3Perry Anderson
Hegemonie
Konjunkturen eines Begriffs
Aus dem Englischen von Frank Jakubzik
Suhrkamp
Kaum ein Fachbegriff spielt in den gegenwärtigen politischen Diskursen ‒ nüchternen wie polemischen ‒ eine derart hervorstechende Rolle wie der der Hegemonie. Solche Popularität genießt er, wie ein Blick in die Bestände gutsortierter Bibliotheken zeigt, allerdings erst seit relativ kurzer Zeit. Was den englischen Sprachraum betrifft, erscheint er im Katalog der University of California in Los Angeles erstmals im Jahr 1961. Nach Jahrzehnten geordnet, führen ihn in den sechziger Jahren fünf Bücher im Titel, in den siebziger Jahren16, 34 in den Achtzigern und dann ‒ der große Sprung ‒ 98 in den Neunzigern. In den ersten fünfzehn Jahren dieses Jahrhunderts wurden 161 einschlägige Bücher publiziert ‒ etwa eines im Monat. Der Begriff ist also längst nicht mehr obskur oder marginal.
Worauf geht diese Veränderung zurück? Wie viele andere politische Begriffe ‒ Moderne, Demokratie, Legitimität und so weiter ‒ verfügt auch der der Hegemonie über eine komplizierte Geschichte, die bei seiner heutigen Verwendung zumeist ignoriert wird, die wir aber verstehen müssen, um seine Bedeutung für die Gegenwart zu erfassen. Diese Geschichte berührt acht oder neun verschiedene Nationalkulturen, und wir werden uns mit jeder von ihnen auseinandersetzen müssen. Auch wenn die Betrachtung der Konjunkturen des Begriffs in erster Linie eine Übung in vergleichender historischer Philologie ist, stehen die Wendungen seiner Geschichte ‒ wechselnder Wortgebrauch, kontrastierende Konnotationen ‒ bei weitem nicht nur für semantische Verschiebungen. Sie bilden eine Art politisches Barometer der sich 8über die Jahrhunderte verändernden Machtverhältnisse und Zeiten.
Zeitgleich mit der folgenden Studie erscheint im englischen Sprachraum die Neuausgabe einer älteren, The Antinomies of Antonio Gramsci,1 die sich ausführlicher mit einem einzigen um den Begriff der Hegemonie kreisenden Werk ‒ dem bekanntesten ‒ und dem Kontext seiner Entstehung befaßt. Leser beider Bücher mögen dem vorliegenden die stark komprimierte Wiederholung des im anderen detaillierter Dargestellten verzeihen; diese Überlappung ist nicht zu vermeiden. Ziele und Methoden beider Studien sind nicht dieselben, dennoch können sie als komplementär angesehen werden. Grundsätzlicher unterscheiden sich ihre Akzente: Produkte von Zeiten, die wenig miteinander gemein haben. Aber das eine, vor vierzig Jahren geschriebene, war ein Stimulus für das andere, ein Konnex, der eng genug ist, um von einem asynchronen Duett zu sprechen.
Daß es zur Konzeption dieses Buchs kam, verdanke ich dem Institut d'Études Avancées in Nantes, an dem ich bei der Arbeit an einem verwandten Projekt, einer Untersuchung zur amerikanischen Außenpolitik, auf die Idee dazu kam. Was die Ausarbeitung angeht, so bin ich bezüglich des Umgangs mit der Literatur zweier Sprachen, die ich nicht lesen kann, Chinesisch und Japanisch, für die freundliche Unterstützung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern dankbar, die es können: Andrew Barshay, Mary Elizabeth Berry, Joshua Fogel, Annick Horiuchi, Eric Hutton, Kato Tsuyoshi, Peter Kornicki, Jeroen Lamers, Mark Edward Lewis, 9Kate Wildman Nakai, Timon Screech, Wang Chaohua und Zhang Yongle. Das neunte Kapitel dieses Buchs wäre ohne ihre Hilfe nicht entstanden, wobei allerdings keiner der Genannten für die Irrtümer verantwortlich ist, die es unvermeidlich enthalten muß ‒ geschweige denn für die Ansichten zu anderen Dingen, die anderswo in diesem Buch formuliert sind. Das achte Kapitel erschien in unwesentlich längerer Form erstmals in der New Left Review (Juli/August 2016, S. 71-97).
