Monica Sabolo

Summer

Roman

Aus dem Französischen von Christian Kolb

Insel Verlag

»Der Dichter sagt, dass du im Strahlenlicht der Sterne

Die Blumen suchen kommst, die du dereinst gepflückt;

Daß auf den Wassern er, als Lilie in der Ferne,

Ophelia treiben sah, mit Schleiern weiß geschmückt.«

Arthur Rimbaud, Ophelia

In meinen Träumen sehe ich immer den See. Mir ist von dem Sommer, in dem es geschehen ist und der mein Leben verändert hat, nichts im Gedächtnis geblieben außer ein paar Hochglanzbildern, Bildern eines Sommers, der so heiß war, dass die Fische des Genfersees dicht an der Wasseroberfläche geschwommen sind. Ich saß am Ufer, beobachtete ihre dunklen Körper, die mich an nach Luft ringende Monster erinnerten, und stellte mir das Innere ihrer Mundhöhlen, ihr ekliges rosa Fleisch vor.

Seit dreieinhalb Monaten gehe ich zweimal die Woche zu Doktor Traub, einem Therapeuten mit schweißnasser Stirn und hohem Haaransatz – wann er wohl endgültig eine Glatze haben wird? Vielleicht in drei, vier Jahren? –, dem zufolge die Fische in meinen Träumen Spiegelungen meiner Seele sind. Ausdruck meiner Erstickungsangst.

Das Ganze ist jetzt genau vierundzwanzig Jahre und dreizehn Tage her. Schon so lange erinnere ich mich nur an Fetzen, eine Explosion von weißem Licht, und dann: nichts mehr.

Schleimige schwarze Fische. Schillerndes, platt getretenes Farnkraut.

Die Freundinnen suchen meine Schwester und rufen ihren Namen: »Sum-mer!« Ihre Haare streichen im Rhythmus ihrer Kopfbewegungen über die nackten Schultern.

In meinen Träumen funkelt der See wie eine Glasplatte oder ein klarer Spiegel. Eiskalt und warm zugleich.

Ich möchte hineinspringen und mich auf die Suche machen; doch da sind die schwarzen Fische und die Pflanzen, die ihre Fangarme ausbreiten. Ihre schimmernden Fasern wiegen sich geschmeidig in der Strömung.

Manchmal sehe ich Summer reglos im Wasser. Mit weit aufgerissenen Augen. Sie will etwas sagen oder versucht zu atmen. Ihr Haar gleitet hin und her, wie ein lebender Organismus. Ich strecke die Hand aus und berühre die Oberfläche. Aber ich kriege nicht Summer, sondern nur ein Geflecht aus Algen zu fassen. Manchmal auch ein dunkles Tier, das rasch über die Steine im Wasser huscht.

Aber ich weiß, sie ist dort im See.

Ich habe seit jenem Tag im Juli, an dem ich sie und ihre Freundinnen – das Bild der wallenden offenen Haare, der bunten Bikinis und der in verschiedenen Rosa- und Rottönen leuchtenden Nägel steht mir noch klar vor Augen – zum Picknick am See begleiten durfte – riesige Farnkräuter flimmerten, die Felsen waren feucht und glatt –, nicht viel an meine Schwester gedacht. Fast nie eigentlich, auch wenn einem das nun merkwürdig oder gefühllos vorkommen mag.

Und dennoch habe ich sie vergöttert. Ihre Schönheit, ihr offenherziges Lächeln und das unglaublich blonde Haar haben auf den Klassenfotos immer hervorgestochen, sie gehörte zu dem Typ Mädchen, in den alle Jungs verliebt waren. Ich stehe auf solchen Fotos meist irgendwo am Rand und mache ein Gesicht wie ein Psychopath.

Zu Beginn des Sommers hat meine Schwester Summer Geburtstag gehabt.

Kaum drei Wochen später war sie verschwunden. Sie war neunzehn.

Meine Mutter hat gesagt, bei der Geburt seien die Haare meiner Schwester so hell gewesen, dass man fast hätte glauben können, sie wären aus Licht.

