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Dieter Winderlich

Vom Strafvollzug zum
letzten Chef der Volkspolizei

Keine gewöhnliche Generalslaufbahn

edition berolina

eISBN 978-3-95841-544-7

1. Auflage

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Prolog

Das Land meiner Kindheit, die Heimat meiner Familie, der Staat, dem ich gedient habe – das alles existiert nicht mehr. Die Deutsche Demokratische Republik, der erste Langzeitversuch einer Gesellschaftsordnung ohne Profitstreben, ist Vergangenheit.

Heute fragen sich schon viele Menschen: Wie war das denn in der DDR? Gefragt sind Zeitzeugen und unvoreingenommene Historiker, die alle überlieferten Quellen für die Geschichtsschreibung nutzen. Zu den Quellen gehört aber mehr als nur die Informationen, die die Stasiunterlagenbehörde freigibt. Geschichte ergibt sich auch aus den Geschichten von Zeitzeugen – DDR-Biographien erzählen Gelebtes und Erlebtes.

Mein berufliches Leben spielte sich zum großen Teil in Bereichen ab, die vor der Öffentlichkeit abgeschirmt waren. Dies ist immer ein Nährboden für Gerüchte, Legenden und Lügen. Über die Bedingungen beim Vollzug einer Freiheitsstrafe und die Anstrengungen aller Beteiligten zur Resozialisierung durfte aus »Sicherheitsgründen« nicht berichtet werden. So kam es ein halbes Jahrhundert lang zum Paradoxon: Entlassene Strafgefangene wussten mehr über den Strafvollzug in der DDR als Richter, Staatsanwälte und alle anderen Bürger. Und heute?

Heute setzt sich dies fort. Es berichten die, die den Strafvollzug ertragen mussten. Die, die ihn getragen haben, kommen nicht zu Wort. Das hat viele Ursachen. Zum einen ist der angehäufte Berg von Verleumdungen über den Strafvollzug in der DDR so groß, dass keiner wagt, diesen Goliath, der vom Zeitgeist des Antikommunismus und der Delegitimierung gespeist und von diversen Geldgebern ernährt wird, anzukratzen. Zum anderen gibt es da eine psychologische Sperre. Schon immer waren Kerkermeister in der Bevölkerung unbeliebt. Und mit ihnen werden die Strafvollzugsangehörigen der DDR gleichgesetzt, wie die Behauptung von den zwei Diktaturen von 1933 bis 1989 zeigt. Und dann ist da noch die Stasikeule, mit der man auf alle eindrischt, die es wagen, ihre gute Meinung über die DDR öffentlich zu sagen oder ein öffentliches Amt antreten zu wollen.

Auch ich habe bei meiner vielseitigen Tätigkeit in verschiedensten Formen mit den Angehörigen der Staatssicherheit zusammengearbeitet. Wir hatten gleiche Ziele: den Schutz unserer Errungenschaften und unseres Staates, der DDR. Dafür braucht sich niemand zu schämen.

Meine persönliche Entwicklung war nur möglich durch die uneingeschränkte Hilfe und das große Verständnis meiner Frau. Sie hat viele Entbehrungen auf sich genommen. Dafür bin ich ihr auf ewig dankbar.

Mein besonderer Dank gilt Herrn Steffen Dreher für seine Mühe bei der Formatierung des Textes und die Qualitätsverbesserung der Bilder. Durch ihn wurde das Buch erst druckreif. Er war es auch, der mich bewegt hat, das Buch zu veröffentlichen.

Kindheit unter den Auswirkungen des faschistischen Weltkriegs

Mein Leben begann schon nach acht Monaten im schützenden Mutterleib. Am Sonntag, den 4. Dezember 1938 erblickte ich in der Kleinstadt Lüben in Schlesien als zweiter Sohn das Licht der Welt. Mein Vater war Musiker und hatte sich für zwölf Jahre zur Wehrmacht verpflichtet. Er diente in der Garnison Lüben als Militärmusiker.

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Das Ehepaar Winderlich mit ihren Söhnen Gerhard
und Dieter (im Hintergrund)

Immer, wenn Regierende einen Krieg führen wollen, suchen sie nach einem zugkräftigen Grund, um die friedliebende Bevölkerung für das Töten zu begeistern. Oft gibt es solch einen Grund nicht, was nicht schlimm ist, man kann ja schnell einen schaffen. So war es auch zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. SS-Leute, getarnt als Polen, überfielen den deutschen Sender Gleiwitz, ließen einen echten Polen tot zurück und verkauften es als Kriegsgrund. Am 1. September 1939 wurde Polen durch die deutsche Wehrmacht überfallen, und ein Weltkrieg begann seinen zerstörerischen Lauf.

Der Militärmusiker Alfred Winderlich musste noch nicht in den Krieg ziehen. Er spielte flotte Marschmusik, wenn die jungen Rekruten aus den Kasernen auszogen und zum Bahnhof in Lüben marschierten. Ehe sie nach Polen und später an die Westfront abfuhren, wurde ihnen mit schmetternder Musik ein Siegesgefühl fürs Vaterland eingeblasen. Manchmal musste das Militärorchester Trauermusik spielen, wenn gefallene Söhne heimkehrten. Aber nach der »Heldenbeisetzung« wurde mit flotter Marschmusik weitermarschiert.

Mit der Ausweitung des Krieges wurden mehr Soldaten gebraucht, und so kam es zur Auflösung des Militärorchesters Lüben. Jetzt musste auch Alfred an die Front. Die Familie zog zu den Verwandten nach Guhlau. Ziemlich am Ende der Dorfstraße lag rechterhand das Haus, in dem wir wohnten.

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Dieter als Kind auf dem Bauernhof der Großeltern

Am 20. November 1943 wurde mein Bruder Hans geboren, nun waren wir schon drei. 1944 wurde ich eingeschult und musste fortan täglich zu Fuß nach Prausnitz zur Schule laufen. Unsere Lehrerin war eine alte Dame, die man wieder in den Schuldienst geholt hatte, obwohl sie schon pensioniert war. Für kleinste Vergehen gab es Schläge mit einer Rute auf die Handflächen, was wir als »tapfere Soldaten« ertrugen. Für nicht erledigte Hausaufgaben musste man sich über die erste Bank legen und bekam einige Schläge aufs Gesäß.

