Theo ist vierzehn Jahre alt. Seine größte Leidenschaft sind Bücher über alte Mythologien und Computerspiele. Als Theo erfährt, dass er schwer krank ist, nimmt ihn seine Tante Marthe mit auf eine große Reise. Er soll die Weltreligionen und ihre heiligen Stätten kennen lernen: Jerusalem, Ägypten, Rom, Istanbul, Moskau — Theo ist fasziniert und beeindruckt. Und überall trifft er auf kundige Religionsführer, die ihm die verschiedensten Glaubensrichtungen — vom Judentum über den Islam bis hin zum Buddhismus anschaulich nahe bringen.
Catherine Clément
Theos Reise
Roman über die Religionen der Welt
Aus dem Französischen von Uli Aumüller und Tobias Scheffel
Carl Hanser Verlag
Für Titus, die Sardine
Der Zorn der Götter
1. Kapitel: Typisch Tante Marthe
2. Kapitel: Nächstes Jahr in Jerusalem
3. Kapitel: Eine Mauer und ein Grab
4. Kapitel: Die Nacht der Gerechten
5. Kapitel: Eine Sonnenbarke und zehn Linsen
6. Kapitel: Der Archäologe und die Scheika
7. Kapitel: Sieben Hügel, ein Stein
8. Kapitel: Die Herrlichkeit und die Armen
9. Kapitel: Die Bilder Gottes
10. Kapitel: Die sieben Gesichter Indiens
11. Kapitel: Mahantji
12. Kapitel: Die Lehren des Stroms
13. Kapitel: Damönen und Wunder
14. Kapitel: Gesegnete Blitze
15. Kapitel: Zwischen Himmel und Erde
16. Kapitel: Ahnen und Götter
17. Kapitel: Mütter und Töchter Japans
18. Kapitel: Blüten, Frauen, Tee
19. Kapitel: Die Melancholie der Kirschbäume
20. Kapitel: Die Religion des Leidens
21. Kapitel: Die russische Erde und die Gabe der Tränen
22. Kapitel: Islam: Die Hingabe an Gott
23. Kapitel: Die verrückte Liebe
24. Kapitel: Die Schrift oder das Wort?
25. Kapitel: Das Leben der Ahnen
26. Kapitel: Der Ochse, die Ziege, die Hähne und der Initiierte
27. Kapitel: Der Ritt der Götter
28. Kapitel: Der große Protest
29. Kapitel: Rückkehr zu den Wurzeln
30. Kapitel: Die Reise ist beendet, die Reise beginnt
Dank
Register
»Theo! Weißt du, wie spät es ist? THEO!«
Theo schlief nicht wirklich. Er hatte den Kopf unter der Decke und überließ sich dem süßen Dämmerzustand des Erwachens. Genau in dem Augenblick, als seine Mutter das Zimmer betrat, wollte sich die Haut von seinen Füßen lösen. Gleich würde er sich ohne seinen Körper in die Lüfte erheben … Was für ein unglaublicher Traum! Und den sollte er unterbrechen? Wo er so schön zwischen Schlaf und Tag herumspazierte? Warum?
»Jetzt reicht’s aber!«, rief Melina Fournay. »Du stehst jetzt auf, sonst …«
»Nein!«, stöhnte eine erstickte Stimme. »Nicht das Kopfkissen schütteln!«
»Immer dasselbe mit dir«, protestierte seine Mutter. »Du liest abends so lange, dass du morgens nicht aus dem Bett kommst!«
Theo richtete sich mühsam auf. Das Schlimmste war immer, sich aufzusetzen und den leichten morgendlichen Schwindel auszuhalten. Erst kam ein Fuß unter der Decke hervor, dann ein Bein, dann, in seinen Locken wühlend, der ganze Theo. Er stand auf … und schwankte. Seine Mutter fing ihn gerade noch auf und setzte sich mit ihm auf die Bettkante. Seufzend sah sie sich die auf der Decke liegenden Bücher an.
»›Lexikon des alten Ägypten‹, ›Griechische Mythologie‹, ›Tibetisches Totenbuch‹ … Was sind das denn für seltsame Sachen? Das ist doch keine Lektüre für jemand in deinem Alter, Theo! Wie lange hast du gestern Abend gelesen?«, schimpfte sie.
»Hmmm … weiß nicht mehr«, brummte Theo verschlafen.
»Du liest einfach zu viel«, murmelte sie und zog ihre dichten schwarzen Augenbrauen hoch. »Du wirst noch krank davon, weißt du das?«
»Ach wo«, sagte Theo gähnend. »Ich hab bloß ein bisschen Hunger.«
»Frühstück steht auf dem Tisch, und deine Vitamintabletten hab ich dir auch hingelegt«, sagte sie und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Fatou kommt gleich, beeil dich. Zieh dich warm an, es ist furchtbar kalt. Und vergiss nicht, bei der Apotheke vorbeizugehen und deine Medikamente abzuholen. Das Rezept liegt im Flur auf der Anrichte … Theo!«
Aber Theo tappte, sich an der Wand festhaltend, ins Bad. Nachdenklich kehrte Melina in die Küche zurück, wo ihr Mann Jérôme die Zeitung las.
»Dem Kind geht es nicht gut«, sagte sie halblaut. »Gar nicht gut.«
»Theo?«, fragte Jérôme, ohne den Kopf zu heben. »Erstens ist man mit vierzehn kein Kind mehr. Und zweitens, was findest du denn so Besorgnis erregend an ihm?«
»Ach, du merkst ja nie was. Er sieht sterbenskrank aus, und er kann nur mit Mühe aufstehen …«
»Descartes hasste es auch, morgens aufzustehen. Das hat ihn jedoch nicht davon abgehalten, Philosoph zu werden.«
»Aber er scheint Schwindelanfälle zu haben und …«
»Du weißt doch genau, dass er abends lange liest«, unterbrach Jérôme sie seelenruhig.