Ausgerechnet sie, die kein Wort Englisch sprach und sonst überhaupt nicht romantisch veranlagt war, hatte ihrer Tochter den Namen eines Cheerleader-Girls beziehungsweise den eines kalifornischen Popstars gegeben. Einen Namen, bei dem man an scharlachrote Schmetterlinge denkt, die über eine Blumenwiese flattern. Oder an ein strahlendes Segelschiff, das am Rande des Ozeans auf einen Felsen zuläuft.

Meine Schwester mutete tatsächlich wie die Schönheitskönigin aus einer amerikanischen Serie an, kerngesund, gelenkige Beine, unwirklich weiße Zähne, dazu ein ephemeres Leuchten im Blick, das geradezu Kummer und Schmerz verursachte. Sie war die Art von Mädchen, die immer große Träume hat, in den Herzen der Jungs ein grollendes Leid zurücklässt und im Kofferraum eines Geländewagens im finsteren Wald endet.

Aber meine melodramatischen Gedanken rühren bestimmt davon her, dass sie verschwunden ist. Als unser Familienleben noch in scheinbar endlosen Bahnen lief, habe ich nie solche Sachen gedacht. Sie war einfach meine geliebte große Schwester, die mit dem Strohhalm kalten Kakao trank, blauen Lidschatten trug und meine angespannten Klassenkameraden am Institut Florimont zu verstörten Neckereien veranlasste (»Nein, red keinen Scheiß, das ist deine Schwester!?«, »Hey, Wassner, deine Schwester, die würdest du aber schon mal gern vernaschen, oder?«, »Bist du dir eigentlich sicher, dass du kein Adoptivkind bist?«).

Ich bin der lebende Beweis dafür, dass man auch ohne die Menschen überdauern kann, die einem am meisten bedeuten, ohne die Wesen, die Tausende von winzigen Kleinigkeiten an sich haben, die das eigene Dasein ausmachen. Man hat schreckliche Angst davor, diese Menschen zu verlieren, denn sie geben einem das Gefühl zu existieren oder der Welt etwas weniger fremd zu sein, doch wenn man sie dann tatsächlich verliert, denkt man gar nicht mehr an sie.

Ich weiß weder, was aus meiner Schwester noch was aus dem mageren, zappeligen vierzehnjährigen Teenager geworden ist, der ich damals war. Vielleicht sind wir beide in einer Parallelwelt vereint, in die man gelangt, wenn man durch einen Spiegel tritt oder in einen Swimmingpool eintaucht.

Manchmal spricht Summer mit mir, nachts, unter Wasser. Ihr offener Mund bebt wie die Mäuler der schwarzen Fische.

Bitte, Benjamin, hol mich hier raus. Ich bin hier, hier unten. Bitte, bitte, hol mich da raus.

Das Gemurmel dringt durch das plätschernde Wasser. Ich bin hier.

Doktor Traub lächelt viel, zu viel – man könnte meinen, er weiß, wo sie ist, er weiß alles, seine zusammengepressten, fleischigen Lippen umschließen die Geheimnisse des Lebens –, und er sagt, die Sache liege auf der Hand. Ich habe die Geschichte nie verarbeitet.

»Der Klassiker«, sagt Doktor Traub.

Der Klassiker? Dass man von einem Atemzug auf den anderen seine Schwester verliert, die doch eben noch lächelnd durch mannshohes Gras gelaufen ist? Sie ist fort, aber sie ist nicht tot, oder möglicherweise doch, man weiß es nicht und will es auch nicht mehr wissen, niemand hat das Ganze je verarbeitet, es ist einfach geschehen, oder vielleicht war es ja nur ein Traum, Summer ist vor vierundzwanzig Jahren und dreizehn Tagen hinter einem Baum verschwunden und seitdem verschollen, der Wind hat sie davongetragen, sie ist mit dem Baum verschmolzen oder hat sich im Wasser aufgelöst. Oder ist gar etwas anderes passiert?