Weihnachten und Silvester 1944 verliefen in einer eigenartigen Stimmung. Opa Wilhelm und die anderen letzten alten Männer des Dorfes waren zum Volkssturm eingezogen worden. Vor uns Kindern wurde getuschelt. Wir erfuhren es aber dennoch: Die Russen kommen! Wir müssen weg. Nun wusste ich nicht, was Russen sind. Auf meine Frage sagte mir Oma Anna: »Das sind Menschen aus einem großen Land. So ähnlich wie unser Nachbar, der Pole.«

Mich überzeugte dies nicht. Der Herr Belelawski aus Omas Nachbarschaft war gut zu uns Kindern. Warum sollten wir wegen solchen guten Menschen weggehen? Also ging ich mit derselben Frage zu Oma Minna. Die erzählte mir dann, dass die Russen schlechte Menschen sind, die uns umbringen wollen und wenn nicht, schneiden sie den Kindern die Ohren ab. Deshalb sei mein Vati in Russland, um dies zu verhindern. Nun war mir klar, wir mussten weg aus Guhlau.

Ein großes Schlachten und Braten begann in Oma Minnas Küche. Hühner und Gänse wurden gebraten, Schweineschmalz ausgelassen und vieles eingeweckt. Jeden Tag konnten wir Kinder uns im Keller das eingeweckte Obst aussuchen, das es dann reichlich als Kompott gab. So stellte ich mir das Schlaraffenland vor.

Nach Silvester begann die große Unruhe. Alles wurde zur Flucht vorbereitet. Wir Kinder durften nur einen kleinen Rucksack mit Spielsachen mitnehmen. Meine Mutter und Oma Minna packten auf der Tenne einen großen Leiterwagen, wie er im Schlesischen zum Einfahren des Heues und des Getreides benutzt wurde.

In der ersten Hälfte des Januars 1945 war es dann soweit. In der Nacht, so gegen dreiundzwanzig Uhr, kam ein Beauftragter des Ortsgruppenleiters und trommelte gegen die Türen. Um Mitternacht spannte Oma Minna drei Pferde vor den großen beladenen Leiterwagen. Aus allen Gehöften fuhren die Fuhrwerke auf die schneebedeckte Dorfstraße.

Wochenlang fuhr der Flüchtlingstreck gen Westen, und wir landeten im Frühjahr 1945 im Sudetenland, in einem Schloss der Stadt Aussig. Im April 1945 kam mein Vater auf Genesungsurlaub. Er hatte eine schwere Kopfverletzung erlitten. Monatelang war er im Lazarett, wo man ihm eine Silberplatte in die Schädeldecke einpflanzte.

Nach seinem Genesungsurlaub musste sich Vater trotz der schweren Operation wieder bei der Wehrmacht melden. Drei Wochen danach war alles vorbei.

Am 1. Mai wurde in der Nähe des Schlosses geschossen. Wir sahen aus dem Fenster und bemerkten bewaffnete Zivilisten. Dann schrie jemand: »Die Russen kommen!« Jetzt wurden überall weiße Fahnen aus den Fenstern gehangen. Auch meine Mutter hängte ein Bettlaken raus. Und dann kamen sie. Ein paar Panzer ratterten vorbei und danach Panjewagen an Panjewagen, besetzt mit wild aussehenden Soldaten der Roten Armee.

Wir Kinder liefen auf die Straße und winkten den Soldaten zu. Wir hatten keine Angst, dass sie uns die Ohren abschneiden würden, denn die Soldaten, die wir sahen, saßen auf ihren kleinen Wägelchen, spielten Harmonika und sangen Lieder. Als sie uns Brot gaben und Bonbons herunterwarfen, war die Scheu endgültig vorbei.

Als wir wieder ins Schloss kamen und auf die Gardinenpredigt gespannt waren, geschah ein Wunder. Unser Vater stand fröhlich und frisch rasiert im Zimmer. Wir erfuhren jetzt, dass er immer bei uns gewesen war. Nach Ende des Genesungsurlaubs wollte er nicht mehr in den sinnlosen Krieg ziehen. Meine Mutter und die Großeltern hatten ihn im Schloss versteckt und versorgt, ohne dass dies jemand gemerkt hatte. Wir freuten uns alle riesig, dass er da war und lebte. Endlich war der Krieg für uns aus.

Es war, so glaube ich, noch im Monat Mai, als die tschechischen Behörden alle deutschen Flüchtlinge aufforderten, in ihre Heimat zurückzukehren. Nun galt es wieder einen Treck vorzubereiten, diesmal musste aber zu Fuß gegangen werden.

Nach wochenlangen Fußmärschen kamen wir im Sommer in der alten Heimat Guhlau an. Alle begannen sich wieder einzurichten, reparierten, was kaputt war, und machten überall Ordnung. Alle Erwachsenen waren zur Arbeit im benachbarten Rittergut verpflichtet.

Im August geschah etwas Schreckliches: Der russische Verwalter, der als Folge des Krieges nur noch ein Bein hatte, wurde von bewaffneten polnischen Banden bei einem Überfall auf das Rittergut erschossen. Schon vorher hatte es Informationen aus anderen Dörfern über plündernde, bewaffnete Polen gegeben. Das alles führte zu Verunsicherung und Angst. Was wird wohl erst die Zukunft bringen?

