Unbehagen
Teil 1
Entstehung und Entwicklung
Frühe Neuzeit
Herauswachsen aus mittelalterlichen Strukturen
Souveränität, Mächtegleichgewicht, Kolonisierung
Seitenblick: Alte Eidgenossenschaft
19. Jahrhundert und Erster Weltkrieg
Stabilisierung durch Völkerrecht
Wachstum und internationale Organisationen
Seitenblick: Schweiz im 19. Jahrhundert
Völkerbundära und Zweiter Weltkrieg
Kollektivierung der Friedensfrage
Konfliktvermeidung und Kriegsächtung
Seitenblick: Schweiz in der Völkerbundära
Ära der Vereinten Nationen
Kalter Krieg und Entkolonisierung
Globalisierung und neue Gewaltformen
Seitenblick: Schweiz in der UNO-Ära
Teil 2
Völkerrecht als Rechtsordnung
Unschärfen beim Rechtsbegriff
Weshalb «Geltungstheorien»?
Unschärfen und Völkerrechtsquellen
Völkerrechtstheorie: Suche nach Halt
Teilnehmer des Völkerrechts
Subjektstatus und Legitimität
Subjektivität einzelner internationaler Akteure
Schweiz als Heimat von Völkerrechtsteilnehmern
Durchsetzung
Zentralisierung und Selbsthilfe
Gegenmassnahmen und Repressalienverbote
Schweiz und Selbsthilfe
Völkerrecht und innerstaatliches Recht
Anspruchsvolle «Verzahnungsfrage»
Schweiz: Flexibler Monismus
Zur Suche nach Antworten
Was bleibt?
Anhang
Was bedeutet es für das Völkerrecht, dass Russland im März 2014 die Krim annektiert hat? Wie ist es mit unseren Vorstellungen einer Rechtsordnung zu vereinbaren, dass die USA nach der Bombardierung Belgrads im Kosovokrieg 1999 zwar an China Schadenersatz für die Beschädigung seiner Botschaft zahlten, nicht aber an andere Länder? Was sagt ein solcher Sachverhalt darüber aus, wie das Völkerrecht «funktioniert»? Was bedeutet es für dieses weiter, dass in Syrien seit 2011 ein Bürgerkrieg in Gang ist, dessen Opferzahl die halbe Million erreicht hat? Wie ist damit zu vereinbaren, dass die UNO sich am Weltgipfel der Staats- und Regierungschefs 2005 zu einem Konzept bekannt hat, das sich «Responsibility to Protect» nennt und den besseren Schutz des Einzelnen zum Zweck hat?
Wenn Völkerrechtlerinnen und Völkerrechtlern solche Fragen gestellt werden, gehen sie selten darauf ein. Manchmal wird auf den Ausnahmecharakter der Situation verwiesen und immer wieder pauschal auf den besonderen Charakter des Völkerrechts. Sehr oft werden im Gegenzug dessen Leistungen aufgezählt: die Fortschritte im Bereich Menschenrechte seit dem Zweiten Weltkrieg auf völkerrechtlicher Ebene; die Mechanismen der Konfliktentschärfung und -prävention, die auf globaler und regionaler Ebene entwickelt wurden, etwa im Rahmen des UNO-Peacekeeping; die Schaffung weltweiter und regionaler Regelwerke der Handelsderegulierung, insbesondere die WTO und die EU, die Freihandel ermöglichen und durch ökonomische Verflechtung indirekt ebenfalls zum Frieden beitragen. All dies ist richtig. Trotzdem befriedigen solche Antworten nicht. Ein Unbehagen bleibt.
Das Prekäre des Völkerrechts wird zwar nicht geleugnet, doch es berührt das Selbstverständnis der Disziplin kaum mehr. Dass Laien manchmal den Eindruck gewinnen, das Völkerrecht sei eine Farce, etwa wenn Russland die Annexion der Krim mit dem Argument der Selbstverteidigung rechtfertigt, ficht die Disziplin nicht an. Lieber spricht man über die Erfolge und das, was einigermassen funktioniert. Dabei ist gerade der Blick von aussen besonders sensibel für das Prekäre. Wir wissen das aus unserem persönlichen Leben: Wer kennt sie etwa nicht, die Paare, die ihre Zweisamkeit zelebrieren, während der Dazugekommene sofort merkt, dass hier etwas brüchig ist?
Dieses Buch will das Unbehagen ernst nehmen. Es will dabei helfen, das Völkerrecht in seinen Besonderheiten besser zu verstehen, und deshalb jenen Fragen Aufmerksamkeit schenken, die oftmals kurz gestreift, aber kaum je vertieft werden, obschon sie für das Verständnis der Materie grundlegend sind. Im ersten Teil spreche ich von der Entstehung und Entwicklung des Völkerrechts. Viele heutige Institutionen sind nur verständlich, wenn man um die Hintergründe ihrer Entstehung weiss. Im zweiten Teil geht es um den «Charakter» des Völkerrechts als Rechtsordnung, der doch zuweilen prekär erscheint, und das Zusammenspiel mit dem innerstaatlichen Recht. Tragend ist die Idee, dass die paradoxen Ungleichzeitigkeiten des Völkerrechts – das Nebeneinander von «archaischen» Mustern und Hochentwickeltem – eine Annäherung aus einer historischen Perspektive verlangen.