Ich frage mich zwar, was das nun zu bedeuten hat, erkläre mich aber einverstanden mit der Medikation (50 mg Deroxat und 4 mg Xanax pro Tag) und warte darauf, dass der Doktor mir das Rezept ausstellt. Mit seinen nassen, nach hinten geklatschten Haaren sieht er aus, als käme er gerade vom Baden, ich lächle, was sozusagen meine zweite Natur ist. Der Doktor lächelt ebenfalls, zufrieden mit dem Verlauf des Gesprächs, anscheinend ist das alles normal, befinden wir uns auf einem guten Weg, o mein Gott.

Der Doktor mag es, wenn ich von meinen Träumen rede. Er macht es sich in seinem Sessel bequem, nickt hie und da und hat wahrscheinlich das Gefühl, mir Halt zu geben. Er kommt sich vor wie der Herr der Träume, der König der Nacht und der tiefen Seen, in denen ich drifte inmitten aufsteigender Wasserpflanzen, die verschlungenen Haaren gleichen.

Ich weiß aber, dass der Doktor nie dort gewesen ist. Niemand ist dort je gewesen. Ich bin selbst nur Gast in den dunklen Gewässern jener anderen Welt, in die es mich manchmal zieht, oder vielleicht ist es vielmehr ein Ort, an dem Körper sich von dichter Sommerluft treiben lassen und sich sanft bewegen wie Boote im Strom. Wenn ich aufwache, habe ich einen Geschmack von Schlamm oder Metall im Mund, Summer ist weg und mit ihr die ganze Welt. Sie ist in Millionen Teile zersplittert. Aus einem gewaltigen Himmel geht ein Ascheregen nieder, der sich über die Zeit legt, über das, was einmal war, über das, was sein wird und eins wird mit dem schwarzen Staub der Nacht.

Vor vier Monaten hat das alles begonnen. Anfang April schaute ich aus dem Fenster meines Büros im achten Stock der UBS-Geschäftsstelle an der Place des Eaux-Vives, und mir war, als könnte ich die gläserne Luft greifen. Ich blickte hinüber zum Jet d’eau, und auch das Wahrzeichen von Genf wirkte zum Greifen nahe, die sprudelnde Fontäne, der riesige, wie Sperma spritzende Strahl, das herabfallende, seiden glänzende Wasser und die wie Champagner prickelnde Gischt. Das Büro war übers Wochenende gestrichen worden, und der dicke beige Teppich verströmte den lieblichen Duft von Pflegeprodukten in hellblauen Tuben, bei denen man an Frühlingshimmel oder einen klinisch reinen Tod denkt. Die Fenster waren so sauber, dass sie beinahe nicht mehr zu existieren schienen – irgendwann wird man mir erklären müssen, worauf der in diesem Land so lebendige, neurotische Putzfimmel zurückgeht, man hat den Eindruck, der Gedanke an Zerfall, Fäulnis oder auch nur an einen Fingerabdruck ist den Menschen unerträglich, er stellt eine Bedrohung für sie dar, einen dunklen Wald vor den Toren der Stadt, in dem wilde Tiere und Kreaturen der Finsternis umherschleichen.

Ein ungesunder, betäubender chemischer Geruch von Farbe schwebte im Raum. Am hellen Himmel erkannte ich das Herz eines Gottes, die Wände meines Büros bröckelten – waren sie aus Pappmaché? Einer ekligen, krümeligen Masse? Aus Vogelknochen? –, und dann wankte der Boden und das Zimmer drehte sich über dem sich spiegelnden See, der für einen Augenblick die ganze Welt reflektierte.

Vor der großen Treppe unseres Seehauses im noblen Vorort Bellevue steht meine Maman. Ich bin sieben Jahre alt. Der Geruch von frischer Farbe dringt in meine Lunge. Dieser Geruch ist überall, in den sechs Zimmern, den beiden ineinander übergehenden Salons, der Küche, auf der monumentalen Doppeltreppe. Alles wird gut, sage ich mir, und schaue meine Maman an. Sie lächelt. Auch Papa lächelt, er hat die Ärmel hochgekrempelt und winkt enthusiastisch seinen Freunden, die soeben in Motorbooten ankommen – wunderschöne junge Frauen in Badeanzügen, starke, charismatische Männer, die Papa ähneln, einer von ihnen lenkt sein Schiff mit offenem Hemd und Zigarre im Mund. Sie machen die Boote an dem Steg fest, von dem aus man direkt in den Garten gelangt, hüpfen an Land und springen über eine niedrige Mauer, die mit schwarzem Moos bewachsen ist, das sich zwischen den Fingern zerreiben lässt. Mit Weinflaschen und Badetüchern bewaffnet, laufen sie durch die Metallbogen des kleinen Musikpavillons, barfuß und mit nassen Haaren.