Die Ungewissheit dauerte nicht lange, und die Zukunft brachte nichts Gutes. Eines späten Abends im August kam eine Gruppe polnischer Soldaten, man erkannte sie an ihren eckigen Mützen, ins Dorf. Mit vorgehaltener Maschinenpistole wurden alle Bewohner in den Hof von Oma Anna getrieben. Es war ein schrecklicher Anblick: Die Frauen hatten ihre Kleinkinder auf dem Arm, die Großeltern uns größere an sich gezogen, und im Schein der Hoflampe und eines Scheinwerfers des Militärjeeps harrten alle mit erschrockenen Gesichtern aus. Schon als uns die polnischen Soldaten aus dem Haus geholten hatten, hatten sie gebrüllt und uns Angst eingejagt. Auf dem Hof standen die Männer abseits unter strenger Bewachung. Bisher wurde noch kein Wort Deutsch gesprochen. Alle dachten an das Schrecklichste: Erschießungen wegen der Überfälle, die man dem deutschen Werwolf andichten wollte.

Plötzlich hörte das Brüllen auf. Es trat Totenstille ein. Ein polnischer Offizier stieg aus einem Jeep und stellte sich mit einem älteren Zivilisten am Hoftor auf. Dieser übersetzte, was der polnische Offizier den Dorfbewohnern zu verkünden hatte: »Alle Deutschen haben bis morgen acht Uhr früh auf dem Marktplatz von Prausnitz zwecks Aussiedlung nach Deutschland zu erscheinen. Dieses Gebiet wird polnisch. Die Aussiedlung erfolgt zu Fuß. Jeder kann das mitführen, was er tragen kann.« Großes Gemurre setzte ein. Die Soldaten stiegen auf ihre Autos und fuhren ab. Alle begaben sich nach Hause, als ob der Teufel hinter ihnen her wäre.

Von dem wochenlangen Marsch nach Deutschland oder, wie die Erwachsenen sagten, ins Reich ist mir nur in Erinnerung geblieben, was für einen sechsjährigen Jungen äußerst ungewöhnlich erschien. Es gab auch ein positives Erlebnis, welches mich wohl für mein späteres Leben prägte.

Es war wieder mal so ein Tag, von denen es viele gab. Ich trottete hinter dem Handwagen der Großeltern her. Opa Wilhelm zog den Wagen, Oma schob, und ich suchte bei ihr Trost, weil mir die Latscherei wieder zu schaffen machte. Es ging in einem Waldstück eine ziemlich gerade Straße bergauf. Ich hatte Durst, Hunger hatten wir ja immer, und der Berg nahm kein Ende. So vor mich hin jammernd, zogen wir am Ende des Trecks bergauf. Auf einmal tauchte neben uns ein junger Russe mit einem Herrenfahrrad auf. Er musste meine Querelen schon länger beobachtet haben. Er stieg vom Rad, sagte etwas zu mir und setzte mich blitzschnell auf die Querstange seines Fahrrades. Da er mich dabei anlächelte, hatte ich keine Scheu. Er stieg auf, und wir radelten an der Kolonne vorbei, wobei ich allen irgendetwas zurief. Die anderen Kinder winkten mir zu, und warum die Erwachsenen wie versteinert guckten, wollte mir nicht einleuchten. Was hatten sie nur? Meine Mutter schrie mir sogar zu, ich solle abspringen. Dies ging nun gar nicht. Erstens war es zu gefährlich und zweitens ging mir es doch gut. Oben auf dem Berg machte die Straße eine scharfe Rechtskurve und gabelte sich dann. Mein Transporteur hielt an, ließ mich hinunter und gab mir aus seinem Umhängebeutel Schokolade und Brot. Dann streichelte er mein Haar, sagte etwas und fuhr davon. Ich ging durch den Straßengraben an den Waldrand und setzte mich unter einen Baum, um zu warten. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich der Treck nach oben gequält hatte. Als sie kamen, sah ich Oma Minna und meine Mutter weit voraus. Beide Frauen heulten und stritten miteinander. Als sie auf meiner Höhe waren, gab ich mich zu erkennen. Nun heulten beide Frauen vor Freude. Mutter hatte Oma große Vorwürfe gemacht, weil sie mich nicht zurückgehalten hatte. Alle hatten geglaubt, der böse Russe hätte mich entführt. Nach und nach lernten die Erwachsenen, dass die Russen nicht so böse sind, wie sie von den Nazis hingestellt wurden.

Eines Tages wurde die Aussiedlung beendet. Es hieß, die Russen hätten Weisung erteilt, wonach alle Flüchtlinge am jeweiligen Ort unterzubringen seien, an dem sie sich gerade befanden. Wir waren zu dem Zeitpunkt gerade in der Dübener Heide in einem kleinen Dorf. Das Dorf war das Ackerbauerndorf Schköna im Kreis Bitterfeld. Unsere erste Unterkunft für mehrere Wochen war eine Baracke einen Kilometer vor Schköna, gleich neben dem Forsthaus. Für voreingenommene Einheimische waren wir das typische Flüchtlingspack.

Im Herbst 1945 wurde ich erneut eingeschult. Die Volksschule lag in der Mitte des Ortes, gleich neben Kirche und Friedhof. Ein alter Dorfschullehrer, der schon mehrere Generationen unterrichtet hatte, wurde mein erster Klassenlehrer.

Auch um Schköna machte die von der neuen Landesregierung beschlossene Bodenreform keinen Bogen. Da es im Dorf weder einen Großbauern mit über hundert Hektar Land oder gar einen Kriegsverbrecher gab, wurde nur der Grundbesitz des Rittergutes enteignet und an bedürftige Neubauern verteilt.

Im Jahr 1948, ich hatte gerade die vierte Klasse angefangen, musste ich schon wieder die Schule wechseln. Mein Vater, inzwischen Arbeiter in Buna, hatte sich von der neuen, antifaschistischen Polizei, der Volkspolizei, anwerben lassen. Sein Dienstort und unser neuer Wohnort war Frankleben im Kreis Merseburg. Wir bezogen ein großes Haus im Zentrum des Ortes. Im Erdgeschoss waren die Diensträume der Polizei, einschließlich einer Arrestzelle. Im oberen Geschoss wohnten wir.

