Roman
»Besonders davon versuchen sie zu überzeugen, dass die menschliche Seele unsterblich sei und nach dem Tod von einem Körper in den anderen wandere. So, glauben sie, erhalte man einen Antrieb zur Tapferkeit, wenn man die Furcht vor dem Tod überwinde. Überdies lehren sie noch vieles über die Gestirne und ihren Lauf, über die Größe des Weltalls und der Erde, über das Wesen der Dinge und die Gewalt und Macht der unsterblichen Götter, und sie weihen die Jugend in diese Lehren ein.«
Julius Caesar über die Druiden (aus: »De Bello Gallico«)
Prolog
1. Das Pergament
2. Die Übersetzung: Teil 1
3. Das Belisama-Fest
4. Die Mission
5. Das Treffen in Autricon
6. In den Händen des Feindes
7. Die Fahrt nach Norden
8. Der schöne Schmied
9. Auf der Suche
10. Der Weg nach Rom
11. Die Kathedrale von Chartres
12. Das Herz des Imperiums
13. Die Gladiatorenschule
14. Davinas Bestimmung
15. Die Übersetzung: Teil 2
16. Das Wiedersehen
17. Geweihte Nächte – Die Übersetzung: Teil 3
18. Zeitenwende
19. Zurück in Rom
20. Davinas Seelenreise
21. Poseidonios
22. Davinas Erwachen
23. Der Beginn des Krieges
24. Die Amphore
25. Die Ausstellung
26. Vercingetorix
27. Meduanas Heimkehr
28. Die Begegnung
Epilog
Historische Zeittafel
Glossar
Massalia im Jahre 59 v.d.Z.
Die Barackensiedlung der Fischer lag oberhalb der großen Bucht. Von ihrem Fenster aus konnte sie auf den Hafen und das Meer hinunterblicken: im Licht der untergehenden Sonne ragten jetzt die Masten der großen Schiffe wie schwarze Speere in den Abendhimmel hinein, lange Schatten legten sich auf die Straßen der alten Stadt. Die Öllampe am Fenster flackerte leicht. Salzhaltige Luft und der moderige Geruch der Fischernetze drang in ihre Nase.
Auf dem kleinen Holztisch am Fenster lag das unbeschriebene Pergament, eine Rolle aus feinstem Ziegenleder. Sie war das Abschiedsgeschenk des weisen Mannes gewesen, der soeben gegangen war. Viele Stunden lang hatte sie mit dem alten Griechen im Schatten der Eiche gesessen und das Schreiben geübt. Viel Zeit hatten sie gemeinsam am Hafen verbracht, auf das Südliche Meer geblickt, und sich in seiner Sprache über die Philosophie und ihre Götter ausgetauscht.
Eine Zeit lang lauschte sie noch dem Gesang der Zikaden und den Stimmen der geschwätzigen Fischerfrauen, dann nahm sie den Kalamos zur Hand. Vorsichtig rollte sie ein Blatt des Pergaments aus, strich es mit ihrem Unterarm glatt und fixierte es mit der linken Hand auf dem Tisch. Dann tauchte sie das Schilfrohr in das Gefäß mit rußhaltiger Tinte, ließ die überschüssige, schwarzgraue Flüssigkeit abtropfen und zog die getränkte Spitze über die Lederhaut: MASSALIA, Jahr des Ebers …
Wie einfach es doch war, mit dem Schwert ein Leben auszulöschen, und wie schwer, den Kalamos zu führen. Noch immer kam es ihr wie ein Sakrileg vor. Noch immer fürchtete sie sich vor dem Zorn ihrer Götter, die kein Bildnis von sich duldeten und auch nicht das geschriebene Wort für die Ewigkeit. Doch der große Krieg, den Diviciacus vorhergesagt hatte, war nicht mehr fern, und ihre Sorge wuchs, dass das Wissen ihres Volkes und ihre eigene Geschichte in den Wirren der Zeit für immer verloren gehen könnten. Hatte der mächtige Lugus sie nicht selbst dazu berufen? Warum also sollten die Götter ihr zürnen?
France 24: Marseille, 12. März 2012
Bauunglück in Marseiller Metrostation – Amphoren entdeckt!
Bei unterirdischen Bauarbeiten an einem Versorgungstunnel der Metrostation am Place de la Joliette kam es am frühen Morgen zu einem tragischen Unfall in der Tiefe. Ein 42-jähriger Bauingenieur wurde lebensgefährlich verletzt, als er bei Aufgrabungen in einen drei Meter tiefen Hohlraum stürzte. Er konnte erst nach zwei Stunden von den Feuerwehrleuten gerettet und in ein Krankenhaus gebracht werden. Bei seiner Rettung wurden mehrere antike Amphoren im Sediment des Hohlraumes entdeckt. Die städtische Kulturbehörde veranlasste die Bergung der Gefäße. Der Leiter des Bauamtes wies darauf hin, dass der U-Bahnverkehr dadurch nicht gefährdet sei.
France 24: Marseille, 21. Mai 2012
Ungewöhnlicher archäologischer Fund nach Bauunglück!
Die oberste Kulturbehörde des Départements hat Olivier Dupont, den bekannten Professor für Archäologie und Kunstgeschichte der Université Paris-Sorbonne, damit beauftragt, weitere Untersuchungen an den Amphoren vorzunehmen, die bei dem Bauunglück in der Nähe des Place de la Joliette Anfang März entdeckt wurden. Eine der Amphoren hat laut Auskunft des Direktors des archäologischen Museums einen Verschluss, der mit einem bituminösen Kleber versiegelt worden war. Sie ist offenbar unversehrt und wasserdicht verschlossen. Nach ersten Erkenntnissen wird das Alter der aus Griechenland stammenden Handelsgefäße auf die Zeit um Christi Geburt datiert.
France 24: Marseille, 11. Juni 2012
2000 Jahre alte Schriftrolle aus Griechenland entdeckt!
Der »Marseiller Amphoren-Fund« entpuppt sich als archäologische Sensation. Professor Dupont von der Université Paris-Sorbonne gab bekannt, dass sich in einer der Amphoren ein Pergament mit altgriechischen Schriftzeichen befunden habe, die Schriftrolle sei ungewöhnlich gut erhalten.
Amphoren waren die Container der Antike und übliche Handels- und Transportbehältnisse. Wie sie allerdings an diese Stelle gelangen konnten, ist den Fachleuten ein Rätsel. Fakt ist, dass unter der modernen Stadt Marseille noch immer Reste der antiken Hafenanlage vorhanden sind. Nach bisherigen Erkenntnissen hatte sich diese jedoch weiter landeinwärts befunden.
