Zara Nesbit
Blutrabe
Roman
ILY ROMANSKY
Über das Buch
England, 1557. Magie ist aus ihrem tausendjährigen Schlaf erwacht. Ungehindert fließt sie über das Land. Wer ihr begegnet, findet den Tod, oder schlimmer, wird selbst zu einem Magus – gejagt von der Inquisition.
Zara Nesbit, eine unerfahrene Gouvernante, wird in das einsame Dörfchen Blackby geschickt, um die Tochter des Barons Wycliff vor Magie zu beschützen. Schnell stellt sie jedoch fest, dass dunkle Mächte bereits im alten Gemäuer lauern. Als auch noch eine junge Magd unter mysteriösen Umständen stirbt und der Verdacht auf Zaras Schützling fällt, muss sie selbst den Mörder finden, bevor es zu spät ist. Denn der Fluch der Hexe ist noch nicht gebrochen – und der Blutrabe kreist weiter hungrig über ihren Köpfen.
Über die Autorin
Ily Romansky wurde 1986 an den Ausläufern des Tian Shan Gebirges geboren, in einer Stadt so obskur und unbedeutend, dass die Erwähnung nicht lohnt. Sie studierte Film und Englisches Literaturwissenschaft in Frankfurt am Main und Aberystwyth, Wales. Blutrabe ist ihr Debütroman und der erste Band der Zara Nesbit Reihe. Ily Romansky lebt und arbeitet in Berlin, außer sie treibt sich gerade irgendwo anders herum in der Welt.
WIDMUNG
Dieses Buch ist meiner Mutter gewidmet, die dachte, es wäre eine gute Idee, einem verträumten Mädchen Hexengeschichten zu erzählen.
Copyright © 2018 Ily Romansky
© 2018 Umschlaggestaltung von Ily Romansky
Alle Rechte vorbehalten.
Inhalt
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 1
Der Weg der Postkutsche, die zwischen York und London verkehrte, war gesäumt mit den Überresten niedergebrannter Scheiterhaufen. In jedem Dorf, an dem die Gruppe aus Unbekannten vorbeikam, waren sie entweder gleich am Straßenrand oder gut sichtbar auf einem Hügel platziert.
Dies hieß nicht, dass jedes Dorf im englischen Königreich einen Scheiterhaufen aufstellte und diese in regelmäßiger Benutzung waren. Aber gerade die Dörfer an der York-London-Straße legten Wert darauf, beim Erzbischof von York, der manchmal diesen Weg einschlug, einen guten Eindruck zu hinterlassen.
Scheiterhaufen waren Magiern und Hexen vorbehalten. Einfache Ketzer und Protestanten mussten mit einem Seil an einem robusten Baum vorlieb nehmen. Gerade jetzt, Ende Oktober, wenn Brennholz rar war, sah man die Zeugen dieser Frömmigkeit an Kreuzungen im Wind flattern. Und wenn Königin Mary1 ihre Lehnsherren im Norden besuchte, dann konnte auch sie sicher sein, dass im Land Recht und Ordnung und der Katholizismus herrschte.
Den Kutscher, der an diesem grauen Herbsttag seinen Wagen über die rumpelige Straße jagte, kümmerte dies wenig. Er war seit dreißig Jahren Fuhrmann und hatte keine Veränderung in seiner Arbeit bemerkt, außer dass die Aussicht eine andere geworden war. Von seinen Passagieren konnte man nicht das Gleiche behaupten.
Vier Personen wurden im Bauch des Vierspänners kräftig durchgeschüttelt: Ein junger Priester, der faul auf seinem Sitz lungerte und mehr Platz einnahm, als ihm zustand. Ein Händler, auf dem Weg zu einem großen Geschäft, das ihn von der Verpflichtung, je wieder eine Postkutsche betreten zu müssen, befreien sollte. Eine Hebamme, die erst beim letzten Dorf eingestiegen war, nachdem sie eine halbe Stunde mit dem Kutscher geschäkert hatte. Und eine junge Gouvernante, die leicht an der steifen Haltung und dem humorlosen Blick zu erkennen war. Und wenn dies als Hinweis nicht genügte, waren da noch der weiße Kragen, die weißen Ärmel, der Rosenkranz und der breitkrempige Hut, der seit einigen Jahren Frauen dieser Berufsgruppe vorbehalten war.
Seit sie York verlassen hatten, hatte die junge Frau stumm am Fenster gesessen und stur hinaus geblickt, als eilten die Wunder der Welt an ihr vorbei und nicht die trostlose Herbstlandschaft von Warwickshire.
Gedankenverloren drehte sie ihren Hut und ließ eine Perle ihres Rosenkranzes nach der anderen durch die Finger gleiten. Sie betete nicht. Die Bewegung war ihr lediglich zur Gewohnheit geworden, wenn sie nervös war oder über etwas nachdachte. Trotz des Freibriefes, der einer gewissen Zara Nesbit eine ungehinderte Reise durch die Grafschaften erlaubte, beherrschte sie seit einer Weile ein mulmiges Gefühl.
Es war nicht nur die neue Anstellung, die Zaras Gemüt ins Wanken brachte oder die unbekannte Landschaft vor ihrem Fenster. Es war der Priester. Auch wenn er jung war und ihm die Würde des Alters fehlte, fürchtete sich Zara wie ein Kind vor dem Amt, das er verkörperte. Ein Unschuldslamm hätte sich in der Gegenwart eines Priesters schuldig gefühlt. Und Zara war kein Unschuldslamm.
Aus den Augenwinkeln beobachtete sie ihn, wie er nachlässig in einem Buch blätterte. Er trug den gelangweilten und säuerlichen Blick eines Kindes, das gegen seinen Willen zu einer Übung gezwungen wurde. Seine Kleidung war elegant, das Haar und der Bart in der neuesten Mode geschnitten. Zara konnte verstehen, dass der Anblick von Warwickshire bei einem Vertreter des nouveau cléric keine Glücksgefühle aufkommen ließ.
Trotzdem war ihr bei dem Gedanken, einen richtigen Priester in ihrer neuen Heimat zu haben, wohler. Wie in einem Puppenspiel setzte sie ihn als weitere Figur in das pastorale Bild, das sie sich von ihrem Heim gemacht hatte. Eine kleine Kirche, ein zerstreuter Pfarrer und liebenswürdige, einfache Leuten – und keine Magie weit und breit.
Zara wusste, dass sie dieses Idyll nicht aufrecht erhalten könnte, schwelgte jedoch für den Moment in der heimeligen Vorstellung. Nur ein Fleck verdarb ihr schönes Bild. Sie ertappte sich dabei, wie ihr Blick sehnsüchtig zum Buch in seinen Händen schweifte. Es hatte keinen Titel. Nur eine Imprägnation an der Seite verriet, dass es sich um ein Stundenbuch des Jahres 1557, also des gegenwärtigen, handelte.
Müßig blätterte der Pfarrer in den Seiten und hinterließ ab und zu mit einem abgenutzten Kohlestift eine Notiz am Rand. Sie wünschte sich, sie könnte an seiner statt über das weiche Leder und das raue Papier streifen und in die Welt der Worte eintauchen.