Natürlich spiegeln Abhandlungen zum Völkerrecht immer die Weltsicht des Verfassers. Selbstverständlich nicht in dem Sinne, dass alles «bloss Ansichtssache» wäre – da sind harte Fakten, an denen es kein Vorbeikommen gibt: etwa die tiefen Spuren, die der Aufstieg der Menschenrechte im Völkerrecht hinterlassen hat. Dennoch entscheidet jeder Völkerrechtsautor über die Tonalität, in der er über sein Gebiet schreibt, und darüber, wie er Entwicklungen und Ereignisse deutet. Weglassen ist dabei Teil des Deutens. Die Spielräume sind, man muss es deutlich sagen, gross. Jede Völkerrechtlerin und jeder Völkerrechtler hat eine bestimmte Vorstellung davon, wie die Beziehungen zwischen den Gemeinwesen «funktionieren», ob und wie weit echte Kooperation möglich ist und welche Rolle das Recht spielt oder spielen soll.
Wer über das Völkerrecht schreibt, orientiert sich ex- oder implizit an Kernideen zweier Grundmodelle internationaler Weltbilder. Einem sogenannt «realistischen» Grundmodell steht ein «idealistisches» gegenüber, das teilweise auch als «liberales» bezeichnet wird. Ich werde die Begriffe in Anführungszeichen benutzen, da ihre umgangssprachliche Bedeutung zu falschen Vorstellungen verführt – eine «realistische» Theorie etwa kann durchaus weltfremd sein, eine «idealistische» nahe am tatsächlichen Geschehen. In ihrem Kern wurden die beiden Konzeptionen bereits in der Antike vom griechischen Geschichtsschreiber Thukydides (454–396 v. Chr.) formuliert. Der Chronist des Peloponnesischen Kriegs zwischen Sparta und Athen benannte sie in einer berühmten Passage seines «Melierdialogs». «Realisten» sehen in den Beziehungen zwischen Gemeinwesen objektive Machtgesetze am Werk. Gemeinsames Recht hat nur so weit einen Platz, als Interessen übereinstimmen. «Idealisten» dagegen betonen die Möglichkeiten einer Verbesserung der Weltordnung durch Kooperation und gemeinsame Institutionen. Sie setzen auf die Vernunftbegabung des Menschen, Solidarität, Entwicklungsfähigkeit und Fortschritt. Sie weisen dem Recht einen bedeutenderen Platz zu als «Realisten». Bekannte «Realisten» sind etwa die Politikwissenschaftler Hans Morgenthau (1904–1980) und Henry Kissinger (geb. 1923), Aussenminister der USA von 1973 bis 1977. Immanuel Kant (1724–1804), der die Schaffung eines Völkerbundes bereits andachte, gilt als Vertreter des «idealistischen» Grundmodells. Seine Ideen haben etwa die amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson (1856–1924) und Franklin D. Roosevelt (1882–1945) beeinflusst, die bei der Schaffung von Völkerbund und UNO Schlüsselrollen spielten. Es versteht sich, dass sich die meisten Völkerrechtlerinnen und Völkerrechtler an einer der zahlreichen Varianten des «idealistischen» internationalen Weltbilds orientieren. Das Recht spielt in dieser Theorierichtung eine bedeutendere, stabilere Rolle als bei den «Realisten». Es gibt aber auch Völkerrechtsautoren, die sich an «realistischen» Grundideen orientieren. Von ihnen wird ebenfalls zu reden sein.
Dieses Buch ist für interessierte Laien und für Studierende geschrieben. Es enthält viele Beispiele und rekapituliert wichtige Fälle, die man kennen sollte. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auch darauf, was zu einem Thema aus schweizerischer Sicht zu sagen ist. Das Buch will dazu beitragen, die Hintergründe der in der Schweiz heftig geführten Debatte um das Völkerrecht besser auszuleuchten. Es will zu einer Versachlichung dieser Diskussion beitragen, die in beiden Lagern zu sehr in den Kategorien «gut» gegen «böse» geführt wird. Diese Versachlichung kann meiner Meinung nach nur erreicht werden, wenn das Völkerrecht in seinen Besonderheiten und seiner Bedeutung für die Zukunft besser verstanden wird. Der Weg dorthin führt über die Vergangenheit. Die Geschichte des Völkerrechts erzählt uns, weshalb es heute ist, wie es ist. Um der Lesbarkeit willen habe ich auf ausführliches Bibliografieren verzichtet und mich auf ausgewählte Literaturhinweise beschränkt.
Entstehung und Entwicklung Teil 1
Das Völkerrecht – verstanden als Recht zwischen relativ unabhängigen politischen Einheiten – hat viele Anfänge. Im Süden Mesopotamiens etwa gab es Mitte des 3. Jahrtausends vor Christus rechtlich geprägte Beziehungen zwischen verschiedenen Stadtstaaten, die man als früheres Völkerrecht bezeichnen kann. Sumerische Städte kooperierten, um sich gemeinsam gegen das Volk Akkad im Norden Mesopotamiens zu verteidigen, schlossen etwa Schiedsverträge und Nichtangriffspakte.1 Auch im chinesischen Kulturraum gab es weit vor der christlichen Zeitrechnung völkerrechtliche Beziehungen in diesem weit verstandenen Sinn, das heisst als rechtlich bindend empfundene Abmachungen zwischen relativ unabhängigen Reichen.