»Hast du gesehen, was er liest?«, rief Melina. »›Griechische Mythologie‹, ›Tibetisches Totenbuch‹ … Das Totenbuch!«
»Hör mal, Liebling, Theo ist nicht religiös erzogen worden. Darüber waren wir uns doch einig. Kein Wunder, dass er sich da selbst was beibringt. Lass ihn. Es steht ihm frei, sich eine Religion auszusuchen. Und außerdem ist er sehr gewachsen. Die jährliche Untersuchung hat doch, soviel ich weiß, nichts ergeben?«
»Das soll wohl ein Witz sein, Jérôme! Die ärztliche Untersuchung in der Schule? Abhorchen, Reflexe, Röntgen, und auch das nicht immer, fertig. Nein, wirklich, ich gehe mit ihm zu Doktor Delattre.«
»Jetzt mach aber mal ’n Punkt, Melina! Du stopfst ihn mit Stärkungsmitteln voll und bemutterst ihn wie ein Baby! Er liest abends lange, schön. Ich finde das eher gut.«
»Er hat irgendwas«, murmelte sie. »Ich bin mir sicher.«
»Wie du meinst«, sagte er seufzend und faltete die Zeitung zusammen. »Geh zu Doktor Delattre. Er soll ihm Blut abnehmen. Und ich verschwinde jetzt, wenn du erlaubst, ins Labor. Bekomm ich noch einen Kuss?«
Melina hielt ihm, ohne zu antworten, die Wange hin.
»Und ich will nichts mehr von den Schwindelanfällen deines Lieblingskükens hören!«
Allein vor ihrem Kaffee sitzend, wartete Melina gedankenverloren auf Theo.
Bis zu diesem Winter hatte in der Familie Fournay eitel Sonnenschein geherrscht. Theos Vater arbeitete als Forschungsleiter am Institut Pasteur, spielte Klavier und war ein vorbildlicher Ehemann. Und auch Melina hatte viel Glück: Sie war Lehrerin für Naturwissenschaften am Gymnasium George Sand, das auch Theo besuchte, und hatte nette Kollegen und umgängliche Schüler. Theos Schwestern vergötterten ihren Bruder: Irene, die ältere, begann gerade ihr Studium der Volkswirtschaft, und Athena, das Nesthäkchen, kam demnächst in die fünfte Klasse. Außer kleineren Reibereien wegen vertauschter Socken und verhaltenen Scharmützeln darüber, wer den Tisch abräumen sollte, hatte Theo keinerlei Probleme mit seinen Schwestern.
Bevor Melina Jérôme heiratete, hatte es schwierige Zeiten in ihrem Leben gegeben. 1967, als sie noch ein Kind war, hatten ihr Vater, der Journalist Georges Chakros, und ihre Mutter Theano, die Geigerin, vor der Militärdiktatur in Griechenland nach Paris fliehen müssen, eine Stadt ohne Olivenbäume und ohne Sonne. Melina war dort aufgewachsen, hatte die Schule und ihr Studium abgeschlossen, Jérôme kennen gelernt, geheiratet und dann die Kinder bekommen. In Griechenland war die Diktatur der Obristen von der Demokratie abgelöst worden, und ihre Eltern waren nach Athen zurückgekehrt. Zur Erinnerung an die wieder gefundene Heimat trugen die Kinder griechische Vornamen. Deshalb hieß die Älteste Irene, das bedeutet »Frieden«, und die Jüngste Athena, was so viel wie »Weisheit« heißt. Theos vollständiger Name lautete Theodor, »Geschenk Gottes«. Natürlich war es für Theodor und Athena mit ihren Namen in der Schule nicht leicht, aber ihre Freunde hatten sich schnell angewöhnt, sie Theo und Attie zu nennen.
Alles war bestens, bis auf Theos Gesundheit.
Theos Geburt war schwer gewesen. Melina hatte Zwillinge erwartet. Sie waren einen guten Monat zu früh geboren worden, doch nur Theo hatte überlebt. Aber er hatte Schlafstörungen und war sehr anfällig. Um ihn nicht noch mehr zu belasten, hatte Melina beschlossen, ihm nichts von seinem totgeborenen Zwilling zu sagen. Theo war ein schönes, etwas zartes Kind gewesen, mit schwarzen Locken und grünen Augen, um die seine Schwestern ihn beneideten.
»Die Schönheit des Teufels«, hatte Theos französische Großmutter Marie gesagt, die inzwischen gestorben war. Sie hatte sich mit Feen und Waldkobolden ausgekannt. »Die Schönheit der Götter!«, hatte Oma Theano entgegnet, die ihren Enkel mit antiker Mythologie und griechisch-orthodoxer Religion voll stopfte. Theo war so hübsch, aber auch so empfindlich, dass sich Melina, wenn die beiden Großmütter von ihm schwärmten, unauffällig bekreuzigte und heimlich auf Holz klopfte, um Unglück abzuwenden. Theos Mama glaubte zwar nicht an Gott, war aber schrecklich abergläubisch.
In der Familie wusste man, dass Theo anders war als die andern. Er war immer Klassenbester und las unentwegt, schon als kleines Kind hatte er seine Nase ständig in Bücher gesteckt. Und wenn er nicht las, saß er vor dem Computer und erkundete seine CD-Roms. In letzter Zeit beschäftigte sich Theo unablässig mit einem Spiel auf Englisch, das seine Mutter ihm geschenkt hatte, Wrath of the Gods — Der Zorn der Götter —, in dem ein junger Held allem begegnete, was die griechische Mythologie an Sirenen, Riesen und Ungeheuern zu bieten hat, während eine rothaarige Pythia abwegige Ratschläge gab, um den Spieler irrezuführen.
Trotz ihrer Vorbehalte gegen Videospiele hatte Melina nichts gegen den Zorn der Götter gehabt, weil es dabei um Griechenland ging. So wanderte Theo auf dem Bildschirm unter Olivenbäumen durch die Heimat seiner Mutter und spielte stundenlang, um die Identität des Helden herauszufinden, der ihm wie ein Bruder glich. Der sehr pfiffige und schöne Held aus Der Zorn der Götter musste es mehrmals mit der Unterwelt aufnehmen, um seinen wirklichen Vater, Zeus, den König der griechischen Götter, zu finden. Als Jérôme Fournay einmal versuchte, sich mit seinem Sohn zu messen, fand er sich nach kurzer Zeit in der Unterwelt wieder und kam nicht mehr heraus … Es stand unzweifelhaft fest, dass nur Theo in der Lage war, den Götterkönig aufzuspüren. Die ganze Familie wusste, dass Theo ein geniales Kind war.