Nachdem mein Vater entsprechende Schulungen und praktische Erfahrungen gesammelt hatte, wurde er befördert und in eine höhere Polizeistellung versetzt. Mein neues Zuhause war nun in Kitzen im Landkreis Leipzig. Mitten im Ort in einer kleinen Villa, in der schon immer der Dorfgendarm gewohnt hatte. Das kleine Dienstzimmer befand sich gleich neben unserem Wohnzimmer, nur durch eine Zimmertür getrennt. Mein Vater nannte sich nun Gruppenpostenleiter der Volkspolizei, eine Dienststellung, die man später ABV (Abschnittsbevollmächtigter) nannte.

Das Jahr 1953 war für meinen Vater eine schwere Prüfung. In seinem Gruppenpostenbereich häuften sich Überfälle auf Viehställe ärmerer Bauern, die sich freiwillig zu Genossenschaften zusammengeschlossen hatten. Eines Nachts brannte ein Schafstall völlig nieder. Viele Tiere verbrannten. Von den Tätern keine Spur. Also musste Vater ständig auf Achse sein.

Am Tag erledigte er die normale Polizeiarbeit und nachts ging er auf Streife, um eventuell die Täter auf frischer Tat zu ertappen. Als sich im Juni die Lage immer mehr zuspitzte, nahm er freiwillige Helfer mit. Einer von ihnen war der Politleiter der MAS (Maschinen-Ausleih-Station). Diese Ausleihstationen waren eine staatliche Institution, durch die der Einfluss der Arbeiterklasse auf dem Lande gesichert werden sollte. Der Politleiter dieser Station war für die politische und kulturelle Arbeit im Dorfe zuständig.

Eines Nachts gingen mein Vater und der Politleiter auf Streife und trafen vor einer kleinen volkseigenen Fabrik auf eine Gruppe junger Erwachsener. Diese waren im Begriff, in das Werksgebäude einzudringen. Da mein Vater die Einheimischen kannte, stand fest, dass es sich um Fremde handelte. Als Fensterscheiben klirrten, griff Vater ein und forderte die Randalierer auf, ihr Handeln zu unterlassen. Sie lachten nur und provozierten weiter. Da die Gruppe ziemlich groß war, entschied Vater, nicht einzugreifen. Er wollte die Täter weiter verfolgen und nach Verstärkung telefonieren. Der Politleiter drängte, den Rädelsführer per Waffenanwendung festzunehmen. Vater war das Risiko zu groß. Nach weiteren Wortgefechten und Steinwürfen zog die Gruppe unter Gejohle weiter. Trotz Telefonat kam keine Verstärkung. Die Verfolgung der Gruppe wurde am Stadtrand von Leipzig aufgegeben.

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Der Vater des Autors als Guppenpostenleiter der Volkspolizei,1952

Im Radio hörte ich von den Ereignissen und der Konterrevolution in Berlin. Wie es sich für einen Pionier im Freundschaftsrat gehörte, ging ich weiter mit dem blauen Halstuch zur Schule. Wir waren nur zwei, alle anderen hatten ihr Halstuch vergessen. Nach einigen Tagen war aber das Leben in Kitzen wieder normal.

Für uns Schüler der achten Klasse galt es, sich auf die Schulabschlussprüfungen vorzubereiten. Mit der Gesamtnote »gut« konnte ich meine Grundschulzeit beenden, und ein schöner Lebensabschnitt war zu Ende.

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14-tägige Fahrt im Rahmen der Ferienspiele in die Sächsische Schweiz, Dieter Winderlich als größter Schüler in der letzten Reihe, rechts von ihm sein Klassenlehrer Herr Hering, Sommer 1953

Auf der Suche nach einer beruflichen Zukunft

Mein Kindheitswunsch war es, einmal Lokomotivführer zu werden. Mein Vater erkundigte sich wegen einer Lehrstelle für mich in Leipzig. Wir machten meine Bewerbung mit den dazugehörigen Unterlagen fertig und warteten auf Antwort. Ich wurde zu einem Gesundheitstest zur Deutschen Reichsbahn nach Leipzig-Plagwitz bestellt. Ich war überglücklich und fuhr in Gedanken schon die Schnellzug­lok auf der Strecke Paris–Berlin–Moskau.

Nach der Untersuchung das Ergebnis: aus gesundheitlichen Gründen nicht geeignet.

Mein Klassenleiter wollte, dass ich weiter die Schule besuche und zur Mittelschule gehe. Damals meinte ich aber, von der Schule die Nase voll zu haben. Ich wollte was lernen und Geld verdienen. Aber was erlernen? Meine eigenen Vorstellungen waren durch die Fixierung auf Lokführer so gering, dass guter Rat teuer war. Zu dieser Zeit gab es auch noch nicht das spätere Berufsberatungssystem in den Schulen.

Schließlich kam mein Vater mit der Idee, ich könne doch Lichtbogenschweißer werden. Mir gefiel der Vorschlag auch deshalb, weil die Lehrzeit nur zwei Jahre betrug. Als Vater dann noch erwähnte, dass man mit diesem Beruf später auf Schiffswerften oder auf Auslandsmontage viel Geld verdienen könne, stand mein Entschluss fest.

Am 1. September 1953 begann ich beim Volkseigenen Betrieb Leipziger Stahlbau und Verzinkerei in Leipzig-Plagwitz meine Lehre. Der Betrieb hatte eine eigene Lehrwerkstatt und Berufsschule. In den ersten Monaten erhielten wir eine Grundausbildung als Schlosser, also im Feilen, Bohren, Nieten, Schmieden usw.

Am Ende des ersten Lehrjahres musste ich eine Entscheidung für mein weiteres Leben treffen. Mein Vater musste seinen Dienst bei der Deutschen Volkspolizei beenden. Im Zuge der Auswertung der Ereignisse des 17. Juni bekam er viel Kritik wegen der Vorkommnisse in seinem Abschnitt. Der Politleiter der MAS hatte sich über ihn beschwert. Er schied in Ehren aus gesundheitlichen Gründen aus und begann seine Tätigkeit als Herbergsleiter der Jugendherberge Königerode im Harz. Was sollte aus meiner Lehre werden? Im Harz gab es in Thale zwar eine Möglichkeit zur Fortsetzung der Ausbildung, aber ich hätte ins Lehrlingswohnheim gehen müssen. Also entschied ich mich, in Leipzig zu bleiben und dort in ein Heim zu gehen.