Zurzeit wird die griechische Schriftrolle im Musée d’Archéologie Méditerranéenne in Marseille mithilfe modernster Technik von einem Expertenteam bearbeitet und eine genaue Datierung vorgenommen. Seit der Wiederherstellung des berühmten »Kodex des Archimedes« im Jahre 2005 sind die wissenschaftlichen Methoden zur Entschlüsselung und Konservierung alter Texte geradezu revolutioniert worden. Wir können also hoffen, dass das Geheimnis um das antike Pergament bald gelüftet werden wird.
Davina Martin, Honorarprofessorin an der Humboldt-Universität zu Berlin, Altphilologin und Expertin für die Kulturen der Eisenzeit in Nordeuropa, kehrte am 21. Juni nach einer Vorlesung in ihre Wohnung in Steglitz zurück. Als sie im Flur ihre Tasche ablegte, bemerkte sie den blinkenden Anrufbeantworter. Von dem Bauunglück in Marseille und der Entdeckung der griechischen Amphoren hatte sie bereits durch die Nachrichten erfahren und vor einigen Wochen war auf dem Internetportal »Archäologie online« ein kurzer Artikel darüber erschienen. Doch Davina hatte der Berichterstattung keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Denn weder in den Nachrichten noch in dem Artikel wurde erwähnt, welch sonderbaren Ursprungs die Schriftrolle tatsächlich war. Daher war sie nicht wenig erstaunt über die Tatsache, dass der angesehene Professor aus Paris ihr persönlich auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte und ihr eine auf sechs Monate befristete Übersetzungsarbeit in Marseille anbot. Da er wohl davon ausging, dass Davina längst mit den Fakten vertraut war, erwähnte er nur kurz das Pergament. Der Name Poseidonios sei entziffert worden und der einer gallischen Frau, von der offensichtlich auch der Text stammte. Duponts Stimme wirkte aufgeregt. Er betonte, dass es sich um ein einzigartiges Schriftstück handele, das der Wissenschaft einen tiefen Einblick in die vorrömisch-keltische Kultur ermöglichen könnte. Am Ende bat er sie eindringlich um ihren Rückruf und hinterließ eine Telefonnummer.
Davina musste sich setzen.
Unfassbar! Mit solch einem Fund hatte sie im Traum nicht mehr gerechnet. Zum Verdruss der Archäologen hegten die Kelten eine große Abneigung gegen jegliche Form der Archivierung. Die wenigen historischen Aufzeichnungen, die noch existierten, stammten größtenteils von römischen und griechischen Gelehrten, die distanziert und mit einer gewissen Überheblichkeit eine ihnen fremde Kultur beschrieben. Das bekannteste Beispiel dafür waren die Berichte von Julius Caesar, der seine selbstherrlichen und grausamen Feldzüge vor dem Senat in Rom rechtfertigte, indem er die Belger, Gallier und Germanen als blutrünstige Barbaren darstellte.
Über die gallischen Bräuche, ihre Rechtsprechung und das medizinische Wissen wusste man erstaunlicherweise so gut wie nichts. Jedenfalls nicht aus Sicht der Kelten selbst. Ihre Geschichte war geprägt von einem Mythos, der durch die mittelalterlichen Dichtungen und religiösen Malereien ihrer Nachfahren auf den Britannischen Inseln entstanden war. Für die Wissenschaftler existierten die Kelten nicht einmal als ethnische Einheit. Vielmehr waren es unterschiedliche Stämme, die im Laufe der Zeit eine ähnliche Lebensweise und eine gemeinsame Sprache entwickelten. Dadurch entstand in der Eisenzeit im Norden und Osten Europas eine einzigartige und vielfältige Hochkultur, die sich deutlich von den Kulturen der antiken Mittelmeervölker unterschied. Griechische Gelehrte gaben ihnen den Namen »keltoi« – die »Tapferen«.
Nach einer kurzen Bedenkzeit stand für Davina fest, dass sie den Anruf aus Marseille auf gar keinen Fall ignorieren durfte!
Sie rief bei der Universitätsleitung an, um zu erfahren, ob sie kurzfristig einer auswärtigen Arbeit nachgehen könne. Zu ihrer Verwunderung äußerte der Präsident der Universität keinerlei Bedenken. Im Gegenteil, er versicherte ihr, dass ihre Stelle als Honorarprofessorin dadurch nicht gefährdet sei.
Dann wählte sie die Nummer von Herrn Dupont. Eine Französisch sprechende Frau teilte Davina förmlich mit, dass der Professor zu dieser Stunde nicht mehr erreichbar sei. Sie werde die Nachricht aber gleich am nächsten Morgen an ihn weiterleiten, zumal der Herr Professor ja schon mit Ungeduld auf ihre Antwort warte. Davina musste schmunzeln. Die Frau, wahrscheinlich Duponts Sekretärin, verhielt sich, als würde es sich bei dem Auftrag um eine brisante Staatsangelegenheit handeln. Vielleicht machte sie heute auch unfreiwillig Überstunden, weil der Professor verhindert war. Davina wollte das Gespräch nicht unnötig in die Länge ziehen und gab der Sekretärin kurzerhand zu verstehen, dass sie den Übersetzungsauftrag annehmen wolle.
»Wann genau gedenken Sie denn in Marseille einzutreffen?«, fragte die Frau ungeduldig.
»Das kann ich Ihnen jetzt noch nicht sagen, Madame, ich muss mir doch erst eine passende Unterkunft suchen«, erwiderte Davina. Nun wirkte die Sekretärin auf einmal belustigt: »Aber wegen Ihrer Unterbringung müssen Sie sich doch keine Gedanken machen, Frau Dr. Martin, der Herr Professor hat bereits alles für Sie organisiert. Kommen Sie einfach so schnell wie möglich nach Marseille!« Verdutzt stammelte die Wissenschaftlerin ein »Okay, Madame« ins Telefon, aber die Frau hatte schon aufgelegt.
Gleich danach versuchte Davina ihren Lebensgefährten anzurufen, um die freudige Nachricht mit ihm zu teilen. Er war Vulkanologe und hielt sich schon seit Wochen im Auftrag des Auswärtigen Amtes in Island auf, um den vor gut einem Jahr ausgebrochenen Vulkan Grímsvötn auf weitere Aktivitäten zu untersuchen. Die Aschewolke hatte den europäischen Flugverkehr über Tage hinweg lahmgelegt. Jan hatte damit gerechnet, dass die Beobachtung des Vulkans einige Monate in Anspruch nehmen würde. Wenn er doch wenigstens telefonisch zu erreichen wäre! Davina versuchte es ein paar Mal, gab dann aber entnervt auf.
Am 23. Juni landete das Flugzeug spät abends in Marseille. Der Professor ließ es sich nicht nehmen, Davina persönlich abzuholen. Er hatte sich hierfür extra einen Mercedes mit Klimaanlage und Fahrer gemietet. In Marseille herrschte in den letzten Tagen eine außergewöhnliche Hitze, und der Professor wollte sicherstellen, dass seine neue Mitarbeiterin sicher zu ihrem Hotel gelangt.