Dass Theo ein kleines Genie war, beunruhigte die Familie nicht. Aber er war anfällig, viel zu anfällig. Melina rekapitulierte ganz schnell: Mit drei Jahren hatte er eine Primärinfektion. Mit sieben war er von schwerem Scharlach dauerhaft geschwächt worden, aber inzwischen war er vierzehn, und das war überstanden. Mit zehn Jahren hatte er sich beim Fußballspielen das Schienbein gebrochen. Danach war er enorm gewachsen, und Sport strengte ihn übermäßig an. Kurz, Theo litt an einer seltsamen Schwäche. War er vielleicht erblich belastet? Mit vierzehn Jahren war bei seiner Mutter eine starke Blutarmut festgestellt worden. Oder hatte Theo Diabetes? Oder vielleicht das Pfeiffersche Drüsenfieber …
»Guten Morgen!«, rief eine Stimme im Flur. »Ich bin’s, Fatou.«
Wie immer war Fatou überpünktlich. Und wie immer kam sie außer Atem an und schüttelte ihre zahllosen, in goldenen Perlen endenden dünnen Zöpfe. Fatou, die Senegalesin aus der Nachbarschaft, war der Lichtblick am Morgen.
»Du bist schon da? Ich hab dich gar nicht klingeln hören!«
»Kannst du auch nicht«, sagte Fatou und stellte ihren Rucksack ab. »Ich hab deinen Mann getroffen, er hat mich reingelassen. Ist Theo fertig?«
»Natürlich nicht«, seufzte Melina. »Du weißt doch, wie er ist. Komm, setz dich und trink einen Kaffee.«
»Keine Zeit. Wir kommen zu spät, und wir schreiben heute Morgen eine Arbeit in Geschichte. Ich hol ihn.«
»Klopf an, bevor du reingehst! Er ist im Bad«, rief Melina vergeblich.
Als ob es Fatou etwas ausmachte, Theo nackt zu sehen. Seit dem Kindergarten waren sie zusammen aufgewachsen. In der Rue de l’Abbé-Grégoire sah man Fatou nie ohne Theo, Theo nie ohne Fatou. Sie war immer fröhlich, außer damals, zur Zeit der Demonstrationen, als in einem Vorort ein Junge erschossen worden war. Da war sie bei Theo hereingeschneit und hatte ihn bei der Hand genommen: »Komm«, sagte sie, »wir gehen zur Demo, Theo.« Er konnte ohne Fatou nicht auskommen, die ihn aus seiner Bücherwelt herausholte und ihm vom Leben im Senegal erzählte.
Die langen Nasen der Pirogen, die auf den Wellenkämmen tanzten, die Affenbrotbäume mit ihren gewundenen Ästen, die schwarzen Strohspeicher auf Pfählen, die Strände, auf denen die Fischer die Barrakudas auslegten, der schwerfällige Flug der Pelikane, die dicken roten Augen der Flusspferde, die alle zehn Jahre an den Ufern des Senegal auftauchten — davon erzählte Fatou, und Theo träumte. Fatous Vater, Monsieur Diop, war Witwer und von Beruf Philosoph und Beamter bei der UNESCO. Er schwärmte immerzu von Ferien, die man eines Tages, ganz bestimmt, zusammen in Afrika verbringen würde. Aber jedes Jahr landeten die beiden Familien dann doch wieder in La Baule, wo Abdoulaye Diop am Strand die grauen Wellen der französischen Strände melancholisch mit den türkisgrünen Wellen seiner Heimat verglich.
»MELINA!«, schrie Fatou plötzlich aus dem Bad. »Komm mal!«
Melina lief zu ihr. Theo lag ohnmächtig auf den Fliesen des Badezimmers. Fatou tätschelte ihm vergeblich die Wangen. Melina nahm ein Glas, drehte den Hahn weit auf und schüttete Theo Wasser ins Gesicht. Er zwinkerte mit den Augen und nieste.
»Ganz ruhig, mein Schatz«, flüsterte seine Mutter. »Warte, wir helfen dir.«
Aber als Theo wieder stand, fing seine Nase an zu bluten.
»Kopf in den Nacken, Theo«, befahl Melina knapp. »Fatou, ein Handtuch bitte. Mach es nass. Schön kalt. Gib her … So, auf die Stirn. Es ist nichts.«
Aber sie glaubte selbst nicht, was sie sagte. Nein, es war nicht »nichts«. Melina hatte sich nicht geirrt: Theo war krank. Und während das Nasenbluten nachließ, befühlte sie den Hals ihres Sohnes. Geschwollene Lymphknoten. Melinas Gesicht verzerrte sich.
»Fatou, Theo geht heute nicht in die Schule«, entschied sie. »Ich schreib eine Entschuldigung. Gibst du sie dem Klassenlehrer?«
»Ja, Madame«, sagte Fatou starr vor Schreck.
»Nenn mich nicht Madame!«, wetterte Melina. »Theo, du legst dich wieder hin. Ich bring dir dein Frühstück ans Bett.«
»Toll!«, murmelte Theo. »So hab ich es gern.«
»Faulpelz«, sagte Fatou. »Ich komm nachher wieder vorbei. Mach dir keine Sorgen, Theo.«
»Ich mach mir ja gar keine Sorgen«, sagte Theo. »Warum? Sollte ich?«
Doktor Delattre hatte Theos Blutdruck gemessen, die Reflexe kontrolliert, die Lymphknoten am Hals befühlt, seine Achselhöhlen und die Leistengegend abgetastet und einen blauen Fleck an Theos Oberschenkel untersucht.
»Wann hast du dich da gestoßen?«, hatte er mit verschlossenem Gesicht gefragt.
Aber Theo, der sich dauernd irgendwo stieß, wusste nicht mehr, wann und wo. Dann hatte der Arzt genauestens die Haut überprüft und auf dem Bauch noch einen blauen Fleck entdeckt, bei dem er wieder aufmerksam geworden war. Er hatte Theo abgehorcht, ihn seine Muskeln und Gelenke bewegen lassen und hatte untersucht, ob der Hals verhärtet war. Dann war er wortlos aufgestanden und sogar ohne sich zu verabschieden hinausgegangen. Theo sprang sofort aus dem Bett und stellte sich hinter die Tür, um zu hören, was der Arzt seiner Mutter sagte.
Nachdem Doktor Delattre Theos Zimmer verlassen hatte, stieß er einen tiefen Seufzer aus.
»Ohne Blutanalyse kann man nichts sagen«, sagte er nach langem Schweigen. »Rufen Sie diese Nummer an und bestellen Sie jemand aus dem Labor für eine Blutabnahme. Sofort.«
»Wollen Sie damit sagen, dass ich nicht mal mehr mit ihm hingehen kann?«, fragte Melina angstvoll.