Doch sobald er den Blick gedankenverloren hob, wandte Zara den ihren sofort ab und widmete sich der Landschaft vor ihrem Fenster. Für eine Frau war es sündiger, sich mit einem Buch, denn mit einem Liebhaber erwischen zu lassen. Lesen war ihnen nicht verboten, aber ihm haftete die Aura der Ketzerei an. Protestantische Frauen lasen. Protestanten hatten Magie und Unheil über das Land gebracht.
Selbst in der Gouvernantenschule wurde nichts aufgeschrieben, nichts gelesen. Sie hatte die Worte der Nonnen so oft wiederholt, bis sie sich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten. Lesen war für Ketzer. Katholiken glaubten.
Zara schalt sich selbst für ihre Neugierde und die Schwäche ihres Geistes. Sie hatte York verlassen, um an einem Ort, an dem sie niemand kannte, ein neues Leben zu beginnen, frei von der Schuld und den Fehlern des alten. Und hier saß sie nun und starrte einem Priester auf sein Buch.
Ihr Blick schweifte weiter zum Händler, einem ganz anderen Schlag Mann. Er trug einen langen Bart, der selbst in besonders frommen Kreisen als exzentrisch bezeichnet werden konnte. Exzentrisch war auch der Rest seiner Aufmachung. Der pelzbesetzte Mantel, die goldenen Löwenknöpfe, das Medaillon des Heiligen Ambrosius – alles sprach die Sprache eines Mannes, der kürzlich zu Wohlstand gekommen war und beabsichtigte, dies zu zeigen. Doch seine Wangen waren eingefallen, wie nach einer langen Krankheit und die Fahlheit seiner Haut verriet ein Leiden, von dem er sich noch nicht erholt hatte. Insgeheim fragte sich Zara, was ein Mann wie er an einem so ärmlichen und weit von der Welt abgelegenen Ort wie Warwickshire zu suchen hatte.
Die Hebamme hingegen passte ins Bild wie der Pfarrer in die Kirche. Sie hatte nicht viel, mit dem sie hätte prahlen können. Das wertvollste, das sie besaß, war eine eherne Nadel der Heiligen Margarete. Ihre Kleidung war sauber, doch alt und abgetragen und sie roch nach Talg und starkem Spiritus, beides nützliche Hilfen für eine Geburt.
Sie hatte unschuldige Augen und einen scharfsinnigen Blick. In ihren Worten lag eine Unaffektiertheit und Ehrlichkeit, die sie zweifelsohne einmal an den Galgen bringen würde. Gleichzeitig schien die Frau so untrennbar mit der Erde des Landes verbunden zu sein, so untrennbar zu seiner Seele und seinem Wesen zu gehören, dass es unmöglich war sich vorzustellen, es könnte sie einmal nicht geben. Zara sah die Hebamme bis zum Jüngsten Tag durch unwirtliche Landschaften und feindliches Wetter reisen, um Kinder sicher in die Welt zu bringen.
Dies waren die Gedanken, die Zara zu ihren Mitreisenden hatte und sie behielt sie wohlwissend für sich. Sie hegte die bescheidene Hoffnung, ohne jegliche Konversation an ihrem Bestimmungsort anzukommen, was die Hebamme nicht wissen konnte. Hätte sie es gewusst, hätte sie sich sowieso darüber hinweggesetzt. Es gehörte zum Berufsstand einer Hebamme, ihre Nase in die Angelegenheiten anderer Leute zu stecken.
Nachdem sie sich als Maggie Brown vorgestellt und bei Priester und Händler die Runde gemacht hatte, indem sie freundlich nach Befinden, Grund für die Reise und der Familie fragte, kam sie bei Zara an. Die Hebamme wusste wenig über Gouvernanten, kannte persönlich keine und wollte sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.
“Und vor wem läufst du davon, Miss?”, fragte Mistress Brown mit einem breiten Lächeln. Zara hatte die Frage kommen sehen, aber Nervosität ließ sie strauchelnd nach Worten suchen.
“Ich seh’s dir an. Das leichte Gepäck. Das fahrlässig geknotete Haar. Und niemand kommt freiwillig nach Warwickshire. Du bist doch auf der Flucht, eh?! Vor einem Verehrer vielleicht?”
Die Hebamme lachte und zeigte eine Reihe solider Beisser, die ihren Lebtag kein Stück Zucker gesehen hatten. Es lag keine Boshaftigkeit in ihren Worten, nur unverfrorene Neugierde. Auch Maggie Brown sah sich selbst bis an ihr Lebensende über matschige Wege gehen. Dies war ein Schicksal, dem sie nicht entkommen konnte. Doch wusste sie auch, dass es ein Leben außerhalb gab. Städte mit feinen Damen und schneidigen Burschen und zuweilen reichte es ihr, einen flüchtigen Blick davon zu erhaschen.
“So ein hübsches Gesichtchen wie deins, wird doch einen Verehrer haben, eh? Oder zwei? Oder drei? Bist du deswegen fort? Haben die Verehrer voneinander erfahren?”
Zara gelang es mit Mühe, die aufsteigende Röte in ihrem Gesicht zu unterdrücken. Sie schämte sich nicht, aber sprach so selten, dass eine einfache Konversation sie aus der Fassung bringen konnte. Es gelang ihr sich zu sammeln, aber das Interesse der anderen Mitreisenden war geweckt. Sogar der Priester lugte unauffällig hinterm Buch hervor und ließ den Kohlestift ruhen.
“Es ist nichts dergleichen, gute Frau. Ich habe lediglich einen Anstellung hier in der Gegend gefunden und…”
“Aah! Sind dir die Posten in York ausgegangen?", rief die Hebamme dazwischen. "Bei so vielen großen Familien?”
“Nein, es war mir nach einem Aufenthalt auf dem Land. Die Stadt hat mich…”
Die alte Frau spie aus.
“Unsinn! Die Stadt verlassen! Im Winter. Um nach Warwickshire zu kommen! Diesen gottverlassenen Ort! Hast du denn nicht gehört…?”
Die Gesichter der Anwesenden verrieten, dass sie alle gehört hatten. Wilde Gerüchte, die von der Wahrheit kaum zu unterscheiden waren, begleiteten jeden Reisenden, der Warwickshire passierte. In den Tälern spukte es, der Avon2 war eine Todesfalle und seit Jahren hatte sich niemand in die Wälder von Arden3 getraut. Betretene Stille verbreitete sich. Maggie Brown bemerkte ihren Fehler und fuhr schnell fort.
“Dieses grässliche Wetter gibt es nur hier! Keine 30 Pferde könnten mich hier behalten, wenn nicht die Schweine und Jim von der Nachbarfarm wären. Aber nun sprich doch!”
Die Hebamme wusste, dass Zara wahrscheinlich weder Verehrer noch Liebhaber hatte, aber es machte ihr großen Spaß unbedarfte Fräulein mit ihren Triezereien zu quälen. Sie sah nichts Böses darin. Sie rückte näher an Zara heran und fixierte sie mit ihrem Blick.
“War es der Sohn des Hauses? Hieß er Malcolm und war sehr schneidig? Mochtest du ihn auch?”
Die Hebamme fixierte sie mit einem so aufrichtigen Blick, dass Zara tatsächlich über den Mann nachdachte, vor dem sie floh. Sein Name war Tod und nein, sie mochte ihn nicht. Schaudernd schüttelte sie den Kopf.
“Also nicht?”
Die Hebamme nickte wissend.