Herr Dupont war Anfang sechzig, etwas größer als Davina und von kräftiger Statur. Er trug einen gepflegten, weißen Bart und eine Sonnenbrille im Gesicht. Wegen der großen Hitze hatte er einen Anzug aus hellem Leinen an, dazu einen passenden Hut, der ihm sehr gut stand. Er begrüßte Davina am Ausgang des Flughafenterminals wie eine alte Bekannte.
Auf der Fahrt zum Hotel fragte sie ihn, warum seine Wahl für die Übersetzung auf sie gefallen war.
»Ich habe natürlich recherchiert, Frau Dr. Martin, soweit mir das bei meiner begrenzten Zeit möglich war. Ihre letzte Veröffentlichung über die frühen Gräberfunde der Kelten Nordeuropas hat mich durchaus beeindruckt. Auch Ihre altsprachlichen Fähigkeiten sind mir bekannt. Es wäre sehr bedauerlich gewesen, wenn Sie den Auftrag nicht angenommen hätten.« Er machte eine kurze Pause und fügte dann fast beiläufig hinzu: »Außerdem wollte ich gerne eine Frau mit der offiziellen Übersetzung des Pergamentes beauftragen.«
»Warum das?«
»Weil der autobiographische Text tatsächlich von einer Gallierin stammt, einer Frau«, antwortete der Professor, »das allein ist schon sehr ungewöhnlich. Ich möchte, dass Sie sich auch persönlich mit dem Inhalt des Pergaments auseinandersetzen.«
Nach dem kurzen Gespräch herrschte Schweigen. Davina wurde schläfrig. Sie blickte aus den staubigen Fenstern des Wagens und sah das beleuchtete Marseille an sich vorbeiziehen. Verträumt stellte sie sich vor, sie führen durch das antike Massalia. »Wie es wohl damals ausgesehen hat? Wie viele Öllampen haben wohl noch um diese Zeit gebrannt? Wie hat die Siedlung in der Dämmerung auf einen Reisenden gewirkt? Waren überhaupt noch Menschen unterwegs in die Stadt gewesen, oder war es zu gefährlich, in der Dunkelheit zu reisen?«
Der Mercedes hielt direkt vor ihrem Hotel am Alten Hafen. Als Davina ausstieg, schlug ihr die warme, salzhaltige Luft des Südens ins Gesicht. Auf den Schiffen brannten die Lichter. Zur Straße hin standen mehrere Restaurants offen. Man konnte Musik vernehmen, das Klappern von Geschirr und die Stimmen der Menschen, die draußen saßen und sich unterhielten. Es roch nach gebratenem Fisch, Olivenöl und Knoblauch. Die Marktstände am Rande des Hafenbeckens standen leer, nur wenige Autos und einige Zweiräder fuhren vorbei. Im Hintergrund hörte man das leise Schlagen der Wanten an den metallenen Masten der Schiffe.
Sie atmete tief ein und rief sich ins Bewusstsein, wo sie sich befand. Obwohl man vom Alten Hafen aus das offene Meer nicht sehen konnte, ließ es sich doch erahnen. Gleich hinter der schützenden Kaimauer wartete es nur darauf, befahren zu werden: das Meer, das seit Jahrtausenden die Menschen Europas mit dem mittleren Osten und den Völkern Nordafrikas verband.
Sie stellte sich vor, wie in der Antike, als Marseille noch eine Kolonie der Griechen war, die kleinen Segelboote der Fischer mit den mächtigen Handelsschiffen konkurrierten. Was für ein Gedränge in der kleinen Bucht stattgefunden haben musste! Davina vernahm die Rufe der Seeleute, die Stimmen der Händler und Arbeiter, das Schlagen der wuchtigen Segel im Wind und das aufgeregte Kreischen der Möwen, die sich um die Abfälle stritten.
»Kommen Sie, Frau Dr. Martin?« Dupont riss sie aus ihren Gedanken. Davina nickte versonnen und sah zu, wie ihr Gepäck in das beleuchtete Foyer des Hotels getragen wurde. Dann folgte sie dem Professor zur Rezeption. Beim anschließenden Abendessen sprachen sie noch über ihr Honorar und die üblichen Formalitäten. Dupont hatte tatsächlich an alles gedacht.
Am nächsten Morgen erwachte die Wissenschaftlerin ungewöhnlich früh. Warmes Licht schien durch die schweren Gardinen ihres Hotelzimmers. Davina war hellwach, eine unbestimmte Vorfreude trieb sie aus dem Bett. Nach dem Duschen frühstückte sie eilig im Hotel. Gleich danach telefonierte sie mit Herrn Dupont, der sich bereits im Museum aufhielt. Er nannte die Adresse und erklärte ihr, wie sie den Treffpunkt im historischen Stadtviertel Le Panier zu Fuß erreichen konnte. Doch Davina wollte keine Zeit verlieren. »Pouvez-vous me conduire à la Rue de la Charité, s’il vous plaît?« Der Taxifahrer nickte.
Es war ein wunderbar klarer Morgen. Die ersten Sonnenstrahlen erwärmten bereits die Luft. Man konnte spüren, dass es wieder ein heißer Tag werden würde. Das Taxi fuhr ein Stück am Hafen entlang und durch staubige, enge Straßen. Davina genoss die kurze Fahrt bei offenem Fenster. Nach wenigen Minuten war sie auch schon an ihrem neuen Arbeitsplatz angelangt.
Herzlich und gut gelaunt empfing sie der Professor am Eingang der Alten Charité. Er machte Davina gleich zur Begrüßung auf die Besonderheiten des Gebäudes aufmerksam. Das Bauwerk stammte aus dem 17. Jahrhundert, es war erst vor wenigen Jahrzehnten vollständig restauriert worden. Die Büros und die Ausstellungsräume des Musée d’Archéologie Méditerranéenne, so Dupont weiter, verteilten sich über mehrere Stockwerke in den Arkaden. Davina bewunderte die malerische Anlage. Eine kleine, tempelähnliche Kapelle im italienischen Barockstil beherrschte den sonnendurchfluteten Innenhof, ein paar Bänke im Schatten des Gebäudes und ein kleines Bistro am Eingang luden zum Verweilen ein. Der gesamte Komplex hatte das Flair eines antiken, römischen Bauwerkes.
Der Professor führte sie in die erste Etage der Arkadengalerie, wo sich unter anderem die Restaurationsräume befanden. Dort stellte er seiner neuen Mitarbeiterin das Team aus Wissenschaftlern und Technikern vor, die das Pergament mit großem Aufwand restaurierten. Davina wurde durch die Räumlichkeiten geführt und bekam einen Einblick in ihre Arbeit. Auf großen Tischen, die von unten beleuchtet waren, lagen in Schutzhüllen Teile des bearbeiteten Pergaments. Man zeigte ihr digitale Kopien, Ausdrucke in verschiedenen Farben und Helligkeitsstufen, einzelne Wörter, die vergrößert auf Monitoren dargestellt waren. Sie konnte es kaum erwarten, das Pergament in ihren eigenen Händen zu halten.