Wenn man den Begriff des Völkerrechts genügend weit fasst, kennt fast jeder Kulturraum ein frühes Völkerrecht. Der in diesem Buch verwendete Begriff ist enger. Als Völkerrecht wird hier das in der frühen Neuzeit ab dem 15. Jahrhundert in Europa entstandene Recht zwischen, vor allem, modernen Territorialstaaten verstanden, von dem das heutige Völkerrecht direkt abstammt.2 Zwischen dem damals entstandenen und dem heutigen Völkerrecht besteht trotz aller Brüche im Prinzip Kontinuität. Im 16. Jahrhundert – genauer: 1576 – wurde das Konzept der Souveränität erfunden. Es wird in der UNO-Charta, mit allen Relativierungen zwar, im ersten ihrer Grundsätze erwähnt. Sie spricht in Artikel 2 Ziffer 1 vom Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten. Der Staatstheoretiker Jean Bodin erfand das Konzept als Antwort auf die Konfessionskriege seiner Zeit, verheerende Kriege, und es veränderte in der Folge das politische und rechtliche Denken grundlegend. Ein vertieftes Verständnis der Hintergründe, Leistungen und Schwächen des Souveränitätsbegriffs ist für das Verständnis des heutigen Völkerrechts fundamental. Natürlich bedeutet der Begriff heute etwas anderes als damals. Er hat in den Ohren vieler etwas Antiquiertes und Rückständiges, und das nicht ohne Grund. Dennoch verdient Hervorhebung, dass man viele Institutionen des heutigen Völkerrechts nur einordnen, ihre Leistungen und Schwächen erst verstehen kann, wenn man sie vor dem Hintergrund ihrer Verwobenheit mit der frühneuzeitlich-europäischen Politikgeschichte betrachtet.
Wer die Geschichte des heutigen Völkerrechts in Europa beginnen lässt, muss mit Fragen oder gar Vorwürfen rechnen. Wäre es nicht wichtig und richtig, würden die höflichen unter den kritischen Stimmen fragen, die vielen Anfänge in den Blick zu nehmen, eine multikulturelle Perspektive zu wählen, da das heutige Völkerrecht doch ein Recht aller Kulturen und Erdteile ist?3 Ist die hier gewählte Perspektive nicht – einmal mehr – Ausdruck der Selbstbezogen- und Borniertheit europäischer Autoren, die die anderen Erdteile mit Ausnahme des nordamerikanischen als Mitläufer betrachten? Die in solchen Fragen formulierte Kritik wäre gerechtfertigt, wenn ich behaupten würde, es habe nur in Europa so etwas wie ein frühes Völkerrecht gegeben und die anderen Anfänge seien völkerrechtshistorisch unbedeutend oder uninteressant. Das liegt mir fern. Ich beginne in der europäischen frühen Neuzeit, weil sowohl die Leistungsfähigkeit als auch die Defizite vieler Institutionen des heutigen Völkerrechts erst hervortreten, wenn man die ihnen zugrunde liegenden politischen Ideen und ihre Hintergründe kennt.4 Der Grundsatz gegenseitiger Nichteinmischung der Staaten in innere Angelegenheiten, der in Artikel 2 Ziffer 7 der UNO-Charta aufgeführt ist und als «Interventionsverbot» bezeichnet wird, steht genealogisch in direktem Zusammenhang mit den konfessionellen Bürgerkriegen des 16. und 17. Jahrhunderts. Ein wesentlicher Treiber dieser Bürgerkriege waren Interventionen zugunsten der eigenen Konfessionsangehörigen. Man stand ihnen bei, etwa wenn sie Minderheiten in anderen Staaten waren. Das aus der Souveränitätsidee abgeleitete Interventionsverbot trug unter solchen Vorzeichen zum Frieden bei, weil es Einmischungen Grenzen setzte. Es wird heute oft kritisiert, durchaus mit vielen guten Gründen. Dies geschieht vor allem, weil es etwa von Diktatoren und Autokraten zur Abwehr von Kritik an Menschenrechtsverletzungen verwendet wird. Das Wissen um die Herkunft des Prinzips lässt uns aber wichtige Fragen stellen, etwa die sehr heikle, wann Einmischungen im Ergebnis mehr Schaden anrichten als helfen. Wie weit sind Erfahrungen, die zur Entstehung des Interventionsverbots geführt haben, für die Gegenwart von Belang? Ist in dem Prinzip mehr historische Erfahrung eingelagert, als sein heute schlechter Klang vermuten lässt? Eine rein menschenrechtlich-zeitgenössische Optik, die zwar wichtig, aber nicht die einzige ist, nähert sich diesem schwierigen Fragenkomplex zu eindimensional an.
Viele Darstellungen des Völkerrechts lassen seine Geschichte 1648 mit den Westfälischen Friedensverträgen von Münster und Osnabrück beginnen. Diese beendeten den Dreissigjährigen Krieg, einen militärischen Flächenbrand, der wegen seiner Dimensionen in der damaligen Zeit manchmal mit den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts verglichen wird. 1648 hatte sich eine Reihe moderner Territorialstaaten ausgebildet und etabliert, sodass man etwas grosszügig von einem «modernen Staatensystem» sprechen konnte, das oft als Westfälisches Staatensystem bezeichnet wird.5 Die bereits entstandenen Staaten hatten begonnen, sich als souverän zu charakterisieren. Viele Gemeinwesen waren allerdings erst auf dem Weg zu Souveränität oder scheiterten unterwegs. Man wollte als souverän anerkannt sein. Die Etikette galt als Ausdruck dafür, dass man sich in der sich neu formierenden internationalen Ordnung etabliert hatte.