“Das sind die Schlimmsten. Hat Höflichkeit mit Zuneigung verwechselt und sich Hals über Kopf verliebt. Sowas kommt vor. Das geht vorbei. Der Winter wird sein heißes Gemüt kühlen. Und bis dahin, werden wir dich zu beschäftigen wissen. In Blackby gibt es auch ein paar hübsche Burschen. Ich kann gerne Kupplerin spielen, wenn du möchtest.”
Sie stieß Zara in die Rippen.
“Nein, danke, gute Frau. Sie sind ja eher Konkurrenz, als Kupplerin”, erwiderte die Gouvernante mit einem Lächeln. Dem ersten seit Tagen. Die Hebamme lachte schallend.
“Ich! Eine Konkurrenz! Mit meinen vierzig Jahren! Die einzigen, denen ich noch Konkurrenz machen könnte, sind die Schafe! Und selbst die sind bei Farmer Georg höher im Kurs als ich! Wenn du verstehst, was ich meine. Aber wir wollen nicht mehr davon reden. Der Herr Pfarrer hat schon ganz rote Ohren!”
Tatsächlich glühten die Ohren des jungen Mannes feuerrot wie der Hals eines Gockels. Auch am Händler war die Unterhaltung nicht spurlos vorbei gegangen.
“Wenn Blackby tatsächlich Ihre Destination ist, so kann ich Ihnen versichern, dass ich nur Gutes von dem Dorf zu berichten weiß”, meldete er sich zu Wort.
“Ich selbst besitze einen kleinen, einfachen Laden in der Hauptstraße. Cramer’s genannt. Ich würde mich freuen Sie einmal begrüßen zu dürfen.”
Er sprach mit der Unterwürfigkeit eines Löwen, der versuchte ein Lamm in seine Höhle zu locken. Sie konnte sich nicht vorstellen wie der “einfache Laden” eines solch fein herausgeputzten Mannes aussehen sollte.
Zara deutete ein leichtes Nicken an. Mehr erlaubte die Schicklichkeit nicht. Doch als sie zum Priester sah, um sein Urteil im Gesicht abzulesen, sah er sie herablassend an.
“Mir scheint, den Damen wäre der Besuch einer Kirche wärmer empfohlen, als der eines Krämerladens, Mr. Cramer. Vor allem Sie, Mistress Brown, sollten sich schämen einer Gouvernante solche Worte in die Ohren zu legen.”
“Ah, Mister Corvin! Sie sind neu. Keine drei Monate, wenn ich mich recht entsinne. Sie kennen Warwickshire noch nicht so gut. Aber wir werden Sie schon an unsere rauen Sitten gewöhnen”, lachte die Hebamme.
“Ganz sicher nicht!”
Die Heftigkeit seiner Worte ließ die Hebamme in ihrem Sitz zusammenfahren.
“Der Schäfer lässt sich nicht auf das Niveau der Schafe herab. Ich bin gekommen, um die Leute von Sünde zu befreien, nicht sie darin zu bestärken.”
Die Farbe wich aus dem Gesicht der Hebamme und auch Zara bekam einen Kloß im Magen.
“Ich bin sicher Misstress Brown sprach nur im Scherz.”
Zara musste sich Mühe geben dem Blick des Pfarrers standzuhalten.
“In jedem Scherz liegt Wahrheit. Und Sünde in Gedanken ist, nichtsdestotrotz, Sünde. Mistress Brown stünde es besser Zuhause in der Obhut ihre Ehemannes zu bleiben, als allein durch die Grafschaft zu fahren. Das erregt unnötig Aufmerksamkeit. Und auch Sie – Miss Nesbit war der Name? – Sie hätten nicht so unvorsichtig sein sollen, allein zu reisen. Wenn Sie wirklich einen Posten in Blackby haben, hätte ein Diener Sie abholen müssen.”
Die Anschuldigung traf sie unvorbereitet.
“Ich habe eine Einladung”, sagte sie standhaft. “Und einen Freibrief vom Erzbischof.”
Mit einem lautem Rumpeln kam die Kutsche plötzlich zum Stehen. Zara und die Hebamme wurden nach vorne gegen ihre Mitinsassen geworfen.
“Was ist los? Was ist passiert?”
Der Händler streckte seinen Kopf aus dem Fenster. Die Pferde wieherten aufgeregt, aber zu sehen war nichts.
“Verdammt noch mal!”, fluchte der Kutscher. “Steigen Sie nicht aus. Hier ist ein besessener Hund.”
“Das ist doch lächerlich!”
Ohne auf die Worte des Kutschers zu achten, sprang der junge Pfarrer aus der Kutsche. Nach kurzem Zögern folgte Zara ihm nach. Vor ihnen schlich ein schwarzer Hund auf dem unebenen Waldweg. Unsicher schwankte er auf den Beinen. Aus seinem Mund tropfte Schaum.
“Das ist nur ein dummer Hund”, rief Corvin aufgebracht. “Jagen Sie ihn fort!”
Der Kutscher rührte sich nicht vom Kutschbock.
“Nein. Er ist besessen”, sagte Zara langsam. “Schauen Sie sich den Atem an.”
Aus dem Mund des Hundes entwich schwerer Dunst und rieselte in Schneeflocken zur Erde, während Zara ihren eigenen Atem noch nicht einmal sehen konnte. Es war als wäre der Hund gar nicht da, als wäre er nur eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Einer Welt, in der eisiger Winter herrschte.
“Welch Ärgernis!”
Der Pfarrer kehrte zur Kutsche zurück, um gleich darauf mit einem Säckchen zurückzukommen.
“Sehen Sie, was passiert, Miss Nesbit, wenn Frauen allein reisen? Weder Einladung noch Freibrief können Sie vor den Gefahren, die auf dem Weg drohen, beschützen. Magie und Versuchung lauern an jeder Ecke.”
Der Hund knurrte, als der Pfarrer sich ihm auf wenige Schritte näherte. Mit einer schnellen Handbewegung warf er dem Tier ein Pulver in die Augen. Es jaulte vor Schmerz. Dunst stieg aus der Nase.
“Sie können sich nicht immer darauf verlassen, dass zufällig ein Pfarrer in der Nähe ist. Ein Begleiter hätte Sie vor diesem Unglück bewahren können. Oder Sie hätten gleich bleiben sollen, wo Sie waren.”
Der Hund japste nach Luft. Der Schaum kam jetzt auch aus seiner Nase.
“Es gibt kein Gesetz, das es verbietet Frauen zu reisen”, wandte Zara ein. Der Pfarrer wandte sich wütend um.
“Aber es sollte eines geben! Alleinreisende Frauen erwecken Argwohn. Und Argwohn kann schnell gefährlich werden. Wo will sie hin? Was hat sie vor? Wollen Sie sich solchen Fragen stellen? Nein! Der Platz einer Frau ist in ihrem Heim.”
“Der Platz einer Gouvernante ist bei ihrem Herrn”, erwiderte Zara. Sie war unfähig die Augen vor dem leidenden Tier abzuwenden. Mit einem letzten verzweifelten Zucken brach es zusammen.
“Ach, Gouvernanten! Gouvernanten werden überschätzt. Sie allein durch Land und Flur zu schicken, um ein paar Gebete weiterzutragen, ist der Mühe nicht wert. Ein Pfarrer allein kann die Menschheit vor Magie bewahren. Sagen Sie mir, wozu eine Gouvernante wirklich gut ist?”