»Mir ist es lieber, er bleibt im Bett. Mit dem Nasenbluten muss man vorsichtig sein.«
»Herr Doktor, er hat was, nicht wahr?«
»Wahrscheinlich«, sagte der Arzt ausweichend. »Sobald ich die Ergebnisse habe, ruf ich Sie an.«
»Was kann es denn bloß sein?«, klagte Melina.
»Madame Fournay, hören Sie auf, sich zu quälen. Warten wir bis morgen. Haben Sie heute keinen Unterricht?«
»Doch, in zwei Stunden. Aber bis dahin …«
»Bis dahin machen Sie ihm was Gutes zu essen, geben Sie ihm, was er will, und lassen Sie ihn am besten in Ruhe. Es muss ja nichts Ernstes sein.«
Hocherfreut ging Theo wieder ins Bett. Wenn es nichts Ernstes war, würde er sich eine schöne ruhige Woche im Bett mit seinen Büchern, seinem Computer und dem Fernseher machen. Mama würde ihm jeden Morgen ein Tablett mit Tee, Toast und einem Ei bringen, und er würde sich nicht aus seinen nächtlichen Träumen herausreißen müssen. Und genau so geschah es an diesem Morgen: Sie brachte ihm das Tablett mit einem Ei, Tee und Brot zum Eintunken. Dann ging sie in die Schule, und Theo schlief wieder ein wie ein Baby.
Natürlich hatte ihm, bevor Mama gegangen war, die Laborangestellte Blut abgenommen. Aber das war kein hoher Preis für diesen Freudentag, und außerdem war Theo Spritzen gewöhnt.
Am nächsten Tag hörte Theo seine Mutter mit Doktor Delattre telefonieren und dann die Tür schließen. Was mochte der Arzt ihr wohl sagen?
Melina kam mit traurigem Gesicht herein.
»Zieh dich an, Theo. Wir müssen ins Krankenhaus für weitere Untersuchungen. Wir haben einen Termin in der Notaufnahme.«
Krankenhaus? Notaufnahme? Theo fühlte sich auf einmal schwach, wollte es seiner Mutter aber nicht zeigen. Krankenhaus, das hörte sich nicht gut an.
»Und was für Untersuchungen?«, fragte er kleinlaut.
»Nichts, mein Schatz. Man entnimmt dir ein bisschen Knochenmark. Das ist etwas unangenehm.«
»Knochenmark? Na, hör mal, ich bin doch kein Suppenknochen!«, scherzte Theo tapfer.
Als die Ergebnisse kamen, änderte sich alles.
Die Familie war verstört. Mama verbarg ihre Tränen, Papa kam früh am Nachmittag nach Hause, Attie war dauernd im Zimmer ihres Bruders, und Irene weinte. Fatou lachte nicht mehr. Theo machte zwar Witze über ihre Zöpfe, die halb aufgegangen waren, aber Fatou reagierte nur mit einem traurigen Lächeln. Was habe ich eigentlich?, fragte sich Theo.
Natürlich sagte ihm keiner etwas. Merkwürdigerweise hatte er nicht wieder ins Krankenhaus gemusst. Eine Woche verging, Theo fühlte sich weder schlechter noch besser. Wenn Fatou ihn fragte: »Na, Theo, wie fühlst du dich heute?«, antwortete er jedes Mal: »Etwas müde, aber es geht schon.«
Es war keine Rede mehr davon, in die Schule zu gehen. Zwei Tage nach der Knochenmarkpunktion hatte Papa das Problem im Handumdrehen geregelt. Fatou würde die Schulaufgaben vorbeibringen und Theo zu Hause lernen und seine Arbeiten schreiben. Die Lehrer waren damit einverstanden, sie zu korrigieren. Es würde kein Zurückbleiben in der Schule, keine Probleme geben, meinte Papa.
Er versuchte, alles perfekt einzurichten. Er hatte einen Arbeitstisch mit kleinen Füßen, den man aufs Bett stellen konnte, und einen Füller gekauft, der leicht über das Papier glitt. Papa kümmerte sich um alles. Aber Theo zog seine geliebten Bücher dem Mathebuch vor, und Fatou, die es wusste, schien nicht im Mindesten entrüstet.
Eines Morgens brachte sie ihm eine Halskette, an die sie einen Skorpion aus schwarzen Perlen gehängt hatte. »Ein Amulett aus meiner Heimat«, sagte sie, als sie die Kette um Theos Hals legte. »Ein Geschenk von meinem Vater. Trag es, um mir eine Freude zu machen. Es wird dich beschützen, Theo.«
Das Amulett sah komisch aus mit seinen weißen Knopfaugen, aber Theo hielt es glücklich in der Hand und dachte an die seltsamen Gottheiten, die aus dem fernen Afrika über ihn wachten.
An jenem Tag hatte Fatou gelächelt. Aber seitdem überhaupt nicht mehr. Theo machte sich große Sorgen. Am schlimmsten war Mama mit ihrer Tapferkeit und ihren vom Weinen geröteten Augen. Natürlich schluckte Theo jeden Tag Medikamente, aber weil die Schachteln und die Beipackzettel nicht dabei waren, konnte er nicht herausfinden, wogegen sie waren. Der Arzt kam oft vorbei, um die Haut zu untersuchen, das Auftauchen von blauen Flecken zu kontrollieren und die Lymphknoten abzutasten. Mama brachte Theo die Tabletten und ein Glas Wasser und setzte sich wortlos auf die Bettkante. Eines Morgens fragte er sie, ob er Aids habe. Mama zuckte zusammen. Nein, Aids hatte Theo nicht. Dann lief sie plötzlich mit Tränen in den Augen aus dem Zimmer.
Alles, was er wusste, war, dass er krank war und vielleicht, ja, vielleicht sogar sterben musste. Aber das würde er niemandem sagen, und außerdem war es ja auch nicht sicher.
1. Kapitel
In der zweiten Woche musste Theo wieder ins Krankenhaus. Wartezimmer, Blutabnahme, Wartezimmer, Tomographie, Wartezimmer, Röntgen, Ultraschall, Wartezimmer … Es nahm kein Ende. Theo hatte so große Angst, dass er alles mit sich machen ließ. Er war zu einem Ding geworden. Er wurde hingelegt und an Apparate angeschlossen, seine Brust wurde mit einem farblosen, eiskalten Gelee eingeschmiert, er wurde wieder auf die Füße gestellt, dann ging es ab in den nächsten Raum, und so immer weiter. Hin und wieder fragte Theo, was er habe, aber man antwortete nur mit einem Lächeln. Die Krankenschwestern waren nett, und Mama war so unglücklich, dass er, um sich nicht von ihrer Angst anstecken zu lassen, sein Buch über ägyptische Mythologie mitgebracht hatte.