Das militärische Patt nach den Konfessionskriegen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts hatte zur Folge, dass man ein konfessionell neutrales Recht für rechtliche Beziehungen zwischen europäischen Herrschaftsträgern brauchte. Die christliche Ordnung – es gab nun in der Westchristenheit zwei: die katholische und die protestantische – konnte nicht mehr die Klammer bilden. So entstand, vereinfacht gesagt, das moderne säkulare Völkerrecht. In den Friedensverträgen von Münster und Osnabrück schrieb man das Prinzip der religiösen Toleranz zwischen den Konfessionen fest. Das war ein wichtiger und kaum zu überschätzender Schritt in Richtung säkulare zwischenstaatliche Rechtsordnung. Die Vorstellung allerdings, dass das Völkerrecht am Ende des Dreissigjährigen Kriegs «geboren» wurde, ist verzerrend oder gar irreführend. Es gab keinen scharfen Bruch mit dem Dagewesenen, obschon dies im völkerrechtlichen Schrifttum manchmal so dargestellt wird. Passender ist das Bild des Herauswachsens des säkularen Völkerrechts aus langsam immer schwächer werdenden spätmittelalterlichen Strukturen des christlichen Universalreichs.6
Das Herauswachsen erfolgte in manchmal kleineren und manchmal grösseren Schritten und wurde durch den Dreissigjährigen Krieg zweifellos beschleunigt. Auch nach 1648 waren aber nur ein Teil der internationalen Akteure moderne Staaten, ein anderer leitete seinen Status weiterhin aus dem Lehenssystem ab. Der Friedensvertrag von Osnabrück nennt als Parteien verschiedene Könige und Königinnen, «Häuser» wie etwa Österreich, Kurfürsten und Fürsten, Reichsstände unter Einschluss der Reichsritterschaft und schliesslich Territorialstaaten wie die Hansestädte, die Niederlande sowie die «Kantone der Schweiz». Es war ein vielfältiges Neben- und teilweise auch Übereinander von Herrschaftsträgern. Auch im späten 17. und selbst im 18. Jahrhundert überlagerten sich neue säkular-völkerrechtliche und alte reichs-, thronfolge- und lehensrechtliche Strukturen. Das Alte wich dem Neuen, aber nur langsam, und das Herauswachsen des Völkerrechts aus den mittelalterlichen Strukturen dauerte mehrere Jahrhunderte. Im Grunde begann der Prozess spätestens im 15. Jahrhundert und endete erst mit dem Untergang des Heiligen Reiches Deutscher Nation im Jahr 1806. In diesem Jahr wurde die Kaiserkrone des christlichen Universalreichs endgültig niedergelegt.7
Das Völkerrechtsverständnis veränderte sich im Lauf dieser mehr als drei Jahrhunderte grundlegend. Die Veränderungen lassen sich als Verschiebung von einem Denken in Kategorien eines «Binnenrechts des christlichen Universalreichs» zu einem Denken in Kategorien eines säkularen Völkerrechts der westchristlichen Staatenwelt beschreiben. Es war eine Entwicklung von einem theologischen zu einem säkularen Rechtsdenken. Im christlichen Universalreich war die Frage nach den Regeln für den Verkehr zwischen Herrschaftsträgern eine theologische Frage. Das Recht stellte man sich als Ordnung für die ganze Welt vor, als Einheit, die in der Krönung des Kaisers durch den Papst mit Primat des Papstes symbolischen Ausdruck fand. Zu diesem Denken gehörte auch eine Grundunterscheidung zwischen Christen und der nichtchristlichen Menschheit. Päpstliche Edikte schufen auf der Grundlage dieser Unterscheidung in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein erstes spätmittelalterliches Kolonialvölkerrecht, das spätere Entwicklungen in diesem Bereich stark vorzeichnete. Folgenreich war unter diesen Edikten insbesondere die Bulle «Inter Caetera» von 1493, die die überseeisch-nichtchristliche Welt in eine westlich-spanische und eine östlich-portugiesische Hemisphäre unterteilte. Sie sprach indigenen Völkern implizit die Fähigkeit zu eigener Rechtsträgerschaft und Eigentumsrechten im Besonderen ab.
Zentral für die Säkularisierung im Allgemeinen und auch des Rechtsdenkens war die dauerhafte Schwächung des Papsttums, die bereits im frühen 14. Jahrhundert begann. Parallel zum Abstieg des Papsttums vollzog sich die Herausbildung der Territorialstaaten, die das Feudalsystem in kleinen Schritten verdrängten.8 Aus ursprünglich an die Person gebundenen Lehen wurden in einem langen Prozess zusammenhängende Herrschaftsterritorien, Vorformen moderner Territorialstaatlichkeit. Der Abstieg des Papsttums, der Aufstieg territorial organisierter Herrschaft sowie die Glaubensspaltung bewirkten einen Verweltlichungsschub des Politikverständnisses. Das Denken in den Kategorien «gut» und «böse» erhielt Konkurrenz in Form eines Denkens in Interessengegensätzen. Weiter verstärkt wurde diese Verschiebung durch den Aufstieg der Wissenschaft, insbesondere der Naturwissenschaften und der Empirie als induktiver Methode. Die Formulierung des Souveränitätskonzepts durch Jean Bodin im späten 16. Jahrhundert markierte einen Höhepunkt dieser Neuformulierung politischer und rechtlicher Kategorien. Das Souveränitätskonzept sollte sich – nicht auf einen Schlag, sondern ebenfalls schrittweise – zu einem Angelpunkt des neuen politischen Denkens und des Völkerrechts entwickeln.