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Lehrling Dieter Winderlich vorne links beim Berufsschuluntericht, 1953

Da mein Lehrbetrieb kein eigenes Lehrlingswohnheim besaß, musste ich in das Jugendwohnheim Leipzig in der Brauhausstraße, nahe des Bruno-Leuschner-Platzes. Ich hatte keine Ahnung, was ein Jugendwohnheim ist. Für mich war es ein Lehrlingswohnheim mit einer anderen Bezeichnung. Ich hatte mich geirrt. Im Jugendwohnheim waren Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren, die auf Einweisung der Organe der Jugendhilfe wegen Erziehungsschwierigkeiten dorthin kamen. Es gab auch einige elternlose Jugendliche und wenige, die wie ich freiwillig dort waren.

Wir waren in Gruppen zu jeweils zwanzig Jugendlichen eingeteilt, wohnten in Zwei- oder Vierbettzimmern und hatten einen Erzieher. Wir wurden morgens geweckt und gingen nach dem Frühstück jeder in seinen Betrieb. Am Abend trudelten wir wieder ein. Das Heim war ständig verschlossen, aber wir erhielten Ausgang, der bei Disziplinverstößen gestrichen wurde. Die freie Zeit im Heim wurde durch die Erzieher ausgestaltet. Wenn in einem Heim 120 Jungen sind, gibt es natürlich auch Streit und gewisse Hierarchien.

Ich kam in den VEB Galvanotechnik Leipzig und verdient mein erstes Geld, so um die 400 Mark monatlich. Bald merkte ich, dass mir das Geld wenig nützte. Da ich noch keine achtzehn war, musste ich weiterhin im Heim bleiben. Meinen Lohn musste ich abgeben.

Mir blieb nur der Weg zurück zu meinen Eltern. Für einen Schweißer gab es dort aber keine Arbeit. Mein Vater empfahl mir, wie er ins Herbergswesen einzusteigen. Ich bewarb mich beim Amt für Jugendfragen des Rates des Bezirkes Halle/Saale und wurde als Jugendherbergsgehilfe für die Jugendherberge Thomas Müntzer in Stolberg/Harz eingestellt. Im Juni 1956 begann ich meine Tätigkeit im Thyratal. Ich war so etwas wie der Stellvertreter des Herbergsleiters und wurde auf eine spätere Tätigkeit als Herbergsleiter vorbereitet.

Kam man aus Richtung Sangerhausen, dann lag die Jugendherberge am Ortseingang. Rechts und links Berge und das ständige Plätschern des Baches. Eine romantische Lage. Hier war nun meine erste pädagogische Wirkungsstätte. Neben den administrativen Notwendigkeiten musste ich viel über die Geschichte und Kultur des Ortes, seine Umgebung und über Flora und Fauna lernen.

Vom ersten Tag an forderte der Leiter der Herberge von mir, dass ich frei spreche. Es war gar nicht so einfach, dies vor zwanzig Leuten und mehr zu tun. Jede neue Gruppe musste ich begrüßen, mit der Hausordnung vertraut machen und die Freizeitgestaltungsmöglichkeiten erläutern. Bei den von der Jugendherberge angebotenen Wanderungen und Stadtführungen betätigte ich mich mehr und mehr als Fremdenführer. Auch die Ausgestaltung der Hüttenabende und anderer Freizeitaktivitäten forderte mich. Das alles hat mir sehr viel Spaß gemacht, ich war unter Gleichaltrigen und hatte Verantwortung. Im Zuge meiner Vorbereitung auf eine spätere Tätigkeit als Herbergsleiter wurde ich auch als Urlaubsvertretung in kleinen Jugendherbergen eingesetzt, wo es keinen Gehilfen gab.

Ich war noch keine achtzehn Jahre alt, da durfte ich im August 1956 für vier Wochen die Jugendherberge Junger Pionier in Harzgerode am Rande des Harzes leiten. Ich war sehr stolz und wusste, dies ist eine Art Reifeprüfung.

Kaum war ich volljährig, erfolgte mein Einsatz als Leiter einer Jugendherberge. Am 15. Februar 1957 fuhr ich mit meinem Moped SR1, beladen mit einem Koffer, und mit einem Rucksack auf dem Rücken zu meiner neuen Wirkungsstätte. Mehr besaß ich nicht. Ich war jetzt Jugendherbergsleiter der Jugendherberge Falkenhütte in Meisdorf.

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Mit Lehrern einer Berufsschule vor der Jugendherberge Junger Pionier, vierte von links: Hannelore Hübner, daneben Herbergsvater Dieter

Meisdorf ist ein kleines Dorf am nördlichen Eingang zum Selketal. Es besitzt ein schönes altes Schloss und eine Bahnstation. Die Jugendherberge lag drei Kilometer abseits vom Dorf im Selketal, gleich neben einer Ausflugsgaststätte. Kam man aus Richtung Meisdorf ins Selketal rein, dann erblickte man die Jugendherberge und hoch oben die mächtige Burg Falkenstein. Schöne Wanderungen konnte man entlang des für den Autoverkehr gesperrten Selketals unternehmen, nach Alexisbad oder über den Berg nach Ballenstedt. Tagesausflüge waren möglich nach Quedlinburg, zum Hexentanzplatz und der Roßtrappe in Thale. Damals war auch der Brocken noch frei zugänglich.

Die Jugendherberge war eine der kleinsten im Bezirk Halle und hatte nur fünfundvierzig Betten. Es gab zwar eine Küche, aber versorgen mussten sich die Gäste selbst. Mit Unterstützung eines Hausmeisterehepaares war die gesamte Arbeit zu bewältigen. In den Saisonzeiten war immer viel zu tun, und man hatte als junger Mensch viel Abwechslung. Anders war das in der »Sauregurkenzeit«, wenn die Tage grau und die Nächte lang waren. Die Herberge musste immer besetzt sein, damit auch unangemeldete Wanderer ein Obdach fanden. Also war ich oft an die Herberge gefesselt, denn Überstunden durften dem Hausmeister nicht bezahlt werden.