»Wie kannst du nur so ernste Sachen lesen?«, seufzte Mama. »Warum versuchst du es nicht mal mit einem Roman? Zum Beispiel Die drei Musketiere?«
»Pff, hab ich doch schon gelesen. Die hat es ja nicht mal gegeben. Athos und Milady sind ja gar nicht wirklich.«
»Eben! Was nicht wirklich ist, ist viel interessanter! Und deine ägyptischen Götter, meinst du denn, die hat es wirklich gegeben?«
»Ja, klar«, murmelte Theo.
Dann tauchte er wieder in eine Welt ein, in der Ibisse klug, Löwinnen verliebt und Falken Mütter waren. Am Ende des Tages jedoch war er erschöpft. All diese riesigen medizinischen Apparate im Halbdunkel und diese Stille …
Eines Abends, als sie aus dem Krankenhaus kamen, wedelte Papa mit einem Telegramm.
»Es ist so weit«, rief er. »Morgen kommt sie.«
»Wer?«, fragte Theo.
»Tante Marthe«, antwortete Mama. »Sie kommt aus Tokio.«
»Morgen? Was ist denn mit der los?«, fragte Theo weiter.
Keine Antwort. Er wurde ins Bett gebracht, seine Eltern zogen sich ins Arbeitszimmer zurück. Etwas war im Busch. Aber wenn es um Tante Marthe ging, war das nicht überraschend.
Tante Marthe war ein sonderbarer Mensch. Mit zwanzig hatte Marthe Fournay einen Japaner geheiratet, den sie auf den Straßen Thailands kennen gelernt hatte, als sie mit dem Fahrrad um die Welt gefahren war. Fünf Jahre später war der Japaner auf genauso seltsame Weise wieder aus ihrem Leben verschwunden, wie er darin aufgetaucht war, und Tante Marthe war in zweiter Ehe die Frau eines reichen australischen Bankiers geworden, dem sie in Kalifornien zwischen Los Angeles und San Diego über den Weg gelaufen war. Tante Marthe hatte sich mit John Mac Larey in Sydney niedergelassen, und man hatte nichts mehr von ihr gehört, außer zu Weihnachten. Dann war Onkel John bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und Tante Marthe war mit einem Mal ein ungeheures Vermögen zugefallen. Aus Treue zu Onkel John, den sie vergöttert hatte, schwor sie, nie wieder zu heiraten, und da sie kinderlos war, hatte sie ihre ganze Zuneigung auf ihre Nichten und ihren Neffen übertragen, die sie mit Geschenken aus aller Welt überhäufte. Kimonos, amerikanische Vitamine, japanische Spezialmesser für rohen Fisch, russische Matroschkas, Türkise aus China und Gewürze aus Indonesien. Tante Marthes Einfallsreichtum war unerschöpflich.
Und sie war ständig auf Reisen. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie sich wieder auf ihre Kenntnisse orientalischer Sprachen besonnen und sich mit dem Studium traditioneller Stoffherstellung beschäftigt. Tante Marthe brauchte nicht zu arbeiten, aber sie liebte es zur großen Freude ihrer Familie, durch die Welt zu reisen. Ihr Liebesleben schien äußerst verwickelt zu sein, sie hatte überall Freunde, von denen sie ganz natürlich und offen erzählte. Ihre Schwägerin Melina hielt sie deswegen für eine Klatschtante und war darüber entrüstet. Tante Marthe war rundlich, sehr lebhaft, unmöglich gekleidet und liebte Schmuck, rauchte Zigarillos und machte Yoga.
Sie war eine tolle Frau, aber Papa fand sie ein bisschen verrückt. »Oh, das könnte von Tante Marthe sein«, pflegte er zu sagen, wenn ihm eine Geschichte sonderbar erschien. Sie kam selten zu Besuch, aber wenn, rief sie vorher dutzende Male an. »Ich komme in einem Monat.« Am nächsten Tag: »Nein, in vierzehn Tagen, ich komme aus Katmandu.« Und wieder einen Tag später: »Ich komme am Freitag um zwanzig Uhr mit dem Flugzeug aus Toronto.« Und Tante Marthe sollte sie ohne große Vorankündigung besuchen? Das hatte sie zum letzten Mal beim Tod des Großvaters gemacht.
Bestimmt hatte sie von Theos Krankheit gehört.
In ein indisches Tuch gewickelt, das sie majestätisch lockerte, ließ sich Tante Marthe gewichtig in einem Sessel nieder.
»Kinder, mir ist eiskalt«, tönte sie. »Melina, würde es dir etwas ausmachen, mir ein Aspirin zu holen? Irene, würdest du uns bitte Tee kochen? Schau mal in die große Tasche, da findest du ein Päckchen grünen Tee aus Japan. Attie, das Beutelchen aus rotem Satin in meinem Diplomatenkoffer ist für dich, aber sieh es dir in deinem Zimmer an. Und nun zu dir, Theo …«
Auf dem Wohnzimmersofa liegend, sah Theo sie beunruhigt an. Alle waren ohne Murren gegangen, sogar Irene, die Teekochen hasste. Tante Marthe stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Über dein Geschenk sprechen wir später«, sagte sie. »Was machst du denn für Sachen, hm? Du bist krank? Sag mal, stimmt das, oder machst du Spaß?«
»Was weiß ich?«, antwortete Theo und spielte mit seinen Locken.
In eine zu enge Tunika gezwängt, mit einer nepalesischen Mütze aus besticktem Filz auf dem Kopf, sah Tante Marthe mehr denn je zum Schießen aus. Als läse sie Theos Gedanken, sah sie ihn bohrend an, und Theo fühlte sich schuldig.
»Ich schwöre dir, Tante Marthe, man hat mir nichts gesagt, gar nichts«, stotterte er.
»Aber du hast doch bestimmt eine Idee«, brummte sie.
»Ja«, murmelte Theo.
»Und?«
Tante Marthes strenger Blick ließ ihn nicht aus den Augen. Plötzlich fing Theo an zu schluchzen.
»Armer Junge«, seufzte sie und nahm ihn in die Arme. »Du glaubst doch wohl nicht, dass ich das untätig mit ansehe?«
Theo schluchzte immer lauter.
»Herzchen«, flüsterte Tante Marthe, »mein Kleiner.«
Plötzlich schob sie ihn von sich.