Zara sah hinab auf das verendete Tier. Alles Leben war aus ihm gewichen.
“Um Mitleid mit jenen zu haben, die nicht bewahrt werden konnten.”
Der Pfarrer warf ihr einen verächtlichen Blick zu und wandte sich dann an den Kutscher.
“Hey, Mann! Schaff den Hund fort! Wir haben schon genug Zeit vertrödelt.”
Ohne Zara eines weiteren Blickes zu würdigen, kehrte er in die Kutsche zurück. Vorsichtig stieg der Fuhrmann vom Bock, wagte es aber nicht, sich dem Tier zu nähern. Hilfesuchend blickte er zu Zara.
“Ich weiß nicht… ich möchte mich nicht anstecken…”
“Habt Ihr Lederhandschuhe?”
Der Kutscher nickte und brachte ihr sogleich ein Paar. Zara streifte sie sich über.
“Und die Magie wird sich ganz bestimmt nicht übertragen?”, fragte der Kutscher ängstlich. Zara fasste das Tier an den Hinterbeinen. Es war so leicht wie ein Apfel. Das Leben war fort, aber die Magie hielt den Hund noch immer in der anderen Welt.
“Nein. Das Leder verhindert eine Übertragung.”
Zara schob das Tier an den Wegesrand und bedeckte es mit den toten Blättern kahler Eichen. Nachdem sie ein kurzes Gebet gesprochen hatte, reichte sie dem Kutscher die Handschuhe zurück, die er nur widerwillig entgegen nahm.
“Und wenn es andere Tiere ausgraben?”
Zara ging zur Kutsche zurück. “Sie werden es nicht wagen. Kein Tier würde es wagen, sich Magie zu nähern.” Bis auf eines, fügte sie in Gedanken hinzu.
Sie stieg wieder in die Kutsche und gleich darauf setzte das gleichmäßige Rumpeln wieder ein. Eine Weile lang blieben sie still.
“Also ich für meinen Teil, weiß eine Gouvernante im Dorf zu schätzen”, meldete sich Mr. Cramer zu Wort. Der Händler musste die Worte des Pfarrer gehört haben.
“Kein Dorf sollte ohne eine auskommen müssen. Für alle Fälle, wissen Sie.”
Er lächelte Zara vielsagend zu.
“Welche Fälle sollen dies sein?”, fragte die Hebamme neckisch.
Zara war froh drum. Seine übermäßige Vertrautheit war ihr zuwider. Sie brauchte seine Hilfe nicht, wenn sie von einem derartigen Lächeln begleitet wurde.
“Ah, Sie werden sehen. Blackby hält einige Überraschungen für junge Damen bereit. Und auch Ihnen wird, Mr. Corvin, als neuer Unterpfarrer nicht langweilig werden. Blackby kann es zwar nicht mit York oder gar London aufnehmen, aber auch wir haben Dinge, die Ihr Interesse wecken sollten.”
Der junge Pfarrer wandte sich demonstrativ seinem Buch zu und machte deutlich, dass er mit dem niederen Geschwätz von Bauern und Kaufleuten nichts zu tun haben wollte.
Als sie den Posten Blackby erreichten, stiegen alle Insassen aus und wurden sogleich durch eine neue Mischung aus Reisenden abgelöst. Mr. Corvin wurde von einem jungen Burschen erwartet. Gemeinsam hoben sie eine große Bastkiste von der Kutsche und eilten, ohne sich zu verabschieden, in Richtung des Pfarrhauses davon. Mr. Cramer hingegen verbeugte sich aufwendig und äußerte die Hoffnung, Zara begleiten zu dürfen.
Sie lehnte dankend ab.
“Misstress Brown wird mir den Weg schon zeigen.”
Der Händler warf einen flüchtigen Blick auf die Hebamme, die noch einige Worte mit dem Kutscher wechselte.
“Ah, ja. Misstress Brown. Es steht mir natürlich nicht zu, Ihnen Anweisungen zu geben, aber lassen Sie es sich gesagt sein, dass Misstress Brown nicht die beste Gesellschaft für eine junge Gouvernante ist.”
“Ich komme nicht aus adeligem Haus. Mein Stand…”
“Ich meine nicht Ihren Stand. Etwas anderes könnte Sie korrumpieren.”
Zara wollte ihn fragen, was er meinte, aber da schloss Maggie auch schon auf und er verabschiedete sich mit einer kurzen Verbeugung. Trotz seiner Worte, war Zara froh drum, dass die Hebamme sie ein Stück des Weges begleitete. Die Gegend war ihr fremd. Sie kam nicht umhin über den ersten Anblick ihre neuen Heimes ein wenig enttäuscht zu sein. Es nieselte, die Straße war schlammig und das Wirtshaus, an dem die Pferde gewechselt wurden, war ein dunkles, niedriges Gebäude mit kleinen, farblosen Fenstern. Das eigentliche Dorf lag hinter Feldern, geschmiegt an einen Hügel. Darüber thronte das Schloss von St. Georges.
“Blackby ist ein armes Dorf, aber auch hier haben sich ein paar große Familien angesiedelt, wie Fliegen auf einem Misthaufen. Welche ist deine? Die Hamleys? Zwei Söhne in der Familie. Dumm wie stroh und genauso hässlich. Oder die Lancers? Witwe, zwei Mädchen. Die Alisters? Die Jeffersons? Die Hills?”
Zara sah hinauf zum Hügel. Auf einmal klang das Leben bei einer beschaulichen Landfamilie besser, als jenes bei einem Baron in seinem mächtigen Schloss.
“Nein. Ich gehöre zu Sir Zacharius Wycliff, Baron St. George.”
Die Hebamme blieb auf ihrem Absatz stehen und bekreuzigte sich. “Dann bereue den Tag, an dem du jemals den Fuß auf diese Erde gesetzt hast. Kehre am besten gleich um, bevor sie erfahren, dass du hier bist!”
Zara wurde so grau wie der Himmel über ihr.
“Ich mache nur Spaß!”
Misstress Brown stieß sie in die Rippen. “Die beiden Söhne sind reizend, das Mädchen ein Schatz und der Vater umgänglich, wenn man ihm nicht unter die Augen kommt. Du wirst dich schon mausern.”
“Sie dürfen einen Neuankömmling nicht so erschrecken, Mistress Brown”, rügte sie Zara.
“Maggie, nenn mich Maggie. Du bist doch jetzt eine von uns. Deinen Namen bräuchten wir allerdings noch.”
“Zara Nesbit.”
Sie verbeugten sich in übertriebener Manier voreinander, als wären sie Gesandte des spanischen Hofes. Auch wenn es nur eine Bäuerin war, Zara war froh eine Bekanntschaft in der Fremde gemacht zu haben.
“Nun, spute dich, dass dich nicht die Dunkelheit erwischt. Und wenn dich die Laus beisst, dann komm auf der Farm vorbei. Ich habe was für die Seele.”
Zara wollte loslaufen, drehte sich aber noch einmal um.
“Sagt, Mistress… Maggie, gibt es etwas, das ich über das Dorf wissen sollte?”
Zara hatte die Frage allgemein formuliert, aber sie beide wussten, was sie meinte. Doch die Hebamme lächelte zuversichtlich.