Um 10.30 Uhr wurde Davina zu ihrem neuen Arbeitsplatz begleitet. Der kleine, hohe Raum war von außen durch Jalousien abgedunkelt worden. In einer Vitrine an der Rückwand lagerten ein paar vergessene Ausstellungsstücke: bemalte Tonscherben, Keramikgefäße und Figuren aus frühgriechischer Zeit. Ein breiter Holztisch mit Leselampe stand vor dem verdunkelten Fenster. Auf der Sitzfläche des ausgedienten Bürostuhls stand ein kleiner, kantiger Aluminiumkoffer. Darin: mehrere Paare weißer Stoff-Handschuhe, verschiedene Lupen, Papier und sorgfältig angespitzte Bleistifte. Zudem wurde Davina eine Schreibkraft zur Verfügung gestellt, die ihre handschriftlichen Aufzeichnungen abtippen würde. Nichts sollte das Pergament oder ihre Arbeit beeinträchtigen. Dupont bat sie eindringlich, sich sofort an das Team zu wenden, sollten Fragen oder Unklarheiten auftreten. Es war ihm offensichtlich sehr wichtig, dass der Fund so schnell wie möglich der Öffentlichkeit präsentiert werden konnte. Mehrere Institute hatten dem Projekt ihre finanzielle Unterstützung angeboten, und auch aus anderen Gründen wollte Dupont mit einer Veröffentlichung nicht zu lange warten.
Kurz danach verzog sich Davina in die kleine Angestelltenküche des Museums und holte sich einen Espresso. Sie wollte einen Moment lang ungestört sein. Sie veranlasste, dass ihre Bücher, die sie für die Übersetzung benötigte, und die sie morgens in der Eile im Hotel gelassen hatte, innerhalb der nächsten Stunde ins Museum gebracht wurden, ebenso ihr Diktiergerät. Der Professor hatte ihr vorgeschlagen, zur Miete im Untergeschoss der Alten Charité zu wohnen. Im hinteren Teil der Arkadengalerie existierte ein kleines Appartement mit Küche und Bad. Davina hatte um Bedenkzeit gebeten, aber schon bald fand sie Gefallen an der Vorstellung, für ein paar Monate in dem historischen Gebäude zu leben.
Gegen Mittag begab sie sich endlich in den Übersetzungsraum. Kurz zuvor hatte sie um die Aushändigung der ersten Seite des antiken Textes gebeten. Als sie wenig später ihr angenehm kühles Büro betrat, lag in einer ledernen Mappe das erste Fragment bereits auf dem Tisch. Eine digital überarbeitete Kopie des Ausschnittes war dem Pergament hinzugefügt, darauf konnte man die einzelnen Buchstaben noch deutlicher erkennen.
Voller Ehrfurcht setzte sich Davina an den Schreibtisch, zog sich die feinen Baumwollhandschuhe über und knipste die Leselampe an. Ein kaltes Licht erhellte den Raum. Sie öffnete die Mappe und nahm das Stück Pergament vorsichtig in beide Hände. Der Text bestand aus unregelmäßigen, altgriechischen Schriftzeichen. Sie hielt das Pergament vorsichtig ins Licht. Die Wissenschaftler hatten ganze Arbeit geleistet. Das Material war verfärbt und teilweise gebrochen, aber hervorragend konserviert worden, und die Schrift war bis auf wenige Ausnahmen gut lesbar.
Sie machte sich an die Arbeit. Nach dem ersten, inhaltlich sinnvollen Absatz führte sie den Text zusammen. Eigennamen oder großgeschriebene Begriffe unterstrich sie, um sie später kursiv abtippen zu lassen. Erklärende Worte setzte sie in ihrer Übersetzung in Klammern hinter den Begriff. Am Ende las sie sich die Zeilen noch einmal laut durch.
24. Juni 2012, Fragment 01
MASSALIA, Jahr des Ebers
Ich bin Meduana, Tochter des Fürsten Gobannix und der weisen Una, geweihte Priesterin und Kriegerin meines Stammes, der Carnuten. Die Romaner (Römer) nennen uns die Gallier (celticae galli), doch wir sind das alte Volk Avallons.
Mein Vater war ein großer Fürst, ein Liebling der Götter. Er brachte uns Frieden und Wohlstand, dennoch schenkte ihm Rosmerta keinen Sohn. Ich war sein einziges Kind. So sollte ich an des Bruders Stelle die heiligen Lehren erhalten, und sie gaben mich im siebten Jahr in die Obhut der Druiden (druwides). Auch ließ mein Vater mich schon früh im Kampfe schulen. Mit der Zeit vergaß er den verlorenen Sohn, denn er konnte mit Stolz in die Augen seiner Tochter blicken. Ich führte den Namen unserer Sippe zu seiner Ehre und wurde zur Kriegerin im Zeichen des Adlers.
Hiermit möchte ich berichten und Zeugnis geben von der Wahrheit. Auch wenn es den Göttern missfallen sollte, das Wissen meines Volkes darf nicht verloren gehen! Der große Poseidonios aus dem Reich der Graecer (Griechen) führte meine Hand. Ein weiser und gerechter Mann. Ich bete zu den Göttern, dass seine Worte nie verloren gehen mögen.
Mein Volk ist nicht wie das Seine, ein Volk der Schriftgelehrten. Wir sind ein Volk des Wortes. Wir stammen von den alten Göttern ab und werden eines Tages, nach der Zeitenwende, mit ihnen untergehen. Unsere Riten werden wohl vergessen werden und unsere Götter werden anderen Göttern weichen müssen. Doch ich trage die Hoffnung in meinem Herzen, dass die Seele des alten Volkes eines Tages auferstehen wird.
Ich bitte die Götter um Vergebung und danke meinen Lehrmeistern Ambiacus und Poseidonios für ihre Geduld und ihre Weisheit.
Ungläubig betrachtete Davina das Pergamentblatt. Sollte das tatsächlich der Bericht einer gallischen Frau sein, die hier vor über 2000 Jahren ihre persönliche Geschichte aufgeschrieben hat? Noch einmal las Davina sich den Text durch. Sie konnte es kaum fassen. Das wäre nicht nur ein großes Geschenk für die Archäologen ihrer Zeit, sondern auch ihr ganz persönliches Tutanchamun-Grab, von dem sie immer geträumt hatte!
Eigentlich hätte sie jetzt ihre Kollegen anrufen und ihnen freudestrahlend davon berichten müssen. Doch in diesem Moment verspürte sie den Wunsch, allein zu sein. Sie fühlte, wie sich eine Gänsehaut auf ihren Unterarmen ausbreitete, und sie war sich mit einem Mal sicher – mit dieser Arbeit würde ein neuer Abschnitt in ihrem Leben beginnen.
