Buch
Als sich die Blicke von Jordie Bennett und Shaw Kinnard das erste Mal treffen, sprühen die Funken! Shaws düstere Ausstrahlung lässt Jordie nicht kalt, doch sie weiß auch, dass er geschickt wurde, um sie zu töten. Jordie ist sich sicher, dass ihre Zeit abgelaufen ist – doch Shaw hat andere Pläne. In der Hoffnung, durch sie an die dreißig Millionen Dollar zu gelangen, die ihr Bruder gestohlen hat, entführt er sie. Doch Shaw ist nicht der Einzige, der hinter dem Geld her ist, und schon bald müssen Jordie und Shaw auf der Flucht vor dem FBI und einem gefährlichen Verbrecher lernen, sich aufeinander zu verlassen, um so der tödlichen Gefahr zu entgehen, in der sie beide schweben …
Autorin
Sandra Brown arbeitete mit großem Erfolg als Schauspielerin und TV-Journalistin, bevor sie mit ihrem Roman »Trügerischer Spiegel« auf Anhieb einen großen Erfolg landete. Inzwischen ist sie eine der erfolgreichsten internationalen Autorinnen, die mit jedem ihrer Bücher die Spitzenplätze der New York Times-Bestsellerliste erreicht! Ihren großen Durchbruch als Thrillerautorin feierte Sandra Brown mit dem Roman »Die Zeugin«, der auch in Deutschland auf die Bestsellerlisten kletterte – ein Erfolg, den sie mit jedem neuen Roman noch einmal übertreffen konnte. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.
Weitere Informationen finden Sie auf: www.sandra-brown.de.
Von Sandra Brown bereits erschienen (Auswahl):
Envy – Neid ∙ Crush – Gier ∙ Rage – Zorn ∙ Weißglut ∙ Eisnacht ∙ Warnschuss ∙ Ewige Treue ∙ Süßer Tod ∙ Sündige Gier ∙ Blinder Stolz · Böses Herz ∙ Eisige Glut ∙ Sanfte Rache ∙ Tödliche Sehnsucht
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Sandra Brown
Stachel im Herzen
Thriller
Deutsch von Christoph Göhler
Die Originalausgabe erschien 2016
unter dem Titel »Sting« bei Grand Central Publishing, a division of Hachette Books Group, Inc., New York.
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1. Auflage
Copyright der Originalausgabe © 2016
by Sandra Brown Management, Ltd.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019
by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: René Stein
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotiv: Photo by Martin Cohen Wild about Australia/Lonely Planet Images/Getty Images
LH ∙ Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-22968-9
V002
www.blanvalet.de
Prolog
Exakt zweiundzwanzig Minuten bevor Mickey Bolden vor seinen Schöpfer trat, warf er sich eine Handvoll Popcorn in den Mund und brummte: »Kommt ’ne Frau in die Bar.«
Shaw Kinnard saß auf dem Barhocker neben Mickey, starrte allem Anschein nach tief gelangweilt in seinen Drink und ließ müßig das kleine Tequila-Glas kreiseln. »Und weiter?«
»Nichts weiter.«
»Das ist der ganze Witz?«
»Kein Witz, und absolut gar nichts daran ist lustig.«
Shaws Langeweile war wie weggeblasen, als hätte man ihn mit einem Gummiband angeflitscht. Sein Kopf flog herum, und er sah Mickey an.
Die Augen des Mannes waren winzige Rosinen, die unter dicken Fettpolstern verborgen lagen, doch Shaw konnte beobachten, wie sie langsam von einem Ende der Bierkneipe zum anderen wanderten. Er war versucht, sich umzudrehen, blickte aber eisern in das aufgedunsene Gesicht seines Partners. Er kannte die Antwort auf seine nächste Frage bereits: »Eine Frau im Speziellen?«
»Im Speziellen unsere Frau.«
»Sie ist hier?«
»So leibhaftig und lebendig wie ich.« Mickey stäubte Popcorn-Salz von seinen Händen. »Gerade setzt sie sich auf einen Barhocker, auf ein Uhr über deiner rechten Schulter, da, wo die Bar einen Knick macht. Also dreh dich nicht um, sie schaut nämlich genau in unsere Richtung.«
Mickeys grinste arglos, als unterhielten sie sich ganz entspannt, doch tatsächlich hatte Jordie Bennetts unerwartetes Auftauchen sie aus ihrer Lethargie gerissen.
»Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt«, brummelte Shaw. »Ist sie allein?«
»Jedenfalls ist sie allein gekommen.« Mickey zwinkerte Shaw mit einem verquollenen Auge zu. »Aber die Nacht ist noch jung.« Das anzügliche Schmunzeln machte ihn noch hässlicher, soweit das überhaupt möglich war.
Shaw senkte den Blick auf sein Glas Patron Silver. »Glaubst du, wir sind aufgeflogen?«
»Quatsch. Wie hätte das passieren sollen?«
»Was tut sie dann hier?«
Mickey zuckte mit den Achseln. »Vielleicht ist die Lady einfach durstig.«
»Und sie wird genau an dem Tag durstig, an dem wir hier aufschlagen?«
»Sind schon merkwürdigere Sachen passiert.«
»Merkwürdige Sachen machen mich nervös.«
»Weil du nicht meine Erfahrung hast«, sagte Mickey.
