Rügener Abgründe und Rügener Haie

Ostsee Krimi Sammelband

Sylvia Voigt


ISBN: 978-3-96152-159-3
1. Auflage 2018, Oldenburg (Deutschland)
© 2018 Schardt Verlag, Oldenburg, www.schardtverlag.de.

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Titelbild: Unter Verwendung eines Bildes von photocase.com (© Gunar's)
Die Handlung und alle Personen des Textes sind frei erfunden. Alle möglichen Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Vorgängen oder Ereignissen bzw. mit lebenden oder gestorbenen Personen sind rein zufällig.

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Rügener Abgründe


 

Über das Buch: Auf Rügen wird eine weibliche, kopflose Leiche gefunden.
Die Ermittlungen von Kriminaloberkommissarin Jessica Burmeister und ihrem Team gestalten sich demzufolge schwierig, und nur langsam lässt sich aus den Puzzleteilen ein Bild zusammensetzen, das lang gehütete Geheimnisse ans Licht bringt.
Als polizeiinterne Konflikte, unkooperative Zeugen und private Nebenschauplätze immer wieder das Vorankommen gefährden, beschließt die eigenwillige Burmeister, ihrer Intuition zu vertrauen und zieht gegen alle Widerstände ihr Ding durch...

EINS

Ich kann mich mit dem neuen von Menschenhand gemachten Wetter nicht wirklich anfreunden. Die Luft steht, ich sitze schweigend, schwitzend und reglos auf meiner Couch. Meine Haut klebt, ich fühle mich wie ein benutztes Fieberzäpfchen: eingeengt in schwül-heißer, stickiger Luft. Zudem stelle ich wieder einmal fest, dass mein Gehirn viel mehr macht als der Rest meines Körpers. Es arbeitet auf Hochtouren. Es nervt mich fortwährend mit neuen Gedanken und produziert unablässig Szenarien, die ich nicht denken und erst recht nicht sehen oder mir vorstellen will.

Also denke ich gezwungenermaßen an die neue Chefin, die in ein paar Wochen auf uns, im Besonderen und ganz speziell auf mich zukommen wird. Dabei fällt mir auf, dass ich ständig nur eine Nachfolgerin in Betracht ziehe. Warum sollte es nicht doch ein männlicher Bewerber werden? Immerhin sollte wenigstens theoretisch die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass das aus alternden Saftsäcken bestehende Gremium tatsächlich ein gerechtes Auswahlverfahren bevorzugen könnte.

Ich seufze. Wie groß ist diese Wahrscheinlichkeit? Ich beantworte mir meine Frage selbst: „Sie ist sehr klein.“

Wahrscheinlich waren die Würfel schon gefallen, ehe die Stelle ausgeschrieben wurde. Ich kann nur hoffen, dass trotz aller Ränkespiele und Beziehungen letzten Endes ein männlicher Bewerber den Vorzug erhält. Ich bin für absolute Gleichbehandlung beider Geschlechter. Nur in meinem Fall mache ich eine Ausnahme. Denn mir fällt die Zusammenarbeit mit dem männlichen Geschlecht prinzipiell leichter, auch wenn es durchaus die eine oder andere Ausnahme gibt.

Die eine Ausnahme ist das permanent nach Knoblauch stinkende Ekel Henning Wahlberg. Wahlberg ist unser Gerichtsmediziner. Fachlich ist er kompetent, menschlich ein Desaster. Er besitzt so viel Feingefühl wie meine Klobürste. Über diesen Vergleich muss ich grinsen, und ich genehmige mir einen kleinen Schluck.

Die andere Ausnahme ist Staatsanwalt Richard Vogel. Vogel eilte das Gerücht voraus, dass man lange gesucht hatte, um ihn dort unterzubringen, wo er trotz seiner Unfähigkeit und seiner imaginären Intelligenz keinen Kollateralschaden verursachen konnte. Also suchte man ein kleines Präsidium in einer kleinen Stadt mit einem kleinen Wirkungskreis. Obwohl Mecklenburg-Vorpommern durchaus noch andere Orte zu bieten hat, landete Vogel ausgerechnet bei uns. Man verbannte ihn vom Festland auf unsere Insel. Seither geht er in unserem Präsidium ein und aus, und ich befürchte, dass sich daran auch nichts mehr ändern wird. Hier kann er Mist bauen, so viel er will, es wird keine größeren Auswirkungen haben.

Ich proste mir zu.

Je näher der Tag des unausbleiblichen Führungswechsels kommt, umso häufiger frage ich mich, warum ich mich nicht um den Posten beworben habe. Vielleicht weil ich Veränderungen hasse und neue Herausforderungen nicht spannend, sondern scheiße finde.

Jetzt ist natürlich der Zug endgültig abgefahren. Diese Feststellung löst in mir spontan eine weitere Hitzewelle aus. Sie sorgt dafür, dass die Haare unangenehm am Nacken kleben.