Papa, männlich und stolz, lächelt triumphierend, Maman strahlt in ihrem fast durchsichtigen Kleid, Summer in ihren Shorts und einem ärmellosen Top. Der extrem hohe Pferdeschwanz wiegt zwischen den Schulterblättern hin und her, sie wirkt wie eine zarte Miniatur-Maman. Alle drei sehen blendend aus, mein Herz bläht sich auf, wie ein Papierknäuel in meiner Brust – meine Familie, mein Gott, wie ich sie liebe … Die drei sehen noch blendender aus als die Gäste auf dem Rasen, obwohl all diese Fremden doch sehr beeindruckend sind, die vollkommen nackte Haut der Mädchen, ihre langen, glänzenden Beine, die Männer mit offenen Hemden und Gläsern in der Hand. Ein Leinentuch ist ausgebreitet auf dem langen Gartentisch unter der Pappel, deren dunkles Geflecht von Ästen bis in den See ragt und dort übers Wasser streicht. Flaumige, vom Wind getriebene Blümchen lassen sich auf dem gedeckten Tisch und in unseren Haaren nieder. Am schmalen Strand werfen Mädchen in Bikinis den Enten, die beim Näherkommen düstere Schreie ausstoßen, Brotkrumen hin, und auch die Mädchen geben spitze Schreie von sich, lachen erschrocken auf und setzen ihre nackten Füße vorsichtig auf die Kieselsteine. Ein übers Wasser gleitender Schwan mit öligem Gefieder starrt meine Schwester aus schwarzen Augen an. Sie tritt ans Ufer, junge Frauen mit schimmerndem Teint trippeln hinter ihr her, es hat den Anschein, dass sie die Herrscherin über die Geschöpfe und Kreaturen des Wassers ist und der Schwan auf ihre Befehle hört. Sein wendiger Hals folgt den Bewegungen ihrer Arme, und sie lacht. Ihr Gesicht leuchtet, als wäre ein Scheinwerfer auf sie gerichtet.

Ich bin glücklich, auch wenn meine Füße wie auf einem überschwemmten Teppich im Rasen einsinken, der mir feindlich gesinnt ist. Ich bin überzeugt davon, dass dieser Rasen nur eine über dem See schwebende Grasdecke ist, die früher oder später unter unserem Gewicht nachgeben und uns in die Tiefe stürzen wird. Maman hat meine dreckigen Beine gesehen, sie zündet sich eine Zigarette an und scheint plötzlich unruhig zu werden, lächelt jedoch weiter den Gästen zu. Ich kenne dieses Lächeln, es ist unergründlich und kriecht wie feuchte Luft unter die Haut.

So hat es angefangen, und als Doktor Traub – er tut immer so, als würde er sich Notizen machen, ich glaube allerdings, dass er überhaupt nichts aufschreibt, oder vielleicht schreibt er in einer Sprache, die es gar nicht gibt – mich gefragt hat, ob es einen »besonderen Vorfall« gegeben habe, der diese »Panikattacken« ausgelöst hat (so fasst er das Ganze nämlich zusammen, diesen Riss, der durch mich hindurchgeht, die Kurzatmigkeit, das Herzrasen, die rasch auffliegenden Schatten, die in meinem Blickfeld erscheinen – sind das Fledermäuse? Oder prähistorische Tiere? –, meine Erschöpfungszustände und den Drang zur Flucht, zu der mir jedoch die Kraft fehlt), habe ich schlicht gesagt: »Mein Büro ist gestrichen worden«, und war doch leicht betrübt über die Lächerlichkeit meiner Antwort.

Der Doktor hat mich ausdruckslos angestarrt.