Shaw musterte den Mann mit unverhohlener Verachtung und kam zu dem Schluss, dass Erfahrung in diesem Fall mit dummer und gefährlicher Arroganz gleichzusetzen war. »Ich bin auch nicht gerade ein blutiger Anfänger.«
»Dann solltest du wissen, dass du cool bleiben musst, wenn du mal ins Schlingern kommst.«
»Ins Schlingern? Wir schlittern gerade mit Karacho von der Straße.«
»Vielleicht. Aber bis wir mehr wissen, werde ich das hier als merkwürdigen Zufall behandeln und keine voreiligen Schlüsse ziehen, die wahrscheinlich sowieso falsch sind. So was kommt vor. Selbst der beste Plan kann den Bach runtergehen. Und dann bringt es nichts, gegen den Strom anzuschwimmen, dann musst du dich treiben lassen und improvisieren.«
»Ach ja? Und wenn der Bach in einer Kläranlage endet?«
»Entspann dich, Bro«, erklärte Mickey ihm gedehnt. »Alles okay. Sie schaut sich ganz entspannt den Laden an, nicht so, als würde sie nach jemandem Ausschau halten. Ihre babyblauen Augen sind direkt über mich weggeflogen, ohne dass sie auch nur mit der Wimper gezuckt hätte.«
Shaw schnaubte und setzte das Glas an die Lippen. »Weil du ein hässliches Schwein bist.«
»Hey, es gibt reichlich Ladys, die auf mich stehen.«
»Wenn du meinst.« Shaw kippte seinen Tequila hinunter. Als er das leere Glas auf die Theke stellte, sah er flüchtig zu dem Objekt ihres Interesses hin. Jordie Bennett dankte in diesem Moment dem Barkeeper für das Glas Weißwein, das er vor ihr abstellte.
Tatsächlich waren er und Mickey ihretwegen hier. Hier am Arsch der Welt im tiefsten Süden von Louisiana. Aber nicht hier in dieser Kaschemme aus verrostetem Wellblech, die windschief über den schlammigen Ufern eines trägen Bayou thronte. Falls die Kneipe einen Namen trug, kannte Shaw ihn nicht. Die drei Neonbuchstaben, die knisternd und zischend draußen über der Tür angebracht waren, ergaben zusammen nur das Wort BAR.
Hier drinnen war es verqualmt, was die Ausdünstungen der rauen, bodenständigen Kundschaft aber nicht übertünchen konnte. Zydeco dröhnte aus der Jukebox, die aussah, als hätte sie gute zwanzig Hurrikanes überstanden, von denen jeder einzelne als Generalprobe für Katrina gedient hatte.
Er und Mickey fügten sich halbwegs in das schäbige Ambiente, doch Jordan Elaine Bennett, Freunden und Familie als Jordie bekannt, hätte man an so einem Ort keinesfalls erwartet. Und doch war sie hier. Und trank Weißwein, ausgerechnet. Als würde sie damit an einem Ort, wo das Bier in der Flasche und der Schnaps nur pur serviert wurde, nicht auffallen.
Mickey schaufelte neues Popcorn aus der Plastikschale. »Du glaubst, es ist nicht nur Zufall, dass sie hier ist?«, fragte er mit vollem Mund.
»Verflucht, woher soll ich das wissen?«, brummte Shaw. »Es fühlt sich jedenfalls nicht richtig an.« Er nickte dankend dem Barkeeper zu, der ihm wortlos anbot, sein Tequilaglas aufzufüllen, und danach in weiser Voraussicht Mickey ein weiteres Bier hinstellte.
Während Mickey einen tiefen Zug aus der Flasche nahm, sah er mit halb zusammengekniffenen Augen an der Theke entlang zum anderen Ende, wo die Bar einen Knick machte. Er musste aufstoßen, rülpste Bierdünste aus und sagte um den Rülpser herum: »Vielleicht hält sie nur Ausschau.«
Shaw zog zweifelnd eine Braue hoch. »Nach einem Mann, meinst du?«
»Warum denn nicht?«
»So eine ist sie nicht.«
Mickey lachte leise und stieß Shaw mit dem Ellbogen an. »Keine ist so eine.«
»Spricht da wieder die Stimme der Erfahrung?«
Mickey nickte weise. »Schwer rumzukriegen? Nichts als leeres Geschwätz von den Weibern, damit wir uns für sie richtig ins Zeug legen.«
Shaw ließ sich Mickeys Worte durch den Kopf gehen, griff dann nach seinem Tequila und kippte ihn in einem Zug. Entschlossen setzte er das leere Glas auf der Theke ab, glitt von seinem Hocker und vergewisserte sich beim Aufrichten kurz, dass das Hemd den Griff der Pistole an seinem Gürtel überdeckte.
Mickey starrte ihn an. »Was machst du …?«
»Ich teste deine Theorie, fetter Mann.«
»Du kannst doch nicht … Aber sie …«
Shaw ließ den stammelnden Mickey zurück.
Während er an den Barhockern vorbeischlenderte, wurde er von Gästen beiderlei Geschlechts gemustert. Die Frauen bedachten ihn mit taxierenden Blicken oder solchen, die einer direkten Einladung gleichkamen. Er blieb gleichgültig und reagierte nicht einmal mit einem Lächeln. Männer fixierten ihn abweisend, eisig oder provozierend, was er mit noch abweisenderen, noch eisigeren oder noch provozierenderen Blicken beantwortete. Alle wandten vor ihm die Augen ab.
Shaw hatte so etwas an sich.
Noch hatte niemand den Mut aufgebracht, den leeren Barhocker neben Jordie Bennett zu besetzen. Die Einheimischen begriffen wahrscheinlich, dass so eine Frau für Gesindel wie sie unerreichbar war. Ihrer Meinung nach fiel auch Shaw in diese Kategorie, denn beim Näherkommen fing er zwar Bennetts Blick auf, nur für einen winzigen Moment, bevor sie die babyblauen Augen wieder auf ihr Weinglas richtete. Kein Zucken im Gesicht, keinerlei körperliches Signal, nicht einmal das Flattern einer einzigen langen Wimper.
Jordie Bennett war und blieb unnahbar. Mit ihrem Gesicht, mit ihrem Körper konnte sie es sich leisten, wählerisch zu sein. Wie man es auch drehte oder wendete, bei ihrem Anblick lief jedem Mann das Wasser im Mund zusammen.