Bisher kursieren jeden Tag neue Gerüchte, wer die Nachfolge unseres pensionierten Kriminalhauptkommissars Dieter Oertel antreten wird. Eigentlich gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder handelt es sich um eine Person, die ihren Zenit schon längst überschritten hat, keinerlei Ambitionen in Sachen Karriere mehr hegt und in unserer altehrwürdigen Hafenstadt Sassnitz nur noch in Ruhe ihre letzten Dienstjahre bis zur Pensionierung genießen will. Die zweite Möglichkeit ist, dass man mir eine junge und ehrgeizige Person vor die Nase setzt, die unsere kleine Truppe wahrscheinlich von der ersten Minute an komplett umkrempeln und jeden Tag das Rad neu erfindet wird. Diese vor Selbstbewusstsein strotzende Person wird kommen, unsere aus drei Leuten bestehende Truppe umstrukturieren und alles auf den Kopf stellen. Und wenn dann nichts mehr funktioniert, schnell abspringen, um auf der Karriereleiter weiter nach oben zu klettern. Zurück bleiben frustrierte Mitarbeiter in einem umstrukturierten Scherbenhaufen. Dieses Mal trinke ich mein Glas leer.

Ich beginne, mich in Selbstmitleid zu wälzen. Selbstmitleid tut mir gut. Nicht immer. Aber heute ist der richtige Zeitpunkt dafür. Mein Selbstmitleid steigt proportional zu meinem Promillewert, und ich bin fast davor, in Tränen auszubrechen. Ich greife nach der Flasche Grand Manier und schenke erneut nach.

Jetzt hab ich einen Lauf. Sowohl, was das Trinken anbelangt, als auch in Bezug auf mein aufsteigendes Selbstmitleid. Ich gedenke, mich in selbiges hineinzusteigern.

Vielleicht darf ich nie wieder selbständig arbeiten. Schlimmer noch: Nie wieder werde ich denken dürfen. Und die Krönung wird sein, dass sie eine Verfechterin der neuen deutschen Sprache ist. Jedes zweite Wort wird eine Mischung aus Deutsch und Englisch sein.

Ich genehmige mir einen sehr großen Schluck.

„Ich fühle mich so down“, murmele ich und lache mich über meine Ironie scheckig.

Der nächste Schluck Grand Manier bahnt sich wohlig seinen Weg durch meinen Körper. Im Winter wäre das ein angenehmes Gefühl. Jetzt, bei diesen außergewöhnlich hohen Außentemperaturen, setzt mir die innere Hitze gewaltig zu. Wider alle Vernunft trinke ich das Glas leer. Ich merke, dass mir so große Mengen des wohlschmeckenden französischen Orangenlikörs nicht gut bekommen. Sie sorgen dafür, dass ich den Faden verliere.

Wo war ich stehen geblieben?

Ach ja. Ich darf nicht mehr denken und muss Denglisch sprechen.

Oertel, du fehlst mir ja so. Mein lieber, guter Oertel, denke ich und greife zur Flasche. Nie wieder werde ich einen solchen Vorgesetzten haben. Nie wieder.

Ich schlucke. Dieses Mal ist es aber nicht der Grand Manier, sondern die aufsteigenden Tränen, die sich mit Unterstützung des französischen Likörs einstellen.

Oertel war der beste Mensch, der beste Vorgesetzte, er war unfehlbar. Er bevorzugte niemanden. Egal, ob uns Fehler unterliefen, wir ins Kreuzfeuer der Kritik gerieten oder in einen Kugelhagel, immer war es Oertel, der sich schützend vor uns stellte.

Während ich an meinem Glas nippe, gestehe ich mir ein, dass wir nie in einen Kugelhagel geraten sind. Hätte aber durchaus sein können. Und dann hätte sich Oertel für uns geopfert.

Oertel war Vorgesetzter, Kollege, Freund, Vater, Allvater, Halbgott. Oertel war Winnetou und Papst zugleich – voller Edelmut und Nächstenliebe.

Ich suhle mich in verklärten Erinnerungen und schaue ebenso drein. Irgendetwas tropft mir von der Nase. Ich wische es mit dem Handrücken ab und lecke daran. Sehr salzig. Schweiß oder Träne. Hätte ich wissen müssen. Auch dass ich trotz der Geschmacksverkostung die Herkunft nicht näher definieren kann.

Egal. Oertel fehlt mir, und ich hasse die Neue.

Ich schenke nach.

Nebenbei denke ich an unseren letzten gemeinsamen Fall, den wir unter Oertels Regie gelöst haben.

Ich starre vor mich hin und versuche, diesen Fall in mein alkoholisiertes Gedächtnis zu rufen. Also, was hatten wir da? Zunächst einen stümperhaft ausgeführten Mord.

„Schtümberhaft“, sage ich zu mir und nicke bestätigend.

Ein Mord in unserer kleinen Stadt. Das Volk tobte, das zur jüngeren Generation zählende vor Begeisterung, weil endlich mal wirklich was richtig los war. Das zur älteren Generation gehörende hauptsächlich vor Empörung. Ganz alte Leute vordergründig vor Angst.

Ich überlege kurz, ob man vor Angst toben kann.