Am Abend ließ Davinas Konzentration nach. Doch bevor sie das Pergament wieder in die Lagerräume bringen ließ, notierte sie noch einige Punkte, über die sie mit dem Professor sprechen wollte:
•Ungewöhnlicher Satzbau
•Handschrift etwas unbeholfen, keine Gelehrtenschrift, alte dorische Schreibweise
•Ist vielleicht der Poseidonios gemeint? Hilfreich für die Datierung
•Sind andere Teile des Pergamentes irgendwo erkennbar überschrieben worden?
•Wer war Ambiacus?
Um 20.30 Uhr traf sie sich mit Dupont und zwei weiteren Mitarbeitern zum Abendessen in einem schön gelegenen Restaurant in der Nähe des Hotels. Der Professor schien überaus erfreut zu sein, als er erfuhr, dass Davina sich entschieden hatte, in der Alten Charité zu wohnen.
Seit der Öffnung der Amphore war er davon überzeugt, dass es sich bei dem Pergament um eine außergewöhnliche Entdeckung handeln müsse, mindestens genauso bedeutungsvoll, wie die Ausgrabung der Skythengräber durch den deutschen Archäologen Parzinger. Die Übersetzung der ersten Seiten des Pergamenttextes, die Dupont noch selber anfertigte, hatte ihn schnell bestätigt. Da er wegen seiner Verpflichtungen als Direktor eines Museums und Dozent an der Pariser Universität die Arbeit nicht allein bewältigen konnte, hatte er eine Mitarbeiterin gesucht, die seinen hohen Ansprüchen genügen konnte, seine Rolle als führenden Wissenschaftler aber nicht gefährden würde. Schließlich sollte dieser Fund den Höhepunkt seiner Laufbahn darstellen. Er fühlte sich einer ganzen Nation gegenüber verpflichtet, die sich traditionell eher mit ihrer gallisch-römischen Abstammung identifizierte als mit ihrer germanisch-fränkischen.
Beim Tischgespräch äußerte sich Dupont auch zu Davinas Annahme, es könnte sich im Text um den berühmten griechischen Schriftgelehrten handeln: »Sehr wahrscheinlich ist Poseidonios aus Apameia gemeint. Der Text wurde in dem gleichen altgriechischen Dialekt verfasst, den wir aus seinen Schriften kennen. Die Autorin, wie auch der, der ihr die griechische Schrift beibrachte, musste über einen besonderen Status und Bildung verfügt haben. Dafür spricht auch das hochwertige Pergament, das sehr viel wertvoller als Papyrus war. Dass diese beiden Personen sich trafen, ist für sich schon ein erstaunliches Ereignis!«
»Und was halten sie von der unregelmäßigen Schriftführung? Auf den ersten Blick sieht es so aus, als würde der Text von einem Kind stammen«, warf Davina ein.
»Die Schriftführung ist in der Tat ungewöhnlich, sie wirkt unbeholfen und unausgereift. Vielleicht hat die Frau das Schreiben erst in späteren Jahren gelernt«, antwortete der Professor, »obwohl wir durch Caesar wissen, dass die Kelten auch privat schriftliche Aufzeichnungen gemacht haben, waren es wohl überwiegend männliche Aristokraten und Händler, die sich der Schrift bedienten. Es müssen also besondere Umstände gewesen sein, unter denen diese Frau das Schreiben lernte.«
»Ich bin sehr gespannt darauf, was wir noch alles durch das Pergament erfahren werden«, bemerkte Davina. »Gibt es denn auch Überschreibungen?«
Dupont nahm einen Schluck aus seinem Wasserglas, wie ein Redner am Pult, und schüttelte den Kopf: »Nein, ganz sicher nicht. Es wäre uns längst aufgefallen, wenn palimpsestische Textstellen vorhanden wären. Und wenn, könnten es höchstens Korrekturen sein, keine Überschreibungen anderer Autoren.« Er machte eine kleine Pause, vergewisserte sich der Aufmerksamkeit seiner Zuhörer und sagte dann feierlich: »Nein, es ist zweifellos ein vollständig erhaltenes, unverfälschtes Original aus dem ersten Jahrhundert vor Christi Geburt, und sehr wahrscheinlich das einzige Dokument seiner Art, das wir je zu Gesicht bekommen werden!«
25. Juni: Davina bezog ihr Quartier in dem 50 qm großen Appartement in der Alten Charité. Sie räumte auf, ging einkaufen und besorgte sich frische Bettwäsche. Später versuchte sie erneut, Jan auf Island zu erreichen. Die Verbindung war gestört, daher sprachen sie nicht lange miteinander. Er freute sich sehr, von Davina zu hören und wünschte ihr am Ende »viel Spaß bei der Grabplünderung und viel Erfolg«.
26. Juni: Am Abend betrat Davina ihr Büro. Sie hatte mit Dupont einen Großteil des Tages in der Stadt verbracht, sich die Fundstelle in der Metrostation angesehen und Sehenswürdigkeiten besucht. Der Ausflug war informativ gewesen, hatte aber mehr Zeit in Anspruch genommen, als ihr lieb war. Müde machte sie sich an die Arbeit. Nach dem heißen und lauten Tag in der Stadt genoss sie die stille und kühle Umgebung des Büros. Nur ab und zu vernahm sie ein leises, tiefes Brummen, das gedämpft von der Straße vor dem Fenster in ihr Arbeitszimmer drang.
26. Juni 2012, Fragment 02
Es war die Zeit, in der die Kraft der Sonne uns verließ, als mein Leib fruchtbar wurde. Ich war im vierzehnten Jahr, und sie nannten mich »Cadha«, was mich allein zur Tochter unseres Stammesführers machte. Nun wurde ich zur Frau, mit allen Rechten und mit neuen Pflichten. Epona wurde das Opfer gereicht, und als der Mond sich wandelte, fand im Hause meines Vaters ein Fest für meine Weihe statt. Dann endlich wurde mir von meinem Fürst der Halsring (Torques) überreicht.
Vor allen Augen wurde ich als Kriegerin geehrt, zur Hüterin berufen. Im Beisein meiner Sippe und der Priester schwor ich, meinem Stamm zu dienen, selbst wenn es mich mein Leben kosten sollte. Wir (die Carnuten) sind das Herz des Keltenreiches. Wir haben den geweihten Boden zu bestellen, das Land zu schützen, das uns nährt, und auch die Stätten unsrer Ahnen zu bewahren.