Was irgendwie ziemlich blöd war.
Shaw hatte den Auftrag, sie zu töten.
1
Drei Tage zuvor hatte Shaw noch an einem saphirblauen Pool in der Sonne gelegen und zwei Mädchen zugeschaut, die am flachen Ende barbusig im Wasser plantschten. Den Anblick hatte er mit einem hohen pastellfarbenen und mit einer Hibiskusblüte verzierten Drink genossen und sich des Luxuslebens erfreut, das sich mit neuem Geld im alten Mexiko erkaufen ließ.
Er war Gast in einer Villa, die auf einer Anhöhe mit Blick auf den Golf lag. Der weiß verputzte Bau lag hingestreckt auf der Kuppe eines vom Dschungel überwucherten Hügels, dessen Fuß in einem Sandstrand auslief. Die Villa – protziger Palast traf es eher – gehörte dem Mann, den Shaw später am Abend exekutieren würde, wovon er allerdings jetzt am frühen Nachmittag noch nichts ahnen konnte.
Nach der Party am Pool hatten die Gäste am Spätnachmittag Gelegenheit bekommen, sich in aller Ruhe auf ihren Zimmern für das leger-elegante Abendessen schick zu machen, bevor man sich zu einem ausgedehnten Aperitif versammelt hatte. Ihm folgte ein viergängiges Menü, serviert von respektvollen, ausschließlich männlichen Kellnern mit weißen Handschuhen, an deren frisch gestärkten Uniformen schwarz glänzende Pistolen prangten. Zum Dessert wurden den Gästen je nach Belieben süßes Konfekt, Digestifs oder diverse Rauschmittel gereicht, wahlweise standen auch Señoritas bereit.
Gerade als Shaw seine Entscheidung treffen wollte, hatte sein Handy geläutet. Er entschuldigte sich und zog sich zum Telefonieren von der Terrasse in eines der offenen Zimmer dahinter zurück. Das Arbeitszimmer war opulent möbliert. Zu opulent. Die Einrichtung zeugte von der jugendlichen Extravaganz und der fehlenden Geschmackssicherheit des Besitzers.
Shaw nahm den Anruf mit einem lakonischen »Ja?« entgegen.
Eine Schotterstimme fragte: »Du weißt, wer dran ist?«
Mickey Bolden.
Über Monate hatte Shaw mühevoll Vertrauen aufgebaut, damit ihm der Killer endlich ein Gespräch gewährte. Schließlich hatte Bolden einem Treffen zugestimmt, das von Vorsicht und Argwohn geprägt war … gegenüber ihrer Umgebung, natürlich, aber hauptsächlich voreinander. In sorgfältig verschlüsselten Wendungen hatte Shaw seinen Lebenslauf geschildert und Mickey dargelegt, über welche Erfahrungen er auf diesem ungewöhnlichen Tätigkeitsgebiet verfügte.
Irgendwie hatte er Mickey überzeugt, dass er gut in seinem Job war, vielleicht durch seine zurückhaltende und bescheidene Art. Zum Abschluss ihres Kaffeekränzchens hatte Mickey ihm versichert, er werde sich melden, falls er einmal Shaws Dienste benötigen sollte. Das war vor sechs Monaten gewesen. Shaw hatte fast die Hoffnung aufgegeben, je wieder von ihm zu hören.
»Immer noch an einem Job interessiert?«
Shaw schaute auf die Terrasse, wo das Dessert zu einer wüsten Orgie ausgeartet war. »Solo?«
»Als mein Partner.«
»Muss was ganz Besonderes sein.«
»Interessiert oder nicht?«
»Wie ist die Aufteilung?«
»Fünfzig-fünfzig.«
Fairer ging es nicht. »Wann geht’s los?«
»Donnerstag.«
Mickey hatte am Dienstagabend angerufen, womit Shaw nur noch wenige Stunden geblieben waren, seinen Job vor Ort zu Ende zu bringen, wenn er rechtzeitig in New Orleans sein wollte.
Er hätte Mickey Bolden noch hundert Dinge fragen können, doch weil die Gelegenheit zu günstig war, um sie auszuschlagen, und er davon ausging, dass er noch früh genug Einzelheiten erfahren würde, hatte er seine Neugier gezügelt und dem Mann erklärt, er könne auf ihn zählen.
Er hatte sein ganzes Geschick aufbieten müssen, doch er hatte seinen Auftrag in Mexiko noch am selben Abend abgewickelt und war auf abenteuerlichen Wegen sogar vor der vereinbarten Zeit in Louisiana angekommen. Gestern hatte er sich dann mit Mickey getroffen, und heute Morgen waren sie gemeinsam in diesen Ort gefahren, der den merkwürdigen Namen Tobias trug.
Den ganzen Tag hatten sie die Gegend ausgekundschaftet und Pläne geschmiedet, wie sie Jordan Elaine Bennett, Besitzerin von Extravaganza, einer extrem begehrten Eventmanagement-Agentur in New Orleans, am besten umbringen könnten. Jordan war die Schwester und einzige lebende Verwandte von Joshua »Josh« Raymond Bennett, einem extrem berüchtigten Gangster.
Er und Mickey waren Jordie Bennett durch den Ort gefolgt, während sie allen möglichen Besorgungen nachgegangen war. Kurz nach achtzehn Uhr war sie nach Hause gefahren. Sie hatten drei Stunden gewartet, doch Jordie war nicht wieder aufgetaucht. Weil sie davon ausgegangen waren, dass ihre Zielperson sich zurückgezogen hatte und einen ruhigen Freitagabend zu Hause verbringen würde, waren er und Mickey zu einem Diner gefahren und hatten gegessen. Über einem zähen Steak mit fettigen Fritten hatte Mickey einen Plan entworfen.