In der Zeit in Meisdorf vertiefte sich meine Beziehung zu einem Mädchen, das ich bereits in Harzgerode kennengelernt hatte. Sie hieß Hannelore Hübner, sie wohnte nur neun Kilometer von Meisdorf entfernt in dem mittelalterlichen Dorf Frose/Anhalt und erlernte den Beruf einer Großhandelskauffrau. Seit unserem Kennenlernen hatte ich ihr öfter geschrieben und immer mit Herbergsvater unterschrieben. Ihre Eltern hatten deshalb nichts dagegen, als Hanni, wie sie gerufen wurde, ihnen eben mal den Herbergsvater vorstellen wollte. Umso erstaunter waren sie, dass sich der Herbergsvater als ein junger Bursche entpuppte.

Im September 1957 begann ich meine erste pädagogische Qualifizierung. Für fünf Monate ging ich an das Institut für Heimerzieher nach Leipzig. Es war schon interessant, in die Grundfragen der Pädagogik und der Psychologie einzudringen. Gründlich wurden wir mit den Lehren des sowjetischen Pädagogen A. S. Makarenko vertraut gemacht. Wir waren von seinen Büchern über seine praktischen Erfahrungen bei der Erziehung von jungen, sozial gestrauchelten Menschen begeistert. Seine Bücher Der Weg ins Leben und Flaggen auf den Türmen haben Generationen von Pädagogen gelesen und beim eigenen Wirken verarbeitet.

Der Lehrgang in Leipzig machte mich auch mit Menschen bekannt, die in anderen pädagogischen Bereichen arbeiteten. Ich merkte, dass die pädagogische Arbeit auf anderen Gebieten vielseitiger als die eines Herbergsleiters war. Außerdem war das Gehalt höher.

Als ich wieder zurück war in meiner Jugendherberge, drehten sich meine Gedanken öfter um eine berufliche Veränderung. Auch Hanni, mit der ich mich in der Zwischenzeit verlobt hatte, wollte mit achtzehn von zu Hause weg. Wir steuerten beide das Ziel an, woanders als Heimerzieher zu arbeiten. Meine Verlobte begann als Erzieherin im Kreiskinderheim in Schköna. Ich bekam eine Erzieherstelle im Spezialkinderheim in Radis. Radis ist ein kleines Dorf an der Bahnstrecke Bitterfeld–Lutherstadt Wittenberg. Es liegt am Rande der Dübener Heide und hat dadurch eine schöne, waldreiche Umgebung. Mittelpunkt des Dorfes ist ein altes Schloss mit einem kleinen Schlosspark.

Das Spezialkinderheim war im Schloss untergebracht. Das Wort »spezial« deutet darauf hin, dass es vom Normalen abweicht. Im Heim waren auf Beschluss der Jugendhilfe Kinder untergebracht, die als schwererziehbar galten. Zum Heim gehörte eine eigene Schule, die nach den für alle Schulen gültigen Lehrplänen arbeitete. Jeweils fünfzehn Kinder waren in einer Klasse und bildeten eine Gruppe, für die ein Erzieher zuständig war. Wir hatten Kinder von der fünften bis achten Klasse aus allen Kreisen des Bezirkes Halle/Saale. An der Spitze des Spezialkinderheims stand als Schul- und Heimleiter Gerhard Ritschel, ein erfahrener Lehrer und Pädagoge. Er unterrichtete mit noch vier anderen Lehrern die Heimkinder.

Ich bekam die Gruppe 6, also Schüler der sechsten Klasse. Meine Erzieherkollegen waren der musikalische Kollege Hühne, der sportliche Kollege Unbehau und der pedantische Kollege Dahms. Lehrer und Erzieher waren vom Alter und ihren Fähigkeiten her sehr unterschiedlich, wodurch eine gute pädagogische Atmosphäre und ein kollegiales Verhältnis entstanden, was sich positiv auswirkte.

Wir Erzieher wohnten alle im Heim, weil wir entweder ledig waren oder von den Partnern getrennt lebten. Das brachte ebenfalls Effekte für den Kräfteeinsatz und das Niveau der Erziehungsarbeit. Unser Dienstplan war einfach. Zwei Erzieher hatten eine Woche lang geteilten Dienst. Sie übernahmen früh das Wecken und betreuten die siebzig Heimkinder bis zum Unterrichtsbeginn. Danach hatten sie bis fünfzehn Uhr dienstfrei. Nach dem Schulunterricht begann der Dienst für die beiden anderen Erzieher. So war gewährleistet, dass zu der Zeit, in der die Heimkinder betreut werden mussten, alle Erzieher im Dienst waren. Nachts hatte immer ein Erzieher Bereitschaftsdienst, der nicht vergütet wurde.

Das Erziehungskonzept lehnte sich an die Lehren von Makarenko an: Fordern, Vertrauen und Bewähren. Wir hatten nicht nur Kinder im Heim, mit denen die Eltern nicht mehr fertig wurden. Ein Großteil hatte schon kriminelle Handlungen begangen und einige hatten Erfahrungen auf der Straße gesammelt. Diese Straßenkinder waren nicht mit denen in den bürgerlich-demokratischen Staaten vergleichbar. Sie lebten nicht aus Not auf der Straße, sondern als Ausreißer von den Eltern oder aus Kinderheimen. Ihr Leben auf der Straße war relativ kurz. Wir hatten auch Kinder mit psychischen Auffälligkeiten, aber diese Problematik beherrschte damals niemand und so wurde versucht, sie wie die anderen zu behandeln.