In der Nacht träumte Davina einen merkwürdigen Traum. Sie erwachte inmitten eines mächtigen Holzhauses. Dicke Säulen trugen das Dach. Auf dem Boden waren Felle ausgelegt, bunte Tücher hingen von den Wänden herab. In einer Bodenmulde brannte ein Feuer, zahlreiche Fackeln erhellten den Raum. Da stand ein junges Mädchen, schlicht gekleidet, mit einem einfachen Gewand. Ihr blondes Haar lag offen auf ihren Schultern, nur ein Haarband schmückte ihren Kopf. Sie wickelte sich ein Tuch um den Körper und befestigte es mit einer Fibel über ihrer Schulter. Plötzlich füllte sich die Halle mit Menschen. Viele Stimmen und Musik waren zu hören, Klänge von Flöten und Zupfinstrumenten. Dann bewegte sich das junge Mädchen mit gesenktem Haupt auf einen prächtig gewandeten Mann zu. Groß und muskulös stand er da. Seine dunkelblonden Haare waren zu einem Zopf gebunden, ein auffälliger Schnauzbart zierte sein markantes Gesicht. Er trug eine blaukarierte Hose. An seinem Gürtel befand sich ein langes Schwert, das in einer metallenen Scheide steckte. Sein kräftiger Oberkörper zeichnete sich durch die Tunika aus dünnem Stoff ab, ein schwerer Umhang bedeckte seine Schultern. Davina stand nur wenige Meter von ihm entfernt. Ihr war, als würde sie ihn kennen. Ehrfürchtig senkte sie ihren Blick.
Das junge Mädchen kniete nun vor ihm nieder. Sie schaute zu ihm auf. Der stattliche Mann berührte ihre Schultern mit seinen Händen und gab ihr das Zeichen aufzustehen. Eine fein gewandete, ältere Frau stand zu seiner Linken. Sie hatte hellblonde, schulterlange Haare, die zu beiden Seiten geflochten waren. Sie übergab ihm einen Ring aus Bronze. Mit einem stolzen Lächeln nickte die Frau dem Mädchen zu.
Davina begriff im Traum, wie herausragend die Szene war. Das junge Mädchen wurde geehrt. Der stattliche Mann übergab ihr symbolisch ihre Rechte. Es war unverkennbar ein Torques, ein kunstvoll geschmiedeter Ring, geformt wie ein gewundenes Seil, mit leicht verdickten Enden. Er war offen, biegsam und wurde um den Hals getragen. Davina musste unwillkürlich an die Skulptur des »Sterbenden Galliers« denken, die berühmte antike Darstellung eines unbekleideten Kriegers, der tödlich verletzt auf seinem Schild zusammenbricht. Die überlebensgroße Figur aus Pergamon hatte Ähnlichkeit mit dem Mann, der nun dem Mädchen den Ring um ihren Hals legte.
Plötzlich wurde Davina wie von Geisterhand nach draußen geleitet, als schwebte sie durch das große Tor hinaus. Die Nachmittagssonne tauchte den Ort in ein warmes, herbstliches Licht. Vor dem Haus brannten mehrere Feuer, über denen Kessel hingen. Die Menschen versammelten sich auf einem Platz. Halbierte Baumstämme waren mit Fellen bedeckt. Die Frau, die eben noch neben dem fürstlich gekleideten Mann gestanden hatte, forderte die Gruppe auf, sich zu setzen.
Das Festmahl begann. Es duftete herrlich nach Suppe, nach Gewürzen und frischem Brot. Frauen schöpften das dampfende Essen in Keramikschalen. Getreidefladen wurden herumgereicht. Aus einem großen Fass wurde ein Getränk ausgeschenkt, das aufdringlich nach herben Kräutern roch. Wolfsähnliche Hunde schnappten sich die herunterfallenden Brocken.
Mit der untergehenden Sonne wurde es kühl. Davina verspürte den Drang, sich zu den lachenden Menschen zu begeben und sich an das warme Feuer zu setzen. Sie wollte sich der Gruppe nähern, doch dann verschwand plötzlich alles im Nebel und sie wachte auf.
27. Juni 2012, Fragment 03
Als Schülerin wirkte ich im Tempel, bereitete die Zeremonien vor, sprach die Gebete und den Segen, wie es mich die Alten lehrten. Mir war erlaubt, den Eichenzweig und die Reliquien zu tragen und auch die Opferrituale zu begleiten. (Es war) ein Privileg, all dies zu tun, doch war ich lieber frei. Mein Schwert erfüllte mich mit Freude!
In ihrem Geist bewahren unsere Meister das Wissen unserer Ahnen auf. (Diese) erhielten ihre Weisheit einst von Lugus, dem weisen Schöpfergott. Er herrscht über das Wort und über unseren Geist. Nur den auserwählten Söhnen adeliger Herkunft war es vergönnt, das ganze Wissen (vollständig) zu erwerben. Viele Jahre der Unterweisung und des Lernens waren nötig, viele Mondzyklen der stillen Wanderung durch das Reich Carnutus und (es war) eine Zusammenkunft mit den Geistern unserer Ahnen. Auch duldete die göttliche Gemahlin keine weltlichen Verbindungen zu dieser Zeit.
Kein Wort wurde je geschrieben oder für die Zeit bewahrt. Der Versuch allein, die Lehre durch die Schrift zu bannen oder zu verbreiten, wurde mit Schmerz und Auslöschung bestraft, verbunden mit dem Verbote, die Feste zu besuchen und auch die Heilung wurde ganz versagt.
Das Wissen durfte nicht missbraucht, nicht falsch verbreitet werden. Die Alten sprachen: Wozu bedarf es denn der Schrift? Das Wort allein nährt unsere Seele und schult den Geist. Wenn die Götter es so wollten, dass wir die Lehre niederschreiben, dann hätten sie uns von Beginn an eine Schrift gegeben. Was geschrieben steht, das kann gedeutet werden. Es bedeutet großes Unheil, wenn die Götter nicht verstanden werden!
Ich vernahm die Worte und lernte sie. Doch wurde ich als Priesterin nicht gleich einem Druiden unterrichtet. Ich wusste von geweihten Frauen, die den Druiden ebenbürtig waren und in den Stand der Hohepriesterin erhoben wurden. So bat ich Ambiacus um dieses Privileg. Aber er sprach von einem Schwur. Die Götter hätten eine andere Bestimmung für mich ausgewählt, er habe meinem Vater schwören müssen, mich das zu lehren, was unserem Volke dienlich ist.
So blieben einige Mysterien vor mir verborgen: das Lesen der Gestirne, das Wissen um die göttlichen Gesetze, die Zahlen und die Zeichen aus der Anderwelt. Dafür lehrte er mich aber auch, die Sprachen der Romaner zu verstehen, und die Druiden wiesen mich in die Kraft ihrer Gebete ein. Ich besuchte dann die Stätten unserer Ahnen und erfuhr endlich von der Wanderung der unsterblichen Seele. Es wurde mir das Wissen von der Macht der Heilung offenbart, über die Kräfte der geweihten Pflanzen mit ihren innewohnenden Geistern. (Es ist) eine hohe Kunst, diesen Wesen in ihrer Weise zu begegnen, wie auch den Göttern ihre rechten Opfer darzubringen, um von den Kräften diese zu erhalten, die Heilung brachten, nicht den Tod!