Die lokalen Medien jedenfalls waren dankbar. Das Stadtfernsehen warf sein Motto „Weniger ist manchmal Meer“ komplett über den Haufen und ging nicht nur zu jeder ungeraden Stunde auf Programm. Man sendete live zu jeder Stunde und wiederholte die Wiederholungen des Tages und vom Vortag. Danach spekulierten die Reporter und Moderatoren über Motive und mögliche Beweggründe dieser verabscheuungswürdigen Tat. Dabei blickten sie mal empört in die Kamera, ein anderes Mal schauten sie in Anlehnung an Peter Kloeppel mit fast schon perfekt gespieltem Bedauern ihre Mitbürger und Mitbürgerinnen an. Im Anschluss gab es eine Zusammenfassung vom Tag und einen Rückblick, wie alles begonnen hatte und meistens eine Vorschau, was noch kommen könnte. Jede Sendung endete mit Mutmaßungen, wie lange die örtliche Polizei wohl noch bis zur Aufklärung brauchen würde. Und dann fing man halt wieder von vorne an.

Ja, dieser Mord war schon ein besonderes Ereignis für unsere Insel. Das Opfer war eine fünfundachtzigjährige Dame, die ein Vermögen zurückließ, das bei dem einen oder anderen Bürger zu verständlicher Schnappatmung führte und vielleicht sogar zu einem gewissen Verständnis für die mordende Person. Wer schon so alt ist und so viel Geld hat, sollte entweder das Geld verteilen oder freiwillig das Feld räumen. Und wenn man beides nicht will, muss nachgeholfen werden. Und weiterhin führte es alle Hobbydetektive, die regionale Fernsehmeute und die Vertreter der gedruckten und digital erscheinenden Lokalpresse zu der einzig möglichen Schlussfolgerung: Der Mörder hatte es auf das Vermögen abgesehen und musste zwangsläufig aus der unteren sozialen Schicht kommen. Woher auch sonst?

Ich tippe mir an die klebrige Stirn.

„Ihr seid ja alle sooo blöd“, stelle ich fest und proste mir zu.

Es ist schon gut und richtig, dass nicht jeder Polizist werden darf und in den Kreis der akribisch ermittelnden und nüchtern denkenden Beamten aufgenommen wird.

Trotz meiner Vernebelung muss ich über die letzte Formulierung grinsen.

„Die deusche Schbrache kennt viele Zwei…deutischkeiten. Von wegen nüschtern“, nuschele ich laut und verschlucke mich heftig.

Es dauert lange, bis ich wieder einigermaßen atmen kann. Die Angst, zu ersticken, hat bei mir für eine kurzzeitige Ernüchterung gesorgt. Ich bin dankbar, dass meine letzte Stunde noch nicht gekommen ist, und atme tief durch. Schon besser. Also nippe ich wieder, aber ganz vorsichtig, an meinem Glas.

Ich schaue nach draußen. Die vergangenen Tage und Nächte waren sehr warm, völlig ungewöhnlich für unsere Insel. Zu Beginn der frühsommerlichen Wetterperiode war es einfach nur schön warm. Aber dann wurde es immer schwüler. Und jetzt braut sich langsam aber sicher das zusammen, was das moderne Wetter als Abschluss jeder schweißtreibenden Phase bereithält: ein Unwetter, von dem die Meteorologen wieder einmal behaupten, es wird das stärkste aller Zeiten werden.

In Erwartung heftiger Blitze und großer Hagelkörner, in Angst um meine wunderschön gedeihenden Balkonpflanzen und gleichzeitig voller Hoffnung auf eine merkliche Abkühlung halte ich mich an meinem Glas fest. Ich merke, dass es mir langsam die Augen zuzieht.

Wo war ich stehen geblieben?

Richtig, bei meinem Oertel und seinem einzigen wahren, großen Fall. Nicht nur für unsere Stadt, sondern für ganz Rügen ein spektakuläres Ereignis.

Wir hatten einen Inselmord. Endlich. Dieser Vorfall erschütterte sozusagen alle Grundmauern der Stadt. Betroffen waren nicht nur die abrissreifen Häuser, sondern – wie sich am Ende herausstellte – vor allem eins der neu aus dem Boden gestampften, im supermodernen Klotzbaustil errichteten weißen Supervillen. Denn genau in so einem aus Korruption und anderen kriminellen Machenschaften errichteten Klotz aus Glas, Stahl und Beton nahmen wir ihn fest: den bereits vor langer Zeit vom rechtschaffenden Weg abgekommenen und daher beängstigend reichen Eigentümer besagter Villa.

Die Ermittlungen hatten sich über Wochen unter großer Anteilnahme aller Bürger und Medien erstreckt, dann flaute das Interesse merklich ab, und wir konnten ungestört arbeiten. Und schließlich war der Fall aufgeklärt. Den relativ schnellen Erfolg hatten wir natürlich auch zu einem gewissen Teil der laienhaften Ausführung des Mordes zu verdanken. Die Spuren lachten uns am Tatort geradezu an, und wir hatten von Anfang an nur einen einzigen Tatverdächtigen auf unserer Liste stehen und nichts anderes zu tun, als die Schlinge mit jedem Beweis enger um seinen Hals zu ziehen. Nachdem uns das gelungen war, stand definitiv fest: Der Mörder kam nicht aus gehobenen Kreisen, sondern von noch weiter oben: aus den sehr gehobenen Kreisen. Und wir – Hüter einer verbesserungswürdigen Ordnung und eines stets unterschiedlich auslegbaren Rechts – durften ihn verhaften.