Die Säkularisierung von Politik und Völkerrecht, das hier in erster Linie interessiert, erfolgte in Teilschritten. Oft wird übersehen, dass das Denken in theologischen Kategorien oder zumindest die Arbeit mit theologischen Hintergrundannahmen auch nach 1648 noch der Normalfall war. Im vollen Wortsinn säkularisiertes Denken gab es bei für das Völkerrecht relevanten Autoren des 17. Jahrhunderts im Grunde nur bei Thomas Hobbes (1588–1679) und Baruch Spinoza (1632–1677). Bei beiden führte es zu einem skeptischen Blick auf das Völkerrecht. Hobbes etwa betrachtete die Durchsetzung der Norm, die Sanktioniertheit in der Realität, als entscheidendes Kriterium für Recht, weshalb er dem Völkerrecht die Rechtsqualität absprach. Das Denken der meisten Völkerrechtsautoren des 17. Jahrhunderts, von denen gleich näher die Rede sein wird, war nur teilweise säkular. Unmittelbare Bezugnahmen auf theologische Fragen und direkte Ableitungen rechtlicher Regeln von Gott spielten zwar eine weit geringere Rolle als noch im 16. Jahrhundert. Fast alle arbeiteten aber weiterhin mit der Annahme, die Welt und das Recht seien göttliche Schöpfungen.9
Es können zwei Hauptvarianten dieser (teil-)säkularisierten Völkerrechtslehre unterschieden werden. Einige Autoren, die zu den Klassikern der frühen Völkerrechtswissenschaft gehören, sollen mit ihrem Hauptwerk kurz erwähnt werden. Verschiedene Autoren des 17. Jahrhunderts wandten sich zunächst den Usanzen des internationalen Verkehrs zu. Sie interessierten sich für die Praxis, wie man die sich konkret stellenden Probleme real löste, welche Normen man als verbindlich empfand. Diese Strömung wird in der Regel als früher völkerrechtlicher Positivismus bezeichnet. Er ist vom sozialwissenschaftlichen und rechtswissenschaftlichen Positivismus des 19. Jahrhunderts zu unterscheiden, wobei der gemeinsame Nenner dieser Positivismen der Akzent auf dem eindeutig Vorfindlichen ist. Erwähnung verdient unter den Autoren dieses frühen völkerrechtlichen Positivismus etwa Richard Zouche (1590–1661), Professor in Oxford, dessen Hauptwerk den Titel «Iuris et iudicii fecialis, sive, iuris inter gentes» trägt und 1650 erschien. Ein anderer bedeutender Positivist war der Niederländer Cornelis van Bynkershoek (1673–1743), der mit dem 1702 veröffentlichten Werk «De dominio maris dissertatio» ein wichtiges Buch zur Praxis des Seerechts verfasste.
Ein anderer Teil der Autoren setzte, vereinfacht gesagt, die Vernunft an die Stelle Gottes.10 Die Vernunft wurde für sie zur Quelle des Völkerrechts. Rezeptionsgeschichtlich die grössten Wirkungen gingen von Hugo Grotius (1583–1645) aus, dessen Hauptwerk «De iure belli ac pacis» ist. Es ist 1625, mitten im Dreissigjährigen Krieg, erschienen und hat Völkerrecht und Völkerrechtswissenschaft über Jahrhunderte stark beeinflusst. Grotius wird manchmal, überzeichnend, als «Begründer» des säkularen Völkerrechts bezeichnet. Er befasste sich nicht nur mit grundsätzlichen Fragen, sondern auch intensiv mit Detailregeln und spurte manche Entwicklung vor. Auch er hatte aber bedeutende Vorgänger, vor allem spanische Autoren, die allerdings noch stärker im mittelalterlich-theologischen Denken verhaftet waren. Sie hatten in der Folge der Entdeckung Amerikas Fragen aufgeworfen und behandelt, die im Kern völkerrechtlicher Natur waren. Zu erwähnen ist etwa die während der nächsten Jahrhunderte wichtige Frage nach dem – in heutiger Terminologie – völkerrechtlichen Status indigener Völker. Letzter Geltungsgrund des Rechts ist aber auch bei Grotius noch Gott. Er ging allerdings in Anlehnung an den Philosophen Gregor von Rimini davon aus, dass das Naturrecht auch ohne Gott gelten würde. Säkularität ist hier zumindest angedacht.