Shaw hatte überrascht reagiert, als Mickey ihm am Vortag eröffnet hatte, wer ihre Zielperson war. Jetzt wollte er wissen, warum sie so schnell handeln sollten. »Warum morgen?«
»Warum nicht?«
»Kommt mir überstürzt vor. Ich dachte, wir würden sie erst ein paar Tage beobachten, ein Gefühl für ihren Tagesablauf entwickeln und danach Zeit und Ort bestimmen.«
»Panella hat den Zeitpunkt bestimmt«, eröffnete ihm Mickey, während er sein T-Bone-Steak zersäbelte. »Und der Kunde hat immer recht. Er will, dass wir es morgen erledigen, also erledigen wir es morgen.«
»Er steht unter Druck?«
»Sieht so aus.«
Beim Bezahlen hatten sie beschlossen, das miese Essen mit einem Drink hinunterzuspülen, bevor sie die einstündige Rückfahrt nach New Orleans antraten. Diese Bar war ihnen vom Kellner des Diners empfohlen worden; offenbar hatte er keine allzu hohen Ansprüche.
Allerdings war ihnen das nur entgegengekommen, weil sich in namenlosen Bars wie dieser jeder so unauffällig wie möglich verhielt.
Jordie Bennett tat es jedenfalls. Während Shaw durch die Bar in ihre Richtung ging, konzentrierte sie sich auf ihr Weinglas, als würde sie darauf warten, dass der Inhalt wieder zu fermentieren begann. Als er das Ende der Theke erreicht hatte, wurde er nicht einmal langsamer, sondern ging direkt an ihr vorbei, mitten durch eine dezente Schwade teuren Parfüms. Mit würziger Duftnote. So flüchtig und exotisch, dass es in einem Mann den Wunsch wecken musste, jedes einzelne Fleckchen Haut ihrer hundertsiebenundsechzig Zentimeter zu beschnuppern.
Er blieb erst stehen, als er die Wurlitzer erreicht hatte. Einen Arm auf die gekrümmte Abdeckung gestützt, beugte er sich im Schein der bunt leuchtenden, blubbernden Röhren vor. In dieser halb abgewinkelten Haltung konnte er, während er mit geheucheltem Interesse die Liedauswahl durchging, Jordie aus den Augenwinkeln im Blick behalten.
Sie setzte das Weinglas an ein Lippenpaar, das direkt aus einem schmutzigen Traum zu stammen schien, stellte es nach einem Schluck wieder ab und ließ die Hand am Stiel ruhen. Lange schlanke Finger. Keine Ringe. So heller, unscheinbarer Nagellack, dass Shaw sich fragte, wofür sie am Nachmittag eine ganze Stunde im Salon zugebracht hatte. Ihre Armbanduhr war ein schlichtes rechteckiges Modell mit sachlich braunem Krokodillederband, eher praktisch als hübsch; trotzdem konnte man mit dem Kaufpreis wahrscheinlich einen guten Gebrauchtwagen erstehen.
In dem ärmellosen Armausschnitt ihres schlichten weißen Tops war der Satinträger ihres BHs zu sehen, und nach einer winzigen Kopfbewegung strichen lange Strähnen von mahagonibraunem Haar darüber, das noch satinweicher glänzte. Sie trug Sandalen mit Absätzen und hautenge Jeans. So auf dem Barhocker sitzend, war ihr Hintern einfach zum Anbeißen.
Shaw war nicht der Einzige im Raum, dem ihre Erscheinung aufgefallen war. Ein Mann, mindestens ein Jahrzehnt jünger als sie und mindestens zwei jünger als Shaw, wurde von seinen Kumpels am Billardtisch vorgeschickt. Vom Whisky aufgeputscht und vom Gelächter seiner Freunde beflügelt, schlenderte er zu dem leeren Hocker neben ihrem.
»Darf ich?«
Ihre kleine Handtasche, nicht größer als ein Briefumschlag, lag auf der Theke, die dünne silberne Tragekette schlängelte sich darunter hervor. Sie zog die Tasche zu sich und signalisierte damit dem tapferen Landei, dass es sich setzen konnte.
Vielleicht hatte Mickey doch recht, und sie suchte was fürs Bett. Allerdings hatte sie den Möchtegern-Romeo weder abschätzend noch aufmunternd angesehen, und Shaw würde darauf wetten, dass er nicht mehr bei ihr erreichen würde, als ihr gehörig auf die Nerven zu gehen.
Shaw sah zu Mickey, um festzustellen, ob er mitbekommen hatte, dass sie jetzt Gesellschaft hatte. Hatte er. Sein feistes Gesicht war rot angelaufen und schwitzte. Er sprach in sein Handy. Shaw brauchte sich nicht zu fragen, mit wem er telefonierte. Zweifellos hielt Mickey mit ihrem Auftraggeber Rücksprache, wie sie weiter vorgehen sollten, nachdem Miss Bennett mit ihrem Überraschungsbesuch ihren ursprünglichen Plan über den Haufen geworfen hatte.
Shaw konzentrierte sich wieder auf die erblühende Romanze. Wie zu erwarten, reagierte Jordie Bennett zunehmend unwirsch auf die gelallten Annäherungsversuche des jungen Mannes. Er war unbedarft, betrunken und wollte um jeden Preis seine Wirkung auf das schönere Geschlecht unter Beweis stellen – aber merkte er nicht, dass sie in einer ganz anderen Liga spielte als er? Auch wenn Shaw es dem jugendlichen Großmaul nicht verübeln konnte, dass es sein Glück versuchte. Wenn es Jordie Bennett ins Bett bekäme, könnte es damit bis an sein Lebensende prahlen.
Auf Shaws abgewandter Schulter landete eine schwere Hand. Unwillkürlich zuckte seine Hand zu seiner Pistole.