Oktober 2016
Die historischen Anfänge des Hegemoniebegriffs liegen natürlich in Griechenland, in einem Verb mit der Bedeutung von leiten oder führen, das sich bis zu Homer zurückverfolgen läßt. Als Abstraktum begegnet hēgemonia erstmals bei Herodot, wo es die Führungsrolle innerhalb einer mit militärischer Zielsetzung gebildeten Allianz von Stadtstaaten bezeichnet ‒ ein ehrenhafter Rang, den man Sparta für seinen Widerstand gegen die persische Invasion zuerkannte. Ihm zugrunde lag die Vorstellung eines Bündnisses Gleichrangiger, die einen der ihren dazu bestimmten, die anderen im Hinblick auf ein vorgegebenes Ziel zu führen. Von Anfang an trat das Wort in Konkurrenz zu einem anderen Begriff, der Herrschaft im allgemeinen bezeichnete: arkhē. Was war der Unterschied zwischen den beiden? In dem berühmten Abschnitt seiner History of Greece, der die Entstehung des Attischen Seebunds unter Führung Athens im 5. Jahrhundert v. u. Z. behandelt, behauptete der bedeutende liberale Historiker George Grote ‒ ein akademischer Mitstreiter John Stuart Mills ‒, hēgemonia bezeichne eine Führungsrolle, die die Geführten auf der Grundlage von »Verbundenheit oder Konsens« aus freien Stücken akzeptieren, während arkhē die »höhere Autorität und bezwingende Erhabenheit« eines Imperiums voraussetze, die lediglich »Ergebung« hervorbringe. Thukydides habe zwischen beiden streng unterschieden und im Übergang Athens von ersterer zu zweiterer Rolle die ent12scheidende Ursache des Peloponnesischen Kriegs gesehen.2 John Wickersham, der die klassische Beweislage zuletzt untersuchte, stimmt ihm darin zu. Die Konzepte Hegemonie und Imperium stünden »im tödlichen Widerspruch« zueinander. Die Ausübung von Zwang mache »den entscheidenden Unterschied aus«.3
Den Zeitgenossen war eine derart starke Kontrastierung noch fremd. Herodot und Xenophon verwenden hēgemonia und arkhē praktisch synonym. War Thukydides präziser? Der Absatz, auf den Grote verweist, beginnt mit dem ersten Begriff und endet mit dem zweiten, zeichnet dabei zwar eine Entwicklung nach, stellt sie einander jedoch nicht gegenüber.4 Anderswo bei Thukydides unterscheiden die Akteure seiner Berichte nicht zwischen beiden Termini. Im Rahmen der sizilischen Expedition setzt sie ein athenischer Gesandter 13umstandslos gleich: »[A]ls wir nach den Perserkriegen im Besitz einer Flotte waren, haben wir uns von der Herrschaft und Führung [arkhēs kai hēgemonias] der Lakedämonier [Spartaner] freigemacht«.5 Am pointiertesten schärft Perikles selbst seinen Mitbürgern ein, daß sich ihr Ruhm nicht auf die hēgemonia, sondern auf die arkhē gründe, die sie sich nicht aus der Hand nehmen lassen dürften. »Es versteht sich aber von selbst, daß ihr die Ehre, welche unserer Stadt aus der Herrschaft erwächst, und mit der ihr alle großthut, nicht im Stiche lassen dürfet«, erklärt er ihnen, »und keine Mühe scheuen, wenn ihr nicht überhaupt das Streben nach Ehre aufgeben wollet. Auch denket nicht, daß es bei diesem Kampfe sich nur um eines drehe, eigene Abhängigkeit oder Unabhängigkeit, nein, es handelt sich auch um den Verlust der Herrschaft über Andere und um die Gefahren, die der Haß mit sich bringt, welchen unsere Herrschaft uns zugezogen hat.« Der Staatsmann, dessen Moderatheit Thukydides unermüdlich lobt, schließt mit den Worten: »Bedenket, daß [diese Stadt] eine Macht erworben [hat], deren Andenken bei den Nachkommenden nie erlöschen wird […]. Wir sind es, die unter den Hellenen über die größte Zahl von Hellenen geherrscht und in den schwersten Kriegen der Gesammtheit wie den Einzelnen widerstanden haben, und so haben wir diese Stadt, die wir bewohnen, in allen Stücken zur blühendsten und größten gemacht.«6 Um den positiven Wert der arkhē noch zu unterstreichen, spricht Thukydides sie am Ende seiner Lobeshymne auf Perikles diesem selbst zu: »So gab es 14dem Namen nach eine Volksherrschaft, in der That aber ging vom ersten Manne die Herrschaft aus [tou prōton andros arkhē].«7