Wir Erzieher nahmen unsere Mahlzeiten gemeinsam mit den Kindern ein. Auch wer nicht im Dienst war, kam in der Regel zu den Mahlzeiten. Die Lehrer nahmen ihr Mittagessen ebenfalls im Speisesaal ein. Das alles hatte einen erzieherischen Aspekt. Die Kinder sollten spüren, dass für die Pädagogen keine Sonderwurst gebraten wurde. Beim Essen wurde gezeigt, wie man mit Messer und Gabel isst und wie man sich bei Tisch benimmt. Neulinge fanden schon eine Situation vor, die kein Abweichen von guten Tischsitten zuließ.

Unser Musiklehrer, Kollege Blütner, baute ein Kinderblasorchester auf. Die finanziellen Mittel stellte der Rat des Kreises zur Verfügung. Um bei seiner Arbeit eine gewisse Unterstützung zu haben, begeisterte er den Erzieher Hühn Posaune zu erlernen, und mich gewann er für das Flügelhorn. Die Musikstücke schrieb der Musiklehrer um, damit sie einfach zu spielen waren und dennoch gut klangen. Anfangs schrieben wir noch über jede Note eine Zahl für den jeweiligen Griff auf dem Instrument. Innerhalb eines Schuljahres war das Blasorchester bereit für öffentliche Auftritte. Was wir nicht beherrschten, war zu spielen und dabei zu marschieren. Also stellten uns die Veranstalter bei Festumzügen immer einen Trecker mit Hänger zur Verfügung.

Allen in Erinnerung ist sicherlich unser erster Auftritt zum 8. März 1959 geblieben, dem Internationalen Frauentag. Im Saal des Dorfgasthofes fand die Feier für die Frauen statt. Das Kulturprogramm gestaltete die Schule des Ortes, und unser Blasorchester spielte zum Tanz auf.

Hanni und ich waren uns einig, unsere Bande in etwas Dauerhaftes umzuwandeln. Wir wollten Ende des Jahres in aller Stille heiraten. Für eine große Feier hatten wir kein Geld und glaubten, den Eltern ginge es ebenso. Da ich mich in Leipzig auskannte, organisierte ich alles dort. Am 30. Dezember 1959 fuhren wir nach Leipzig, bezogen unser Hochzeitszimmer im Hotel und schlossen unseren Lebensbund vor dem Standesamt.

Im Mai 1960 verdichteten sich Informationen über eine Umwandlung des Heimes in ein Normalkinderheim. Dies hätte die Abschaffung der eigenen Heimschule, niedrigere Gehälter und ein neues Profil bedeutet. Schließlich erfuhren wir es offiziell. Die anderen Erzieher verfügten über einen Abschluss als Heimerzieher mit Lehrbefähigung für die Unterstufe und bewarben sich als Lehrer. Ich hatte erst 1959 ein Fernstudium am Lehrerbildungsinstitut in Köchen begonnen und musste bleiben.

Meine Frau hatte dort in der Zwischenzeit ein Direktstudium am Institut für Lehrerbildung begonnen. Nachts waren im Heim eine Erzieherin im Bereitschaftsdienst und ich.

Eines Nachts wurde ich gegen Mitternacht in meiner Dachstube wach, weil durchs offene Fensterchen Lärm hereindrang. Es klang wie das Schlagen auf einen Eisenträger. Plötzlich klopfte es an meine Tür. Davor im Bademantel die Erzieherin, sie hatte das Geräusch auch gehört. Wir gingen beide eine Etage runter und kontrollierten die Schlafräume der Kinder. Alles war ruhig und friedlich. Ich ging zum Schreibtisch und sah die Bescherung: Die Geldkassette war weg.

Ich rief den ABV an, der in Radis wohnte. Er kam sofort mit seinem Motorrad. Nach kurzer Inaugenscheinnahme telefonierte er mit dem Kreisamt der Volkspolizei und mit anderen Stellen. Ich war gerade dabei, ihm zu schildern, was ich so gehört hatte, als das Telefon klingelte. Am anderen Ende war der diensttuende Eisenbahner vom Bahnhof Radis. Er teilte dem ABV mit, dass im Bahnhofsvorraum eine Person sitze und ein Bündel Geldscheine zähle. Wir schnell auf das Motorrad und Richtung Bahnhof. Unterwegs bekam ich Instruktionen zum Vorgehen. Der ABV wollte vom Bahnsteig aus den Vorraum betreten, und ich sollte den normalen Eingang nehmen. Kurz vor dem Bahnhof schaltete der ABV Motorrad und Licht aus, und wir rollten lautlos auf den Bahnhofvorplatz.

Wie verabredet, schlich ich mich an die Tür, spähte hinein und wartete, dass der ABV vom Bahnsteig hineinkam. Plötzlich knallte die Tür auf und der ABV stürmte mit gezogener Pistole in den Raum. Der junge Mann nahm sofort die Hände hoch. Ich musste ihn durchsuchen und fand das Geld. Dann legte ihm der ABV Handschellen an und führte ihn ab. Er wäre eine tolle Filmszene gewesen. Der ABV und der Festgenommene liefen vorneweg und ich mit eingeschaltetem Motorradscheinwerfer hinterher.

Als wir im Kinderheim ankamen, waren schon zwei Mann von der Kripo da. Sie gingen in mein Büro und begannen mit der Vernehmung. Ab und zu kam der ABV raus und hielt mich auf dem Laufenden. Dafür versorgte ich alle mit Kaffee.

Der Festgenommene gab gegenüber der Kripo an, dass er drei Tage zuvor aus dem Jugendwerkhof in Hennickendorf bei Berlin entlassen worden sei. Er sei aber nicht nach Hause gefahren, sondern nach Westberlin gegangen. Dort habe ihn ein junger Mann bei einem Bier angesprochen und sie hätten sich lange unterhalten. Als der Mann gehört habe, dass er Bitterfeld kenne, sei es zu einem Angebot gekommen. Der Mann habe ihm zweitausend Westmark versprochen, wenn er ihm helfen würde, in Bitterfeld mit einem Richter abzurechnen, der ihn mal verurteilt hatte. In einem Waldstück nahe Radis habe man eine Hütte als Ausgangsbasis gebaut, welche auch nach der Tat als Versteck dienen sollte. Radis habe man als Ausgangspunkt gewählt, weil er, der Festgenommene, früher mal Zögling im Spezialkinderheim gewesen sei und die Gegend genau kenne.