Bei der Festnahme marschierte natürlich Kriminalhauptkommissar Oertel voran, gefolgt von seiner Entourage: Winterstein, Bollermann und mir. Ansonsten hatten alle Kollegen, die unser Landeskriminalamt beschäftigt, das Haus für den Fall umstellt, dass die Situation brenzlig zu werden drohte. Das tat sie nicht. Die Verhaftung gestaltete sich komplett unspektakulär.

Bollermann war von uns allen am meisten enttäuscht, dass es nicht zu einer wilden Schießerei gekommen war. Er schaute beinahe weinerlich, als wir nach der Verhaftung noch im Garten des Designerhauses standen. Ich erinnere mich, wie er einen Flunsch zog und dann hemmungslos zu weinen anfing. Während wir betreten auf unsere Fußspitzen starrten, reagierte Allvater Oertel so, wie nur Oertel reagierten konnte. Er zog Bollermann an seine Brust und tätschelte ihn liebevoll.

Bollermann hing schlaff in Oertels Armen und schluchzte.

Oertel nickte verständnisvoll. „Du bist noch so jung und kannst bestimmt bald jemanden erschießen“, spendete er unserem Bolle ein wenig Trost. „Warte nur noch ein Weilchen. Dann holst du alles nach und schießt dem nächsten Übeltäter dein komplettes Magazin in die Visage.“

Mein Kopf rutscht zur Seite, und ich zucke zusammen. Verwirrt schaue ich um mich. Ich überlege krampfhaft, ob ich das Letzte geträumt habe oder ob es sich tatsächlich so abgespielt hat. Nach langer Überlegungsphase bin ich mir sicher, dass ich Traum und Realität ein bissel durcheinandergebracht habe.

„Konzentrier disch“, ermahne ich meine Denkmasse und beobachte den sich bedrohlich verfinsternden Himmel.

In den folgenden Tagen stand unsere Truppe völlig zu Recht im positiven Mittelpunkt diverser Medienvertreter und des Staatsanwalts. Es gab nur einen Wermutstropfen: Wir mussten den Mörder gegen Zahlung einer stattlichen Kautionssumme erst einmal wieder laufen lassen.

„Wer so eine Summe hinterlegen kann, ist ein kriminelles Schwein!“, brüllte Oertel in seinem Arbeitszimmer, dann im Flur und letzten Endes in der gesamten Etage unseres Kriminaldezernates.

„Wieso darf man überhaupt eine Kaution zahlen?“, tobte er weiter durchs Haus und schreckte Angestellte, Beamte und andere anwesende Personen aus ihren Überlegungen, Ruhephasen und dienstlichen Verrichtungen auf.

Ich stand gerade verunsichert vor dem neuen Getränkeautomaten im Besucherbereich und versuchte die Tasten zu finden, die ich drücken musste, um an meinen ersehnten Latte Macchiato zu kommen.

Der tobende Oertel kam mir gerade recht. Denn ich stand unter Beobachtung von zwei Grünschnäbeln, die unter Bewachung eines in sich ruhenden Polizisten auf ihre Vorladung warteten.

„Willst du erst mal einen Kaffee?“, stellte ich mich Oertel in den Weg und deutete auf die circa vierzig zur Auswahl stehenden Knöpfe.

Oertel bremste ab, schniefte und sah mich fassungslos an. Er gab keine Antwort, drückte aber wie irre auf alle Tasten. Der Automat gab ein Geräusch von sich, und nach einer gefühlten halbstündigen Wartezeit bewegte sich mühsam ein Pappbecher in die Ausgabe. Mit einem dampfenden Zischen ergossen sich zunächst ein halber Liter Magermilch und dann zehn Tropfen Kaffee in den Becher.

Oertel riss ihn aus der Halterung und verbrannte sich folgerichtig die Finger dabei.

„Scheißbecher!“

Ich nahm ihm Becher inklusive Heißgetränk schnell aus der Hand, bevor er ihn mir, den beiden Grünschnäbeln oder den aus seiner Lethargie erwachten Polizisten überschütten konnte. Die beiden knochigen und ungepflegt wirkenden Jugendlichen im rosigen Alter von höchstens sechzehn amüsierten sich prächtig und grinsten breit. Ein weicher Flaum als Vorbote eines Bartes bedeckte ihre Oberlippen. Ihr dämliches Grinsen brachte mich unweigerlich auf die Palme.

Oertel war außer sich, sein Gesicht hatte eine ungesunde dunkelrote Verfärbung angenommen, und auf seiner Stirn standen dicke Schweißperlen.

„Seit zwanzig Jahren leite ich unsere Abteilung! Zwanzig lange Jahre. Und noch nie musste ich einen Mörder wieder auf freien Fuß setzen! Noch nie!“

„Dieter, wir hatten es auch noch nie mit einem Mörder zu tun“, warf ich ein. Damals wollte ich einfach nur beruhigend auf Oertel einwirken. Heute weiß ich, dass es die mit Abstand dämlichste Bemerkung aller Zeiten war und ich besser daran getan hätte, gar nichts zu sagen.