Ein anderer bedeutender, vernunftrechtlicher Völkerrechtsautor war Christian Wolff (1679–1754). Wolff, Philosophieprofessor in Halle, veröffentlichte 1749 sein Hauptwerk «Ius gentium methodo scientifica pertractatum». Er ging davon aus, dass die vernünftige Natur die Staaten dazu verpflichtet, sich in einer universellen «civitas maxima» zu verbinden und zusammenzuarbeiten. Wolff betont die Entwicklungsfähigkeit von Menschen und Staaten und gilt als Vertreter der «idealistischen» Denkrichtung. Weiter verdient unter den Naturrechtsautoren Emer de Vattel (1714–1767) Erwähnung. Sein Hauptwerk «Droit des gens, ou principes de la loi naturelle» erschien 1758. Vattel war der Erste, der das Völkerrecht konsequent als aus der Naturvernunft folgendes Recht zwischen Staaten und nicht bloss zwischen Herrschaftsträgern beschrieb. Damit «verschwand» der einzelne Mensch gewissermassen im Staat. Vattels Denken ist wesentlich, aber nicht nur von Ideen eines «realistischen» internationalen Weltbilds geprägt. Es hatte grossen Einfluss und war etwa den «Founding Fathers» der Vereinigten Staaten gut bekannt.
Viele bedeutende völkerrechtliche Institutionen sind aus der Praxis herausgewachsen. Der «Fall Bernardino de Mendoza» etwa aus dem späten 16. Jahrhundert ist anschaulich für die Entstehungsweise von Völkerrecht «von unten».11 Er war für die Herausbildung der diplomatierechtlichen Institutionen der Erklärung einer Person zur persona non grata und der Immunität von Diplomaten von grosser Bedeutung. Politisch ging es in dem Fall um die Frage, wie eine Krise zwischen Spanien und England, die sich zum Krieg hätte auswachsen können, mit möglichst wenig Gesichtsverlust auf beiden Seiten deeskaliert werden konnte.
Bernardino de Mendoza war von 1578 bis 1584 Botschafter Spaniens in England. Er pflegte als Katholik enge Kontakte zu Jesuiten und unterstützte im englischen Machtkampf die Anhänger der katholischen Königin von Schottland, Mary Stuart, gegen die protestantische Königin Elizabeth I. Tudor. Als sich herausstellte, dass Mendoza gar in ein Komplott gegen Elizabeth verwickelt war – sie sollte durch Mary Stuart ersetzt werden –, stellte sich für England die Frage, wie es mit Mendoza verfahren sollte. Man befürchtete im schlimmsten Fall einen Krieg mit Spanien und bat deshalb Alberico Gentili, Professor für Zivilrecht in Oxford, um seine Meinung. Auf dessen Anraten hin wurde Mendoza von der Königin aufgefordert, das Land binnen 15 Tagen zu verlassen. Zugleich schickte England einen Gesandten nach Spanien, der mitteilte, dass der Konflikt Englands mit Mendoza nicht Spanien als Land betreffe, sondern nur Mendoza als Person. England sei bereit, einen anderen Botschafter Spaniens zu akzeptieren. Gentili vertrat zudem die Ansicht, der Botschafter könne Immunität beanspruchen, also gerichtlich nicht belangt werden. Wir sehen an diesem Fall auch den Einfluss, den Wissenschaftler als Gutachter und Ratgeber auf die Entstehung und Entwicklung des frühen Völkerrechts hatten.
Wer waren die Teilnehmer dieses frühen Völkerrechts? Das ist keine einfach zu beantwortende Frage. Die Rede vom neuzeitlichen Staatensystem, das man sich als Gesellschaft von Staaten mit eigener (Rechts-)Persönlichkeit vorstellt, vereinfacht übermässig. Im 16. Jahrhundert war das Völkerrecht noch stark von der mittelalterlich-feudalistischen Vorstellung geprägt, Beziehungen zwischen Herrschaftsträgern seien persönlicher Natur. Es handle sich um Beziehungen zwischen zwei Menschen, nicht zwischen Staaten. Das Lehenssystem war eine Ordnung zwischen Individuen und nicht zwischen als verselbstständigt gedachten politischen Einheiten gewesen. Es fusste auf persönlichen Treuebeziehungen.12 In Frankreich, Spanien und England existierten zwar Frühformen des Territorialstaats, was aber nicht bedeutete, dass international bereits «der Staat» als Träger von Rechten und Pflichten auftrat. Die Dauer der rechtlichen Beziehungen zwischen den Herrschaftsträgern begrenzte sich im Regelfall auf die Lebenszeit der beteiligten Monarchen, was einiges über das Grundverständnis dieser Beziehungen aussagt.