Es näherte sich die Zeit der Priesterweihe und damit auch die Nächte in der Einsamkeit. Ambiacus offenbarte, wie wir uns in der Dunkelheit mit ihm verbinden konnten, einzig durch den Willen unseres Geistes. In dieser Nacht erfuhren wir auch von dem Tempel der Druiden, der tief im heiligen Wald verborgen liegt, dort wo die geweihte Quelle ihren Ursprung hat.
Es ist ein alter Ort der Götter und der Geisterwesen, die sich schon vor Ankunft unsrer Ahnen dort versammelt haben. Nur den geistlichen Druiden war erlaubt, dieses (Heiligtum) zu betreten und sie nutzten es für die Zusammenkunft. Dort waren sie den alten Göttern nahe, wie niemand sonst, der sterblich war. Dort wurden ihnen auch die Zeichen der Gestirne offenbart!
Es gab einen geheimen Pfad, weit von der Siedlung Autricon entfernt. Und eines Tages setzte ich mich über das Verbot hinweg und folgte ihm, bis zu seinem Ende.
Davina kam an diesem Tag gut voran. Bis auf wenige Ausnahmen konnte sie dank der bearbeiteten Kopien den Text mühelos entziffern. Sie lehnte sich zurück und sprach in ihr kleines Diktiergerät: »Die Verfasserin berichtet uns von dem legendären Druidenheiligtum der Carnuten im Wald und bestätigt damit die Aussagen Caesars. Außerdem dokumentiert und erklärt sie das für uns rätselhafte Schreibverbot der Druiden. Sie berichtet über ihre Ausbildung als Priesterin und beschreibt sogar ein Initialisierungsritual ihres Stammes. Leider fehlen hier einige wichtige Details. Ich würde gerne mehr über die Bedeutung der Götter erfahren. Die Zeit vor der Romanisierung stellt für uns immer noch ein großes Fragezeichen dar. Wenn ich es richtig verstanden habe, schreibt sie am Ende von einer Art telepathischer Gedankenübertragung. Ich habe vor Jahren in einem Buch über die australischen Ureinwohner gelesen, dass die Aborigines eine ähnliche Technik angewandt haben sollen, um über große Entfernungen im Outback Kontakt mit anderen Menschen aufnehmen zu können. Ich halte dies nicht wirklich für möglich, dennoch finde ich diese Übereinstimmung interessant!« Davina warf noch einen abschließenden Blick auf den letzten Abschnitt des Pergamentes. Ein kurzer, eigenartig geblockter Textteil fiel ihr auf, der sich deutlich von dem nächsten Abschnitt abhob. Obwohl ihre Augen bereits müde vom angestrengten Lesen waren, konnte sie nicht widerstehen. Nachdem sie die Worte übersetzt hatte, las sie sich die Zeilen noch einmal laut vor. Es klang wie ein Gebet:
O LUGUS, Herr der Weisheit und des Geistes!
Gib mir die Macht über meine Gedanken!
Ich reiche meinem Feind die Hand und
bitte dich um Deine Gnade!
Kein böser Gedanke ist in mir,
kein Unrecht spricht aus meiner Seele!
In dieser Unschuld offenbare ich mich dir!
Ich will mich vereinen mit einem fremden Geist!
Gib mir die Macht über meine Gedanken!
Mit einem Mal wurde ihr seltsam schwindelig. Die Schrift verschwand vor ihren Augen und sie fühlte ein unangenehmes Stechen in ihrem Kopf. Eine Weile lang war es ihr unmöglich aufzustehen. Sie trank ein Glas Wasser und rieb sich die Schläfen. So plötzlich, wie er aufgetaucht war, verschwand der Schwindel wieder, doch der stechende Schmerz blieb. Davina räumte so gut es ging ihren Arbeitsplatz auf, gab das Skript ab und begab sich in ihr Appartement, wo sie früh und allein zu Abend aß. Nach dem Essen nahmen die eigenartigen Kopfschmerzen zu. Da sie nie unter Migräneanfällen gelitten hatte, schob sie ihr Unwohlsein auf das ungewohnte Klima. Sie sagte das geplante Treffen mit dem Professor für den späten Abend ab und ging zu Bett.
Plötzlich bemerkte sie das Licht eines Feuers. Um sie herum war nur Dunkelheit. Dann fiel ihr eine junge Frau auf. Reglos stand sie da und blickte in die lodernden Flammen. Die Unbekannte trug ein Gewand mit einem Überwurf, an ihrem Gürtel hing ein kleiner Dolch. Ihre Augen waren mit schwarzen Strichen untermalt, was ihr im Schein des Feuers einen archaischen Ausdruck verlieh. Für ihre jungen Jahre strahlte ihr Gesicht eine ungewöhnliche Ernsthaftigkeit aus. Es schien, als würde sie jemanden suchen. Sie schaute sich um und bewegte dann ihren Kopf in Davinas Richtung.
Ihr durchdringender Blick traf die Wissenschaftlerin plötzlich und unerwartet. Davina wich vor Schreck zurück, ihr Körper zuckte im Schlaf zusammen. Nach einer Weile schaute sie wieder auf. Die junge Frau hatte sich nicht abgewandt. Sie fixierte sie immer noch mit ihren dunklen Augen. Im Hintergrund ertönten auf einmal Trommelschläge. Davina vernahm eine Stimme. Jemand sprach mit ihr, aber sie konnte die Laute nicht verstehen. Das Feuer prasselte laut auf, die Trommelschläge wurden schneller. Schmerzhaft spürte sie die Hitze der Glut auf ihrer Haut brennen. Davina bemühte sich, auf die Stimme zu hören. Dann schien sich die Zeit auf einmal zu verlangsamen. Alle Bewegungen wurden fließend, das Feuer flackerte wie in Zeitlupe, die Geräusche verflüchtigten sich in ausgedehnten Klangfetzen. Die junge Frau stand jetzt direkt vor ihr. Langsam hob sie ihren rechten Arm und hielt Davina ihre offene Hand hin, als wenn sie ihr etwas reichen wollte. Einen Moment lang herrschte absolute Stille. Davina starrte die Frau verzweifelt an: »Was willst du von mir?« Sie schienen sich zum Greifen nah zu sein und doch so unerreichbar fern.
Gerade als Davina sich entmutigt dem Aufwachen hingeben wollte, fühlte sie, wie etwas in ihrem Kopf zu sprechen begann. Eine fremde Stimme, leise aber verständlich und ohne Zweifel fordernd, sprach jetzt mit ihr: »Sei ohne Furcht und begleite mich in deinen Träumen!«
Davina wachte schweißgebadet auf. Sie traute ihren Sinnen nicht. Bis sie die Orientierung wiedergewonnen hatte, dauerte es einige Zeit. Ihre Augen nahmen die Umrisse der Möbel im Zimmer wahr. »Gott sei Dank!« Sie war in ihrem Appartement in Marseille. Ihre Haut fühlte sich an, als hätte sie hohes Fieber. Die Stimme der fremden Frau hallte wie ein Echo in ihrem Schädel nach.