Oertel versteinerte. Er schnappte nach Luft. An seiner rechten Schläfe pulsierte eine kleine Ader. Während er mich eher ausdrucklos anstarrte, starrte ich ängstlich zurück. Ich war mir sicher, dass er mir gleich eine Ohrfeige verpassen würde.

Es war der einzige Moment, in dem man die Luft zwischen uns als spannungsgeladen bezeichnen musste. Oertel trat einen Schritt auf mich zu, ich wich instinktiv einen zurück.

„Nun haut euch schon die Fresse ein!“, kommentierte einer der beiden Grünschnäbel. Sein Kumpel lachte und schlug sich auf die dünnen Schenkel.

„Los, ihr Bullen, macht euch gegenseitig fertig! Das wird geil!“

Das rettete mich. Oertel kam wieder zu sich und ließ mich ohne ein weiteres Wort stehen.

Ich stellte den Kaffeebecher ab, amtete ebenfalls tief durch und suchte nach einem Blitzableiter.

„Und jetzt zu euch!“, schnauzte ich die beiden Jungs an. „Zunächst einmal ist es auf unserem Präsidium verboten, sich zu maskieren! Also runter mit den Masken!“

„Was ‘n für Masken?“ Einer der beiden Trottel tat mir den Gefallen und fragte dümmlich nach.

„Okay, noch schlimmer, wenn ihr in echt so ausseht“, genoss ich den Augenblick und raunzte weiter: „Steckt euch eure Kommentare zukünftig in den Arsch! Das ist wahrscheinlich sowieso das Einzige, was ihr bringt! Also Mund halten!“

Jetzt war es an mir, die Bühne zu verlassen.

„Du fehlst mir, Dieter“, murmele ich weinerlich. Ich schaue auf die Uhr und dann auf mein Thermometer. Es ist kurz vor dreiundzwanzig Uhr, und in meiner Dachwohnung ist es noch immer vierundzwanzig Grad warm.

Die Wolken haben sich zu scharf konturigen Wattebergen aufgetürmt. Zwischen den Angst einflößenden Formationen erkennt man einen türkisfarbenen Himmel. Plötzlich fällt mir die Totenstille auf, die sich über das ganze Land ausgebreitet hat.

Das Ende naht, hoffe ich und hole tief Luft.

Da klingelt mein Telefon.

Ich zucke zusammen, als hätte neben mir jemand eine Kanonenkugel abgefeuert. Mein Herz rast, und ich staune wieder einmal selbst, wie ich schreckhafte Person zur Polizei gekommen bin – und vor allem, dass ich es dort noch immer aushalte. Ich hätte Klöpplerin werden sollen, spätestens, als man bei mir SAS diagnostizierte: Scheiß-Angst-Syndrom.

Es klingelt wieder.

„Das is aber jetzt uuungünstisch“, lalle ich.

Widerwillig greife ich nach dem Telefon. Dabei überlege ich, wer um diese Zeit anrufen könnte.

In der Ferne ist jetzt leichtes Donnergrollen zu hören. Den vorausgehenden Blitz habe ich allem Anschein nach verpasst. Urplötzlich kommt starker Wind auf, und die Blätter der alten, stolzen und riesengroßen Blutbuche, ohne die der Ausblick von meinem Balkon aus trist und leer wäre, rauschen plötzlich wie die Wellen an unserem Ostseestrand.

Das Telefon klingelt weiter.

Ich schiele auf das Display. Sollte es meine Mutter sein, müsste ich jetzt „Nervenklau“ lesen.

„Williwi“, lese ich.

Es ist Kommissar Wilfried Winterstein, feste Stütze unseres kleinen Teams mit einem bedauerlicherweise starken Drang zu cholerischen Ausbrüchen.

„Na, Mädel, hab ich dich gestört?“, quakt er laut, freundlich und hoffnungsvoll in mein Ohr.

„Du störst“, sage ich.

Es ist die Wahrheit, und ich verstehe nicht, warum sich Winterstein darüber aufregt. Seine Erwiderung würde von der FSK keine Jugendfreigabe erhalten. Es dröhnt in meinem Ohr, und ich halte das Mobilteil weit von mir weg.

In diesem Moment wird der Himmel von einem spektakulären Blitz erhellt, und zeitgleich kracht ein ohrenbetäubender Donnerschlag. Ich quieke wie ein Ferkel und gehe in Deckung.

„Bei dir alles in Ordnung?“

Wenn ich nicht mein Likörglas festhalten müsste, würde ich mich selber ohrfeigen.

„Ich habe mich über den Donner erschrocken“, murmele ich, mehr zu mir selbst. „Und überhaupt, warum rufst du mich zu so einer Zeit an?“ Ich bin aufrichtig empört und leere mein Glas.

„Entschuldige bitte mein unüberlegtes Verhalten. Wie konnte ich nur?“, schnauzt er mich an. Es ist nicht zu überhören, dass Winterstein äußerst mies drauf ist. So kommen wir nicht weiter. Außerdem will ich ins Bett. Ich schwitze, ich bin müde, und mir ist schwindelig.