»Steh auf!«, befahl sie ihm.
»Das darf ich nicht«, wimmerte er.
»Ach, Quatsch!«, rief sie. »Na los, steh auf!«
Von ihr mitgerissen, erhob sich Theo vom Sofa und blieb mit hängenden Armen stehen.
»Siehst du«, sagte sie zufrieden. »Nein, leg dich nicht wieder hin. Geh mal ein paar Schritte … Ja, so. Sehr gut. Jetzt spring.«
Tante Marthe war eindeutig verrückt. Springen, wo er doch krank, bettlägerig, dem Sterben nahe war? Aber warum eigentlich nicht? Theo machte einen winzig kleinen Sprung.
»Gut. Nicht gerade hoch, aber immerhin ein Sprung. Glaubst du, du könntest den tragen?«, fragte sie und deutete dabei auf einen schwarzen Rucksack.
Ohne zu protestieren schnallte er ihn um. Der Rucksack hatte einiges an Gewicht, und Theo schwankte.
»Es fällt dir ein bisschen schwer«, stellte sie fest. »Logisch, weil du die ganze Zeit liegst. Das hab ich mir schon gedacht.«
Was stellte sich Tante Marthe eigentlich vor? Was ging ihr durch den Kopf? Theo spürte eine seltsame Erregung in sich aufsteigen.
»Sag mal, Tante Marthe, hast du mir was mitgebracht?«, fragte er und schmiegte sich an sie.
»Ja, mein Junge«, sagte sie zärtlich. »Das erfährst du gleich beim Essen. Geh dich inzwischen anziehen. Ich seh dich lieber in Jeans.«
»Du hast mir doch hoffentlich keine Krawatte mitgebracht?«, fragte er. »Krawatten kann ich nämlich nicht ausstehen.«
»Kleines Dummerchen. Bind dir ein Tuch um den Hals. Das mag ich.«
Theo wählte ein rotes Hemd, beige Jeans und ein schwarzes Halstuch. Das sah nach Sonne aus, und Tante Marthe war ja auch wirklich im Stande, mitten im Winter den Sommer mitzubringen. Aufs Geratewohl, weil er gerade in seinem Zimmer war, öffnete er den Zorn der Götter und befragte die Pythia.
Mit ihrem Topmodel-Lächeln verlangte sie fünf Punkte für den hint, der zur Lösung des Tagesrätsels führte. Theo bezahlte und wartete auf die Antwort: »Keine Chance«, grinste die Pythia megärenhaft. »Sie müssen zuerst noch einmal durch den heiligen Wald.« Heiliger Wald? Theo hatte gedacht, er hätte schon alles erforscht. Er schaltete den Computer aus und ging in die Küche, wo Mama gerade Salat wendete.
»Was gibt’s denn heute?«, fragte er.
»Warum, hast du Hunger, mein Schatz? Es gibt griechische Vorspeisen, Minestrone und danach Kuchen.«
»Apfelkuchen?«
»Nein, Birnen mit Baiser«, murmelte Melina besorgt. »Magst du das?«
Wenn es nicht gerade rotes Fleisch gab, war Theo alles recht. Er streifte durch die Wohnung, lungerte an der Tür zu Irenes Zimmer herum, aber wie üblich hing sie am Telefon und redete mit ihrem Freund. Theo verzog sich und ging zu Attie, um wie früher seine Späße mit ihr zu treiben. Aber Attie ging nicht drauf ein. Blieb nur noch Papas Arbeitszimmer.
»Was denn, Theo, du bist auf? Das ist ganz schön leichtsinnig«, schimpfte Papa. »Ruh dich aus. Wir rufen dich zum Essen.«
Entmutigt trottete Theo ins Wohnzimmer und legte sich wieder auf das Sofa.
Das Essen wurde bedrückend. Mama redete mit gezwungener Fröhlichkeit, Irene aß nichts, Attie stocherte in ihrem Essen herum, und Papa schwieg. Tante Marthe dagegen redete wie ein Wasserfall. Und beim Nachtisch ging sie zum Angriff über.
»Hör zu, Theo«, sagte sie und warf einen Blick in die Runde. »Ich habe beschlossen, dich auf eine Weltreise mitzunehmen.«
Eine Weltreise! Tante Marthe war wohl nicht ganz bei Trost!
»Wie stellst du dir das denn vor? Und die Schule?«, sagte Theo.
»Ach, was!«, meinte Tante Marthe. »Mit der Schule hast du noch Zeit. Ich dagegen bin nicht unsterblich. Sag mir, ob ich mich irre: Hast du nicht ein Schuljahr übersprungen?«
Wie vor den Kopf geschlagen sah Theo seine Eltern an. Sie saßen über ihre Teller gebeugt und zuckten nicht mit der Wimper. Irene und Attie standen auf und verschwanden, als hätten sie einen unsichtbaren Befehl bekommen.
»Ich bin krank, Tante Marthe«, erklärte Theo tapfer. »Ich glaube nicht, dass …«
»Deswegen ja!«, rief sie. »Die Ärzte hier sind Dummköpfe. Wir werden durch die Welt reisen und Ärzte nach meinem Geschmack aufsuchen. Aber nicht im Krankenhaus. Einverstanden?«
Das war mal wieder typisch Tante Marthe! Wenn nicht im Krankenhaus, wo dann?
»Es wird nämlich nicht irgendeine Weltreise, Theo«, fuhr sie fort. »Erwarte von mir nicht so eine übliche Touristenreise. Du wirst weder die Chinesische Mauer noch das Tadsch Mahal, noch die Niagarafälle zu sehen bekommen …«
»Mama«, stöhnte Theo. »Sag’s ihr!«
»Ich will dich ja nicht entführen«, machte Tante Marthe unbeirrt weiter. »Du glaubst doch wohl nicht, dass deine Eltern mir nicht ihre Einwilligung gegeben haben. Nicht wahr, Jérôme?«
Papa nickte wortlos. Aber was würde Mama sagen?
»Na, komm, Melina«, brummte Tante Marthe. »Nur Mut.«
»Es ist wahr, Theo«, sagte Mama und hob den Kopf. »Wir haben Ja gesagt.«
»Dann bin ich also geheilt?«, rief Theo außer sich vor Freude.
»Wir werden jedenfalls täglich anrufen«, sprudelte Tante Marthe los.
»Und bei jeder Etappe lasst ihr Blut abnehmen«, fuhr Mama fort. »Ich habe die Namen aller Krankenhäuser, und …«
»Ach so«, sagte Theo.