Mein Name hat ihm sicher gleich etwas gesagt. Wassner. Mein Name sagt jedem etwas. Alle denken bei diesem Namen an Glamour und Tragik. Um ihn ranken sich Legenden wie ein Schleier über einem wässrigen Mond. Aber wir haben das immer ignoriert. Wir haben nicht davon gesprochen. Wir haben so getan, als bemerkten wir die neugierigen, eindringlichen und mitleidigen Blicke gar nicht. Wir sind beobachtet worden, als hätte sich unseren Gesichtern oder unseren – scheinbar lässigen – Bewegungen irgendetwas ablesen lassen. Wir sind von Rauchwolken umhüllt. Oder wir sind selbst nur Rauch.

»Erinnerungen, die von Gerüchen ausgelöst werden, können sehr intensiv sein. Es besteht ein unerklärlicher Zusammenhang zwischen Erinnerungen und Gerüchen.«

Der Doktor wollte mich offensichtlich mit seiner sanften Stimme, die etwas von dampfendem Badewasser hatte, dazu bringen, innerlich loszulassen.

Ich aber schwieg.

Im fahlen Licht des Sprechzimmers schwebte der Geist meiner Schwester, ihr langes, offenes Haar glich Seidenfäden. Ein feines, unsichtbares Spinnennetz, das mit jedem Tag unmerklich anwuchs, bis es irgendwann den ganzen Raum erfüllte und den Doktor und mich wie Babys in Tragetüchern gefangen hielt.

Ich lieferte mir wochenlang einen stummen Kampf mit ihm. Aber meine Erschöpfung wurde immer größer. Ich musste ihm gestehen, dass ich trotz Deroxat, Xanax und meiner morgendlichen Maßnahmen – Atem- und Entspannungsübungen, Versuchen, über mich selbst zu lachen – nicht mehr zur Arbeit gehen konnte, dass mir schwindlig wurde, sobald ich den Teppich im Büroflur betrat, dass ich das Gefühl hatte, in Schlamm zu versinken, dass mein Herz klopfte wie das eines atemlosen, um sich schlagenden Vogels. Dazu dieser Geruch. Überall der Geruch von Farbe, wie ein mich umgebender feuchter Nebel, ich tauchte ein in trübes weißes Wasser, in dem durchsichtige Mikroorganismen trieben, zart wie Spitze.

Der Geruch hatte sich im ganzen Gebäude verbreitet. Und er wurde von Tag zu Tag stärker. Ich spürte ihn, sobald ich die Glastür passiert hatte und in der Eingangshalle stand, er lag in der Luft, umwölkte die Gesichter der Empfangsdamen und den UBS-Schriftzug aus vergoldetem Metall an der Wand.

Der Doktor hat Summer nie erwähnt. Er nimmt ihren Namen nicht in den Mund. Wie die meisten Leute, die mir in den vergangenen vierundzwanzig Jahren begegnet sind. Sie spielen mal besser, mal schlechter mit mir zusammen das große Theater der Unschuld.

Am Anfang, als das Foto von ihr noch überall in der Stadt hing – ein Farbporträt, auf dem sie einen Pferdeschwanz und eine bunte Bluse trug und ein blasser Schein ihr hübsches Gesicht umgab –, war ich überrascht darüber, wie diskret ihr Verschwinden doch war. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass die einfache, geradezu naive Frage »Haben Sie dieses Mädchen gesehen?«, die in riesengroßen Buchstaben über unserer Telefonnummer stand, sich selbst genügte, dass dem nichts hinzuzufügen war, man sich nicht aufzuregen brauchte, wir erkundigten uns bloß nach einer leicht zerstreuten Freundin. Selbst die detaillierte Beschreibung beschwor das Bild einer jungen Schönheit, die gerade Ferien machte. 1,71 Meter groß, 54 Kilo, Konfektionsgröße 36. Blonde Haare, helle Haut, Sommersprossen im Gesicht und auf den Armen. Jeansshorts, weißes T-Shirt. Am Hals drei Muttermale, die ein Dreieck bilden.