An jenem Tag sei der Westberliner auf Erkundung nach Bitterfeld gegangen. Da er bei Dunkelheit noch nicht zurück gewesen sei, den Festgenommenen aber der Hunger geplagt habe, sei dieser ins Kinderheim eingebrochen. Von früher sei ihm noch in Erinnerung gewesen, dass die Sekretärin in ihrem Schreibtisch eine kleine Kassette mit Kleingeld für Briefmarken usw. aufbewahre. Die Kassette im Heimleiterschreibtisch sei ein Zufallsfund gewesen. Mit dieser sei er dann in den Park gegangen, um sie aufzubrechen. Er habe gewusst, dass sich dort ein Schuppen mit Gartenwerkzeugen befände. Er habe eine Spitzhacke genommen und dann die Kassette letztlich aufbekommen.

Auf die Frage eines Kriminalpolizisten, ob der Westberliner bewaffnet sei, antwortete der Festgenommene: »Ja, mit einer Pistole.«

Jetzt glühten die Telefone, und eine Großaktion lief an. Der Einbrecher wurde ins Volkspolizei-Kreisamt nach Gräfenhainichen gebracht. Gegen sieben Uhr fuhren im Hof zwei Lkw, besetzt mit Polizisten vor. Sie richteten im Heim einen Führungsstab ein und begannen Absperrungen einzurichten und eine großangelegte Suche nach Hütte und Westberliner im Wald. Dann kam ein Fahrzeugkonvoi der Hundeschule der Volkspolizei aus Pretzsch an. Fährtenhunde wurden eingesetzt. Auf einem Lkw kläffte eine Hundemeute, die bei der Suche im dichten Unterholz eingesetzt werden sollte.

Die Suche im Wald verlief ohne Erfolg. Mittlerweile war aufgrund der Täterbeschreibung eine Großfahndung angelaufen. Auch die eingesetzten Fährtenhunde brachten die Polizei nicht weiter. Am Nachmittag zogen die Volkpolizisten wieder ab. Auf meine Frage, ob sie den Bewaffneten ergriffen hätten, sagte mir der ABV: »April! April! Der Kerl hat gelogen und wollte sich wichtig machen.«

Das für das kleine Dorf Radis so spektakuläre Ereignis nahm so ein jähes, fast peinliches Ende.

Wir fragten uns, wieso die Polizei so lange an die Aussagen geglaubt hatte? Wenn man sich aber die politische Lage Ende 1960 vor Augen führt, wird manches verständlicher. Der Kalte Krieg war in vollem Gange. Westberlin war ein Tummelplatz für alle Geheimdienste. Durch die offene Grenze agierten alle antikommunistischen Organisatio­nen von Westberlin aus gegen die DDR. In Hunderten von Gerichtsprozessen waren Sabotage- und Terrorhandlungen von Organisationen wie der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) aufgedeckt worden, die von offiziellen Stellen unterstützten worden waren. Im April 1956 war der geheime Tunnel des amerikanischen Geheimdienstes zum Abhören der sowjetischen Truppen in Altglienicke (Ostberlin) enttarnt worden. Dies alles und noch viel mehr wussten die Volkspolizisten. Wen wundert es da, dass sie die Geschichte schluckten, die ihnen der Einbrecher aufgetischt hatte?

Ende November 1960 musste ich im Rahmen meines Fernstudiums zu den jährlichen Klausurtagungen. Das war immer eine Art Kurzlehrgang mit Seminaren und Prüfungen mit einer Dauer von acht bis zehn Tagen. Bei solchen Gelegenheiten kamen sich die Fernstudenten auch persönlich näher. In einem Gespräch mit einem Erzieher aus dem Jugendhaus Dessau, einem Jugendgefängnis, erzählte ich über meine Erfahrungen im Kinderheim. Irgendwie muss eine gewisse Unzufriedenheit meinerseits zu spüren gewesen sein.

Kaum war ich wieder in Radis, kam dieser Erzieher mit einem Oberleutnant der Volkspolizei (VP) zu mir. Die beiden sorgten in ihrer grünen Uniform für Aufsehen im Dorf. Das merkte ich daran, dass am nächsten Tag der ABV anrief und sich nach ihnen erkundigte. Wahrscheinlich dachte er, sie seien zur Überprüfung seiner Arbeit gekommen. Beide Offiziere erläuterten mir die Arbeit in einem Jugendhaus, vor allem die Arbeit der Erzieher mit jugendlichen Straftätern. Dann machten sie mir den Vorschlag, als Erzieher im Jugendhaus Dessau anzufangen. Auf meinen Einwand, dass dies nicht gehe, weil ich vom Schulrat berufen sei und mitten im Schuljahr nicht kündigen könne, antwortete der Oberleutnant, der Kaderleiter war: »Wer zu den bewaffneten Organen geht wird freigestellt.«

Außerdem gab es ein Aufgebot der FDJ für die bewaffneten Organe.

Nach einer Woche Bedenkzeit, in der ich mich mit meiner Frau beraten hatte, sagte ich zu und reichte meine Kündigung ein. Prompt wurde ich zum Gespräch zum Kreisschulrat bestellt. Er verstand mich nicht und malte mir eine gute Perspektive im Kreis aus. Als ich ein höheres Gehalt ansprach, meinte er, darüber könne man sprechen. Ich blieb bei meiner Kündigung.

Von Radis Abschied zu nehmen fiel mir nicht schwer. Die Arbeit mit kleinen Kindern lag mir nicht. Ich hatte in meinen wenigen Jahren der pädagogischen Arbeit festgestellt, dass ich mit Jugendlichen besser arbeiten konnte. Da mich meine künftige Arbeit sehr an die guten Erfahrungen bei der Arbeit mit Schwererziehbaren erinnerte, war ich optimistisch.