»Entspann dich«, knurrte Mickey. »Ich bin’s.« Er deutete auf die Songliste. »Haben sie auch was von Merle Haggard?«
Shaw blätterte im Menü ein paar Songs zurück. »Mit wem hast du telefoniert?«
»Was glaubst du denn?«
»Was hat er gesagt?«
»Er hat geflucht, dass mir die Ohren geblutet haben, und dann meinte er, das Loch hier sei bald gerammelt voll, wir sollten uns verziehen. Sofort.« Er nickte unauffällig zu der Szene in seinem Rücken hin, wo der junge Trinker sich so angestrengt zu Jordie Bennett vorbeugte, dass er sich kaum noch auf seinem Barhocker halten konnte. »Was machen die da? Was ist mit ihm? Siehst du irgendwas, was uns Sorgen machen sollte?«
Shaw beobachtete das Paar ein paar Sekunden und schüttelte dann den Kopf. »Der will nur in ihr Höschen.«
»Sicher?«
»Sicher.«
»Okay. Abflug!« Mickey wandte sich von der Jukebox ab und ging voran in Richtung Ausgang.
Shaw folgte ihm und widerstand der Versuchung, einen letzten Blick auf Jordie Bennett zu werfen.
Sobald er und Mickey aus der Tür waren, holte er tief Luft, um so weit wie möglich die Verspannungen zwischen seinen Schulterblättern zu lösen und den Bierdunst aus seinem Kopf zu vertreiben.
Doch draußen war es heiß und dampfig, kaum frischer als in der Bar. Seine Schultern blieben verspannt, während er Mickey zu ihrem Wagen folgte. Das Auto stand am hintersten Ende des Parkplatzes vor der Taverne, der aus einem breiten Fächer zerstoßener Austernschalen bestand.
Mickey zwängte sich auf den Beifahrersitz. Nachdem Shaw bei diesem Job der Juniorpartner war, musste er das Steuer übernehmen. Womit er kein Problem hatte. Er hasste es, Beifahrer zu sein. Er hatte lieber die Kontrolle über das Fahrzeug, falls es unerwartet hart auf hart kam.
Er schob den Schlüssel ins Zündschloss, doch Mickey bremste ihn. »Nicht so schnell. Wir fahren noch nicht los.«
Shaws Herz klopfte kurz. »Warum nicht?«
»Weil wir es gleich hier erledigen.«
Shaw schaute ihn sekundenlang nur an. »Das soll ein Witz sein, oder?«
»Nein. Panella meinte, warum bis später warten?«
»Das kann ich dir sagen«, zischte Shaw und deutete dabei zur Bar. »Weil man uns da drin gesehen hat.«
»Für Panella nur ein weiterer Grund, sofort zuzuschlagen.«
»Das ergibt doch keinen Sinn.«
»O doch, das tut es.«
»Nur wenn man erwischt werden will. Und ich will es nicht.«
»Dann lass dich nicht erwischen.« Mit einem angestrengten Grunzen zerrte Mickey die Pistole aus dem Holster, das zwischen seinen Speckfalten klemmte. »Davon rät übrigens auch Panella ab.«
»Der hat leicht reden. Schließlich muss nicht er seinen Arsch hinhalten, oder?«
Mickey sah ihn von der Seite an. »Unser erster Auftrag, und schon kommst du mir mit Bedenken.«
»Nicht mit Bedenken, Alter. Mit Vernunft. Ich verstehe nicht, was die plötzliche Hast soll.«
»Habe ich dir doch erklärt.«
»Schon, aber morgen würde auch reichen.«
»Nicht mehr. Panella hat seine Meinung geändert. Ein Kaff wie das hier, wo jeder jeden kennt? Da spricht es sich schnell rum, wenn zwei ›Fremde‹ im Ort sind.«
»Okay. Dann warten wir eben, bis sie wieder in New Orleans ist.«
»Das könnte noch Tage dauern. Sie fährt nicht regelmäßig in die Stadt. Arbeitet viel von zu Hause aus. Und sowieso haben nicht wir das zu entscheiden. Panella sagt, wir sollen sie erledigen, vor allem jetzt, wo man uns unter demselben Dach wie unser Ziel gesehen hat.«
Shaw konnte das nachvollziehen, trotzdem gefiel es ihm nicht. Ganz und gar nicht.
Mickey war noch nicht fertig. »Genau wie du hat Panella Bedenken, dass sie nicht zufällig heute Abend hier aufgetaucht sein könnte.«
»Das habe ich zwar gesagt, aber das war nur Gerede. Dass sie hier ist, muss ein blöder Zufall sein. Sie kann unmöglich von uns wissen.«
»Scheiße, egal. Panella hat befohlen, wir sollen es gleich hier erledigen, also …« Um seine Worte zu unterstreichen, zog Mickey den Schlitten seiner Neun-Millimeter zurück und beförderte damit eine Kugel in die Kammer.