„Winterstein, was ist los?“, frage ich mit Nachdruck und gebe mir Mühe, deutlich zu sprechen.

Der Wind hat an Stärke zugenommen und spielt mit den großen und etwas maroden Fensterläden, die unserem Mehrfamilienmietshaus laut Wohnungseigentümern ein südländisches Flair verleihen sollen. Sie ächzen und krachen bedrohlich gegen die Hauswand. Die starken Äste der alten Blutbuche werden in alle Richtungen gebogen.

Ich traue mich nicht, nach meinen Balkonpflanzen zu sehen. Die rosa-roten Hängegeranien, der gelbe Bidens und die dunkelblauen Fächerblumen sind wunderschön gewachsen und tun das, was sie sollen: sie lassen sich hängen. So sehr, dass ich die viel zu schweren Pflanzkästen nicht mehr anheben und damit in Sicherheit bringen kann.

Winterstein gibt inzwischen eine Erklärung für seinen späten Anruf ab. Ich höre nicht richtig zu und erschrecke mich über den nächsten Donner. Irgendwo scheppert etwas. Entweder ist ein Abfallcontainer umgefallen oder ein Fahrrad, vermute ich.

Ein starker Ast der Buche gibt auf und kracht zu Boden. Der nächste Blitz taucht das Dach des gegenüberliegenden Hauses in ein grelles Weiß. Ich schließe die Augen. Nicht wegen des Blitzes, sondern in Erwartung des folgenden Donners.

„… und ich denke schon, du solltest dir das ansehen.“

Ich öffne die Augen und sehe mehrere abgebrochene Geranienblüten auf meinem Balkon.

„So eine Scheiße!“, rufe ich und stehe mühsam auf. Ich erwäge nun doch, die drei großen und schweren Pflanzkästen hereinzuholen. Unschlüssig stehe ich auf meinem Balkon. Warmer Sturm weht mir von allen Seiten entgegen. Der nächste Blitz zerreißt den nächtlichen Himmel.

Winterstein lässt nicht locker, und ich presse das Telefon fest an mein Ohr, um wenigstens die Hälfte seiner Worte zu verstehen.

„Du kommst also?“, fragt er.

„Wohin denn und warum?“, entgegne ich. Das Stehen bekommt mir nicht. Ich merke, wie mir zunehmend übel wird und sich der Schwindel verstärkt. Ich lehne mich an die Wand und sehe ein, dass für meine Balkonpflanzen jede Hilfe zu spät kommt.

„Sag mal, hast du mir zugehört? Du bekommst wohl gar nichts mehr mit, verdammt noch mal!“

Das klingt nicht besorgt, es hört sich wie eine ernste Bedrohung an.

„Ich bekomme von meiner Umwelt mehr mit, als du es dir je erträumen kannst“, antworte ich und spreche lauter als nötig. „Bei Oertel hättest du dir so einen Ton nie getraut“, rutscht es mir heraus. Schon während ich den letzten Satz sage, ärgere ich mich darüber. Ich verfluche mich, die Franzosen wegen ihres Likörs, das Wetter und Winterstein. Genau in dieser Reihenfolge.

„Oertel hätte mir zugehört, meine Liebe. Dem musste man immer nur einmal alles erklären. EINMAL.“

Es hört sich an wie „eeeeiiiiiinmal“, so unfair zieht Winterstein das unschuldige Wort in die Länge.

Ich setze mich auf den nächstbesten Balkonstuhl, stelle endlich das leere Likörglas ab, schaue auf die dunklen Wolkenformationen und bin bereit, Winterstein zuzuhören.

„Noch mal, bitte, eine kurze Zusammenfassung, Wilfried.“

„Wir haben eine tote Person. Selbstmord oder Mord. Der Regionalzug ist drübergefahren. Möchtest du vor Ort kommen?“

„Nein“, sage ich, füge aber, bevor Winterstein die Beherrschung verliert, sofort die erforderliche Erklärung an. „Ich bin besoffen. Auto fahren ist nicht drin. Jemand soll mich abholen. Aber gib mir ein wenig Zeit. Erst einmal muss ich unter die Dusche.“

Winterstein hört sich versöhnt an. „Also in etwa dreißig Minuten schicke ich Bolle zu dir. Tot bleibt tot, insofern musst du dich nicht sonderlich beeilen.“

Ich danke Williwi für sein Verständnis und beende unser Gespräch.

In diesem Moment ist die Entscheidung gefallen. Die Welt geht unter. Mit einem irren Rauschen setzt heftiger Starkregen ein, die Blitze zucken abwechselnd rosa und weiß am Nachthimmel, der orkanartige Sturm treibt die zerfetzten Wolkenformationen vor sich her, der Donner hat keine Mühe, das Prasseln der Hagelkörner zu übertönen.

Ich hege traurig die Vermutung, dass von meinen Balkonpflanzen nur die drei Kästen übrig bleiben werden. Aber wer braucht schon noch Pflanzen, wenn die Welt untergegangen ist?