“Wir sind nicht schlimmer dran, als die anderen und eine stramme Gouvernante wie du, sollte nichts zu befürchten haben. Das heißt, wenn du dich nicht vor Geistern fürchtest.”
Sie sah sie neckisch an.
“Sie machen sich wieder über mich lustig.”
Die Hebamme schüttelte heftig den Kopf. “Ganz und gar nicht. Bei so einer alten Burg wie St. Georges muss man mit Geistern rechnen. Du hast aber Glück, denn ich habe genau das Richtige für dich.”
Sie kramte einen Moment in ihrem Beutel und holte ein zusammengebundenes Stück Stoff hervor. Was auch immer sich darin befand, es stank sobald es an die Oberfläche gelangte.
“Gut für die Vertreibung von Geistern und anderem ungewollten Besuch. Hält ein Leben lang. Eine gute Investition, wenn du mich fragst.”
Erwartungsvoll blickte sie Zara an. Die junge Frau durchsuchte ihren Umhang, übergab Maggie eine Münze, die sie für angemessen hielt, und bekam dafür den Stoff. Sie konnte nicht sagen, woran sie der Geruch erinnerte, aber getrockneter Ginster und Hühnermist waren auf jeden Fall darunter.
“Ich hoffe, es schützt auch gegen Dämonen, denn das war das letzte Geld, das ich hatte.”
Ein Funke Reue geisterte durch das Gesicht der Hebamme, verschwand aber sofort.
“Sogar der Teufel wird dir nichts anhaben können!”
Zara packte den Stoff in ihren Mantel. Sie trauerte den Münzen, trotz der nutzlosen Ausgabe, nicht nach. Man würde sich auf der Burg schon um sie kümmern.
“Und was ist mit Pfarrern?”, fragte sie. “Hält es auch Pfarrer fern?”
Maggie stemmte die Fäuste in die Hüften. “Dafür hast du ganz alleine gesorgt. Ich fürchte, mit Unterpfarrer Corvin hast du es dir richtig verscherzt. Ihr solltet euch schnell wieder anfreunden. Es kann nicht gut sein, einen Pfarrer gegen sich zu haben.”
Zara versprach, sich um eine Aussöhnung zu bemühen. Nach einem kurzen Abschied, trat sie ihren Weg an. Die Burg von St. Georges ragte vor ihr in den Himmel. Mächtig wuchsen die Mauern und Wehrtürme aus dem Fels und warfen lange Schatten auf das darunter liegende Dorf, das sich an den Hügel schmiegte. Der Anblick erinnerte sie an eine Zeichnung aus der Artussage. Die Burg, die Uther auf einem Hügel erbauen ließ, über der Höhle zweier Drachen. So eine Burg war es. Gebaut, um Königen, Drachen und Barbaren zu trotzen.
Keine Stufen führten hinauf. Zara musste einen langen Bogen über die Felder nehmen, um das Eingangstor zu erreichen. Jeder, der auf den hohen Mauern stand, hätte sie aus einer Entfernung von zehn Meilen entdecken können.
Sie ging langsam. Sie hatte es nicht eilig. Im Licht der untergehenden Sonne erstreckte sich das trostlose Land. Zu ihrer Linken kreisten Raben über kargen Feldern. Zu ihrer Rechten streckte ein kahler Wald die knorrigen Äste nach ihr aus.
Zara blieb für einen Moment stehen. Sie spähte nach allen Seiten, ob sie auch niemand beobachtete und holte dann ein trockenes Stück Brot aus dem Umhang. Der Hunger nagte an ihr und es verlangte sie nach einer Mahlzeit, aber dies musste sein.
Sie zerkrümelte das Brot und warf es hoch. Die Raben stoben von den kahlen Bäumen in die Lüfte und kreisten hungrig über dem Boden.
“Nun kommt schon”, flüsterte sie, mehr zu sich selbst, als zu den Vögeln. Die Raben kreisten weiter, keiner wagte sich an die Brotkrumen heran. Zara wurde nervös.
“So landet doch”, flehte sie innerlich. Plötzlich löste sich ein Rabe aus dem Schwarm und senkte sich herab. Zwei, Vögel folgten ihm nach, doch der Großteil kehrte in die Baumkronen zurück und sah den Artgenossen argwöhnisch zu. Zara beobachtete die Raben, wie sie die Krümel gierig pickten. Sie versuchte ihr Verhalten zu deuten, konnte aber kein eindeutiges Urteil fällen.
Ihr Blick schweifte vom Schauspiel hinaus auf die Felder. Es gab keinen Ort in England, Schottland, Wales und den britischen Inseln, der frei von Magie geblieben war. Überall trat sie aus dem Boden und floss in unsichtbaren Flüssen über das Land und wo sie ein geeignetes Opfer fand, riss sie Tier und Mensch gleichermaßen in ihren Bann.
Selbst Mary, der Katholischen, die seit fünf Jahren mit blutiger Hand herrschte, war es nicht gelungen die Magie aus dem Land zu vertreiben. Zu groß war der Schaden, den ihr Vater, Heinrich der Achte4, und ihr Halbbruder Edward5 angerichtet hatten. Die zerstörten Klöster, die verjagten Priester, die Glaubenskämpfe zwischen Katholiken und Protestanten hatten die Magie, die Jahrhunderte in der Erde geschlafen hatte, wieder aufgeweckt. Und egal wie sehr sich Mary bemühte den wahren Glauben zurück zu bringen, die Magie ließ sich nicht vertreiben.
Indes ordnete sich die Welt neu. Das Chaos jener ersten Jahre, in denen die Magie wild und zerstörerisch über das Königreich hereingebrochen war, war vorüber. Jeder suchte sich einen neuen Platz. Zara war nicht anders. Sie setzte all ihre Hoffnungen auf dieses neue Leben, für das sie sich entschieden hatte und war entschlossen ihr Schicksal selbst zu schmieden.
KAPITEL 2
Die Sonne berührte bereits den Horizont, als Zara den Hang zur Burg hinauf stieg. Die Anstrengung und die kalte Luft ließen sie angestrengt nach Luft schnappen. Als sie endlich das Tor erreichte, lehnte sie sich erschöpft gegen das dicke Holz. Es dauerte einen Moment, bis sie zu Atem kam.
Bevor sie anklopfte, überprüfte sie noch einmal ihre Kleidung, richtete den Hut und bändigte die Haare. Sie wollte einen guten Eindruck hinterlassen, auch wenn die Burg ihr Bemühen nicht erwiderte. Das Tor war rissig und alt. Es drohte jeden Moment vor ihren Augen zu verwittern. Neben der Türklappe hatte jemand einen Schriftzug in das weiche Holz gekratzt.
Durch mich geht man hinein, las sie. Der Rest war nicht zu entziffern. Zara hatte mehr vom Schloss eines Barons erwartet. Auf ihr Klopfen erschien ein alter Diener, das Gesicht zerfurcht von Pockennarben. Zara erklärte ihr Anliegen und das Gesicht des Mannes verschwand wieder hinter dem Tor. Unerträglich lange geschah nichts. Dann hörte sie, wie auf der anderen Seite ein schwerer Riegel zurückgeschoben wurde. Widerspenstig knarrte das Holz des Tores, als der Diener es öffnete. Vor hundert Jahren hätte das Tor einer Armee standhalten können. Jetzt wurde es nur von verrosteten Scharnieren und Holzwürmern zusammengehalten.
