war übrigens von meinen Mitschülern geliebt, wie ich denn in der Welt viel Liebe gefunden habe. Doch hatte ich nur mit wenigen Umgang. Das studentische Treiben, das so gut hier wie auf den Universitäten unter den jungen Leuten herrschte, war mir durchaus langweilig. Ich mochte dies Singen, Trinken, Renommieren nicht; mich langweilte jede Gesellschaft, in der es an weiblichen Wesen fehlte. Daran war ich zu Hause gewöhnt, wo ich in verschiedenen Bürgerhäusern mit erwachsenen oder heranblühenden Töchtern ein häufiger Gast war. Ich zog mich freilich nicht zurück von festlichen Zusammenkünften auf der Kneipe bei einer dampfenden Bowle; ich sang tapfer mit aus meiner hellen Knabenkehle; doch hatte ich die Gewohnheit und das Privilegium, mich schon früh irgendwo zum Schlaf hinzustrecken, wo dann in meine Träume hinein das Getöse wunderliche Gestalten spielte. Umgang in Familienkreisen hatte ich in Tondern nicht. Ich lebte ganz meinen Studien und hatte nicht einmal Kraft und Frische zu etwas anderem übergehabt, da ich nach meiner Gewohnheit wenigstens im Sommer mich um 4 Uhr von einem Bäckerjungen an einem Band aus dem Bette ziehen ließ und sogleich an die Arbeit ging.

Von einem Dichter erwartet man nicht so sehr, dass er einen klaren Kopf als dass er ein reiches Herz besitze, wie er ein Herzenskundiger sei und diese Kunde nicht ohne Erfahrung, die sich nur im Schmerz erwirbt, erlangt habe. Allerdings war ich eine leidenschaftliche, reizbare, liebedurstige Natur. Ein freundliches Wort, ein „blider“ Blick konnte mich glücklich machen, woher es auch kam. Ich hing an meinen Lehrern, an den Nachbarn, an allem, was mit mir in nähere Berührung kam, mit den Fasern des Herzens fest, und wo mein Herz einmal Wurzel gefasst, hat es nie wieder losgelassen. Schon früh hatte ich einen Spielkameraden, mit dem ich Freud und Leid, meine Zehrpfennige, mein Alles teilte. Wir tummelten uns abends im Grase herum; ich weiß noch eine Stelle, wo es mir aufging, dass es grün, kühl und duftig sei, wie ich es nie wieder gefunden. Er hieß Johann. Als meine Gedichte erschienen, las mein Vater die erste Rezension beim Kaffee vor. Es wurde darin das Gedicht „Min Johann“ als Probe gegeben. Zufällig war dieser Johann zugegen, jetzt ein Mann, der das Leben früh genossen und im Ringen um Erwerb und Fortkommen prosaisch geworden war. Er ward glühend rot und eilte forte, meinen Bruder unterwegs fragend, ob er meinen Quickborn schon irgendwo kaufen könne. Er hatte die Verse auf sich bezogen. Er war aber nicht der Liebling, der mir bei der Entstehung des Liedes im Sinne gelegen, sondern dieser mein Bruder Johann, der mir selbst die Geschichte erzählt hat. Diesen Bruder liebte ich vor allen mit wahrhafter Leidenschaft, und die Liebe hat angedauert durch alle Wechsel des Lebens. Wenn ich in den Ferien zu Hause war, so sprachen wir tagelang bis tief in die Nacht. Er hat an meinem Krankenbette gesessen, jeden Abend, bis er merkte, dass ich entschlummert war. Aber dafür hat auch sein Bild mich umschwebt, ist in meine Träume getreten, hat mich zu Tränen der Sehnsucht gerührt, hat mich manchmal gezwungen, in Gedichten meine Erregung zum Maß, zu Form und Ruhe zu bringen. – Ein wahrer Liebling wurde mir auch seit meinem 15. Jahre der Sohn eines Nachbars, mit dem ich seither in ungetrennter, niemals auch nur auf einen Augenblick gestörter Gemeinschaft fortgelebt habe, obgleich wir uns ferner gerückt sind. Er ist der Theodor, dem ich ein Sonett in meinen hundert Blättern gewidmet habe.44 Wir durchlebten das Erwachen des Herzens und des Geistes miteinander; wir hatten kein Geheimnis vor einander. Fast ein volles Jahr waren wir von morgens 4 Uhr an, wo ich ihn weckte, bis abends 10 zusammen, immer in geistiger Beschäftigung. Auch in ihm war ein reiner Sinn und hoher Wissensdrang. Bei diesem wirklich überströmenden Herzen war es fast ein Wunder, wenn weibliche Naturen mich nicht angezogen hätten. Ich weiß noch, mit welchem Entzücken ich fast als Knabe einer hohen Blondine, eines Tischlers Tochter, die später einen reichen Marschbauern heiratete, die ersten Rosen pflückte und überreichte. Eine ernstliche Neigung entstand doch nicht in mir. Wahrscheinlich hat der Ernst des Lebens, der mich frühzeitig mit eiserner Hand packte und den Duft von den Blüten streifte, in mir eine ernste Lebensansicht erweckt, die besonders in meinen Jünglingsjahren mir eine unglaubliche Willensstärke und Selbstbeherrschung gab. Meine Mutter starb in meinem 17. Jahre, dann bald darauf meine unendlich geliebte Tante. Ich sah die feste Gestalt meines Vaters sich beugen unter den Schlägen des Schicksals; ich sah meine 4 Geschwister verwaisen und fast verwildern. Ich selbst war lange wie vernichtet. Die Mutter meines Theodor zwang mich zuerst wieder durch vernünftiges Zureden, ordentlich zu essen; ich hatte es fast verlernt und vergessen. Damals litt auch meine Gesundheit den ersten Stoß. Dann kam eine andere Mutter ins Haus; sie war gut, sie war notwendig. Aber ich habe eigentliche ungebrochene Jugendlust nicht wieder empfunden.

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