28. Juni 2012, Fragment 04
Auf Wunsch meines Lehrmeisters wurde ich eingeweiht in die heiligen Riten der Jagd. Ich lernte mit den Jahren, wie ein unsichtbares Wesen durch den Wald zu wandern. Gleich einem Fuchs zu sein, Fährten und Spuren zu lesen und die Zeichen der Tiere zu deuten. Meine Sinne wurden rein und mein Körper war gestärkt wie der einer jungen Wölfin. Dankbar für diese Gaben, brachte ich in dieser Zeit dem mächtigen Carnutus in den Abendstunden Opfer dar, die ich ihm durch das Feuer übergab.
Es kam der Tag, da wurde mir gewahr, warum die alten Lehren so gehütet wurden: Das Wissen über unseren Geist und das über die Götter, die todbringenden Gaben der Pflanzengeister, die Kraft der Worte, das Tor zur Anderwelt, gaben große MACHT! Wer mit der Weisheit der Götter gesegnet war, war mächtiger als jeder Fürst und stärker noch als jeder Krieger.
Daher sind die Druiden von den Göttern auserwählt. Sie dienen ihrem Stamm in ihrem Auftrag und werden als Gelehrte und Heiler hoch verehrt. Sie alleine dürfen richten! Nur der vom Rat gewählte Führer darf sein Schwert (gegen sie) erheben, und auch nur, wenn es dem Volke dienlich ist. Dafür bekommen sie, was ihnen zusteht: Fruchtbares Land und Knechte, die das Feld für sie bestellen. Auch Tribute müssen sie nicht leisten oder im Kriege Waffen führen. Nach einer Schlacht sehnte sich manch junger Krieger nach diesem Privileg (nicht kämpfen zu müssen), war doch die Zeit, die ihnen blieb, viel wertvoller geworden.
Mein Lehrmeister gab acht wie eine Krähe, dass seine Schüler abgeschieden lebten. Wenn einer ihm nicht würdig schien, wurde er fortgeschickt, um Reife zu erlangen. Die Ältesten der Sippe empfanden dies als ehrenvoll und stimmten zu. Doch wir hörten von den Unwürdigen, die sich, durch wandelbare Wesen angelockt, in die Anderwelt verirrten und für immer dort verschwanden. Es wurde uns erzählt, sie würden, ganz wie die Geächteten, in den langen Nächten wiederkehren, die Kinder und die Alten suchen und ihnen dann den Tod bringen. Wehe dem, der Nantosvelta zum Schattenfest kein Opfer dargebracht (hatte) oder das Schutzkraut des Sucellus nicht immer bei sich trug!
Lange nach der Arbeit saß Davina noch mit dem Professor und einigen Mitarbeitern im Aufenthaltsraum neben der Küche des Museums zusammen. Sie diskutierten bei einem improvisierten Abendbrot über den religiösen Alltag und die Bedeutung der Druiden in der gallischen Gesellschaft. Einiges von dem, was sie schon immer vermutet hatten oder in anderen Texten behauptet wurde, wurde nun durch das Pergament bestätigt. Davina übernahm in ihrer Übersetzung den Begriff der »Anderwelt« und ersetzte ihn ganz bewusst nicht mit der Bezeichnung »Unterwelt«. Ihr war klar, dass die Kelten eine gänzlich andere Vorstellung von ihrem Totenreich besaßen als die Griechen und Römer von ihrem Hades. Der Hades lag tief in der Erde verborgen, aus ihm gab es kein Entkommen. Die Anderwelt hingegen schien wie eine durchlässige Parallelwelt beschaffen zu sein, in die man sich leicht verirren konnte. Ebenso war es anderen Wesen und menschlichen Geistern möglich, aus ihr heraus zu wirken.
»Wenn man sich die komplexe Mythologie der antiken Mittelmeervölker vor Augen hält, wie umfangreich und vielseitig musste dann erst das spirituelle Leben der Kelten gewesen sein? Selbst die antiken Gelehrten hatten offenbar ihre Schwierigkeiten damit, die gallischen Götter einzuordnen und ihre Symbolik zu verstehen«, bemerkte ein französischer Mitarbeiter begeistert. Marc war bei diesem Projekt zuständig für die sichere Aufbewahrung und Restauration der Amphoren und des Pergaments. Davina mochte den Franzosen sehr. Er zeigte den gleichen Enthusiasmus, den auch sie bei ihrer Arbeit verspürte, und den sie bei einigen anderen Kollegen manchmal vermisste.
»Aber die Druiden hatten doch einen ähnlichen Stand in der Gesellschaft wie die Gelehrten der Griechen und Römer, oder nicht?«, fragte einer der Techniker.
»Sicherlich, auch im antiken Gallien besaß der Klerus wegen seiner Bildung und seinem direkten Draht zu den Göttern eine große Macht«, bemerkte der Professor, »doch sie waren auch auf den Schutz der Krieger und die Akzeptanz des Stammesführers angewiesen. Wir wissen nur wenig über die hierarchischen Strukturen von damals, aber im Grunde sind alle menschlichen Gesellschaften seit der Einführung des Ackerbaus und der ersten Städtegründungen ähnlich aufgebaut. Es bedarf einer Führungselite, die sich um die Verwaltung kümmert, einer Armee, die das Land vor Eindringlingen schützt, und Priester, die Einfluss auf das Wirken höherer Mächte haben. Heute übernehmen Wissenschaftler, Ingenieure und Ärzte den größten Teil der Arbeit, aber damals gab es noch keine Trennung zwischen Wissenschaft und Religion. Viele Geistliche waren daher Universalgelehrte, die sich nicht nur mit den Göttern auskannten. Sie waren für die Rechtsprechung zuständig, die Gesundheit der Bevölkerung, die Bewirtschaftung der Felder und vielleicht sogar für die Verbesserung handwerklicher und kriegerischer Techniken, wie Archimedes zu seiner Zeit. Der größte Teil der Bevölkerung bestand wie eh und je aus Bauern und Handwerkern …«
»Und wer bestimmte dann den Stammesführer?«, wollte ein anderer Techniker wissen. Davina setzte zu einer Erklärung an:
»Wir wissen, dass die Gallier ihr Oberhaupt wählten, das heißt, die Führungselite bestimmte den Stammesführer, nicht das Volk …«
»Und wir können davon ausgehen, dass es ganz von der jeweiligen Situation abhängig war, wer als Anführer gewählt wurde«, unterbrach Dupont ihre Ausführung, »in unsicheren Zeiten waren es sicher nicht die weisen Männer, sondern kampferprobte Krieger, die sich als würdig erwiesen. Das hat sich bis heute nicht geändert, nicht wahr?« Er schmunzelte, und einige in der Gruppe pflichteten ihm lachend bei.