Der Diener ließ sie eintreten und öffnete den Blick in den Hof. Hohe Mauern erhoben sich steil zu allen Seiten des geschlossenen Innenhofs. Drohend ragten sie in den Himmel und beobachteten die Besucherin kritisch aus kleinen Fenstern. Die Aura eines verlorenen Glanzes hing über dem alten Stein. Als wäre die Welt weitergewandert und hätte die Burg auf dem Hügel zurückgelassen. Nicht ganz tot, aber auch nicht am Leben. Wo einmal ein Chor aus Stimmen und Gedanken durch die Gänge galoppiert war, lag jetzt gespenstische Stille. Das verräterische Klacken ihrer Schritte ließ Zara daran denken, welche Geister sie wohl weckte.
Zu ihrer Linken säumte eine Galerie sowohl das Erdgeschoss, als auch das erste Stockwerk. Von den steinernen Wänden bröselte der Putz. Zu ihrer Rechten gab ein Tunnel den Durchgang zu einem weiteren Hof frei. Über dem Torbogen prangte ein zerstörtes Wappen. Zu den Seiten ragten zwei Türme empor, die Fenster eilig zugemauert.
Zara blieb beunruhigt stehen. Ein schlimmer Verdacht manifestierte sich. Der stumme Diener drehte sich nach ihr um. Ausdruckslos wie ein Hund, der sich fragte, warum sein Herr ihm nicht folgte, sah er sie an.
Stumm wies er ihr den Weg zu einer bemalten Holztür. Ein Pferd war daneben angebunden. Ein abgenutztes und abgehetztes Geschöpf, das Mitleid mit jedem erregen musste, der es sah.
Kaum hatte sich Zara der Tür auf wenige Schritte genähert, als diese krachend aufschwang. Ein Mann stürmte heraus, sein Gesicht so rot wie der Umhang, den er trug.
“Verflucht seist du, Wycliff”, schrie er über die Schulter zurück in den dunklen Gang, aus dem er gekommen war. “Du und deine gesamte Brut! Seid verflucht bis auf den Tod und darüber hinaus!”
Ohne Zara zu beachten, stieg der Mann auf das Pferd. Ihm nachfolgend trat ein Greis auf den Hof, zwei Jagdhunde zu seinen Flanken.
“Ha! Fluch so viel du willst, Warren! Etwas anderes kannst du nicht”, lachte der Alte dem Mann ins Gesicht. “Aber wenn du noch einmal einen Fuß auf meinen Grund und Boden setzt, hetzte ich die Hunde auf dich!”
Drohend fletschten die Tiere die Zähne. Doch der Reiter blieb unbeeindruckt. Verächtlich sah er auf den Greis hinab.
“Es ist nicht dein Grund und Boden, Wycliff!”
Bevor der Alte etwas erwidern konnte, galoppierte der Mann durch das Tor und hinaus in die Dämmerung.
“Hey, du! Keine Bettler! Keine Händler! Keine Weiber! Verschwinde! Verschwinde! Fred! Schmeiß sie hinaus!”
Der alte Mann scheuchte Zara wie einen Vogel. Die Hunde folgten dem Beispiel des Herrn. Sie knurrten und schnupperten, als nähmen sie bereits die Fährte auf.
“Mein Name ist Zara Nesbit, Herr. Ich bin hier, um die Erziehung der jungen Tochter zu übernehmen.”
Zara streckte ihren Rücken durch und zwang sich zu einem selbstbewussten Lächeln. Der Greis musterte sie prüfend. Wie aus einer wütenden Trance erwacht, bemerkte er erst jetzt den Hut und den weißen Stoff um Kragen und Handgelenke. Er sah an ihr vorbei zum Torwächter, der wortlos nickte.
“Du hast eine Schrift?”, sagte er ungeduldig. Es war eine Mischung aus Frage und Befehl.
“Äh… natürlich.”
Zara beeilte sich aus ihrer Brieftasche ein in Leder gebundenes Dokument herauszuholen. Ihre Hände zitterten unter den feindseligen Blicken der Hunde.
Sie reichte dem Mann den Freibrief und beobachtete ihn wie er jedes einzelne krakelige Wort aufmerksam las und sogar das Siegel überprüfte. Zara hatte sich den Baron anders vorgestellt. Würdevoller. Eleganter. Der Mann vor ihr musste über siebzig sein, das Haar ergraut und dünn, Gesicht und Hände übersät mit den Narben ausgetragener Schlachten. Auch seine Kleidung war die eines Ritters, bereit in den Kampf zu ziehen.
“Alles Quacksalber.”
Er reichte Zara die Urkunde, die ihr den erfolgreichen Abschluss des Gouvernantenseminars in York bescheinigte, zurück.
“Taugst du etwas?”
Er bemaß sie kritisch. Die blassen Augen fixierten sie im sterbenden Licht des Tages. Zara bemerkte, wie kräftig der Mann trotz seines Alters wirkte.
“Ich habe umfassende Kenntnisse im Schutz vor Magie und…”
“Das kann jedes Waschweib!”, fuhr er ihr über den Mund. “Ich zahl gutes Geld für dich. Also was kannst du noch?”
Er trat näher an sie heran. “Kannst du der Magie in ihr hungriges Maul sehen? Kannst du standfest bleiben, wenn der Teufel dich lockt? Kannst du? Kannst du?”
Zara gelang es nicht seinem Blick standzuhalten. Er hatte Armeen in die Knie gezwungen. Eine Gouvernante war ein leichtes Opfer.
“Ich…”, stotterte sie. “Ich bin immer noch am Leben, wenn das zählt.”
Eine Veränderung stellte sich im Gesicht des Barons ein.
“Was heißt das schon”, sagte er resignierend.
Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da die Erziehung von Mädchen so unbedeutend war, dass Mütter und Tanten sie übernahmen. Seit die Magie das Land beherrschte, war dies nicht mehr möglich. Allein die Kirche konnte jetzt noch Seelenheil und körperliche Unversehrtheit gewährleisten. Und die Gouvernante war die Mauer, die zwischen ihrem Schützling und den Gefahren der Magie stand.
“Du wirst müde sein”, sprach der Baron langsam. Zara nickte stumm.
“Natürlich bist du müde. Eure Sippe ist immer müde.”
Er wandte sich ab und rief so laut, dass seine Stimme den Stein von den Mauern bröckeln ließ.
“Gabriel! Gabriel!”
Die Stimme kletterte hinauf zu den entlegensten Fenstern. Nichts rührte sich. Die dunklen Gläser taten, als hätten sie nicht gehört. Bis auf eines, das einen Spalt breit offen stand, blieben alle verschlossen.
Unversehens schoss ein junger Mann aus dem dunklen Gang und kam gerade noch zum Stehen, bevor er mit dem Greis zusammenstieß. Ein freudiges Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus, als er Zara entdeckte. Doch er behielt es nicht lang. Der Baron schlug dem Mann mit der bloßen Hand das Lächeln aus dem Antlitz. Mit Schrecken sah Zara, wie er zurück taumelte, die Wange rot glühend, aber mit einem Ausdruck in den Augen, als hätte er den Schlag erwartet. Als wäre dies nur ein Schlag von vielen, die er bereits erlitten hatte und die noch folgen würden.