Daß die Konzepte Hegemonie und Imperium im antiken Griechenland nicht scharf voneinander abgegrenzt waren, sondern fließend ineinander übergingen, hatte mit ihrer Bedeutung und ihrem Gebrauch zu tun. Die von Hans Schaefer gegen Ende der Weimarer Republik verfaßte erste wissenschaftliche Untersuchung zum Begriff der Hegemonie zeigte, daß dieser tatsächlich eine Führungsrolle bezeichnete, die die Mitglieder eines Bündnisses einem aus ihren Reihen aus freien Stücken einräumten, allerdings als zweckgebundene Vollmacht, nicht als generelle Autorität. Zugesprochen wurde mit ihr der Oberbefehl auf dem Schlachtfeld.8 Der Krieg, nicht der Frieden war ihr Anwendungsgebiet. Da militärische Befehlsgewalt die strikteste Form der Führung ist, bedeutete Hegemonie mithin von Anfang an die Ausübung uneingeschränkter Macht, allerdings nur auf einem bestimmten Gebiet und für eine begrenzte Zeit. Doch was wäre natürlicher oder erwartbarer, als daß ein einmal berufener Hegemon versucht, Dauer und Ausmaß seiner Macht zu erweitern?9 Während mit der hēgemonia am einen Ende des 15Spektrums also eine grundsätzlich erweiterbare Form der Machtausübung stand, war die arkhē am anderen Ende konstitutiv mehrdeutig und konnte je nach Kontext (oder Neigung des Interpreten) als neutrale Herrschaft oder imperiale Dominanz verstanden werden. In der Rhetorik des 5. Jahrhunderts ließen sich die Begriffe aus taktischen Gründen mit Konsens bzw. Zwangsausübung assoziieren, doch machten die fließenden Übergänge ihres Gebrauchs eine stabile Abgrenzung unmöglich.
Das änderte sich im 4. Jahrhundert. Als die athenischen Redner nach der Niederlage im Peloponnesischen Krieg kein Imperium mehr zu rühmen hatten, priesen sie die Vorteile der Hegemonie, die sie entsprechend moralisch aufluden und als das Ideal der Schwächeren präsentierten. Isokrates rief die Griechen dazu auf, sich noch einmal unter der Führung Athens gegen die Perser zu verbünden, und forderte die Hegemonie für seine Stadt unter Verweis auf ihre kulturellen Meriten ein: die Errungenschaften, die ihr die anderen Staaten zu verdanken hätten, vor allem in der Philosophie, der Redekunst und der Erziehung. Sein Panegyrikos ist die systematischste Verteidigung der Hegemonie als freiwillig anerkannte Vorrangstellung, die sich in der Literatur finden läßt. Doch selbst dieser Text kommt vielsagenderweise nicht ohne den Kontrapunkt ihres Pendants aus: Auch für das »sehr große« Imperium, über das Athen verfügt habe, sei »uns jeder verständige« Grieche zu »großem Dank« verpflichtet.10 Fünfundzwanzig Jahre weiterer Rückschläge und 16Demütigungen später plädierte Isokrates für einen Friedensschluß mit den gegen die Dominanz Athens aufbegehrenden Verbündeten und warf seinen Athener Mitbürgern vor, »daß wir nach einer [imperialen] Herrschaft trachten, die weder gerecht, noch möglich, noch zuträglich ist«, was bereits im Peloponnesischen Krieg »mehr und größere Uebel« über die Stadt gebracht habe als in deren gesamter übriger Geschichte.11 Zu diesem Zeitpunkt, da die arkhē verloren war, hatte er die Hegemonie in seinem Hymnus an die Beredsamkeit ganz und gar ätherisiert, indem er von der Hegemonie der Sprache über alle Dinge ‒ hapantōn hēgemona logon ‒ spricht und sich selbst bescheinigt, er sei »mit den Reden vorangegangen«.12 In der wirklichen Welt war der Ausgang das radikale Gegenteil, insofern der König, den er zum Friedensschluß hatte überreden wollen, den Stadtstaaten die Herrschaft Makedoniens aufzwang. Mit Hilfe seiner Eroberungen wurde Philipp »Hegemon Griechenlands«, formell eingesetzt als solcher in Korinth.13