Auch als die Fahndung eingeleitet wurde, bei der das Gebiet zwischen unserer Villa und dem Wald, in dem meine Schwester zum letzten Mal gesehen worden war, abgesucht wurde, schien das Ganze irgendwie unwirklich, die Polizei schickte nur ihre Lehrlinge – als wäre die Lage für ausgewachsene Profis nicht ernst genug –, Lehrlinge mit Kindergesichtern und Bartflaum, die vor Gesundheit strotzten, auch wenn sie unter Akne litten, und deren blaue Uniformen wie eine Verkleidung wirkten. Sie bevölkerten unseren Garten, und ich konnte mir gut vorstellen, dass sie alle in Summer verliebt waren und wie sie versuchten, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, indem sie laut lachten, ihre Muskeln spielen ließen oder auf einer saftigen Wiese im Park oder vor der Uni mit dem Fußball dribbelten.

Als ein kleiner, schwitzender Dunkelhaariger in einem eng anliegenden Poloshirt seinen Hund an einem fleischfarbenen Oberteil meiner Schwester schnüffeln ließ, das genauso gut ein Hautfetzen hätte sein können, war mir richtig unheimlich zumute, ich hatte das dumpfe Gefühl, dass die beiden mir etwas wegnehmen wollten. Der Hund nahm die Witterung auf, und dann gingen sie gemeinsam am See entlang.

Bei Einbruch der Dunkelheit kehrten sie gesenkten Blickes und mit ausdruckslosen Gesichtern zurück.

Keine Spur von meiner Schwester. Nichts.

Sie stiegen wieder in ihre Autos, vier Mann pro Wagen, und ich dachte mir, bestimmt fahren sie direkt in eine Bar in der Altstadt, trinken Bier und spielen sich mit ihren Uniformen groß auf, während hinter ihren Rücken nachts ein flüchtiges Bild auftaucht, ein zusammengekrümmter Körper in einem Busch, ein Haar, das sich in einem Zweig verfangen hat, ein rosafarbenes T-Shirt in einem Hundemaul.

Ein paar Tage, vielleicht auch ein paar Wochen, herrschte fieberhafte Aufregung. Das Telefon klingelte ununterbrochen, Freunde besuchten uns und brachten Fruchtkörbe, selbstgebackene Kuchen und sogar einen frisch gefangenen Hecht mit, der uns wochenlang düster aus dem Gefrierfach anlächelte.

Die Freundinnen meiner Schwester versammelten sich im Garten, schütteten ihre Herzen aus, rauchten Zigaretten, nahmen sich gegenseitig in den Arm, tauschten schöne, besorgte Blicke, und ihre farbenfrohen Kleider strahlten im Sommerlicht. Manchmal, wenn eine von ihnen mit tränenfeuchten Augen zusammensank, scharten sich die anderen sofort um sie, neigten sich zu ihr herab – blondes, dunkelblondes und kastanienbraunes Haar senkte sich wie ein Vorhang – und flüsterten ihr tröstende Worte ins Ohr. Wie junge Rehe, die ihrer verletzten Schwester beistanden und sie vor den Augen der Welt verbargen.

Jungs waren auch da. Sie trugen Bermudashorts und verbreiteten Nervosität. Mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen servierte ihnen meine Mutter Drinks. Eines Abends, als zwei von ihnen am Steg saßen und die Beine baumeln ließen, schlich ich mich im Schutz der Dunkelheit heran. Ich nahm einen süßlichen Geruch wahr, sah die rote Glut eines Joints aufglimmen und erkannte plötzlich das Profil meiner Mutter. Meine Schultern zogen sich zusammen, eine Katastrophe schien sich anzubahnen, doch meine Mutter reichte den beiden offenbar bloß ein Getränk, wahrscheinlich eine Cola oder einen Aperitif. Sie blieb noch einen Moment bei ihnen stehen, dann ging sie wieder zurück ins Haus. Mir war, als schwebte sie über den Rasen, als leuchtete sie in der Nacht, als strahlte ihr Körper Wärme aus. Ich fragte mich, was wohl in ihr vorging, ich hatte keine Ahnung, und das brachte meine Welt noch mehr ins Wanken, machte sie noch schrecklicher.