Shaw begriff zwei Dinge gleichzeitig: Seine Stimme zählte nicht, und jeder weitere Widerspruch war zwecklos. »Mist.« Er zog seine Pistole aus dem Holster und drehte sich zu der Tür mit dem flackernden Neonschild um. »Und wie willst du es machen?«
»Wir warten hier, bis die Bennett rauskommt. Falls dieser Arsch mit ihr rauskommt, übernimmst du ihn. Ich kümmere mich um sie.«
»Und wenn sie allein rauskommt?«
»Übernehme ich sie.« Mickey pfriemelte seine Hände in Latexhandschuhe. Er reichte Shaw ein zweites Paar. »Du greifst dir ihre Handtasche. Panella sagt, es soll wie ein missglückter Raubüberfall aussehen. Ein Zufallsverbrechen.«
»Ohne jede Verbindung zu ihm oder ihrem Bruder.«
»Ohne jede Verbindung zu irgendwas.«
Shaw schnaubte. »Als würde das irgendwer glauben.«
Mickey lachte kehlig. »Ist doch nicht dein Problem, wer was glaubt. Bis dahin bist du über alle Berge und genießt deine zweihundert Riesen.«
»Das reicht für ein schönes Boot.«
»Oder eine schöne Pussy.«
»Deine Fantasie ist wirklich unter aller Sau, Mickey.«
Er lachte noch mal. »Da fühlt sie sich am wohlsten.«
Shaw nahm im Augenwinkel eine Bewegung wahr und schaute kurz durch das Heckfenster. »Da kommt sie.«
»Allein?«
Shaw wartete mit seiner Antwort, bis die Tür hinter Jordie Bennett zugefallen war, ohne dass jemand ihr gefolgt wäre. »Ja.«
Da es keinerlei Außenbeleuchtung gab, lag der Parkplatz fast völlig im Dunkeln. Ein blasser, dünner Mond wurde von den moosbärtigen Ästen der alten Eiche verdeckt, die drei Viertel des Parkplatzes überschattete. Nirgendwo auf der schmalen Landstraße waren Scheinwerfer zu sehen.
Mickey nutzte die Gunst des Augenblicks, öffnete die Autotür und stieg aus, wobei er sich behänder bewegte, als Shaw für möglich gehalten hätte. Der Dicke lief zu Hochform auf. Mickey Bolden liebte seine Arbeit.
Genau wie Shaw. Der Tequila hatte ihn bei Weitem nicht so aufgeputscht wie jetzt das Adrenalin.
So lautlos wie möglich folgten sie Jordie Bennett auf ihrem gewundenen Weg. Der Parkplatz war zugestellt mit verbeulten Pick-ups und vom Salzwasser zerfressenen Rostlauben, da leuchtete Jordie Bennetts schicke Limousine mit ihrem Neuwagenglanz unübersehbar heraus. Per Fernbedienung entriegelte sie die Fahrertür.
Dann drehte sie sich unvermittelt um, und wieder wehte Shaw eine Schwade ihres verführerischen Parfüms an.
Offenbar waren er und Mickey nicht ganz so lautlos über die zerstoßenen Schalen geschlichen, wie sie gedacht hatten. Oder vielleicht hatte ein animalischer Instinkt sie gewarnt, dass sie sich in Todesgefahr befand. Auf jeden Fall öffneten sich ihre Lippen zu einem überraschten Luftholen, als sie die beiden auf sich zukommen sah, und ihre Augen weiteten sich vor Schreck.
Während Mickey mit langen Schritten die letzten Meter zurücklegte, zuckte seine Rechte präzise und todbringend nach oben.
Der Schalldämpfer auf der Mündung erstickte den Knall, doch in der Stille ringsum empfand Shaw das leise Ploppen wie einen Donnerschlag.
Mickey kippte wie ein Sack Zement zu Boden, und aus seinem zersplitterten Schädel ergoss sich eine rote Flutwelle über die zerstoßenen Austernschalen.
Entsetzt beobachtete Jordie Bennett, wie ein Bach aus Blut auf ihre Sandalen zuströmte. Dann hob sie den Blick und sah Shaw an.
Der hielt seine Pistole immer noch auf Schulterhöhe und zielte damit auf sie. »Und schon hat sich mein Anteil verdoppelt.«
2
FBI Special Agent Joe Wiley wollte gerade Platz nehmen und sich über seinen Schweineschmorbraten hermachen, als sein Handy läutete.
Seine Frau Marsha runzelte die Stirn. Sie hatte ihm das Essen aufwärmen müssen, weil er zu spät nach Hause gekommen war, um zusammen mit ihr und den Kindern zu essen. Trotzdem verkniff sie sich jeden Einwand.
»Entschuldige, Honey, da muss ich ran«, sagte er und drückte auf die Gesprächstaste. »Ist es wichtig, Hick? Ich sitze gerade beim Essen.«
»Ich störe dich nur ungern.« Agent Greg »Hick« Hickam klang ernst. »Aber ja, es ist wichtig. Ich bin sicher, dass du das so schnell wie möglich hören willst.«
Joe warf Marsha einen bedauernden Blick zu und verschwand in die Waschküche. »Okay, ich höre.«
»Vor ein paar Stunden wurde Mickey Bolden tot im Bezirk Terrebonne aufgefunden, vor einer Bierbar in den Sümpfen, etwa fünfzehn Minuten mit dem Auto von Tobias entfernt.«
Und schon war in Joes naher Zukunft kein Platz mehr für eine warme Mahlzeit.
Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, über den Mund und weiter über das Kinn. »Könnte es nicht mehr als nur einen Mickey Bolden geben?«
»Wahrscheinlich schon, aber das hier ist der, den wir kennen und lieben. Liebten.«
»Definiere tot aufgefunden: Ich schätze mal, er ist nicht friedlich eingeschlafen?«
»Ein Hohlmantelgeschoss ist in seinen Hinterkopf eingedrungen und hat ihm praktisch das Gesicht weggepustet.«
»Woher wissen wir dann, dass es er ist?«
»Der Führerschein in seiner Brieftasche war gefälscht, aber der Rechtsmediziner hat ihm die Fingerabdrücke abgenommen. Die örtlichen Polizeibehörden waren ganz aus dem Häuschen, als sie feststellten, dass er was mit dem Panella- Fall zu tun hat. Sie haben, wie erbeten, sofort das nächste FBI-Büro informiert.«
»Wie schön für uns.« Joe schaute durch den Türrahmen in die Küche, wo Marsha am Küchentisch gegenüber seinem leeren Stuhl saß und sichtlich beunruhigt an ihrem Glas Eistee nippte. »Bolden geht also am Freitagabend in der Nähe von Tobias über den Jordan, nur drei Tage nach …«
»Dienstag. Es muss eine Verbindung geben.«
»Bist du da sicher, oder vermutest du das nur?«, fragte Joe.