Aristoteles schrieb später mit Blick auf Athen und Sparta: 17»[D]ie Staaten, welche die Führerschaft [hēgemonia] bei den Griechen erlangten, sahen immer nur auf die bei ihnen selbst bestehende Verfassung und errichteten danach entweder eine demokratische oder oligarchische Verfassung in den anderen Staaten, indem sie dabei nicht auf das diesen Staaten Zuträgliche achteten, sondern nur auf ihren eignen Vortheil«, bis es »in den Staaten schon zur Gewohnheit bei den Bürgern [geworden ist], daß sie nicht nach der Gleichheit verlangen, sondern entweder die Herrschaft für sich zu gewinnen suchen oder, wenn sie überwunden worden sind, dann es geduldig ertragen«.14 Mit anderen Worten: Der Hegemonie war ein Interventionismus inhärent. Die Vertragsbedingungen des Korinthischen Bundes, nominell ebenfalls eine Allianz gleichberechtigter Staaten, waren, wie es Philipps autokratischer Macht entsprach, weitreichender als die jedes früheren Vertrags, indem sie den Hegemon autorisierten, Maßnahmen gegen jede Änderung der Verfassungen der Mitglieder zu ergreifen, insbesondere wenn es um die »Konfiszierung von Eigentum, Umverteilung von Land, Löschung von Schulden und Befreiung von Sklaven zum Zwecke der Revolution« ging. Sogar George Cawkwell, der führende moderne Experte für Philipps Karriere und entschiedene Bewunderer des Königs, sah sich zu fragen veranlaßt: »Sollte die griechische Gesellschaft von 337 an eingefroren werden? In wessen Interesse? Sollten makedonische Quislinge für immer an der Macht bleiben?«, schlug dann aber eine »Milderung dieses strengen Urteils« vor, weil »Philipp auch nach seiner Ernennung im Jahr 337 populär blieb«.15 Wenn Cawkwell resü18miert, daß »das wahre Geheimnis des Korinthischen Bundes in der Rolle des Hegemons zu finden« sei, hat er vielleicht mehr gesagt, als er sagen wollte.
Dort, im aristotelischen Zeitalter, verblieb der Begriff erst einmal. Das politische Vokabular Roms, wo man Verbündete unterwarf und einer expandierenden Republik einverleibte, mit deren Struktur kein griechischer Stadtstaat mithalten konnte, benötigte ihn nicht. Sein Bedarf an Ambivalenzen und Euphemismen war gering. Und auch nach dem Niedergang Roms, im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, ging das Wort zunächst nicht in andere europäische Sprachen über. In Hobbes' Thukydides-Übersetzung kommt es kein einziges Mal vor.16 Diesseits antiker Kontexte taucht es zum ersten Mal Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland wieder in einer zeitgenössischen politische Debatte auf, am Schnittpunkt von nationalem Einheitsstreben und antiker Philologie, als die zahlreichen griechenlandaffinen Historiker im Land in Preußen das Königreich erblickten, das über die Fähigkeit verfüge, die anderen deutschen Staaten auf den Weg zur Einheit zu führen. In England hatte Grote das Wort nicht durchzusetzen vermocht, Kritiker hatten ihm dessen 19Verwendung vorgehalten, er selbst in den späteren Bänden seiner griechischen Geschichte auf den unbestimmteren Begriff »headship« (Leitung) zurückgegriffen. Nun bemerkte die Times von London aus, nicht ohne die Neu- und Fremdartigkeit des Worts zu unterstreichen: »Zweifellos ist es eine gloriose Ambition, die Preußen dazu treibt, die Führungsrolle ‒ oder wie es jenes Land der Professoren auszudrücken beliebt: die ›Hegemonie‹ ‒ im Deutschen Bund für sich zu beanspruchen.«17