Szenen wie diese sind mir in den ersten Wochen meiner Therapie wieder in den Sinn gekommen. Nachts schlief ich gut, träumte viel, und tagsüber ließ ich mich von meinen Erinnerungen treiben, die in mir rauschten wie ein Fluss, ein mächtiger Strom, der alles aufwühlte, was sich am Grund abgelagert hatte, etwas Klebriges, das an die Oberfläche drängte, vom reinigenden Wildwasser aber im Nu fortgespült wurde.

Ein andermal, mein Vater war nicht da, er fuhr ständig mit dem Jeep – einem Cherokee Chief, den Summer hasste, weil er für sie das »Auto der Neureichen« war – die Gegend bis hinauf in die Weinberge ab, als glaubte er, sie dort zu finden, als würde sie dort am Straßenrand entlangspazieren, womöglich sogar mit ein paar Zweigen im Haar, wie ein Mädchen, das am Strand eingeschlafen war und den letzten Bus verpasst hatte, an so einem Tag jedenfalls, an dem mein Vater wieder mal die Gegend abfuhr, hörte ich plötzlich einen ohrenbetäubenden Knall, der eindeutig aus dem Schlafzimmer meiner Eltern kam. Ich rannte hinüber, und da saß meine Mutter inmitten verstreuter Kleider und etwas, was wie Glassplitter aussah, auf dem Bett. Der ganze Raum und auch ihr Haar funkelten. Ihre zarte, beinahe durchsichtige Haut schien von einem glitzernden Spiegel überzogen zu sein. Schließlich begriff ich, dass tatsächlich der große Schrankspiegel in tausend Stücke zerbrochen war. Meine Mutter schaute ihre Füße an, die Haare fielen ihr ins Gesicht, und die reflektierenden Scherben warfen ein mildes rosa Licht. »Lass mich«, murmelte sie mit vor Wut zitternder Stimme, als hätte ich sie bei einem geheimen Ritual gestört.

Die meiste Zeit passierte allerdings gar nichts. Wir waren völlig hilflos, wussten nichts mit uns anzufangen, die leiseste Regung hätte unserem Dasein ja irgendeine Richtung geben können, ein geradezu obszöner Gedanke. Ich glaube, so verging der Sommer, alles lag im Ungewissen. Meine Mutter trug eine schwarze Brille, reichte Fruchtsäfte auf einem Tablett und lag ganze Nachmittage lang mit angezogenen Beinen im Bett. Mein Vater raste derweil mit dem Jeep herum, er fuhr immer so scharf an, dass die Steinchen auf dem Kiesweg heftig zur Seite stoben – und ich wurde das Gefühl nicht los, dass das eine Art war, meiner Mutter und mir Vorwürfe zu machen. Wir wussten nie, wohin er fuhr, er verlor darüber kein Wort, weder davor noch danach, wir registrierten nur, dass er tiefe Augenringe hatte und seine Hemden zerknittert waren. Wir waren jedes Mal froh, wenn er wieder da war, denn wir fürchteten schon, dass auch er nicht mehr nach Hause kommen würde. Dass man seinen Wagen mit offener Fahrertür auf einem Feldweg oder am Waldesrand finden würde oder dass er dem Horizont entgegenrauschen und sich dort, wo der Asphalt in der Sommerhitze zu flimmern beginnt, einfach in nichts auflösen könnte.

Die übrige Zeit mähte er wütend den Rasen, und wir dachten uns, er würde bestimmt nicht anhalten, wenn sich ihm jemand in den Weg stellen würde. Der dröhnende Motor schien ihn zu hypnotisieren. Das Schlimmste aber war, wenn er mit aufgeweichtem Gesicht breitbeinig neben dem Telefon saß. Dann wirkte mein schöner, spöttischer, scheinbar unbezwingbarer Papa resigniert, dann hätte man meinen können, er wäre am Zergehen. Sein Blick war mal glasig, mal böse, er war überhaupt nicht wiederzuerkennen.