ZWEI

Ich stimme Winterstein zu, dass wer tot ist, auch tot bleibt, und nehme mir beim Duschen Zeit.

Ich ziehe mir eine leichte Sommerhose an und entscheide mich für ein legeres schwarzes Shirt. Dann trete ich auf meinen Balkon und stelle fest, dass nur das Ende meiner Pflanzen, aber nicht das der gesamten Welt gekommen ist. An diesem Ende arbeitet die Natur weiterhin. Unverändert tobt der Sturm, und auch das Gewitter hat in seiner Intensität nichts eingebüßt. Es schüttet wie aus Eimern.

Auf der überfluteten Straße fährt ein Auto vor. Das kann nur Bolle sein. Ich ziehe meine wetterfestesten Schuhe an und greife nach meiner Regenjacke. Ich versuche, leise die Treppen nach unten zu laufen, denn ich wohne in einem ehrenwerten Haus, in dem Fremdlärm nicht geduldet wird. Die meisten Bewohner fügen dem Staat nur noch Schaden zu und sind seit vielen Jahren Rentner.

Unten bleibe ich zunächst an der Haustür stehen. Ein überdimensionaler Blitz erhellt die Nacht, und ich trete sofort wieder einen Schritt zurück. Ich kneife in Erwartung des Donners die Augen zusammen. Ich bin mir zwar bewusst, dass nicht der Donner, sondern der Blitz gefährlich ist. Diese Einsicht hält mich jedoch nicht davor ab, mich widersinnig zu verhalten.

Peng. Da war er. Der Donner, den ich erwartet habe und der mich in Deckung gehen lässt.

Bolle hupt.

Ich schaue um die Ecke. Bis zum Auto sind es höchstens vierzig Meter. Wieder höre ich es hupen. Nicht nur einmal, Bolle drückt rhythmisch und unaufhörlich das Warninstrument unseres Dienstautos.

Ich verfluche ihn und sprinte los. Der Regen peitscht mir ins Gesicht, und der Sturm weht mir die Kapuze vom Kopf. Sofort bin ich klitschnass. Der ersten Pfütze versuche ich noch auszuweichen. Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als durch die Wassermassen der überschwemmten Straße zu rennen. Meine wetterfesten Schuhe sind komplett durchweicht. Beim nächsten Blitz habe ich unseren Dienstwagen erreicht. Ich reiße die Tür auf und springe hinein.

„Hör schon auf zu hupen!“, fahre ich Bolle an, der schon lange nicht mehr hupt. Ich streife mir die nassen Haare aus dem Gesicht und schäle mich aus der Regenjacke. Achtlos schmeiße ich sie auf die Rückbank. Während ich den Sicherheitsgurt anlege, schaue ich finster in Bolles Richtung.

„Wieso hast du die ganze Zeit wie ein Idiot gehupt?“, keife ich weiter und rutsche auf dem Sitz hin und her. Der dünne, nasse Stoff meiner Sommerhose klebt unangenehm wie eine zweite Haut an mir.

Bolle hat zwei herausragende Charakterstärken: Er ist nie beleidigt und erst recht nicht nachtragend. Ich bin mir nicht sicher, ob das für ihn selbst immer von Vorteil ist. Fest steht: Wer mit Bolle zusammenarbeitet, weiß dies zu schätzen.

„Nu komm mal wieder runter.“ Bolle lächelt gutmütig und startet den Motor.

„Ich bin unten“, entgegne ich noch immer gereizt, merke aber, dass ich ihm nicht mehr richtig böse sein kann.

„Was hat denn so lange gedauert?“, will Bolle wissen und biegt vorsichtig auf die Hauptstraße ab. Es hat den Anschein, als würden wir in einem Fluss fahren.

„Vorsicht!“, schreie ich und zeige auf einen Gully-Deckel, den die überlaufende Kanalisation nach oben gedrückt hat.

Bolle ist die Ruhe in Person. „Entspann dich und lehn dich zurück“, weist er mich an.

Ich gehorche. Bolle ist ein versierter und sicherer Autofahrer, den nichts aus der Ruhe bringt. Das ist seine dritte bewundernswerte Stärke.

Ich versuche mich zu entspannen, und zwar so tief wie möglich. Nach ein paar Minuten habe ich das Niveau der Tiefenentspanntheit unseres Fußballbundestrainers erreicht. Nichts kann mich mehr erschüttern.

In diesem Moment kracht ein Baum keine zwei Meter vor unserem Auto auf die Straße. Wir schreien beide gleichzeitig auf, Bolle tritt auf die Bremse. Obwohl die Geschwindigkeitsanzeige die Dreißig nicht überschritten hatte, rutschen wir fast ungebremst durch die Wassermassen, kollidieren mit dem Baum und kommen mit einem Rumms zum Stehen.

Ich spähe durch die Seitenscheibe nach oben. Die anderen Bäume scheinen mir weit genug entfernt zu sein, sodass ich davon ausgehe, dass wir nicht erschlagen werden können.

Bolle greift nach seinem Handy und informiert Winterstein, dass wir verspätet eintreffen werden. In diesem Moment zucken Blaulichter auf, und zwei Feuerwehren kommen uns entgegen.