»Es gibt überall ausgezeichnete Ärzte, und ihr nehmt deine Medikamente mit, und …«
»Ach so«, wiederholte Theo traurig.
Tante Marthe warf Melina einen vernichtenden Blick zu.
»Ich will nichts mehr von Krankenhäusern und Medikamenten hören!«, rief sie. »Los, wir räumen den Tisch ab. Mädels, kommt, helft uns.«
Tante Marthe fehlte es nicht an Autorität. Wie durch Zauberei tauchten Irene und Attie wieder auf, und im Nu war der Tisch leer.
»Jérôme, hol bitte deinen Atlas«, befahl Tante Marthe. »Ich zeig es euch. Also wir fangen an mit …«
»Fahren wir zu den Pyramiden?«, fiel Theo ihr plötzlich aufgeregt ins Wort.
»Unterbrich mich nicht dauernd! Attie, in meiner Handtasche sind rote Klebepunkte.«
»Und zum Kreml?«, fragte Theo.
»Interessierst du dich für Lenins Mumie?«, erwiderte Tante Marthe, die eifrig rote Punkte aufklebte. »Ich sag’s dir gleich: Was mich betrifft, nein danke.«
Fasziniert verfolgte Theo die immer mehr werdenden roten Punkte auf der Weltkarte. Rom, Delphi, Luxor …
»Ich hab’s! Es ist eine Reise zu den alten Stätten der Welt.«
»Keineswegs«, sagte Tante Marthe ungerührt. »Sieh mal da.«
»Am-tis-rar«, entzifferte Theo.
»Am-rit-sar«, verbesserte Tante Marthe. »Ich weiß, das ist schwer auszusprechen.«
»Und was soll das sein?«, fragte Theo.
»Die heilige Stadt der Sikhs«, mischte sich Papa ein. »Die liegt im Pandschab.«
»Und was sind die Sikhs?«
»Die Anhänger einer Religion, die du nicht kennst«, sagte Mama.
»Hm«, sagte Theo. »Das würde mich aber wundern. In der Schule beschäftigen wir uns doch fast nur noch mit Religionen. Am Freitag haben die Muslime Feiertag, am Samstag die Juden, am Sonntag die Nächsten. Und da soll ich mich mit Religionen nicht auskennen!«
»Ich nehm dich beim Wort«, sagte Tante Marthe lächelnd. »Leg los, wir hören dir zu.«
»Die Juden haben die älteste Religion der Welt«, begann Theo. »Sie beten am Samstag in einer Kirche, die sie Synagoge nennen, und im Krieg wurden sie von den Nazis umgebracht. Das heißt Holocaust. Sie lebten in Jerusalem und wurden von dort vertrieben. Später hat man ihnen ihr Land, Israel, zurückgegeben, aber sie kämpfen dauernd mit den Muslimen.«
»Wenn man so will«, murrte Tante Marthe. »Wie heißt ihr Gott?«
Theo blieb stumm.
»Bravo«, sagte sie ironisch. »Erstens haben die Juden einen Gott, den sie unter keiner Bedingung im Bild darstellen und nicht einmal nennen dürfen. Zweitens sind sie das erwählte Volk Gottes, der einen Bund mit ihnen geschlossen hat. Drittens warten sie auf den Messias, der am Ende der Zeit kommen wird. Mach weiter …«
»Einen Moment, wer ist der Messias?«, fragte Theo.
»Der Retter der Welt.«
»Dann ist es Jesus«, rief Theo.
»Nicht für die Juden. Jesus ist der Messias der Christen. Die Juden warten noch auf ihren.«
»Für die Muslime gilt das aber nicht«, erwiderte Theo gereizt. »Ihr Gott heißt Allah, wird ›groß‹ genannt, und Mohammed ist sein Prophet. Sie beten freitags in der Moschee nach Mekka gewandt, ihrer heiligen Stadt, wohin die wahren Gläubigen einmal im Leben pilgern. Dann werden sie hadji. Sie haben keine Priester, sondern Marabuts.«
»Das ist schon besser«, räumte Tante Marthe ein. »Aber woher hast du denn die Marabuts? Die gibt es nur in Afrika.«
»Fatou hat es mir erklärt«, antwortete er stolz. »Sie kommt aus dem Senegal und ist Muslimin.«
»Und die Christen, Theo?«, fragte Tante Marthe.
»Sie glauben an Jesus Christus, der von den Römern gekreuzigt wurde, weil man ihn den ›König der Juden‹ nannte. Jesus war der Sohn Gottes, des Vaters, der ihn auf die Erde geschickt hat, um die andern von ihren Sünden zu erlösen. Die katholischen Christen gehen sonntags zum Gottesdienst, sie essen Hostien, und die Priester tragen komische bestickte Gewänder.«
»Ja, so etwa«, seufzte Tante Marthe. »Und welchen Unterschied gibt es zwischen dem Gott der Juden, dem der Christen und dem der Muslime?«
»Abgesehen davon, dass Juden und Muslime nur an einen Gott zu glauben scheinen, keinen«, antwortete er ratlos. »Bei den Christen gibt es Vater und Sohn sowie eine Taube, die Heiliger … ich hab’s vergessen, wie heißt sie?«
»Heiliger Geist«, sagte Melina. »Du hast Oma Theano nicht richtig zugehört.«
»Und die andern Religionen?«, fragte Tante Marthe.
Die Katholiken, Juden und die Muslime hatte er schon erwähnt. Die Protestanten, ach ja, und die Orthodoxen, denn seine Familie war ja griechisch, die Buddhisten, die Animisten …
»Sehr gut, Theo!«, sagte sein Vater.
»Das hab ich von Fatou. Sie hat mir von den alten Göttern Afrikas erzählt. Mit alt meine ich natürlich nicht …«
»Weiter«, unterbrach ihn Tante Marthe.
»Weiter? Hm … Die Indianer? Ich hab nämlich die CD Sacred Spirits. Und in einer Folge von Texas Rangers ist ein Ranger in eine brennende Hütte gegangen, er hatte eine Vision von einem Adler und fand den von den Gangstern verletzten Jungen. So, das waren die Indianer. Und die Inder?«
»In Indien gibt es acht Religionen«, erklärte ihm Tante Marthe. »Mal sehen, ob du welche davon kennst.«
»Zen!«, schmetterte Theo triumphierend. »Irene sagt dauernd, sie ist Zen-Anhängerin.«
»Da irrst du dich. Und in Brasilien?«
Theo wusste es nicht. Zu China gab er schließlich »Maoismus« zum Besten.