Von den Befreiungskriegen gegen Napoleon an hatten liberale und nationalistische Denker auf Preußen geblickt, wenn es um die Einigung der zersplitterten deutschen Nation ging ‒ von der Führung18 oder Vorherrschaft* des Landes bei diesem Unterfangen war schon lange die Rede, bevor die entsprechenden Bestrebungen zur Reife kamen. Im Jahr 1831 modifizerte mit Paul Pfizer ein liberaler Jurist und Altphilologe aus Württemberg das Vokabular, als er unter dem Titel Briefwechsel zweier Deutschen [sic!] ein detailliertes Plädoyer für die bestimmende Rolle Berlins in einem künftigen Deutschen Reich vorlegte. Setzte die nationale Einheit Deutschlands politische Freiheit voraus oder ließ sich diese umgekehrt erst dann verwirklichen, wenn Preußen mit Hilfe seiner Militärmacht die Einheit herbeigeführt hatte? Pfizer ließ wenig Zweifel an seiner Überzeugung: »Wenn nicht alle Zeichen trügen, so ist Preußen auf das Protectorat über Deutschland durch dasselbe Verhängniß angewiesen, das ihm einen Friederich den Großen gab« ‒ und damit für eine »Hegemonie« bestimmt, die zugleich der »Entwicklung eines öf20fentlichen Lebens, der Wechselwirkung und dem Kampf verschiedenartiger Kräfte im Innern Raum« geben werde.19
Zur Zeit der Revolution von 1848 war der Begriff zum Schlagwort liberaler Historiker geworden, die Preußen eine Rolle aufzudrängen suchten, die der Hof in Berlin zurückwies. Mommsen, ein aufstrebender Fachmann für Römisches Recht, der sich in den Journalismus verirrte, erklärte: Da »nur die preußische Hegemonie Deutschland retten kann […,] haben die Preußen Recht, wenn sie auf der Hegemonie als Bedingung ihres Zutrittes zu Deutschland bestehen«.20 Droysen, damals Professor in Kiel, hatte 1833 eine bahnbrechende Studie über Alexander den Großen vorgelegt, gefolgt von zwei Bänden über dessen Nachfolger, in denen er die Idee einer »hellenistischen« Epoche der antiken Zivilisation entwickelte, die der entscheidende Brückenschlag von der antiken zur christlichen Welt gewesen sei.21 Diesem from21men Motiv voraus ging allerdings ein Lobgesang auf die Macht Makedoniens, die den Zuständen in Griechenland, die »so elend und beschämend wie möglich« gewesen seien, da man sie in der »Zerfahrenheit und Verkrüppelung des [politischen] Kleinlebens ließ«, ein Ende bereitet habe ‒ Philipp und Alexander triumphieren über die von Demosthenes verteidigte »verschlissene und vernutzte Demokratie« Athens und weiten den hellenischen Einfluß nach Asien aus.22 Die zeitgenössische Analogie wurde zumeist übersehen. Erst Hintze bemerkte in seinem Nachruf auf Droysen: »Die Stellung der mazedonischen Militärmonarchie gegenüber dem zersplitterten, particularistischen Hellenentum erscheint fast als ein Seitenstück zu dem von patriotischen Männern gewünschten Supremat Preußens über die deutschen Kleinstaaten. Die nationale Einigung, der nationale Gesamtstaat erscheinen als die oberste Forderung der Zeit und als der Maßstab des historischen Urtheils. Darum fällt alles Licht auf Alexander, aller Schatten auf Demosthenes.«23
22Damit war Droysen bestens für eine führende Rolle in der Frankfurter Nationalversammlung von 1848 positioniert, wo er Mitglied des Verfassungsausschusses wurde. »Ist nicht die Macht und Größe Preußens ein Segen für Deutschland, Bedingung für dessen Sicherheit und Gedeihn?«, hatte er ein Jahr zuvor gefragt. Und im April, unmittelbar vor der ersten Parlamentssitzung, notierte er: »Preußen ist schon Deutschland in der Skizze«, seine Armee und Staatskasse würden das Fundament des geeinten Landes bilden, denn »wir bedürfen eines mächtigen Oberhauptes«.24 Im Dezember schrieb er einem Freund: »Ich arbeite, was ich kann, für die erbliche Hegemonie Preußens« ‒ dafür also, daß die Hohenzollern den Kaiserthron eines deutschen Nationalstaats bestiegen.25 Die Weigerung Friedrich Wilhelms IV., die ihm von der Frankfurter Nationalversammlung angebotene Krone »aus Dreck und Letten« anzunehmen,26 war ein schwerer 23Schlag für Droysen. Doch er gab die Hoffnung nicht auf. So optierte er zwar seinen Fraktionskollegen gegenüber für den Rückzug der Fraktion aus der Nationalversammlung ‒ jedoch nur »unter Mitnahme des unvergänglichen Gedankens der Preußischen Hegemonie«.27 Den Rest seines Lebens widmete er der Niederschrift der Geschichte der hohenzollernschen Monarchie und ihrer Diener.