“Beherrsch dich!”, fuhr der Baron ihn an. “Rennst herum wie ein räudiger Hund.”
Sein Gesicht zu einer gefühllosen Maske erstarrt, entschuldigte sich der junge Mann. Der Schlossherr musterte ihn abschätzig.
“Alle Hoffnung vergebens…”, flüsterte er.
Ohne ein weiteres Wort an den Neuankömmling zu verlieren, kehrte der Baron in den dunklen Schlund des Schlosses zurück, gefolgt von seinen Hunden. Kaum war der Greis verschwunden, erhellte sich Gabriels Gesicht, als wäre nichts gewesen.
“Sie müssen Miss Nesbit sein.”
Er verneigte sich in höfischer Manier.
“Gabriel Wycliff. Meinen Vater, Baron Wycliff, haben Sie kennengelernt. Ich würde Sie ja bitten, die Unhöflichkeit meines Vaters zu verzeihen, aber Groll hegen ist einer der wenigen Zeitvertreibe, die wir hier haben. So steht es Ihnen frei, ihm seine Unhöflichkeit nachzutragen.”
Er grinste von einem Ohr bis zum anderen und studierte aufmerksam Zaras Gesicht, ob sie seinen Scherz verstand. Sie winkte ab.
“Ich trage niemandem etwas nach, Mr. Wycliff. Ich bin Gouvernante, keine Bedienstete.”
Der junge Mann lachte. Er hatte die gleichen Gesichtszüge wie der Vater, eine fliehende Stirn, große, aufmerksame Augen. Aber sie hätten in ihrem Wesen nicht unterschiedlicher sein können. Gabriels Gesicht strahlte vor jugendlicher Energie, er konnte keine dreißig Jahre alt sein. Seine Kleidung war vornehm, dunkelblauer Samt mit versilberten Knöpfen, aber alt und etwas abgetragen. Zara konnte sehen, warum der Baron Gabriel als Enttäuschung empfinden musste. Ein Krieger hatte einen Lebemann zum Sohn.
“Aber kommen Sie. Wir wollen uns nicht von der Dunkelheit überraschen lassen.”
Er entzündete eine Fackel und führte sie in die dunklen Gänge der Burg, begleitet von ihren Schatten, die auf den weiß gekalkten Wänden tanzten. Ein kalter Luftzug wehte Zara ins Genick. Unzählige Gänge und Türen führten vom Hauptgang ab. Einige Durchgänge waren zugemauert worden. Der Geruch von Fäulnis und Verfall drang durch die dünnen Ritzen.
“Lassen Sie sich von dem alten Gemäuer nicht täuschen, Miss Nesbit. Auch an uns sind die Veränderungen des neuen Zeitalters nicht vorbeigegangen. Das 17. Jahrhundert steht vor der Tür! Eine neue Zeit bricht an. In York muss das viel mehr zu spüren sein, als hier, nicht wahr?”
Er drehte sich nach ihr um und Zara wandte schnell den Blick von seinen Stiefeln ab. Ein großer Klumpfuß ließ ihn hinken, auch wenn er sich Mühe gab, die Behinderung zu verstecken.
“York ist ein Ameisenhaufen.” Sie bemühte sich, sich seiner Aufgewecktheit anzupassen. Man merkte schnell, dass er aus Nervosität so viel sprach.
“Ein Ameisenhaufen, wie? Ich war selbst noch nie dort –Vater hat etwas gegen unnötige Reisen. Sie verderben den Charakter. Aber genau so stelle ich es mir vor. Hatten Sie eine gute Reise? Keine schlimmen Vorkommnisse?”
Zara schüttelte den Kopf.
“Nur ein besessener Hund, der unseren Weg kreuzte.”
Gabriel nickte. “Ja, Tieren merkt man die Magie schnell an. Bei Menschen wird es schon schwieriger. Oder haben Sie im Gouvernantenseminar Tricks gelernt wie man Magier enttarnt?”
Er sah sie hoffnungsvoll an, aber Zara musste verneinen. Seine Enttäuschung hielt nicht lange an. Er führte sie durch einen Nebengang in eine kleine Kammer, wo ein karges Mahl für sie bereit stand.
“Wir leben zwar fast noch im vorigen Jahrhundert, aber wir versuchen uns zu bessern. Wir haben erst letztes Jahr vier Kamine anbauen lassen und auch an Nachttöpfen fehlt es uns nicht. Und die Bediensteten schlafen im Gesindehaus. Sie werden also über niemanden in der Nacht stolpern. Ich bin sicher, Sie werden uns nicht allzu provinziell finden.”
Er setzte sich zu ihr an den Tisch und betrachtete sie dabei, wie sie die Brühe und das Brot mit gezwungener Mäßigung aß. Zara fühlte sich beobachtet. Nicht nur von ihm, auch von den Bildern an den Wänden. Bischöfe, Heilige und Sünder blickten sie neugierig durch die Jahrhunderte an. Der Wind, der durch die Ritzen pfiff, fügte ein unheimliches Flüstern hinzu. Auf einmal war sie über den Beuteln, den Maggie ihr gegeben hatte, froh. Aber selbst der Beutel, konnte die dunkle Ahnung, die an ihr nagte, nicht zurückhalten.
“Mr. Wycliff”, sagte sie vorsichtig und wählte ihre Worte mit Bedacht. “Lebt Ihre Familie schon lange auf dieser Burg?”
Er sah sie verblüfft an, doch sogleich erhellte ein Lächeln sein Gesicht.
“Ah, ich sehe, Sie haben uns durchschaut. Es musste ja passieren, aber so schnell!? Sagen Sie, was hat uns verraten?”
Zara hätte nicht gedacht, dass er es einfach zugeben würde.
“Das zertrümmerte Wappen, die Galerie, die Heiligenbilder.” Sie deutete an die Wand.
“Dies war einmal ein Kloster, nicht wahr?”
Er nickte. Zara lief ein Schauer über den Rücken. Sie sah bereits die Geister toter Mönche vor ihren Augen aufsteigen. Ihre Flüche und Verwünschungen hallten durch die Gänge. Anklagend streckten sie die knochigen Finger nach ihr aus.
“Man hätte mir das vor meiner Ankunft sagen müssen.”
“Es gibt wirklich keinen Grund der Sorge, Miss Nesbit”, sagte er schnell. “St. George war eines der ersten Klöster, die aufgelöst wurden. Die Mönche sind nach Frankreich geflohen. Niemand wurde verletzt. Es gibt hier keine Geister, vor denen Sie sich fürchten müssen.”
“Ich fürchte mich nicht vor Geistern, Mr. Wycliff, sondern vor Königin Mary. Ich habe gehört, sie bemüht sich die Klöster, die ihr Vater weggegeben hat, wiederzubekommen. Ich will nicht in einem Monat auf der Straße stehen müssen.”
Gabriel lachte.
“Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Mein Vater bekam Land und Titel für seine Verdienste an die Krone. Die Königin wird das nicht vergessen. Und mein Bruder Godwin, der gerade in London ist, wird sie schon daran erinnern. Sie kommen hier also nicht so schnell weg.”
Zara wollte ihm glauben, aber die Worte des Reiters gingen ihr nicht aus dem Kopf. Dies ist nicht dein Land, hatte er gerufen. Sie wollte ihn darauf ansprechen, hielt sich dann aber zurück. Welche Wahl hatte sie schon? Sie hatte ihr letztes Geld für einen unnützen Zauber ausgegeben. Wenigstens für eine Weile würde sie hier bleiben müssen.