„Wieso hat es denn nun so lange gedauert?“, greift Bolle die Unterhaltung wieder auf.

Ich muss erst einmal überlegen, wovon er spricht.

„Ich habe Angst vor Gewittern“, antworte ich ehrlich. „Also habe ich im Treppenhaus gewartet.“

„Aber ich stand doch höchstens fünfzig Meter von deinem Haus entfernt.“

„Ja und?“, falle ich Bolle sofort ins Wort und merke, dass mich der französische Restalkohol aggressiv macht und ich schneller auf der Palme bin als im nüchternen Zustand. „Du denkst wohl, der Blitz kalkuliert das ein und macht bei Leuten, die kurze Strecken zurücklegen, eine Ausnahme? Gehörst du auch zu den Fahrern, die den Gurt erst anlegen, wenn sie zweihundert Kilometer auf der Autobahn fahren?“ Gereizt lehne ich mich in meinem Sitz zurück.

Bolle schweigt und strahlt stoische Ruhe aus. Auch wenn er mein liebster und am einfachsten händelbarer Kollege ist, bringt mich seine Gelassenheit manchmal aus dem Konzept. Ich sage gar nichts mehr und beobachte, wie die Kameraden der Feuerwehr versuchen, den Baum von der Straße zu bekommen, nachdem sie unser Auto einen halben Meter zurückgeschoben haben.

Bolle schaltet das Radio ein. Die Experten des deutschen meteorologischen Dienstes warnen vor heraufziehenden Unwettern und sprechen die Empfehlung aus, das schützende Haus nicht zu verlassen. Ich stimme ihnen zu.

Ich höre Herbert Grönemeyer zu, wie er versucht, mir irgendetwas mitzuteilen. Ich verstehe außer „Meeeeensch heißt Mensch“ nur Bahnhof und frage mich, wie Grönemeyer es schafft, seine Fans zu begeistern. Bolle tut mir leid, und unser gemeinschaftliches Schweigen fängt an, mich zu belasten. Ich versuche, das Gespräch wieder in Gang zu bringen.

„Kennst du Einzelheiten?“ Ich zupfe an meinen nassen Haaren und schiele ihn von der Seite an.

Bolle lehnt sich vor und sucht einen anderen Sender. „Ich verstehe den Grönemeyer nicht“, erklärt er und gibt mir einen ersten groben Bericht. „Ich würde mal sagen, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so eine Sauerei gesehen. Überall Blut. Und zwar so viel, dass Winterstein schon glaubte, wir hätten es mit einem Massenselbstmord zu tun. Der Regen hatte dafür gesorgt, dass wir durch regelrechte Blutpfützen waten mussten. Und weder auf dem ersten noch auf dem zweiten Blick erkennt man, ob diese Trümmerteile Reste einer Frau oder eines Mannes sind. Das wird eine ganze Weile dauern, bis wir die vielen Teile zusammengesammelt haben und daraus einen einigermaßen gut erkennbaren Körper basteln können. Falls wir überhaupt alle Teile finden. Vielleicht klebt auch ein Großteil des Körpers als Matsch an der Lok. Zum Glück müssen wir das nicht abkratzen. Das ist ja dem Wahlberg sein Ressort.“

Ich schaue ins Nichts, blinzele und reibe meinen schmerzenden Kopf. Ich danke Bolle für seine facettenreiche Beschreibung, die es mir ermöglicht, eine gewisse Vorstellung zu entwickeln für das, was mich erwartet. Das setzt jedoch voraus, dass es die Kameraden irgendwann einmal schaffen, den vom Blitz oder Sturm gefällten Baum von der Straße zu bugsieren. Immerhin hält einer der Kollegen jetzt eine Motorsäge in den Händen und beginnt, den Baum in gefällige Portionen zu zerlegen.

„Gibt’s nicht noch eine andere Straße?“ Ich schaue etwas nervös auf meine Uhr und denke an Williwi, wie er wahrscheinlich völlig durchweicht auf uns wartet.

„Schon. Aber jetzt hat es so lange gedauert. Und die anderen Straßen sind vielleicht ebenfalls blockiert.“ Bolle entkleidet einen Schokoladenweihnachtsmann und zeigt auf das Radio. „Das war noch Musik“, meint er und hält mir den entblößten Weihnachtsmann hin, während ABBA „Move on“ trällert.

Ich winke dankend ab und überlege, wann Weihnachten war. Vor knapp fünf Monaten. Ich lehne meinen schmerzenden Kopf an die Scheibe und schließe die Augen. Draußen schreien sich die Feuerwehrkollegen irgendetwas zu. Ich hoffe, sie schaffen es zeitnah, die zerlegten Überreste von der Straße zu hieven. Der anhaltende Sturm rüttelt an unserem Auto, und ich döse ein.

„Na endlich“, ruft Bolle, und ich zucke zusammen. Ich reiße die Augen auf und erkenne, dass die Straße wieder frei ist.

Bolle startet den Motor, und wir fahren durch ein Spalier aus Feuerwehrleuten und durch die Wetterunbilden der Nacht unserem Kollegen Winterstein entgegen.