»Praktisch sicher. Jordie Bennett war dort, als Bolden getötet wurde.«
»Was hast du gerade gesagt?«
»Jordie Bennett.«
»Vergiss es. Ich hab dich schon verstanden. Heilige Scheiße. Moment mal, hast du war gesagt?«
»Sie und Mickey Bolden waren zur gleichen Zeit in der Bar.«
»Zusammen?«
»Nein. Aber sie sind im Abstand von wenigen Minuten gegangen, sie kurz nach ihm. Und – jetzt halt dich fest – ihr Lexus steht immer noch auf dem Parkplatz. Mickey war etwa einen Meter davon entfernt, als er kaltgestellt wurde.«
»Von ihr?«
»Eher nicht.«
»Wieso nicht?«
»Wieso sollte ihr Wagen noch dort stehen, wenn sie ihn umgebracht hat?«
Das konnte Joe auch nicht beantworten. »Mir fehlen ein paar Puzzleteile. Erzähl mir mehr.«
»In der Bar hatte sich ein Typ an die Bennett rangemacht. Erst erklärte sie ihm ganz höflich, dass er sich verziehen soll, doch als er nicht reagierte, verpasste sie ihm eine Abfuhr, nahm ihre Handtasche, marschierte aus der Bar und wurde seither nicht mehr gesehen.«
»Jesus. Bitte sag mir, dass ich das gerade nicht gehört habe.«
»Tut mir leid, aber so ist es«, sagte Hick. »Seither wird sie vermisst.«
»Ich dachte, sie würde seit Dienstag von den dortigen Kollegen beschattet.«
»Von einem einzigen Kollegen. Na gut, zwei Deputys, die sich abgewechselt haben. Der Officer von der Nachtschicht meldete um einundzwanzig Uhr zweiunddreißig, dass sie ihr Haus verlassen hatte. Ohne jede Eile fuhr sie durch die ganze Stadt, er hinterher. Aber sobald sie draußen im Nichts waren, drückte sie aufs Gas und hängte ihn ab.«
»Weil sie in einer Bar ein Bier trinken wollte?«
»Jedenfalls wurde sie dort zuletzt gesehen. Ansonsten weder zu Hause noch in ihrer Firma. Beides ist verrammelt und verriegelt. Und beide sind allem Anschein nach nicht betreten worden. Die Alarmanlagen sind noch eingeschaltet. Das Sheriff’s Office befürchtet das Schlimmste …«
»Ach was.«
»… und hat bereits eine Suchmeldung für sie und den Typen rausgegeben.«
»Der Aufreißer ist ihr aus der Bar gefolgt?«
»Nicht für diesen Typen, den anderen Typen.«
»Welchen anderen Typen?«
»Mickeys Freund.«
»Unser Mickey und Freunde?«
»Unvorstellbar, ich weiß. Aber die beiden kamen zusammen in die Bar, tranken zusammen, schienen sich gut zu verstehen. Keine Stänkereien, keine schlechten Vibes. Nichts in der Art. Sie haben sich mit niemandem sonst unterhalten und sind zusammen wieder gegangen. Aber falls es der Kerl war, der Mickey das Gesicht weggeschossen hat, waren sie wohl doch keine so guten Freunde.« Hick machte eine Pause. »Das ist der momentane Stand, und deshalb habe ich dich vom Abendessen weggeholt. Sag Marsha, dass es mir leidtut.«
»Wurde der Tatort gesichert?«
Der Agent grunzte. »Der Detective, der mich angerufen hat, ist für Mordfälle zuständig und arbeitet von Tobias aus, in einer Zweigstelle des Sheriff’s Office. Er klingt ganz vernünftig. Er traf direkt nach den Streifenpolizisten ein, aber trotzdem zu spät. Er sagte, als die Leiche entdeckt wurde, seien die Gäste des Hauses in alle Himmelsrichtungen verduftet wie Kakerlaken vor plötzlichem Licht. Er meinte, wahrscheinlich werde ein guter Teil von ihnen mit Haftbefehl gesucht. Männer, die gegen ihre Bewährungsauflagen verstoßen haben. Kautionsflüchtlinge. Kleine Drogendealer. Du kannst es dir vorstellen. Er und ein paar Deputys haben die letzten Nachzügler zusammengetrieben. Es sind nicht viele, und auch die sprechen nur ungern mit der Polizei.«
»Geht ihnen gegen den Strich.«
»Zum einen, außerdem sind sie sauer, weil sie wegen einer Sache festgehalten wurden, in der Josh Bennett seine Finger im Spiel hat. Ich habe gehört, einer von ihnen habe ausgespuckt, als er den Namen aussprach.«
»Ich nehme nicht an, dass er oder Billy Panella dort gesichtet wurden.«
»Nur in Stellvertretung.«
»Durch Bennetts Schwester Jordie.«
»Und Mickey Bolden. Wir wissen, dass er Panellas Mann fürs Grobe war.«
»Was wir ihm aber nie nachweisen konnten«, wandte Joe ein.