»Nicht schlecht«, sagte Tante Marthe. »Etwas abgewertet vielleicht, aber das ist nicht schlecht. Du wolltest nicht zufällig ›Taoismus‹ sagen?«
Aber das Wort kannte Theo nicht. Er studierte wieder die Karte.
»Darjeeling?«, fragte er erstaunt. »Ich weiß nicht einmal, in welchem Land das liegt. In Burma?«
»Aber Marthe, die Krankenhäuser in Darjeeling …«, klagte Mama.
»Fang bitte nicht wieder an, Melina. Wir sind dort sechs Autostunden von Kalkutta und nur zwei Flugstunden von Delhi entfernt. Ich hab an alles gedacht.«
Rund um den Tisch wurde es still.
»Gut«, sagte Theo. »Ich habe verstanden. Wir machen eine Reise zu den Religionen der Welt. Ist es das?«
»Das ist es.«
Aber es war nicht nur »das«. Gleich am nächsten Tag begannen die Reisevorbereitungen, als wäre die Sache schon ewig beschlossen gewesen. Es brauten sich seltsame Dinge zusammen. Tante Marthe stellte Listen auf, jeweils eine der Hotels, der Freunde, der Züge, der Flugzeuge, der Schiffe.
Aber was war mit der Liste, über die sie nur mit ihren Nichten sprach? Sobald Theo auftauchte, versteckte Irene ihre Blätter, und Attie wurde rot. Warum so geheimnisvoll? Theo versuchte, Fatou auszuhorchen.
»Das ist geheim, Theo«, sagte sie. »Ich habe geschworen zu schweigen.«
»Geht es um meine Krankheit? Um Medikamente?«
»Ganz und gar nicht«, rief Fatou. »Viel lustiger.«
Lustiger als seine Krankheit? Fatou drückte sich manchmal komisch aus. Als könnte Theo sich amüsieren, wenn er daran dachte, dass er schwer krank war, dass er vielleicht … Nein. Nein, er wollte nicht an den Tod denken. Der Tod war bestimmt sehr schmerzhaft, sonst würden nicht alle Angst davor haben. Ein ungeheurer Schmerz und dann … Theo war sicher, dass danach eine stürmische Reise voller Prüfungen und Komplikationen begann. Glaubte man den Ägyptern und den Tibetern, so war das Leben nach dem Tod nicht gerade ein Spaß. Angst packte ihn. Das Schlimmste war, dass Mama es nicht ertragen würde. Und dass Theo sie vielleicht nicht wieder sehen würde. Nein! Die einzige Lösung war, nicht zu sterben.
Eines Abends, als alle glaubten, er schliefe, ging er in die Küche, um sich einen Jogurt aus dem Kühlschrank zu holen, und hörte aus dem Esszimmer ein seltsames Gespräch.
»Ich hatte doch gesagt, einen Skarabäus, keine Schildkröte«, rief Tante Marthe. »So stand es auf der Liste. Du musst noch mal in das Geschäft.«
»Ja, ja, schon gut. Für welche Etappe ist er noch mal?«
»Zum Verstecken unter …«
Neugierig geworden, steckte Theo den Kopf zur Tür herein, und Tante Marthe beendete ihren Satz nicht.
»Ab, ins Bett mit dir, du Schwachmatikus!«
Theo beschäftigte sich lange mit der Frage, warum zum Teufel Tante Marthe einen Skarabäus verstecken wollte. Er suchte die berühmte Liste, aber umsonst. Er bemerkte nur, dass zu Tante Marthes Gepäck eine große Tasche mit einem Schloss und eine verschlossene Schatulle dazugekommen waren. Das roch stark nach Verschwörung. Geschenke? Überraschungen?
Ungefähr einen Monat dauerte es noch bis zur Abreise. Tante Marthe verbrachte ihre Zeit in Reisebüros. Eines Abends kam sie ganz aufgeregt nach Hause: »Stellt euch vor, es gibt keine Flugverbindung zwischen Bagdora und Jakarta. Wir müssen über Kalkutta fliegen. Unglaublich!« Oder sie bekam kein Zimmer im Hotel ihrer Wahl, weil es ausgebucht oder geschlossen war oder nicht mehr existierte. Zu Hause telefonierte sie an den unmöglichsten Stellen mit ihrem Handy auf Englisch und Deutsch, oder sie radebrechte lauthals in seltsamen Tönen.
»Mahantji«, brüllte sie ins Telefon, »it’s so good to hear you … Yes, I am coming. No, in Paris, for the time being. Oh, you have an e-mail in Vanarasi? Okay, okay. But I’m not alone. My nephew will be travelling with me. Yes …«, und hier senkte sie seltsamerweise die Stimme.
Als das Gespräch beendet war, schaltete sie das Gerät zufrieden aus und erklärte in die Runde: »Mahantji ist entzückt.« Niemand wusste, wer Mahantji war, aber Tante Marthe schien so erfreut zu sein, dass niemand ihr Fragen stellte. Zumal das Telefon täglich die Zahl der Unbekannten vergrößerte, die von ihrem Kommen entzückt waren: Riva Oppenheimer, Nasra, Rabbi Elieser. »Gut!«, seufzte sie erleichtert und blätterte in ihrem Adressbuch. »Jetzt für Brasilien Brutus Carneiro Da Silva.« Und es ging wieder los.
Theos Vater, der Beziehungen zum Außenministerium hatte, kümmerte sich um die Visa für seinen Sohn, was keine leichte Aufgabe war. Melina nahm ihr Herz in beide Hände und sprach mit dem Direktor der Schule. Herr Diop, Fatous Vater, übernahm die Organisation der Reise in Afrika. Und Theo beschwichtigte seine bangen Gefühle, indem er die Pythia in seinem Computer befragte.
Sie war derzeit nicht gerade gesprächig, die Rothaarige. Schnell absolvierte Theo die ersten Prüfungen, die er auswendig kannte: der Bettlerin einen Diamanten geben, einen Kuchen auf den Altar legen, die Schlange herbeirufen, die ihn die Sprache der Tiere lehrte. Rasch lief der Held nach Norden und mied sorgsam das Reich der Toten — darauf war Theo nicht sonderlich scharf —, bis er in einen Wald kam. Einen komischen, dunklen und dichten Wald, der noch nie auf dem Bildschirm erschienen war.
Der heilige Wald!