Ein radikalerer Mann als Droysen und andere Parlamentarier der Casino-Fraktion, der Historiker und Literaturwissenschaftler Georg Gottfried Gervinus ‒ einer der Göttinger Sieben, die aufgrund ihres Protests gegen die Aufhebung der Verfassung Hannovers durch König Ernst August entlassen und des Landes verwiesen worden waren ‒ hatte 1847 die Deutsche Zeitung als Kampfblatt des deutschen Liberalismus gegründet, nachdem er jahrelang, wie er später schrieb, »die preußische Führung der deutschen Dinge auf dem Katheder und in der Presse […] gepredigt [hatte], als noch kein preußisches Blatt etwas der Art gewagt hätte«.28 Im Frankfurter Parlament und auf den Seiten der Deutschen Zeitung forderte er immer wieder eine Hegemonie Preußens in einem deutschen Bundesstaat, Anfang 1849 rief er zum Krieg mit Österreich auf, um eine kleindeutsche* Einheit herbeizuführen. Als Friedrich Wilhelm IV. die ihm zugedachte Rolle zurückwies, schwor Gervinus ‒ mit dem Ruf »Preußen hat uns verlassen« ‒ Berlin die Feindschaft. Gegen Ende seines 24Lebens verglich er die Einigung Deutschlands unter preußischer Führung mit der Auslöschung der Freiheiten und Autonomien Griechenlands durch die Makedonen sowie Bismarcks Feldzug gegen Frankreich mit der französischen Eroberung Algeriens.29 Rückblickend tadelte und rechtfertigte er seine früheren Irrtümer in einer ausformulierten »Selbstkritik«, in der er Zitate aus seinen Artikeln in der Deutschen Zeitung als schmerzhafte Indizien gegen sich selbst anführt, ihnen aber entgegenhält, daß er selbst in seinen Hymnen auf die preußische Führung stets strikter Föderalist geblieben und nie für eine »Gewalthegemonie«, einen »Einheitsstaat« oder einen »Trugbund« eingetreten sei.30
Die Historiker seiner Generation bekannten sich zu gegebener Zeit mit mehr oder weniger Überzeugung zum Deutschen Kaiserreich. Ihrem jüngeren Kollegen Treitschke blieb es vorbehalten, dessen Sieg regelrecht zu bejubeln. Als leidenschaftlicher Befürworter eines zentralistischen Deutschlands, der er im Gegensatz zu seinen Lehrern war, überwand er seine Enttäuschung über die föderale Struktur der bis25marckschen Reichsverfassung, die viele kleinere Herzog- und Fürstentümer bestehen ließ, und pries den historisch einzigartigen Hegemon, der dem Kaiserreich endlich ein Fundament gegeben habe und dessen Armee, Außenpolitik und Wirtschaft mit beispiellos fester Hand führe.31
Mit der Konsolidierung des neuen Systems hörte solches Reden auf. Ihm hatte keine Theorie, nur eine verschwiegene Analogie zugrunde gelegen, die, sobald die Einheit einmal vollzogen war, unbequem wurde. Gewiß behielt Preußen seine Vormachtstellung innerhalb des Reichs, doch allzu überschwengliche Lobgesänge auf die das Land zusammenhaltende Hegemonialmacht hätten eher polarisierend gewirkt. Statt dessen stellte der öffentliche Diskurs vor allem auf die endlich doch noch wiedererlangte Einheit der Nation ab. Die Verwendungen des Worts Hegemonie 1848 und Anfang der sechziger Jahre blieben Episoden ohne dauerhaftes Nachleben, selbst im akademischen Bereich. Noch im 1975 von Brunner, Conze und Koselleck in acht Bänden herausgegebenen maßgeblichen Kompendium Geschichtliche Grundbegriffe erhielt der Begriff signifikanterweise keinen Eintrag.