Bei dem Gedanken an unwillige Zeugen und einen bis zur Nutzlosigkeit kontaminierten Tatort fuhr er sich seufzend durch die dünner werdenden Haare. »Richte diesem Detective da unten aus, er soll die Zeugen festhalten, bis wir mit ihnen sprechen konnten. Mir egal, wie laut sie stänkern. Tank schon mal den Hubschrauber auf. Wir treffen uns am Heliport.«
»Und wann?«
»Ich fahre sofort los. Und schick unsere eigenen Kriminaltechniker hin.«
»Das habe ich schon erledigt, bevor ich dich angerufen habe. Wahrscheinlich sind sie noch vor uns da.«
»Gut. Dann bis gleich.«
Joe legte auf und kehrte in die Küche zurück. Die Lippen resigniert zusammengekniffen, belegte Marsha bereits ein Sandwich mit Schinken und Käse. Er streifte das Schulterholster über und hob das Sakko von dem Haken neben der Tür zum Garten. »Es geht um den Panella-Bennett-Fall, sonst würde ich garantiert zum Essen bleiben. Der Braten riecht jedenfalls köstlich. Ist das Rosmarin?«
Sie klatschte ihm das in Klarsichtfolie gewickelte Sandwich unsanft in die Hand. »Ich kann es nicht leiden, wenn du nachts in diesem verfluchten Helikopter herumschwirrst.«
»Ich weiß, aber …«
»Wie alt ist das Ding überhaupt?«
»Alt, aber zuverlässig.« Er küsste sie auf den Mund, bekam aber nur einen lustlosen Schmatzer zurück. »Sag den Kindern, es tut mir leid, dass ich sie verpasst habe. Ich melde mich später.«
»Keine Ahnung, ob ich dann rangehe«, sagte sie. »Ich schaue mir Top Gun an.«
Er blieb auf dem Weg zur Tür stehen. »Das ist mein Lieblingsfilm.«
»Genau. Und außerdem werde ich die doppelte Menge Butter über das Popcorn geben und eine Flasche Wein plattmachen.« Sie schenkte ihm ein maliziöses Lächeln. »Viel Spaß!«
Er kehrte noch mal zu ihr zurück, beugte sich vor und flüsterte: »Weißt du, was meine Lieblingsszene ist?« Er legte die Hand auf ihre Brust und drückte zu. »Das ist die, in der Maverick und das Mädchen rummachen.«
Sie schubste ihn weg. »Hau ab!« Ihre Stimme klang streng, aber sie lächelte dabei.
Shaw fuhr eine ganze Strecke, bis er das Gefühl hatte, dass er gefahrlos anhalten konnte, und bog dann von der Landstraße auf einen ausgefahrenen Weg, der in ein dichtes Gehölz führte. Er schaltete den Motor und die Scheinwerfer aus. Für das, was er jetzt tun musste, würde er die Taschenlampe an seinem Smartphone verwenden. Das Handy war neu, und nur er kannte die Nummer.
Er leuchtete mit dem Strahl über den Sitz, um nach Jordie Bennett zu sehen. Soweit er erkennen konnte, war sie immer noch bewusstlos und hatte sich nicht gerührt, seit er sie auf den Rücksitz gelegt hatte. Aber sie würde nicht ewig ohnmächtig bleiben, und er musste alles für diesen unvermeidlichen Zeitpunkt vorbereiten.
Er stieg aus, holte alles Nötige aus dem Kofferraum, öffnete dann die hintere Autotür und legte das Handy in den Fußraum, damit es ihm Licht spendete.
Sie lag vollkommen erschlafft da, was es ihm einfach machte, ihre Arme und Beine in Position zu bringen. Einmal murmelte sie etwas Unverständliches, woraufhin er kurz pausierte. Je länger sie ohnmächtig war, desto besser für ihn.
Und für sie.
Als Shaw sicher war, dass sie nicht aufwachen würde, streifte er eilig ihre Sandalen ab, nicht ohne die zierlichen Schließen an den Riemen zu verfluchen, und fixierte dann effizient ihre Füße und Hände. Noch während er sich aus dem Fond zurückzog, strich er ihr eine Haarsträhne von ihrer Wange. Dabei bemerkte er die Blutspritzer auf ihrem Gesicht.
»Scheiße.« Sie würde ausflippen. Er kämpfte kurz mit sich und kam dann zu dem Schluss, dass ein paar Minuten mehr oder weniger nicht ins Gewicht fielen.
Als er alles Notwendige erledigt hatte, schloss er vorsichtig die hintere Autotür und den Kofferraum und setzte sich wieder auf den Fahrersitz. Ihr Handy lag neben Mickeys auf dem Beifahrersitz, wohin er die beiden Geräte bei seinem überstürzten Aufbruch vom Parkplatz der Bar geworfen hatte.
Ihres nahm er zuerst und stellte erleichtert fest, dass es keinen Passwortschutz hatte. Er öffnete die Telefon-App, ging die Liste der Anrufe durch und überflog, mit wem sie heute und während der letzten Tage telefoniert hatte. Alle Namen waren unter ihren Kontakten aufgelistet. Nichts davon war irgendwie auffällig.
Bis auf den letzten Anruf, den sie bekommen hatte.
Er war kurz nach einundzwanzig Uhr an diesem Abend eingegangen, von einem Festnetzanschluss hier in der Gegend. Die Nummer war nicht in den Kontakten gespeichert. Sie hatte zweimal zurückgerufen.
Nachdenklich drehte er sich um und betrachtete sie einige Sekunden. Dann schaltete er ihr Handy aus, nahm den Akku heraus und legte beides ins Handschuhfach.
Er nahm Mickeys Handy, öffnete auch dort die Liste der Anrufe und entdeckte den Anruf der unterdrückten Nummer, hinter der sich, wie er wusste, Panella verbarg. Ihr Auftraggeber wartete bestimmt am Telefon darauf, dass Mickey Vollzug meldete.
»Pech gehabt, Arschloch«, flüsterte Shaw. »Jetzt hast du es mit mir zu tun.« Auch hier entfernte er den Akku und legte ihn mitsamt Smartphone zu Jordies Handy ins Handschuhfach. Inzwischen begann er den Zeitdruck zu spüren und startete den Motor.
Während er wieder auf die dunkle, verlassene Landstraße bog, ließ er sich noch einmal den Abend durch den Kopf gehen. Die Sache war nicht so gelaufen wie gedacht, sondern im Endeffekt weit besser. Er hatte den Hauptpreis eingesackt. Der jetzt bewusstlos auf dem Rücksitz lag.