Der Abstraktionsprozess zum Völkerrecht als Recht eines «Staatensystems» mit den Staaten als einzigen Teilnehmern vollzog sich in mehreren Schritten. Der erste bestand darin, dass in Verträgen statt des blossen Namens des Herrschers oder der Herrscherin der Titel erwähnt wurde. Die Funktion des Herrschers rückte in den Vorder-, seine Person in den Hintergrund. Das war etwa bei einigen Verträgen des aus mehreren Teilvereinbarungen bestehenden Friedens von Utrecht von 1713 der Fall, der den Spanischen Erbfolgekrieg beendete. Der zweite Schritt war, dass man sich den Staat – wesentlich beeinflusst durch die Schriften von Thomas Hobbes – als Wesen mit spezifischen Eigenschaften vorzustellen begann. Hobbes hatte ihm Eigenschaften eines alttestamentarischen Ungeheuers zugeschrieben, des Leviathan, was die Vorstellung vom Staat als einer Einheit förderte.13
Ein letzter Schritt schliesslich war das formale Aufrücken des Gemeinwesens in die Teilnehmer- und Subjektstellung. Frühe Fälle der Erwähnung von Staaten in Verträgen betrafen stets Republiken. Hier gab es keinen Monarchen, der persönlich verpflichtet sein konnte, die Existenz von Republiken förderte vielmehr die Vorstellung vom Staat statt dem Monarchen als Souverän und Teilnehmer des Völkerrechts.14 Der Friede von Osnabrück nach dem Dreissigjährigen Krieg nannte als Staaten nur die Niederlande und die «Kantone der Schweiz». Die Frage, ob der Staat oder der Monarch Teilnehmer des völkerrechtlichen Verkehrs sei, blieb aber auch nach 1648 in der Schwebe. Noch im 18. Jahrhundert war die Situation nicht eindeutig. Zwar stellte die naturrechtliche Völkerrechtslehre das Völkerrecht mittlerweile als Recht zwischen souveränen, unabhängigen, einander rechtlich gleichgestellten Staaten dar, klassisch im erwähnten Hauptwerk von Emer de Vattel. In der Praxis aber wurden Verträge oft noch von Monarchen als Herrschaftsträgern abgeschlossen. Teilnehmer des Vertrages zwischen Grossbritannien und Frankreich im Rahmen des Friedens von Utrecht etwa waren Prinzessin Anne und Louis XIV. Erst mit der Französischen Revolution und dem Ende des Reiches 1806 sollte sich das neue Denken endgültig durchsetzen.
Das Souveränitätskonzept, Angelpunkt des neuen politischen Denkens und auch bald des Völkerrechts, verdient nähere Betrachtung. Frühere politische Gemeinwesen kannten es nicht. Der Verkehr zwischen ihnen kam ohne es aus, was zur Frage führt, weshalb genau es entstand, auf welches politische Problem es eine Antwort war. Jean Bodin suchte 1576 in «Les six livres de la République» eine Lösung für das Problem verheerender Bürgerkriege in den durch die Reformation gespaltenen Ländern. Adelsheere bekämpften sich, oft unerbittlich, weil es um nichts weniger als die religiöse Wahrheit ging. Bodin suchte deshalb nach einer Instanz, die der Gewalt wirksam ein Ende setzen konnte.15 Die Lösung war ein König, der über den Parteien stand, eine Instanz, die im Innern ein Gewaltmonopol besass. Ausserdem musste sie nach aussen unabhängig handeln können, was zur Zeit Bodins allerdings bloss ein sekundärer Aspekt der Souveränität war. Das Gewaltmonopol im Innern war das Entscheidende. Mit Blick auf das Völkerrecht verdient dies durchaus Hervorhebung, da das Souveränitätskonzept in seinen Anfängen nicht primär ein Konzept für die Aussenbeziehungen war. Jedenfalls sind dies die zwei Seiten der Souveränität, die wir heute noch prüfen, wenn wir bei einem «Staatsaspiranten» die Staatsqualität prüfen. Es braucht neben Volk und Territorium eine Staatsgewalt, das heisst ein Gewaltmonopol im Innern, und Unabhängigkeit nach aussen. Nordzypern etwa, das 1974 von der Türkei errichtet wurde, mag im Innern eine konsolidierte Staatsgewalt besitzen, es kann jedoch nach aussen nicht unabhängig handeln. Es ist kein völkerrechtlich anerkannter Staat.
Das Konzept der Souveränität wurde nach der Formulierung durch Bodin rasch populär, da es die Stellung der Herrscher und den absolutistischen Staat stärkte. Es war wichtig für die Schaffung des modernen Staats als hochleistungsfähiger Organisationsform politischer Herrschaft, und es trug dazu bei, den Staat unabhängig von der Existenz des konkreten Monarchen als Einheit zu denken. Ob Staatsbildungsprozesse glückten, Gewaltmonopol und Souveränität erlangt wurden, entschied sich wesentlich daran, ob ein Herrscher die mit der Einlösung dieser Ambition verbundenen finanziellen Lasten – für Gesandtennetz, Kriegführung mit Söldnerheeren, Hof und Schuldendienst – zu tragen vermochte.16 Das moderne Völkerrecht ruht auf diesem Denken in Kategorien souveräner Staaten. Es schuf die Grundarchitektur der neuen Ordnung: Keine Macht, kein souveräner Staat sollte über den anderen Staaten stehen. Dass es bis heute etwa keine für alle Staaten obligatorische internationale Gerichtsbarkeit gibt, steht in direktem Zusammenhang mit der damaligen Entwicklung. Staaten sind internationalen Gerichten nur dann unterworfen, wenn sie sie vorher akzeptiert haben.