Als sie ihr Mahl beendet hatte, führte er sie zurück in die Gänge der Abtei. An den Wänden erkannte sie die Spuren entfernter Bilderrahmen und zügig übermalter Wandgemälde. Stattdessen zierten Wappen und Waffen die getäfelten Räume, wie ein echtes Schloss aus einem Artus-Lied.
Doch die neue Erkenntnis klebte an den Wänden und verdüsterte ihre Stimmung. Sie wollte nicht so schnell wieder weg, jetzt da sie ein Heim gefunden hatte.
“Es ist zu spät, um Ihnen alles zu zeigen. Wir werden das morgen erledigen.”
“Ich will Sie nicht unnötig bemühen. Ich bin sicher, dass die Haushälterin das übernehmen kann.”
Gabriel sah verlegen weg.
“Es gibt keine Haushälterin und Fred ist so still, dass er keinen guten Führer abgeben würde.”
“Dann vielleicht eines der Hausmädchen.”
Gabriel blieb stehen. Sein Gesicht glühte im Licht der Flamme.
“Ich muss ehrlich zu Ihnen sein, Miss Nesbit. Sie sind die erste Dame, die unser Heim seit zehn Jahren betritt. Der Baron duldet keine Frauen und mein Bruder und ich haben lange gebraucht, ihn von der Notwendigkeit einer Gouvernante zu überzeugen.”
Zara runzelte die Stirn.
“Keine Frauen? Und die Baroness…?”
Gabriel blickte zu Boden.
“Hauchte ihren letzten Atemzug, als Gertie ihren ersten tat. Aber Sie dürfen sich nicht davon abschrecken lassen. Ihre Reputation ist sicher. Jeder im Dorf versteht die… ähm… besonderen Umstände.”
“Welche besonderen Umstände?”
Ihr Begleiter zögerte. Die Worte entwichen ihm stockend.
“Nach dem Tod unserer Mutter wollte Vater keine Frauen mehr auf der Burg. Sehen Sie, er ist davon überzeugt, dass Frauen Magie anziehen und dass dies zum Tod meiner Mutter geführt hat.”
“Aber dem ist nicht so?”, fragte Zara vorsichtig. Sie wollte wissen, worauf sie sich einließ.
“Nein. Meine Mutter starb im Kindbett. Aber Vater ist, gegen besseres Wissen überzeugt, dass es Magie war und dass die weiblichen Angestellten diese angelockt haben. Es hat eine Weile gedauert, bis wir ihn überzeugen konnten, dass eine Gouvernante wohl kaum eine Gefahr darstellen würde.”
“Er schien nicht sehr überzeugt.”
Gabriel legte die Stirn in Falten. Plötzlich ergriff er ihre Hand.
“Miss Nesbit, ich weiß, dies ist kaum das Heim, das sich eine Gouvernante wünschen kann, aber Sie müssen uns eine Chance geben. Gertie hat sich so auf Sie gefreut. Seit Wochen redet sie von nichts anderem. Und ich bin sicher, wenn Sie sich erst einmal eingelebt haben, werden Sie merken, dass es nicht so schlimm ist. Sagen Sie, dass Sie bleiben. Wenigstens für eine Weile. ”
Zara zögerte. Sie war auf einer Burg, in der man sie nicht wollte und wo wahrscheinlich die Geister toter Mönche spukten. Aber es gab keinen anderen Ort, an den sie gehen könnte.
“Ich bleibe, wenn Sie mir versprechen, dass ich eine Dienstmagd bekomme. Ihr Vater – und mit ihm wahrscheinlich die halbe Welt – mögen davon überzeugt sein, dass Frauen Magie anziehen, aber ich kann Ihnen aufgrund meine Ausbildung versichern, dass das Unsinn ist. Und ich kann mich nicht an einem Ort wohl fühlen, wo man mich, ja mein ganzes Geschlecht, als Gefahr betrachtet. Ich möchte eine Dienstmagd.”
Gabriels Gesicht erstrahlte wie das Licht der Sonne.
“Zwei, drei, hunderte!”
Die Erleichterung schwemmte seine Befürchtungen fort. Auch Zara ließ sich ein wenig davon anstecken. Wenigstens war sie an einem Ort, wo man sie brauchte. Sie stiegen eine knarrende Wendeltreppe hinauf und blieben in einem Gang mit einer langen Türreihe stehen.
“Dieses Zimmer ist Ihres. Das Zimmer nebenan gehört Gertie. Sie ist bereits zu Bett gegangen, aber morgen früh...”
Wie um ihn Lügen zu strafen, öffnete sich die benachbarte Tür und der Kopf eines Mädchens lugte heraus.
“Ich schlafe nicht”, sagte das Mädchen schüchtern. Sie tat als redete sie mit Gabriel, musterte dabei aber ganz auffällig Zara.
“Du solltest aber schlafen”, entgegnete ihr Bruder. Zara wunderte sich über das Mädchen. Sie konnte, der Größe nach zu urteilen, kaum vier Jahre alt sein, aber sprach so klar und deutlich, als wäre sie älter.
“Ich will aber nicht schlafen gehen. In meinem Zimmer sind Monster.”
Sie trat trotzig auf den Gang. Zara konnte sie sich kaum anschauen, da trat Gabriel zwischen die beiden und versuchte sie zurück in ihr Zimmer zu schieben.
“Ich bin das einzige Monster, vor dem du dich fürchten solltest.”
Er versuchte sie zurückzudrängen, aber das Mädchen zwang sich an ihm vorbei, baute sich vor Zara auf und machte einen vortrefflichen Knicks.
“Gertrude Wycliff, freut mich sehr.”
Das Mädchen lachte Zara neckisch an, doch sie hörte weder die Worte, noch vernahm sie das Lächeln. Sie sah nur die kleine Gestalt mit viel zu kurzen Armen und viel zu kurzen Beinen. Das Mädchen war kleinwüchsig!
Gegen besseres Wissen zeichnete die Angst vor dem Fluch der Mönche Entsetzen auf Zaras Gesicht. Gabriel bemerkte die Reaktion.
“Ihr könnt euch morgen vorstellen. Ab ins Bett!”, sagte er schnell und schob seine Schwester zurück in ihr Zimmer. Zara schämte sich für ihre Reaktion, aber das änderte nichts an dem Tatbestand. Das Mädchen war kleinwüchsig.
“Wie ist das passiert?”, fragte sie, als Gabriel wieder vor ihr stand. “War es nicht doch Magie?”
Zara hatte viele Menschen gesehen, die von Magie gezeichnet waren. Frauen, deren gesamter Körper mit Haaren bedeckt war. Männer, deren Füße und Hände zu Stein erstarrten. Und die Überreste jener, die in einen magischen Wirbel geraten waren und nicht wieder hinaus fanden. Kleinwüchsigkeit konnte ebenfalls auf den Einfluss von Magie deuten. Konnte.
“Das müssen wir doch nicht heute besprechen. Ich…”
“Nein, Mr. Wycliff. Das hätte alles bereits in Ihrem Brief stehen müssen. Sagen Sie mir die Wahrheit. Ist ihre Kleinwüchsigkeit der Grund, warum ihr Vater denkt, dass es Magie war?”