Einmal hatten Freunde uns dazu überredet, mit ihnen zusammen eine Motorbootsfahrt zu unternehmen, und so kletterten wir tapfer an Bord, ausgerüstet mit einer Kühltasche voller Sandwiches. Mein Vater stand an der Reling, köpfte Roséweinflaschen und erzählte Anekdoten, während der Wind die Zipfel seines offenen Hemdes an seinen nackten Oberkörper peitschte. Meine Mutter fuhr sogar Wasserski und zog dabei eine lange weiße Gischtspur hinter sich her. Für einen Moment, in dem mir vor lauter Wind ein bisschen schummrig im Kopf war und die Sonne mich blendete, dachte ich, das sei Summer, die da anmutig zwischen den Wellen herumhüpft, die grazilen Arme ausgestreckt hält und mit den Händen fest den Griff umklammert.

Manchmal bildete ich mir auch ein, ich sehe, wie sie hinter unserem Haus aus dem Wasser steigt, triefend und perlend über den Kies stakst und mir ein komplizenhaftes, warmherziges Lächeln schenkt, das mir das Gefühl gab, ich sei ein Teil ihres Lebens oder des Lebens im Allgemeinen. Ich bildete mir ein, ich sehe, wie sie sich in ein Frotteehandtuch einwickelt, sich neben mich auf den Rasen setzt und eine Zigarette anzündet. Ich musste lachen, wenn ich daran dachte, was für Sorgen wir uns um sie gemacht hatten, wie hatten wir glauben können, dass sie nicht mehr nach Hause kommen würde, und ich stellte mir vor, wie ihre runde Schulter unter dem Handtuch hervorlugte, sie den Nagellack an ihren Füßen inspizierte und ebenfalls lachen musste.

Einige Tage nach der Fahndung mit den Polizeischülern tauchten doch noch richtige Polizisten bei uns auf. Zwei kurzhaarige Inspektoren stiegen aus einem weißen Wagen mit blauem Streifen, wie in einer Fernsehserie. Sie durchkämmten den Garten, schauten, die Hand über der Stirn, in die Ferne und hinterließen mit ihren klobigen schwarzen Schuhen tiefe Abdrücke im Rasen. Wonach suchten sie überhaupt? Nach einem im Wind wehenden Stück Stoff? Einem Abschiedsbrief meiner Schwester, den sie vielleicht in einen Umschlag gesteckt und mit einem Wollfaden an einem Zweig befestigt hatte? Oder etwa nach ihrer in den Büschen versteckten Leiche?

Die Inspektoren redeten in ruhigem Ton mit meinen Eltern, in ihrem melodischen, für Tragödien absolut ungeeigneten Genfer Akzent, und bemühten sich, ihre Fragen so einfühlsam wie möglich zu stellen. Mein Vater machte einen nervösen, aber kooperativen Eindruck, er fasste die Polizisten am Arm und an der Schulter, es war damals noch seine Art, sein Gegenüber für sich einnehmen zu wollen. Einer der beiden Männer, der größere mit dem durchdringenden Blick, notierte sich ab und zu etwas auf einem in seinen großen, robusten Händen winzig aussehenden Block und nickte. Ich betrachtete die glänzenden schwarzen Haare auf seinen Armen. Er wirkte gewieft und sympathisch.

Er sprach die Worte, die mehrere Wochen in uns nachhallten, an die wir uns klammerten wie an ein Seil, das über einem Abgrund pendelt. Er sprach diese Worte mit einer seltsamen Süße aus, als wunderte er sich darüber, wie merkwürdig sich Menschen doch verhalten können.

»Wissen Sie, so was passiert eigentlich jeden Sommer, dass irgendwelche Personen verschwinden, das ist jedes Jahr das Gleiche. Die Leute stellen die unglaublichsten Dinge an. Sie wollen ihre Freiheit genießen, in Urlaub fahren, alles um sich herum vergessen, nun ja, weiß Gott, was genau in ihnen vorgeht. Sie melden sich nicht mehr bei ihren Familien, werden von der Polizei gesucht, kein Mensch weiß, wo sie stecken. Aber wenn der Sommer irgendwann vorbei ist, dann fahren die meisten wieder nach Hause, dann kommen sie wieder zum Vorschein, wie Blumen.«

Die meisten kommen wieder zum Vorschein.

Wie Blumen.

Aber eben nicht alle.