Das irritierendste Merkmal des Völkerrechts nach 1648 ist zweifellos das «ius ad bellum» – das Recht zum Krieg der Staaten. Wie war es möglich, fragt man sich aus heutiger Sicht, dass eine Rechtsordnung eigenmächtige Gewaltanwendung für legal erklärte? Heute kennt die UNO-Charta in Artikel 2 Ziffer 4 ein Verbot der Gewaltanwendung. Selbst die Gewaltandrohung ist verboten, also das, was man früher als «gunboat diplomacy» bezeichnete. Man liess Kriegsschiffe auflaufen oder Armeen aufmarschieren und verlangte den Abschluss eines Vertrags. Wie aber konnte es sein, dass das Völkerrecht vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg ein Recht zum Krieg kannte, das zur Idee eines zivilisierten Verkehrs zwischen Staaten doch offensichtlich quer steht? Man muss sehr genau hinsehen, um darin einen Sinn zu erkennen. So paradox es klingt: Unter den Umständen der damaligen Zeit konnte eine Entrechtlichung und Entmoralisierung der Gewaltanwendung zur Beruhigung der Situation beitragen. Um dies zu verstehen, muss man beim mittelalterlichen Rechtsdenken beginnen. Im christlichen Universalreich und noch im 16. Jahrhundert verletzte willkürliche Gewalt gegen christliche Gemeinwesen die göttliche Ordnung. Eigenmächtige Gewaltanwendung war verboten. Es gab eine Lehre vom gerechten und rechtmässigen Krieg, die «bellum iustum»-Doktrin, die genau festlegte, unter welchen Voraussetzungen Gewalt ausnahmsweise zulässig ist.17 Vor allem brauchte es eine «iusta causa», einen Rechtfertigungstitel. Infrage kamen im Wesentlichen Selbstverteidigung und Wiederherstellung des Friedens, nicht etwa aber Eroberung. In Europa setzte diese Doktrin Expansionsgelüsten und Gewaltanwendung bis ins frühe 16. Jahrhundert einigermassen erfolgreich Grenzen. Zumindest hemmte sie die Gewalt.
Mit der Konfessionsspaltung veränderte sich die Grundkonstellation. Jede Konfession wähnte die religiöse Wahrheit auf ihrer Seite, die Bekämpfung der jeweils anderen war nun Kampf gegen Irrlehren verbreitende Häretiker. Die «bellum iustum»-Doktrin büsste unter solchen Vorzeichen ihre hemmende Rolle ein. Binnenchristliche Religions- und Bürgerkriege prägten in der Folge das 16. und 17. Jahrhundert bis 1648, und der Dreissigjährige Krieg, der wesentlich durch komplizierte Bündnisse und die Vorstellung der Unverhandelbarkeit religiöser Wahrheit verursacht wurde, war ein katastrophaler Gewaltexzess. Die «bellum iustum»-Doktrin war selbst zum Problem geworden. Jede Seite leitete aus ihr die Legitimation eigener Gewaltanwendung ab, weshalb Völkerrechtsgelehrte schon im 16. Jahrhundert versuchten, die «bellum iustum»-Doktrin zu lockern. Die Kompliziertheit der rechtlichen Verhältnisse war Teil des Gewaltproblems geworden. Der bedeutendste spanische Völkerrechtsgelehrte des 16. Jahrhunderts, Francisco de Vitoria (1483–1546), hatte die Frage aufgeworfen und teilweise auch bejaht, ob ein Krieg beiderseitig rechtmässig geführt werden könne. Jedenfalls gewann die Vorstellung immer mehr an Boden, dass der Krieg einem ritualisierten mittelalterlichen Duell ähnlich und bei Einhaltung bestimmter Formalien rechtlich beidseitig zulässig sei.
Der Dreissigjährige Krieg mit seinem Patt zwischen den Konfessionen verstärkte das Bedürfnis nach Vereinfachung der rechtlichen Verhältnisse. An seinem Ende ging man davon aus, dass alle selbstständigen Herrschaftsträger über das «ius belli ac pacis» verfügen, das Recht zur Kriegserklärung, zum Bündnis und Friedensschluss.18 Der Krieg wurde der Idee nach zu einer Angelegenheit lediglich zwischen den betroffenen Parteien. Carl von Clausewitz’ berühmte, allerdings erst später geprägte Formulierung vom Krieg als der «Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln» überzeichnete zwar, besass aber fraglos einen wahren Kern. Der Krieg wurde damit begrenzt und eingehegt. Gewalt unter anderen ging einen nicht mehr automatisch etwas an. Das wirkte neuen Flächenbränden entgegen. Im 18. Jahrhundert setzte sich schliesslich die Vorstellung durch, dass das Recht zur Kriegführung Ausfluss der Souveränität sei. Auch wenn es auf den ersten Blick schwer verständlich klingt: Die Entstehung des «ius ad bellum» war Folge des Bedürfnisses nach Eindämmung der Gewalt. Die Bedingungen seiner Entstehung allerdings sollten sich später überleben.
Wenn das Recht selbst nicht für Frieden sorgt, was dann? Man setzte auf das Gleichgewicht der Mächte. Das Denken in den Kategorien eines Machtgleichgewichts drang ab dem späten 15. Jahrhundert vom Städtesystem Oberitaliens immer mehr in die Beziehungen der europäischen Mächte ein. Grundidee war, dass kein Staat stärker werden durfte als die anderen Staaten zusammen.19 Dem Prinzip lag die Idee einer Koalitionsdrohung der übrigen zugrunde, des Zusammenschlusses gegen den Mächtigsten. Die Gleichgewichtsidee bedeutete eine fundamentale Abkehr vom Universalreichsdenken. Die Existenz eines Gleichgewichts war zudem ein wichtiger Grund, das Völkerrecht zu beachten. Es wirkte imperialen Ambitionen innerhalb Europas entgegen. Das Gleichgewichtsdenken stützte damit die Geltung des Völkerrechts. Die Bedeutung des Prinzips war zeitweise so gross, dass es selbst konfessionelle Loyalitäten zurückzudrängen vermochte. Frankreich etwa kämpfte im Dreissigjährigen Krieg nicht aufseiten der Katholischen Liga, sondern der Protestantischen Union; ein katholischer Triumph hätte 20